Fachtag Erziehungspartnerschaften, Universität Lüneburg, 5.4.2008 Vom Affekt zum Gefühl zum Mitgefühl. Epidemiologische Längsschnittstudien Risiko- und Schutzfaktoren der kindlichen Entwicklung aus entwicklungspsychologischer und neurowissenschaftlicher Sicht. Prof. Dr. Matthias Franz, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf [email protected] • Risiko- und Schutzfaktoren • Affektentwicklung • Bindung • Mentalisierung • Neurowissenschaftliche Aspekte • Angst-/Stressreaktion • Alleinerziehende Risikofaktoren • schwere körperliche Erkrankungen der Mutter/des Vaters • psychische Störungen der Mutter oder des Vaters • chronische Familienkonflikte • Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils • Verlust der Mutter oder des Vaters • häufig wechselnde frühe Bezugspersonen Risikofaktoren • ernste oder häufige Erkrankungen in der Kindheit • sexueller und/oder aggressiver Mißbrauch • unsicheres Bindungsverhalten (12./18. Lebensmonat) • tyrannisch-rigides väterliches Erziehungsverhalten • Altersabstand zum nächsten Geschwister < 18 Monate • Kontakte mit Einrichtungen der „sozialen Kontrolle” Jahr Stichprobenumfang • Elder 1974 381 • Meyer-Probst, Teichmann 1984 279 • Lösel et al. 1989 776 • Baydar, Brooks-Gunn 1991 1181 • Matejcek 1991 220 • Werner, Smith 1992 698 • Furstenberg, Teitler 1994 950 • Franz et al. 2000 301 Risikofaktoren • alleinerziehende Mutter (ohne weitere Unterstützung) • volle mütterliche Berufstätigkeit im ersten Lebensjahr • uneheliche Geburt des Kindes • Unerwünschtheit des Kindes • sehr junge Mütter bei Geburt des ersten Kindes Risikofaktoren • niedriger sozioökonomischer Status • schlechte Schulbildung der Eltern • große Familien, wenig Wohnraum • schlecht ausgeprägte Kontakte zu Gleichaltrigen • Arbeitslosigkeit 1 Risikofaktoren Schutzfaktoren • dauerhafte, gute Beziehung zu einer weiteren Bezugsperson • schlechte soziale Integration • Aufwachsen in einer Familie mit Entlastung der Mutter • weitere kompensatorische Bezugspersonen • fehlende soziale Unterstützung • insgesamt attraktives Mutterbild • kritische Lebensereignisse (Verluste, Kränkungen) • gutes Ersatzmilieu nach frühem Mutterverlust • sicheres Bindungsverhalten Einflüsse, welche die Mutter-Kind-Beziehung belasten Schutzfaktoren • mindestens durchschnittliche Intelligenz • robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament • soziale Förderung (Vereine, Schule, Jugendgruppen) • verläßlich unterstützende Bezugsperson(en) im Erw.-alter • spätes Eingehen „schwer auflösbarer Bindungen” • bestimmtes Allel 5-HT-Gen (Æ Stressresistenz) erhöhen das Erkrankungsrisiko des Kindes Angst Wut Ekel Freude Trauer Erster Affektausdruck • Angst • Wut • Ekel • Freude • Trauer 5 – 9 Lebensmonat 3– 6 0– 5 4– 5 6 – 30 sehr frühe Nachahmung der emotionalen Gesichtsmimik Erwachsener Unsere Affektsysteme bestimmen unsere Wahrnehmung und Verhalten von Anfang an. Æ Spiegelneurone 2 Angst Wut Ekel Freude Trauer Angst Wut Ekel Freude Trauer 5 Basisaffekte organisieren unser Zusammenleben 5 Basisaffekte organisieren unser Zusammenleben • evolutionär entwickelte Anpassungsprogramme • phylogenetisch verankert • spezialisierte Systeme des Gehirns • vorbewusste Wahrnehmung • automatisierte Situationsbewertung • hochintegrierte Verhaltensmuster • Überleben des Individuums und der Gruppe • bindungsrelevant im Säuglingsalter • beziehungsregulativ im späteren Leben • soziale Abstimmung in Teams und Gruppen • gestört bei einer Vielzahl psychischer Erkrankungen Basale Affektsysteme Angst Wut Ekel Freude Trauer • Angst Flucht vor dem gefährlichen Objekt (außen) • Wut Zerstörung des gefährlichen Objektes • Ekel Ausstoßung des gefährlichen Objektes (innen) • Freude Annäherung an das gute Objekt • Trauer Wiedererlangung des guten Objektes, • schnelle (unbewusste) Bewältigung von Standardsituationen • Positionierung gegenüber wichtigen Objekten • elementare Verhaltensplanung und Handlungsbereitschaft • Überlebensprogramme Entwicklungspsychologie Kognitive Neurowissenschaften Die Aktivierung eines Affektsystems Psychosomatik Sozial vermittelte Reifungsprozesse Entwicklungspsychologie Kognitive Neurowissenschaften Psychosomatik Die Reifung emotionaler Kompetenzen Low-level-Kompetenzen • autonome Aktivierung (Stressreaktion) • körperliche Binnenempfindungen (somatischer Marker) • vorbewusste Situationsbewertung (neu? gefährlich?) Ausbildung abhängig von sozialen Lernprozessen in den ersten Lebensjahren Symbolisierung Mentalisierung Affekt Æ Gefühl Æ Mitgefühl High-level-Kompetenzen • bewusste Affektwahrnehmung (Gefühl) • affektbezogene Kognitionen (Bewältigungsstrategien) körpernahe Affektreaktionen, Arousal die eigenen Gefühle wahrnehmen, Sprache Denken und Fühlen anderer wahrnehmen, Sozialverhalten • Empathie (Verhaltensregulation) Emotionales Lernen erfolgt innerhalb empathischer Beziehungen 3 Die teilnehmende Spiegelung der Mutter-Kind-Beziehung Emotionaler Lernzyklus in in der Mutter -Kind-Beziehung Affektiver Spannungszustand des Säuglings Angeborene Affektsysteme • empathische Einfühlung ( affect atunement ) Affektmarkierung • resonantes Affekterleben ( affect sharing ) • modifizierende Symbolisierung (Affektmarkierung) • respondives Verhalten („baby talk“) 1. LJ • Einlesen des mütterlichen Affektsymbols Biofeedback-System • Reifung der Affektdifferenzierung/ -expression • Zuordnung somatischer Marker und Affekt • sprachliche Affektsymbolisierung • internalisierte Affektrepräsentanzen/Schemata • Beziehungregulation im Erwachsenenalter Bei beeinträchtigter emotionaler Abstimmung • neurofunktionelle „Narben“ (z.B. präfrontaler Kortex, Hippocampus) • erniedrigte Stress-Schwelle • persistierende Affektsomatisierung (Symptom statt Emotion) • dysfunktionale emotionale Schemata (beeinträchtigte Mentalisierung) • Beziehungsstörungen Repräsentanzen 5. LJ 2. LJ Sichere Bindung Mentalisierung (Als-Ob-Modus) Kompetenzen • sozial-emotional • kognitiv • strukturell Cassidy 1994, Schore 2007, Fonagy und Target 1997, Jonsson et al 2001, Fonagy et al 2004 Mentalisierung Relativ späte Reifung differenzierte Repräsentanzen des emotionalen Erlebens anderer Menschen. Kindliche Kompetenzen bei sicherer Bindung und Mentalisierung Etwa bis zum fünften Lebensjahr - magischer Äquivalenzmodus Sozial-emotional - Innenwelt redupliziert bzw. projektiv im Anderen vermutet • Repräsentanz des Anderen („theory of mind“) • Realistische Vorstellung über interne Verhaltensmotive Anderer • Empathisches, konstruktives Sozialverhalten, Beziehungsfähigkeit • Spielfähigkeit, Humor („Witz statt Angst“) • bewusster Umgang mit Affekten Æ Gefühle - der andere funktioniert wie ich - Gedanken, Fantasien und äußere Wirklichkeit noch wenig getrennt - das Krokodil frisst den Kasper wirklich, Kind reagiert mit Angst Ab etwa sechs Jahren fortschreitende Mentalisierungsfähigkeit - „theory of mind“ des Anderen, originäre Alterität des Gegenüber - Wissen über das interne und autonome motivationale Funktionieren des Anderen - sich probehalber in den Anderen hineinversetzen - Hypothesen über die eigenen Verhaltensmotive des Anderen Kognitiv • Ablösung des Äquivalenzmodus durch Als-Ob-Modus • Sichere Wahrnehmung von Emotionen und Fakten • Neugier/Explorativität • Symbolisierungs-/Abstraktionsfähigkeit - hypothetischer „Als-ob-Modus“ (Fonagy) - Unterscheidung zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Witz und Ernst aber auch zwischen Wahrheit und Lüge (evolutionärer Vorteil) Voraussetzung: sichere Bindung zu einer empathisch teilnehmend spiegelnden Bezugsperson, die im Bedarfsfall zu einer einfühlungsgesteuerten externen Stressregulation des Kindes in der Lage ist. Strukturell • Ichstärke, Impulskontrolle, Affektregulation • Angemessene Angstbewältigung (Schutzsuche statt Aggression) • Frustrationstoleranz/Stressresistenz • Konzentrations-/Lernfähigkeit Brüne und Brüne-Cohrs 2006 Amygdala – das Angstorgan Affektentwicklung am Beispiel der Angst LeDoux 1992, 1996 Die Biologie der Angst • Gefahrensituation: schnell, früh, ungenau, irreversibel gespeichert • automatisches emotionales Lernen, Angst-Konditionierung • bereits pränatal, unbewusstes emot. Langzeitgedächtnis • Frühwarnsystem für Gefahr, Affektsystem: Angstgedächtnis • Auslösung der Angst-/Stressreaktion bei Wiedererkennen eines ähnlichen Musters • Gesichtserkennung 4 seitliche Ansicht Orbitofrontaler Kortex Rolls et al. 1994, Rolls 1996 orbitofrontaler Kortex Wer kontrolliert die Amygdala? Ansicht von unten • schnelles und reversibles Lernen in Abhängigkeit primärer Verstärker (Geschmack und Geruch, Konvergenz mit visuellen Informationen) • flexible Re-evaluation veränderbarer Verstärkereigenschaften (wechselnde Kontingenzen/Spielstrategien/Gesichtsmimik/soziale Normen) • Kontrolle der primären Affektsysteme (starke Efferenzen/Afferenzen von/zur Amygdala Æ Hemmung der Amygdala) • hochadaptive Verhaltensanpassung, soziales Lernen (Korrektur automatischer Bewertung) Funktion des Hippocampus: Faktengedächtnis Hippocampusformation verkleinert bei • Tor zum Gedächtnis • speichert kontextuelle Fakten („deklarativ“) • Lernen, Einschreibung in Langzeitspeicher • Kontrolle des Stressverarbeitungssystems • Æ hemmender Einfluss auf Amygdala • chronischem Stress • Morbus Cushing, • Kortisolmedikation • PTSD, Depressionen • Kindesmissbrauch Hippocampus Nervenzelluntergang bei andauernd erhöhten Kortisol • hohe Dichte von Kortisolrezeptoren • bewirken Rückkopplungsdämpfung der Kortisolausschüttung • Dichte der Rezeptoren abhängig von mütterlichem Fürsorgeverhalten • Demethylierung des Genabschnitts, der das Rezeptorprotein kodiert (Weaver et al. 2004) • lebenslänglich wirksame „epigenetische“ Anhebung der Stresschwelle • fehlende mütterliche Zuwendung bewirkt weniger Kortisolrezeptoren, erniedrigte Angst-/Stresschwelle Die psychosomatische Angst-Stressreaktion Zuwendungsabhängige Ausreifung des stressverarbeitenden Systems Angstreiz BINDUNG Sensor. Cortex Objekte Sensor. Thalamus Reizmerkmale Hippocampus Hippocampus deklaratives Gedächtnis „Faktenlernen“ deklaratives Gedächtnis „Faktenlernen“ Präfront. Cortex Amygdala implizites emotionales „Angstlernen“ Gefühle, Kontrolle „soziales Lernen“ Amygdala implizites emotionales „Angstlernen“ Präfront. Cortex Gefühle, Kontrolle „soziales Lernen“ BINDUNG LC–NE-Achse Adrenalin Zentraler Symphaticus HPA - Achse Hypothalamus,Hypophyse, Nebenniere Cortisol Muskeltonus, Blutdruck, Stoffwechsel, Immunsystem, Stresshormone, Angst, Panik, Hilflosigkeit, Lernen 5 Bindungs-/zuwendungsabhängige Ausreifung • Stressverarbeitendes System (Stressschwelle, Angstbewältigung) - Amydala (HPA-Achse/LC-Achse) - Hippocampus - präfrontaler Cortex ÆLebenslang erhöhte Stressempfindlichkeit • Emotionale Kompetenzen (Affektdifferenzierung, Mentalisierung) - Spiegelneurone - anteriorer Gyrus cinguli - präfrontaler Cortex Æ Gestörte Bewältigung (zwischenmenschlicher) Konflikte/Belastungen Psychogene Erkrankungen Bio-psycho-soziales Modell psychosoziale Stressoren/Traumata in der Pränatal- und Kindheitsentwicklung neurobiologische Langzeitfolgen gestörte Stressverarbeitung gestörte Affektverarbeitung erniedrigte Stressschwelle häufigere Beziehungskonflikte erhöhtes Risiko für psychische/psychosomatische Erkrankungen „Artgerechter“ Erziehungsstil • • • • • • • • • • • mindestens eine, besser zwei feste Bezugspersonen liebevolle Elternbeziehung externe Stressregulation mittels Feinfühligkeit, Empathie Förderung der Bindungssicherheit und des Explorationsverhaltens nicht sanktionierend, nicht entwertend, keine Gewalt keine Vernachlässigung, keine Rollenumkehr aber: Frustrationen in bewältigbaren Grenzen emotionszentriert-wertschätzend keine Erziehung ohne Beziehung keine Bildung ohne Bindung Alleinerziehen – ein Risikofaktor? Alleinerziehende in Deutschland Æ psychosoziale Belastung Å • hohes Armutsrisiko • erhöhte gesundheitliche Risiken • stabiler Zusammenhang von Alleinerziehendenstatus und Depressivität • häufigerer Substanzabusus (Nikotin, Alkohol) Präventives Elterntraining für AL lein erziehende M ütter geleitet von E rzieherInnen • gehäuft kindliche Verhaltensauffälligkeiten und Schulleistungsstörungen • Langzeiteffekte bei den betroffenen Kindern • fehlende zielgruppenspezifische Unterstützungsprogramme www.palme-elterntraining.de geleitet von Erzieherinnen und Erziehern • 30 – 40 % der Alleinerziehenden unterstützungsbedürftig 6