GERHARD ROTH INSTITUT FÜR HIRNFORSCHUNG UNIVERSITÄT BREMEN WIE FREI SIND WIR IN UNSEREM HANDELN? Gehirnentwicklung und Verantwortlichkeit G. Roth, 2013 DER „STARKE“ BEGRIFF VON WILLENSFREIHEIT (nach I. Kant) Mentale Verursachung: Meine materiellen Handlungen werden verursacht durch meinen immateriellen Willen. Indeterminismus: Dieser Wille unterliegt, zumindest als moralisches Handeln, nicht dem Determinismus bzw. der Kausalität der Natur Intelligibilität: Wir Menschen handeln aus moralischen Gründen, nicht aus Ursachen. Solche Gründe gehören nicht dem Bereich naturwissenschaftlicher Erklärungen an. Alternativismus: Ich kann anders handeln bzw. hätte anders handeln können, wenn ich nur (anders) will bzw. (anders) gewollt hätte. Mein Wille selbst ist nicht determiniert, sondern frei. Verantwortlichkeit: Ich bin für mein Tun moralisch verantwortlich und damit auch schuldfähig. GRÜNDE FÜR ZWEIFEL AN DER WILLENSFREIHEIT • Es gibt keinerlei vernünftige Vorstellung davon, wie eine reine, „motiv-lose Entscheidung“ möglich ist. Kant selbst gab zu, dies sei ein moralisches Postulat, keine empirisch nicht überprüfbare Fähigkeit des Menschen. • Auch menschliches Verhalten ist determiniert, wenngleich in komplexer Weise. Menschen handeln in ähnlichen Situation aufgrund ähnlicher Motive ähnlich (Hume). • Menschen fühlen sich frei, wenn sie bei Abwesenheit äußeren und inneren Zwanges ihren Willen verwirklichen können. Die Bedingtheit des Willens wird dabei nicht oder nicht als problematisch empfunden, zumal es der eigene Wille (David Hume). AUSGANGSTHESE Es gibt es eine strenge Parallelität zwischen der Entwicklung des Gehirns und der Entwicklung von Psyche und Persönlichkeit. Bei dieser Entwicklung, insbesondere während der vorgeburtlichen und frühen nachgeburtlichen Phase, kommt es zu einer Wechselwirkung zwischen genetischen Faktoren einerseits und Umweltfaktoren andererseits, die sich auf der Ebene der Gen-Expression und –Regulation („Epigenetik“) treffen. Auf diese Weise wird die Persönlichkeit eines Menschen einschließlich eines Hanges zum kriminellen bzw. antisozialen Verhalten früh, d.h. ca. bis zum 10. Lebensjahr, in großem Umfang festgelegt und wird zunehmend resistent gegen spätere Umwelteinflüsse. Dies bedeutet, das mögliche Korrekturen mit zunehmendem Lebensalter zunehmend schwierig werden. Seitenansicht des menschlichen Gehirns Großhirnrinde Kleinhirn Funktionale Gliederung der Großhirnrinde BEWEGUNGSVORSTELLUNGEN MOTORIK ANALYSE PLANUNG ENTSCHEIDUNG SOMATOSENSORIK KÖRPER RAUM SYMBOLE SEHEN SPRACHE BEWERTUNG AUTOBIOGRAPHIE OBJEKTE HÖREN GESICHTER SPRACHE SZENEN Längsschnitt durch das menschliche Gehirn Hypothalamus (nach Spektrum der Wissenschaft, verändert) Limbisches System Die Interaktion mit der Umwelt beginnt bereits vor der Geburt! FRÜHES LERNEN UND HIRNREIFUNG A Dendrit Axon Synapse B Grobvernetzung C Verstärkung Abschwächung Umwelt emotionale Erfahrungen, Lernen, Erziehung II III „Formatierung“, Feinvernetzung Entwicklung der Synapsenzahl im Laufe des Lebens WICHTIGE SCHRITTE IN DER PSYCHO-NEURALEN ENTWICKLUNG DES KINDES • Entwicklung des Stress-Verarbeitungssystems (vorgeburtlich, früh nachgeburtlich) • Entwicklung des internen Beruhigungssystems (früh nachgeburtlich) • Entwicklung des internen Motivationssystems (erste Lebensjahre) • Entwicklung des Impulshemmungssystems (1.–20. Lebensjahr) • Entwicklung von Empathie und Theory of Mind (3.-20. Lebensjahr) • Entwicklung des Realitätssinns und der Risikowahrnehmung (3. – 20. Lebensjahr oder noch später) STRESS-REAKTION Erste Stress-Reaktion: Adrenalin-Noradrenalin (Nebennierenmark, Locus coeruleus). Sekundenschnelle Erhöhung des Muskeltonus, der Reaktionsbereitschaft und der Aufmerksamkeit („Schreck“). Zweite Stress-Reaktion: CRF-ACTH-Cortisol (Nebennierenrinde): Mobilisierung der metabolischen, physiologischen und psychischen Reserven. Das jugendliche und erwachsene Stressverhalten wird vorgeburtlich und früh-nachgeburtlich über das mütterliche Gehirn bzw. andere Umwelteinflüsse „eingestellt“ (Erhöhung und Erniedrigung der Zahl der Cortisolrezeptoren bes. in der Amygdala, im Hippocampus) und im orbitofrontalen-ventromedialen Cortex. Besonders wichtig ist die negative Rückkopplung der CRF- und Cortisol-Produktion zur Beendigung der Stress-Reaktion. „STRESS ACHSE“ CRF-ACTH-Cortisol-Rückkopplungsschleife zwischen Nebennierenrinde, Hypothalamus und Hippocampus Hypothalamus CRF + _ Hippocampus Hypophyse ACTH _ _ Gluc.R. + Nebennierenrinde Cortisol Cortisol SEROTONIN- (5HT-) SYSTEM Cools et al., Nature Neuroscience 2007 SEROTONERGES BERUHUNGSSYSTEM Serotonin (Locus coeruleus): Normale Funktion (1A-Rezeptoren): Regulation der Nahrungsaufnahme, Schlaf und Temperatur; Dämpfung, Beruhigung, Wohlbefinden. Mangel ruft Schlaflosigkeit, Depression, Änstlichkeit, reaktive Aggression und Impulsivität hervor. Erhöhte Ängstlichkeit über Defizite im Transporter-Gen (5-HTT). Erhöhte Aggression über Defizite im MAO-A-Gen. 2A-Serotoninrezeptoren wirken dagegen offenbar impuls-und ängstlichkeitssteigernd. CORTICAL-LIMBISCHES IMPULSHEMMUNGSSYSTEM (Glutamat, GABA) Hemmende corticale Verbindungen, bes. vom orbitofrontalen, anterioren cingu-lären, temporalen und ento-rhinalen Cortex zur Amygdala Erregende Verbindungen der Amygdala zum Cortex, bes. zum präfrontalen, prämotorischen, insulären und entorhinalen Cortex Effektive Impulshemmung hängt u.a. davon ab, ob und in welchem Ausmaß im ventromedialen präfrontalen Cortex (mvPFC), im Hippocampus und in der Amygdala Serotonin-Rezeptoren ausgebildet werden. Diese können erregend und hemmend entweder auf glutamaterge Projektionsneurone oder hemmend auf hemmende Interneurone wirken. vmPFC und Hippocampus wirken impulshemmend, die Amygdala impulsfördernd. Der „Besatz“ des vmPFC, des HC und der Amygdala mit SerotoninRezeptoren ist u.a. abhängig von der pränatalen und frühen postnatalen Stresserfahrung und der Qualität mütterlicher Fürsorge. Die frühkindliche Bindungserfahrung ist die wichtigste Erfahrung in unserem Leben. Durch sie wird unser individuelles und gesellschaftliches Verhalten bestimmt: Selbstwertgefühl, Empathie, Verantwortlichkeit. BINDUNGSERFAHRUNG UND MÜTTERLICHE FÜRSORGE Eine positive Bindungserfahrung, insbesondere in Form mütterlicher Fürsorge, ist notwendig für die Emotionsregulation des Säuglings und Kleinkindes, Impulshemmung, die Ausbildung sozialer Kompetenzen einschließlich einer Theory of Mind und Empathie und schließlich der Fähigkeit, eigenen Kindern eine sichere Bindung zu vermitteln. Eine sichere Bindung ist ein wichtiger protektiver und kompensatorischer Faktor gegenüber (epi)-genetischer Vorbelastung und vorgeburtlichem bzw. nachgeburtlichem Stress. Allerdings gibt es hier „kritische Zeitfenster“, in denen eine sichere Bindung erfahren werden muss. Zu geringe wie auch zu starke Fürsorge sind beide schädlich für die psychische Entwicklung des Kindes. Es gibt einen epigenetischen und sozialen transkulturellen Transfer positiver und negativer Bindungserfahrung. SIND GEWALTTÄTER WILLENSFREI UND HANDELN SIE SCHULDHAFT? DER BEGRIFF DER WILLENSFREIHEIT IM STRAFRECHT Willensfreiheit bedeutet in der klassischen Strafrechtstheorie die Fähigkeit einer Person, in einer Entscheidungssituation ihrem Rechtsgewissen zu folgen. Auch wenn der Täter durch vielfältige Motive zur Tat gedrängt wird, besitzt er doch die Fähigkeit, aufgrund seines moralischen Gewissens „anders zu handeln“, d.h. sich gegen diese Motive zu entscheiden (Alternativismus). Für die Schuld eines Täters ist konstitutiv, dass er dies nicht getan hat. Dies erfordert Strafe als Vergeltung und Sühne. Das Gericht muss empirisch überprüfen lassen, ob der Täter überhaupt oder zur Zeit der Tat schuldfähig war, d.h. in der Lage war, Recht und Unrecht zu erkennen und danach zu handeln (§ 20 StGB). DREI TYPEN VON TÄTERN MIT GEWALTTÄTIGEM VERHALTEN (1) Instrumentelle Gewalttäter (2) Impulsiv-reaktive Gewalttäter (gewaltkriminell, meist Vielfachstraftäter) (3) Proaktiv-psychopathische Gewalttäter (nicht notwendig gewaltkriminell, oft sozial erfolgreich) „INSTRUMENTELLE“ GEWALTTÄTER „Instrumentelle“ Gewalttäter sind in der Regel psychisch normal. Sie haben durch Verstärkung, Erziehung, Imitation oder eigene Erfahrung gelernt, dass es vorteilhaft ist, sich für die Verwirklichung eigener Ziele oder aus sozialen Gründen (Gruppendruck) rücksichtslos und aggressiv zu verhalten und Konflikte aggressiv-gewalttätig zu lösen. Sie sind schwierig zu behandeln, weil ihnen ein Unrechtsbewusstsein fehlt. Hier hilft nur ein langanhaltendes AntiGewalt-training. IMPULSIV-REAKTIVE GEWALTTÄTER Impulsiv-reaktive Gewalttäter reagieren unangemessen mit körperlicher Gewalt auf vermeintliche Bedrohungssituationen. Sie zeigen oft eine oberflächliche Reue („das wollte ich nicht!“), versuchen aber zugleich, ihr Verhalten zu rechtfertigen („der kam drohend auf mich zu, da musste ich mich doch wehren!“). Training und Therapie zeigen zum Teil gute Effekte. Impulsiv-reaktive Gewalttäter zeigen gegenüber aversiven Reizen und Frustration (1) eine erhöhte vegetative Reaktion (Schreckreflex, Lidschlag, Atemfrequenz, Hautleitfähigkeit) (2) eine erhöhte Aktivität der Amygdala (3) eine verminderte Aktivität des präfrontalen, ventromedialen und orbitofrontalen Cortex Dies hängt offensichtlich u.a. mit einem schwerwiegenden Defizit des serotonergen „Beruhigungssystems“ und des Impulshemmungssystems zusammen Hirnorganische Korrelate des Gewaltverhaltens Raine et al. 1997, 2000 (PET): Personen mit erhöhter Aggressivität zeigen frontale und temporale Defizite. Gewaltverbrecher zeigten eine deutlich geringere Aktivierung im Frontallappen und im oberen parietalen Cortex, insbesondere linkshemisphärisch. Dies deutet auf eine verringerte corticale Kontrollfähigkeit hin. Strukturelle Veränderungen im Frontalhirn eines Schwerverbrechers. Quelle: Prof. Dr. B. Bogerts, Magdeburg Zentrum für emotionale Konditionierung und furchtgeleitete impulsive Reaktionen Amygdala (Mandelkern) Impulsiv-reaktive Gewalttäter haben typischerweise Schwierigkeiten, einen ängstlichen von einem aggressiv-bedrohLichen Gesichtsausdruck zu unterscheiden. POLYMORPHISMUS DES 5-HT-TRANSPORTER-GENS Canli und Lesch, Nature Neuroscience 2007 5-HTT-DNA Kurze und lange 5-HTT-PromoterRegion 5-HT-SYNAPSE Die kurze Variante des Transporter-Gens ist korreliert mit erhöhten Angststörungen, Depression und reaktiver Gewalt als Folge eines erhöhten Bedrohtheitsgefühls und verminderter Impulskontrolle. Science 2002 Caspi et al., Science 2002 Niedrige MAO-A-Aktivität, frühkindliche Misshandlung (drei Kategorien) und späteres antisoziales Verhalten (vier Kategorien) Verhaltensauffälligkeit Gewaltbereit -schaft Straffällig wg. Gewaltverbrechen Antisoziale Persönlichkeitsstörung Ein abgrundtief böser Mensch oder ein psychisch Schwerkranker? PSYCHOPATHIE NACH PCL-R (Hare et al. 1991 - Auswahl) Faktor 1: Aggressiver Narzissmus 1. Sprachliche Gewandtheit, oberflächlicher Charme 2. Grandiosität, übersteigertes Selbstwertgefühl 3. Pathologisches Lügen 4. Betrügen und manipulatives Verhalten 5. Kein Schuld- oder Reuegefühl 6. Empathie-/Mitleidlosigkeit 7. Kein Verantwortungsgefühl für eigenes Handeln Faktor 2: Sozial abweichendes Verhalten 1. Gier nach Stimulation und Aufregung 2. Parasitäres Verhalten („Schmarotzertum“) 3. Geringe Verhaltenskontrolle 4. Ausrichtung auf maximale Trieb- und Bedürfnisbefriedigung 5. Impulsivität 6. Verantwortungslosigkeit 7. Frühe Verhaltensauffälligkeiten, Tierquälerei, Lügen, Stehlen usw. CHARAKTERISTISCHE NEURO-PSYCHISCHE DEFIZITE BEI PSYCHOPATHEN • Verminderte bzw. stark veränderte vegetative Reaktionen (Augenlidschlag, Herzfrequenz, Startle-Reaktion, Hautwiderstand bei unangenehmen / furchterregenden Darstellungen • Verminderte Amygdala-Aktivität bei solchen Darstellungen • Verminderte Aktivität von Empathie-Arealen (INS, ACC, STS/G, OFC) • Verminderte Reaktion auf furchtsame Gesichter (AMY, OFC, STS/G) • Verminderte Fähigkeit, aus negativen Erfahrungen zu lernen International Affective Picture System (P. Lang et al.) Pleasant neutral unpleasant Lidschlagstärke von Personengruppen beim Anblick standardisierter emotionaler Bilder Lang et al. J Affect Disorders, 2000; Verona et al. J. Abnormal Psych. 2002 PSYCHOPATHISCHE GEWALTTÄTER Psychopathen haben oft ein feines Gespür für die Schwächen und Sehnsüchte anderer. Sie sind oft sehr intelligent und wirken charismatisch. Zugleich sind sie mitleid- und reuelos.. Sie waren in früher Jugend weit überdurchschnittlich Opfer von Gewalt in Form von Vernachlässigung, körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch und/oder Beschämungs- und Ausgrenzungserlebnisse in der Kindheit und Jugend. Oft findet man eine Kobination von brutalem Vater und willfähriger Mutter, die gleichzeitig den Sohn „vergöttert“. Klinisch handelt es sich um eine schwere Form der Persönlichkeits- und Ichstörung. Diese führt bewusst oder unbewusst dazu, dass sich die Personen an der Gesellschaft rächen wollen. Ihre Störung tritt meist schon im Kindesalter auf. ZUSAMMENFASSUNG Gewalttäter weisen deutliche neuroanatomische oder neurophysiologische Defizite auf, insbesondere im Bereich des Frontalhirns und in der Amygdala, die jedoch bei unterschiedlichen Gewalttäter-Typen z.T. gegenläufig sind. In Kombination mit Gen-Polymorphismen im Serotoninsystem und psycho-sozialen Faktoren (negative Bindung, Gewaltopferschaft, Gewalterfahrung) bedeuten sie ein sehr hohes Risiko, chronischer Gewalttäter zu werden. Einzeln genommen können diese Risikofaktoren durchaus durch kompensatorische Hirnentwicklungen oder günstige psychosoziale Umstände in ihrer Auswirkung gehemmt oder gemildert werden. In keinem Fall unterliegen diese Faktoren der Willensbildung. Falls sich diese Erkenntnisse weiter erhärten, muss man auch nach heutigem Recht die Taten eines Gewaltstraftäter als determiniert und damit als nicht willensfrei ansehen. Was bedeutete es für das Strafrecht, wenn man auf das Konzept der Willensfreiheit als Begründung von Schuld und Strafe verzichten würde? SCHULD ODER VERANTWORTLICHKEIT Viele Strafrechtler haben in Vergangenheit und Gegenwart darauf hingewiesen, dass man auf den moralischen Schuldvorwurf, der auf dem „Anders-Handeln-Können“ beruht, durchaus verzichten und den Begriff der Schuld rein auf die Normenübertretung beschränken kann. Gesellschaft und Staat stellen zum Wohle der Gemeinschaft Normen auf, überwachen deren Einhaltung und ahnden deren Übertretung. Der Täter ist weiterhin für seine Taten verantwortlich, auch wenn er nicht im traditionellen Sinne schuldig ist. Aus der Verantwortlichkeit leitet die Gesellschaft das Recht zu Maßnahmen zur Erhaltung der Rechtsordnung gegenüber dem Täter ab. Das Normenbewusstsein wird durch Erziehung und Abschreckung (positive und negative Generalprävention) erzeugt und aufrechterhalten, Normenübertretung wird durch Bestrafung (wo effektiv), Umerziehung und Therapie oder – wenn dies alles nachweislich zwecklos ist – durch Wegsperren geahndet (Spezialprävention). ICH DANKE IHNEN FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT