TINNITUS-RETRAININGTHERAPIE. EIN INTEGRATIVES MEDIZINISCHPSCHOLOGISCHES BEHANDLUNGSKONZEPT FÜR PATIENTEN MIT CHRONISCHEM TINNITUS ....................................................................................... 2 1.0 ZUSAMMENFASSUNG........................................................................................ 2 2.0 EINLEITUNG ........................................................................................................ 2 3.0 STAND DER FORSCHUNG BEI CHRONISCHEM TINNITUS............................. 6 3.1 Kontrollüberzeugungen und Bewältigungsstrategien............................................ 6 3.2 Psychiatrische Komorbiditäten ............................................................................. 8 3.3 Hirnfunktionelle und Hirnstrukturelle Veränderungen ........................................... 9 3.4 Mechanismen der Dekompensation ................................................................... 10 3.4.1 Persönlichkeitsmerkmale.............................................................................. 10 3.4.2 Vulnerabilitätsmodell..................................................................................... 11 3.4.3 Mangelnde Toleranzentwicklung .................................................................. 12 4.0 GRUNDLAGEN DER TINNITUS-RETRAININGTHERAPIE ............................... 17 5.0 DAS HOMBURGER BEHANDLUNGSKONZEPT .............................................. 21 5.1 Diagnostik der Tinnitusbelastung und therapeutische Implikationen .................. 21 5.2 Die Psychologischen Tinnitus-Therapie (PTT) ................................................... 26 5.3 Evaluation des Homburger Behandlungskonzeptes ........................................... 30 5.3.1 Beschreibung der Stichprobe ....................................................................... 31 5.3.2 Darstellung der Ergebnisse .......................................................................... 31 6.0 FAZIT.................................................................................................................. 32 7.0 LITERATUR........................................................................................................ 32 8.0 ANSCHRIFT DER VERFASSER:....................................................................... 41 D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 1 Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus D’Amelio R, Delb W, Plinkert PK, Falkai P, Archonti C 1.0 Zusammenfassung Chronische Ohrgeräusche1 sind ein verbreitetes Phänomen. Viele Betroffene fühlen sich in ihrem Alltag durch den chronischen Tinnitus in erheblichem Maß beeinträchtigt und nehmen ärztlichen und zunehmend auch psychologischen Rat in Anspruch. Vorgestellt wird ein integratives therapeutische Vorgehen, wie es an den Universitätskliniken Homburg/Saar erstellt und als Therapiemanual publiziert worden ist (Delb et al. 2002 c). Die Intervention basiert auf dem Konzept der TinnitusRetrainingtherapie (TRT) gemäß den Richtlinien der ADANO2 (2000) und besteht aus den Modulen Psychoedukation („Counseling“), Geräuschtherapie sowie einer kognitiv-behavioralen tinnitusspezifischen Gruppentherapie (D’Amelio 2002). Es eignet sich zur Behandlung von Patienten mit dekompensiertem Tinnitus in einem ambulanten Setting und soll Betroffene zu einem funktionalen Umgang mit ihren Symptomen im Sinne des Selbstmanagement befähigen und sowohl zur Prävention als auch Reduktion psychischer Sekundärsymptome beitragen. 2.0 Einleitung Tinnitus, d.h. die permanente Wahrnehmung von Ohrgeräuschen ohne äußere Schallquelle, stellt ein weit verbreitetes Symptom dar (Übersicht bei Goebel 2003 b). Zeitlich unterscheidet man einen akuten (Dauer < 3 Monaten), von einem subakuten (> 3 bis zu 12 Monaten) und von einem chronischen (> 12 Monate) Tinnitus (Lenarz 1998 a, Delb 2002 a). Bezüglich der Klassifikation wird ein objektiver von einem subjektivem Tinnitus differenziert. Beim objektiven Tinnitus kann das Ohrgeräusch auf eine körpereigene Schallquelle in der Nähe des Ohres zurückgeführt und dessen Schallaussendungen physikalisch gemessen (und damit objektiviert) werden. Ursächlich geht dieses Beschwerdebild auf andere primär zugrundeliegende Erkrankungen oder genetisch bedingte Anomalien zurück, so dass eine Beseitigung eines störenden Ohrgeräusches in Abhängigkeit von den Behandlungsmöglichkeiten 1 Die Begriffe „Ohrgeräusche“ und „Tinnitus“ werden synonym genutzt Arbeitsgemeinschaft Deutschsprachiger Audiologen und Neurootologen (ADANO) D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 2 2 der Grunderkrankung erfolgen kann (Lenarz et al. 1993, Lenarz 1998 a, Delb 2002 a). Die bei weitem größte Patientengruppe weist einen subjektiven Tinnitus auf (Feldmann 1998, Lenarz 1998 a, b). Klinisch beschreiben lässt sich dieses Erkrankungsbild als eine akustische Wahrnehmung, die ausschließlich vom Betroffenen selbst perzipiert wird und keiner objektiv messbaren Schallquelle zuzuordnen ist. Die Existenz dieser Ohrgeräusche sowie deren Qualität und Quantität können daher nur durch Exploration des Betroffenen bestimmt werden (Feldmann 1998, Zenner 1998). Pathogenethisch vermutet man beim subjektiven Tinnitus eine fehlerhafte Informationsbildung und –verarbeitung im auditorischen System, ohne dass die Einwirkung eines akustischen Reizes stattgefunden hat (Lenarz 1998 a, b, Delb 2002 a). Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Erscheinungsbild des subjektiven chronischen Tinnitus. Befragungen haben ergeben, dass in der Bundesrepublik Deutschland etwa 35-45% aller Erwachsenen einmal in ihrem Leben einen Tinnitus erlebt haben. Die Punktprävalenz wird mit etwa 4% angegeben, wobei die meisten der Befragten einen anhaltenden Tinnitus von über einem Monat Dauer berichten (Pilgramm et al. 1999). In der Altersverteilung zeigt sich eine deutliche Zunahme vom dritten bis zum fünften Lebensjahrzehnt (Meikle & Taylor-Walsch 1983, Coles 1984 a, b, Axelsson & Ringdahl 1989, Coles 1995, Delb et al. 1999 a, b, Pilgramm et al. 1999). Die Zahl der Betroffenen mit Tinnitus, welche keinerlei Behandlung ersuchen, ist nicht bekannt, so dass keine Daten zur Inzidenz, der Rate der Spontanremission und der Chronifizierung gemacht werden können. Demnach ist neben der Genese der Störung weitgehend unklar, bei welchen Patienten ein akuter Tinnitus einen chronischen Verlauf nimmt und welche Faktoren eine Chronifizierung möglicherweise begünstigen oder mitbedingen. Diesbezüglich wurden erst vereinzelt Studien initiiert (Langenbach 2002, D’Amelio et al. 2003 a, b), deren Ergebnisse zum jetzigen Zeitpunkt noch keine weiterreichenden Schlussfolgerungen zulassen. Ausgehend von der Zahl der Betroffenen, die sich in Behandlung begeben, chronifiziert der Tinnitus bei ca. 15% der Patienten (Schaaf et al. 2003). D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 3 Für viele Betroffene hat der chronische Tinnitus keine gravierende Auswirkungen auf Lebensqualität und Lebensführung, was als kompensierter Tinnitus bezeichnet wird (Biesinger 1998). Allerdings fühlen sich 10% der Patienten durch das chronische Ohrgeräusch zeitweise belästigt bzw. in ihrem Alltagsleben beeinträchtigt und 0,5 – 2,4 % aller Personen leiden massiv unter ihrem Tinnitus (Pilgramm et al. 1999, Schaaf et al. 2003). Eine Gewöhnung an das Ohrgeräusch ist für diese Patienten auch nach mehreren Jahren nicht möglich (Hiller & Goebel 1992, Delb et al. 1999 a) und das Symptom Tinnitus wird zur eigenständigen Erkrankung mit einhergehenden Störungen im kognitiven, emotionalen und somatischen Bereich (Moller 2000, Jäger & Lamprecht 2001). Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland ergibt sich hieraus eine Fallzahl von jährlich über 350.000 behandlungsbedürftigen Personen (Hesse et al. 1999, Schaaf et al. 2003). Im Bewusstsein dieser Betroffenen stellt der Tinnitus eine permanente aversive Stimulation dar, die mit Gefühlen der Hilflosigkeit, Angst, Wut und Ohnmacht einhergeht und zur psychosozialen Dekompensation des Betroffenen führen kann (Biesinger et al. 1998). Weiterhin beklagen diese Patienten negative Einflüsse der Ohrgeräusche auf das Sprachverständnis und damit einhergehende Störungen bei unterschiedlichen sozialen Aktivitäten, Unsicherheit und Versagensängste, Depressivität, Reizbarkeit und Konzentrationsstörungen (Erlandsson et al. 1992, Budd RJ & Pugh R 1995, 1996, Archonti 2002). Oftmals werden diese Schwierigkeiten von den Betroffenen ursächlich mit dem Tinnitus in Verbindung gebracht, obwohl die abgegebenen Probleme beim Hören und akustischem Verstehen auf eine objektivierbare Minderung der Hörfähigkeit zurückzuführen sind. Zur Klassifikation dieser Subgruppe von Patienten mit beträchtlicher subjektiv erlebter Belästigung durch den Tinnitus und Einschränkung in ihrer alltäglichen Lebensführung, psychosomatischen Beschwerden, psychiatrischer Komorbidität und erheblichen Leidensdruck spricht man von komplexem oder dekompensiertem Tinnitus (Duckro et al. 1984, Biesinger et al. 1998, Goebel W & Hiller W 1998, 2001, Hesse & Laubert 2001). Da eine kausale Therapie bei chronischem subjektivem Tinnitus in der Regel nicht möglich ist und sich Patienten mit kompensiertem und dekompensiertem Tinnitus mit audiologischen und psychoakustischen Methoden nicht valide voneinander differenzieren lassen (Erlandsson et al. 1992, Delb et al. 1999 a, b, Burkard & D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 4 Lamprecht 2001), wurden in der Betrachtung des Tinnitus schon recht früh psychologische Einflussfaktoren und therapeutische Interventionsmöglichkeiten berücksichtigt (Axelsson & Ringdahl 1989, Sopko & Bauer 1996, Tyler 1997). Als zentrale Annahme für den Mechanismus der Dekompensation wird das dysfunktionale Fokussieren der Aufmerksamkeit auf tinnitusbezogene Reize diskutiert. Die Fokussierung resultiert aus der Bedrohung, welche diese Patienten dem Reiz „Ohrgeräusch“ beimessen. Durch die erhöhte (und selektive) Aufmerksamkeit nimmt die empfundene Belastung weiter zu und es findet keine Gewöhnung (Habituation) an den Tinnitus statt (Hallam 1984, 1988). In den letzten Jahren hat sich als therapeutischer Standard in der Behandlung dieser Patientengruppe die Tinnitus-Retrainingtherapie (TRT) etabliert, die auf dem von P. Jastreboff und J. Hazell beschriebenen neurophysiologischen Tinnitusmodell basiert (Jastreboff & Hazell 1993, Jastreboff 1995, 1999, Jastreboff & Jastreboff 2000). Dieses definiert den Tinnitus als Produkt abnormer neuronaler Aktivität in der Hörbahn, die in höheren auditorischen Zentren als Geräusch oder Ton wahrgenommen wird. In ihrer ursprünglichen Fassung besteht die TRT aus den therapeutischen Elementen Krankheitsinformation (direktives Counseling) und Geräuschtherapie (Nutzung von Umgebungsgeräuschen und apparativer Versorgung mittels Hörgerät und/ oder Noiser). Nach den klinischen Erfahrungen jedoch sind die oben genannten Elemente (Counseling und Geräuschtherapie) der „klassischen“ TRT nicht ausreichend für eine adäquate Behandlung des chronischen Tinnitus (Biesinger et al. 1998, Goebel 2003 b). Insbesondere bei schwer belasteten (dekompensierten Tinnitus-) Patienten kann erst mittels einer psychologischen Intervention eine Abnahme der psychischen Sekundärsymptomatik und damit eine Gewöhnung an den Tinnitus stattfinden (Haerkötter & Hiller 1999, ADANO 2000, Archonti 2002, Goebel 2003 a, b). Das in Homburg vertretene Behandlungskonzept (Delb et al. 2002 c) folgt aus diesen Gründen der „erweiterten“ TRT nach den Richtlinien der ADANO (2000) und sieht ein integratives fachärztlichen medizinisch-psychologisches Diagnostik und Vorgehen Behandlung, vor, das psychologische zusätzlich zur Diagnostik und Psychotherapie der sekundären psychischen und psychosomatischen Störungen beinhaltet. D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 5 Dieses Konzept stellt einen Gegensatz zu den von Jastreboff (1999c) vertretenen Grundsätzen dar, der die psychologische Beteiligung an der TRT als nicht notwendig erachtet und lediglich bei Patienten mit wesentlicher Psychopathologie eine vorgeschaltete Psychotherapie empfiehlt, wobei die Quantifizierung der „wesentlichen“ Beeinträchtigung nicht näher definiert ist. Nach seiner Ansicht stehe insbesondere bei einer (tinnituszentrierten) Psychotherapie die Bewältigung und nicht die Habituation des Tinnitus im Vordergrund. Die von Jastreboff vertretene Position ignoriert damit die Ergebnisse verschiedener Forschungsgruppen, welche eindrücklich nachweisen konnten, dass bei belasteten Patienten erst durch eine kognitive Umstrukturierung dysfunktionaler Überzeugungen und durch die Vermittlung von allgemeinen und tinnitusspezifischen Bewältigungsfertigkeiten, eine nachfolgende Ausblendung des Tinnitus erreicht werden kann (Frenzel 1998, von Wedel & von Wedel 2000, Hesse & Laubert 2001, Hiller & Haerkötter 2003, Zachriat & Kroener-Herwig 2003). Die folgenden Ausführungen sollen einen Überblick über die wichtigsten Forschungsergebnisse zum chronischen Tinnitus geben, die als Grundlage für die Prinzipien und therapeutischen Strategien des hier dargestellten interdisziplinären Behandlungsprogramm zu sehen sind. 3.0 Stand der Forschung bei chronischem Tinnitus 3.1 Kontrollüberzeugungen und Bewältigungsstrategien Belastete Patienten im chronischen Stadium lassen sich durch spezifische Kontrollüberzeugungen und bestimmte dysfunktionale und maladaptive Muster der Krankheitsverarbeitung charakterisieren, die mit den Begriffen „Flucht“, „Vermeidung“ und „katastrophisierende Kognitionen“ umschrieben werden können (Attias et al. 1995, Budd & Pugh 1995, 1996, Delb et al. 1999 a, b, Schaaf et al. 2002). Die Art der Kontrollüberzeugung scheint einen moderierenden Einfluss auf die Adaptation an den Tinnitus zu haben, insofern sie Art und Umfang der angewendeten Bewältigungsstrategien mitbestimmt (Attias et al. 1995, Budd & Pugh 1995, Delb et al. 1999 a, b). Demnach sehen Individuen mit externaler Kontrollüberzeugung keine selbstimmanenten Möglichkeiten ihre Störung zu beeinflussen, fühlen sich dem Ohrgeräusch hilflos ausgeliefert und wenden aus der Konsequenz dieser Einstellung D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 6 keine funktionalen Bewältigungsstrategien an. Da sich Individuen mit unterschiedlich starker Tinnitusbelastung Kontrollüberzeugungen nicht hinsichtlich signifikant ihrer (illness locus krankheitsbezogenen of control, vgl. von Osterhausen 2001) voneinander unterscheiden, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass es sich hier nicht um das Ergebnis individueller Krankheitserfahrungen handelt. Die Überprüfung der Hypothese mittels prospektivem Studiendesign, dass diese allgemeinen Kontrollüberzeugungen als prämorbid bestehende Variable Einfluss auf das Maß der erlebten Beeinträchtigung nehmen und damit zu einem dekompensiertem Tinnitus führen, steht noch aus. In einer Arbeit von Delb et al. 1999 (a, b) wurden unter Berücksichtigung der beschriebenen Wirkfaktoren mittels Faktorenanalyse die möglichen Ursachen der Entstehung einer hohen Tinnitusbelastung erfasst. Die Ergebnisse lassen sich in einem hypothetischen Modell der Entstehung von hoher und niedriger Tinnitusbelastung abbilden (s. Abbildung 1). Depressivität hoch gering Hohe Tinnitusbelastung Faktor 2 Faktor 1 Maladaptive Stressverarbeitung (Resignation, Fluchttendenz, soziale Abkapselung) Externalität der Spontanattribution und Kontrollüberzeugung Adaptive Stressverarbeitung (Reaktionskontrolle, Positive Selbstinstruktion) Internalität der Spontanattribution und Kontrollüberzeugung Niedrige Tinnitusbelastung Abbildung 1: Multifaktorielles Modell der Entstehung von hoher und niedriger Tinnitusbelastung (nach Delb et al. 1999 b) Es lassen sich drei Faktoren identifizieren. Der Faktor 1 enthält eine Reihe von Variablen, die sich negativ auf die Krankheitsverarbeitung und -bewältigung auswirken. Der Faktor 2 enthält hingegen funktionale Verarbeitungsstrategien, die protektiv wirken und zur Reduktion der Tinnitusbelastung führen. Faktor 3 enthält alle Unterscores des Tinnitusfragebogens (Goebel & Hiller 1998) und kann als Maß der D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 7 Tinnitusbelastung definiert werden. Der fehlende direkte Zusammenhang zwischen diesen beiden Faktoren und der Tinnitusbelastung weist auf vorbestehende, nicht durch den Tinnitus selbst verursachte Verarbeitungsmechanismen hin. Das Modell verdeutlicht, dass Tinnitusbelastung und Variablen der Stress- und Krankheitsverarbeitung indirekt über den Faktor Depressivität miteinander in Beziehung stehen. Depressivität korreliert wiederum hoch mit der erlebten Beeinträchtigung durch den Tinnitus (Budd et al. 1995, Delb et al. 1999 a, b). 3.2 Psychiatrische Komorbiditäten Psychiatrische Störungen sind bei Patienten mit dekompensiertem Tinnitus im Vergleich zu Kontrollpersonen aus der Normalpopulation sowie Patienten mit anderen otolaryngologischen Erkrankungen signifikant erhöht (Hiller & Goebel 1992, Folmer et al. 1999, Schaaf et al. 2003). In retrospektiven Befragungen zeigt sich, dass bei dem überwiegenden Anteil der untersuchten Patienten die Manifestation der psychiatrischen Störung vor Beginn oder zeitgleich mit dem Auftreten der Tinnitussymptomatik liegt. In der Regel handelt es sich bei diesen klinisch relevanten komorbiden Erkrankungen um affektive Störungen, in geringerem Maß um Angsterkrankungen, Störungen durch psychotrope Substanzen, Persönlichkeits- und somatoformen Schmerzstörungen. Zudem zeigen sich hohe positive Korrelationen zwischen somatoformen Störungen, hypochondrischen Beschwerden und idiopathischem Tinnitus (Dilling et al. 1991, Hiller et al. 1997, Holgers et al. 1999, Marciano et al. 2003). Die Lebenszeitprävalenz für die Diagnose einer klinisch relevanten Depression ist bei Patienten mit erheblicher Beeinträchtigung durch den Tinnitus signifikant erhöht. Auch zeigt sich der Anteil von Patienten mit kürzlich zurückliegender Episode einer klinisch manifesten depressiven Episode signifikant über dem einer Kontrollgruppe (Harrop-Griffiths et al. 1987, Holgers et al. 1999). Der hohe Anteil der prämorbid psychisch belasteten Patienten hat zu unterschiedlichen Hypothesen über die Interaktion zwischen psychischer Störung und Verlauf des Tinnitus geführt (Hiller & Goebel 1992, Hiller et al. 1997). Aus den retrospektiv gewonnenen Ergebnissen kann gefolgert werden, dass bei einem Teil der betroffenen Patienten psychische Störungen als prädisponierende Bedingungen dem dekompensierten Tinnitus vorausgehen und dass bei entsprechend prädisponierten D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 8 Personen, der Tinnitus gleichermaßen als Auslöser einer psychischen Störung wirken kann. 3.3 Hirnfunktionelle und Hirnstrukturelle Veränderungen Durch bildgebende Verfahren können bei chronischen Tinnituspatienten auf Ebene der zentralnervösen Strukturen strukturelle und funktionelle Veränderungen aufgezeigt werden, die mit der Tinnituswahrnehmung und -empfindung verknüpft sind (Langner & Wallhäuser-Franke 1999, Salvi et al. 1999). So ließen sich mittels unterschiedlicher diagnostischer Verfahren (PET, MEG) signifikante Erhöhungen der metabolischen Aktivität im auditorischen Kortex nachweisen (Hoke et al. 1989, Pantev et al. 1989, Arnold 1995, Janssen & Arnold 1995, Hoke et al. 1998, Janssen et al. 1998, Lockwood et al. 1998, Mirz et al. 1999, Norena et al. 1999, Oestereicher et al. 1999, Salvi et al. 1999). Parallel zur diesen Befunden im Bereich des primären und sekundärem Hörkortex ließ sich auch eine Aktivierung des limbischen und retikulärem Systems, sowie des Frontallappens nachweisen (Lockwood et al. 1998, Wallhäuser-Franke & Langner 1999, Andersson et al. 2000, Gardner et al. 2002). Diese Ergebnisse unterstreichen den Einfluss von Emotions- und Aufmerksamkeitssteuernden Gehirnstrukturen an der Wahrnehmung des Tinnitus und der erlebten Belästigung durch ihn. Die Arbeitsgruppe um Mühlnickel et al. (1998) gelang mit Hilfe der funktioneller Kernspintomographie der Nachweis, dass bei Patienten mit chronischem Tinnitus die kortikale Repräsentation der Tinnitusfrequenz in ein Gebiet außerhalb des auditorischen Cortex verlagert ist und dass die Stärke der Tinnitusempfindung in Korrelation mit dem Ausmaß dieser cortikalen Reorganisation steht (Mühlnickel et al. 1998). Dieser Befund stützt die Hypothese einer dysfunktionalen kortikalen Reorganisation und neuronalen Plastizität bei chronischem Tinnitus. Anzumerken bleibt, dass bei allen Untersuchungen das prospektive Design fehlt und dass die angeführten Daten sich ausschließlich auf Untersuchungen bei Patienten mit chronischem Tinnitus beziehen. Neben der z.T. unterschiedlichen Methodik und kleinen Stichgruppengröße wirft dies hinsichtlich der Interpretation der Ergebnisse eine Reihe von Schwierigkeiten auf. Insbesondere der Verlauf und die Richtung der möglichen Beeinflussung kann hieraus nicht gefolgert werden. Die beobachteten D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 9 Veränderungen an zentralen Strukturen könnten bereits zu Erkrankungsbeginn vorhanden gewesen sein, oder auch in Folge einer dysfunktionalen Krankheitsverarbeitung oder anderer psychischer Prozesse auftreten. In diesem Fall könnte die Reorganisation Tinnituswahrnehmung und dieser –belastung zentralnervösen durch Korrelate psychologische der Interventionen funktional beeinflusst werden. 3.4 Mechanismen der Dekompensation 3.4.1 Persönlichkeitsmerkmale Eine Reihe von Studien hat sich mit der Rolle von Persönlichkeitsmerkmalen als prädisponierende oder aufrechterhaltende Variable im Dekompensationssprozess des Tinnitus beschäftigt. Die zugrundeliegende Annahme ist, dass sich Tinnituspatienten mit unterschiedlicher Symptomausprägung in Bezug auf die Beeinträchtigung und die Folgen der Ohrgeräusche, hinsichtlich bestimmter Persönlichkeitsdimensionen unterscheiden lassen. Darüber hinaus implizierte die Suche nach bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen zum Teil auch die Frage nach einer definierten Persönlichkeitsstruktur (“Tinnituspersönlichkeit”), die als Prädisposition zur Entwicklung eines dekompensierten Tinnitus verstanden werden könnte (Schneider et al. 1994). Die Datenlage weist insgesamt darauf hin, dass Patienten mit dekompensierten Tinnitus vermehrt unter somatischen Beschwerden und Beeinträchtigungen relevanter psychischer Funktionen leiden und insbesondere in den Dimensionen Depressivität und Angst auffällige Werte aufzeigen. Dabei korreliert der Grad der Depressivität signifikant mit dem Ausmaß der Tinnitusbelastung (Delb et al. 1999 a, b, Scott & Lindberg 2000). Andere Autoren berichten über erhöhte Neurotizismusscores sowie erhöhte Werte auf der Skala Extraversion (Wood et al. 1983, Schneider et al. 1994), die sie mit einem erhöhten Maß an „Klagsamkeit“ in Verbindung bringen. Verschiedene Studien zeigen auch einen Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsmerkmalen, dem Ausmaß der empfundenen Selbsteffizienz und den Umgang mit Belastungen (Attias et al.1995, Budd & Pugh 1995, 1996). Unbelastete Patienten mit chronischem Tinnitus unterscheiden sich in den oben genannten Dimensionen nicht oder nur geringfügig von Kontrollgruppen (vgl. Kirsch et al. 1989). Die konzeptionelle Ähnlichkeit des Krankheitsverhaltens D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag bei 10 dekompensiertem Tinnitus mit Somatisierung und somatoformen Störungen lassen vermuten, dass derartige Tendenzen von Bedeutung im Dekompensationssprozess bzw. im Prozess der Chronifizierung des Tinnitus sein können (vgl. Rief & Hiller 1992, Hiller et al. 1997, Myrtek 1998). Demnach führen nosophobische Tendenzen und verstärkte Interozeption über Aufmerksamkeitsfokussierung zu einem Ausbleiben der Habituation und zu einer verstärkten Wahrnehmung und Belästigung durch den Tinnitus (Hallam et al. 1984, 1988). Die Ergebnisse weisen insgesamt darauf hin, dass Patienten mit chronischem dekompensiertem Tinnitus eine klinisch auffällige Gruppe darstellen. Insbesondere die Persönlichkeitsdimensionen Ängstlichkeit, Depressivität und Somatisierungstendenz scheinen mit dem Ausmaß der empfundenen Belästigung zu korrelieren und an dem Prozess der Dekompensation beteiligt zu sein. Kompensierte Patienten unterscheiden sich in ihrem psychologischen Profil hingegen nicht von Kontrollpersonen. 3.4.2 Vulnerabilitätsmodell Zu den Erklärungsmodellen der unterschiedlichen Belastungsgrade durch das Auftreten eines chronischen Tinnitus zählt das von Hiller und Goebel (1992) formulierte Vulnerabilitätsmodell. In diesem wird der auftretende Reiz Tinnitus als ein potentieller Stressor betrachtet. Das individuelle Vulnerabilitätsniveau bestimmt nun, ob bei Konfrontation mit diesem potentiellen Stressor eine kritische Belastungsschwelle erreicht wird und zur Dekompensation mit Manifestation einer psychischen Störung führt. Unter diesem Gesichtspunkt kann bei entsprechender Vulnerabilität auch ein nach objektivierbaren Kriterien “geringfügigerer“ Tinnitus zu einer Dekompensation führen. D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 11 Dekompensationsgrenze Tinnitus Konflikte bei der Arbeit Ungünstige Lebensumstände Mangelnde soziale Unterstützung Externale KontrollÜberzeugung Abbildung 2: Vulnerabilitätsmodell in Anlehnung an Komorbidität Hiller & Goebel 1992 (D’Amelio R, unveröffentlichter Vortrag auf dem 2. Homburger Kurs zur Tinnitus-Retrainingtherapie in der HNOUniversitätsklinik, 2003) In der Überarbeitung des Konzepts (Lindberg und Scott 1999) wurden soziale Faktoren stärker berücksichtigt, so dass sich das Vulnerabilitätsniveau als eine Funktion aus relativ stabilen, auf das Individuum bezogenen Charakteristika und externen, in der sozialen Umwelt definierten Faktoren darstellen lässt. Es beinhaltet interindividuelle Unterschiede im Umgang mit neuen Situationen, Bewältigungsstile und Kontrollüberzeugungen, welche dieses Vulnerabilitätsniveau ebenso beeinflussen können, wie bereits vor bzw. zu Beginn des Tinnitus bestehende psychische Beeinträchtigungen, ungünstige Lebensumstände und andere Stressoren. 3.4.3 Mangelnde Toleranzentwicklung Die referierten Daten zeigen, dass der überwiegende Teil der chronischen Tinnituspatienten nach einiger Zeit die Symptome toleriert, d.h. ohne psychische und körperliche Folgen lebt und die Ohrgeräusche nur gering oder gar nicht mehr wahrnimmt. Auf der Grundlage dieser Beobachtung formulierten Hallam et al. (1984) D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 12 das Konzept der Habituierung der Aufmerksamkeit. Das Konzept sieht die Reaktion auf den Tinnitus als eine Funktion des Ausmaßes der Aufmerksamkeit, die diesem zugewendet wird. Dem Modell von Hallam (1987, et al. 1984, 1988) liegt das Konzept des Reiz-Reaktions-Vergleichs zugrunde, das 1963 von Sokolow als Habituierung oder Habituation der Orientierungsreaktion Orientierungsreaktion wird bei Vergleichsprozesses zwischen gespeicherten neuronalen Desynchronisation des psychophysiologischer diskrepantem bezeichnet Ergebnis ankommenden Modellen gesamten Parameter ausgelöst. Cortex, (wie einer Reihe erhöhte („mismatch“) sensorischen Sie wurde. Stimuli besteht von in Die eines und einer Veränderungen Hautleitfähigkeit, Atmung, Herzfrequenz, etc.), einer erhöhten Sensibilität der Sinnesorgane und Hinwendung des Organismus zur Reizquelle. Der Vorgang der Habituierung ist eng gekoppelt an die Charakteristika des Reizes. Änderungen hinsichtlich einer beschreibbaren Dimension des Reizes führen zum erneuten Auftreten der Orientierungsreaktion bzw. zur Dishabituation (Schonecke 1996). Hallam (et al. 1984, 1988 sowie Coles & Hallam 1987) gehen davon aus, dass die Habituierung an den “internen Reiz“ Tinnitus in gleicher Weise vonstatten geht, wie die Habituierung an einen externen, wiederholt dargebotenen Stimulus. Da der Tinnitusreiz objektiv betrachtet keine Handlungsrelevanz besitzt, ist er als irrelevanter Reiz zu betrachten, so dass eine Habituation stattfinden kann. Vollständige Habituierung an den Tinnitus bedeutet, dass die physiologische Reaktion und Hinwendung an das Geräusch nicht mehr erfolgt, selbst wenn eine sensorische (akustische) Wahrnehmung stattfindet. Hallam (1987, et al. 1984, 1988) nehmen an, dass bei Patienten mit dekompensiertem Tinnitus die Orientierungsreaktion bestehen bleibt, da eine Habituierung aufgrund der Relevanz, die dem Reiz zugesprochen wird, nicht stattfinden kann. Stimulusspezifische Parameter des Tinnitus können für das Ausbleiben der Habituation oder den Effekt einer wiederholten Dishabituation nur zu einem geringen Teil verantwortlich gesehen werden, da sich Patienten mit kompensiertem und dekompensiertem Tinnitus hinsichtlich der Kontinuität, Frequenz, Lautheit etc. der Ohrgeräusche nicht signifikant voneinander unterscheiden (Tyler & Baker 1983). Für Hallam (1987, et al. 1984, 1988) ist der Prozess der Chronifizierung ein multifaktorielles Geschehen: die Aufmerksamkeitsfokussierung auf den Tinnitus ist der kritische Mechanismus, der als eine Funktion aus interagierenden sensorischen, perzeptuellen und individuellen, d.h. dispositionellen Faktoren sowie D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 13 tinnitusbezogenen Beschwerden zu sehen ist. Auf der sensorischen Ebene spielen einige Charakteristika des Tinnitus und die individuelle Hörschwelle eine Rolle. Auf der perzeptuellen Ebene findet eine Interaktion zwischen kortikalem Erregungsniveau, konkurrierenden Aufmerksamkeitsprozessen sowie der Bedeutung der Ohrgeräusche statt. Hallam et al. (1984, 1988) gehen davon aus, dass sich ein erhöhtes kortikales Arousal hemmend auf die Habituierung auswirkt und damit zur Aufmerksamkeitsfokussierung beiträgt. Sensorische Faktoren Apparative Umbegungsgeräusche Maskierung Ausmaß der Wahrnehmung Ausmaß der Ohrerkrankung Auditive Beachtung des Tinnitus Ausmaß der Belästigung InformationsAufnahme Interpretation und Bewertung des Tinnitus Meinungen Ängstlichkeit und Erregung Gefühle Belastungs- Faktoren Überdeckbarkeit durch Faktoren Individuelle Hörminderung Intensität Konkurrierender Aufmerksamkeit Wahrnehmung Abbildung 3: Mehrdimensionales Tinnitusmodell (in Anlehnung an Hallam 1987) Dieser Ansatz wird auch im dem von Jastreboff formulierten neurophysiologischen Modell (Jastreboff & Hazell 1993, Jastreboff 1995, 1999, Jastreboff & Jastreboff 2000) verfolgt. Dieses Modell definiert den Tinnitus als das Endprodukt eines drei Stufen umfassenden pathologischen Prozesses. Aufgrund von Funktionsstörungen der Cochlea kann es zu einer Steigerung der Aktivität in der Hörbahn kommen. Das akustische Signal durchläuft, bevor es wahrgenommen wird, mehrere Zwischenstationen, die verschiedene Funktionen erfüllen. Der Detektionsprozess findet im Sinne einer Mustererkennung in subkortikalen Zentren statt und die Perzeption und Evaluation der mit dem Tinnitus korrelierten neuronalen Aktivität im D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 14 auditiven Cortex . Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass in den genannten Strukturen Prozesse wie die Erkennung, Abschwächung und Verstärkung von Signalen geschehen. Diese Abschwächung oder Verstärkung ist davon abhängig, ob das betreffende akustische Signal für das Individuum zum gegebenen Zeitpunkt relevant ist. So ist z. B. das Ticken einer Uhr oder das gleichbleibende Brummen eines Kühlschrankes in der Regel nicht von Bedeutung und wird aus diesem Grund bereits nach kurzer Zeit “herausgefiltert“. Andererseits werden Signale, die potentiell relevant sein könnten, wie z. B. das Martinshorn im Straßenverkehr, in der Regel bevorzugt registriert. Die Differenzierung zwischen relevanten und irrelevanten Signalen ist dabei das Resultat von Lernprozessen (Erfahrungen), steht jedoch auch in Abhängigkeit zu situativen Bedingungen (z.B. Stimmungslage, persönliche Betroffenheit). Ein bislang irrelevantes Signal kann jederzeit die Bedeutung eines wichtigen Signals erhalten und ist dann entsprechend (positiv oder negativ) emotional besetzt. Es erfolgt also initial eine Bewertung eines Geräusches. Wird ein Geräusch dabei als unwichtig eingestuft, so wird es im weiteren Verlauf ignoriert. Nur subjektiv bedeutsame Geräusche werden weiter wahrgenommen bzw. in den Fokus der Aufmerksamkeit gebracht. Insbesondere Reize, die emotional besetzt sind, lösen dabei eine deutliche vegetative Reaktionen aus. Übertragen auf den Tinnitus und dem neurophysiologischen Modell bedeutet dies, dass eine im Bereich der Hörbahn vorhandene Aktivität, die sich als Ohrgeräusch äußert, aufgrund einer erhöhten Aufmerksamkeit wahrgenommen wird und einer Bewertung unterliegt. Wird dieser (erstmals empfundene oder bestehende) Tinnitus mit einem negativ gefärbten (z.B. angstbesetzten) Empfinden assoziiert, so erhält er eine bedrohliche Qualität. Die Konsequenz ist ein dysfunktionaler und sich selbst aufschaukelnder Prozess, bestehend aus Aufmerksamkeitsumlenkung bzw. Fokussierung auf dieses als bedrohlich bewertete Signal, verstärkter Wahrnehmung des Tinnitus und einer wiederum negativen emotionalen Reaktion unter Beteiligung des autonomen Nervensystems. In der folgenden Abbildung wird das Zusammenspiel von auditorischen, limbischen, autonomen und kortikalen Systemen, wie es im neurophysiologischen Modell postuliert wird, dargestellt. D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 15 3. Hörzentrum Wahrnehmung und Bewertung 2. Subkortikal Lymbisches System: Negative Emotionale Assoziation Erkennung Filterfunktion Verstärkung Abschwächung 1. Innenohr Autonomes Nervensystem: Sensor Ursprung der Tinnitusgenerierung Belästigung durch Tinnitus Abbildung 4: Das neurophysiologische Modell des Tinnitus (nach Jastreboff & Hazell 1993) Trotz der Relevanz dieses Modells ist kritisch anzumerken, dass Jastreboff den Prozess der klassischen Konditionierung als hinreichenden Wirkmechanismus für die Entstehung einer hohen Belastung durch Tinnitus sieht und damit den Einfluß prämorbid vorhandener Persönlichkeitsdimensionen und Verhaltensdispositionen auf die Verarbeitung der Störung ignoriert. Demnach wäre bereits die (zufällige) Koinzidenz von Wahrnehmung des Tinnitus und negativ besetzter Gedanken und Emotionen, die mit diesem nicht in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen müssen, eine hinreichende Bedingung für die Entwicklung einer hohen Belastung (Jastreboff 1995, 1999). Wegen der negativ gefärbten Emotionen und der damit verbundenen Aktivierung des Autonomen Nervensystems käme es zu einer Reflexverstärkung und die Aufmerksamkeit bleibt auf den Tinnitus fixiert, was die subjektive Bewusstheit des Ohrgeräusches und die daraus resultierenden emotionalen Reaktionen weiter verstärkt. Nach Jastreboff (1995, 1999) geschehen diese Prozesse bereits auf einer subbewussten Verarbeitungsebene und entziehen sich somit der (bewussten) Kontrolle des Patienten. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass durch das neurophysiologische Tinnitusmodell einige der Widersprüche aufgeklärt werden konnten, die mit der Vorstellung verknüpft waren, dass der chronische Tinnitus ausschließlich eine D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 16 Erkrankung des Innenohrs sei. Das bedeutet, dass emotions- und aufmerksamkeitssteuernde zentralnervöse Strukturen, die mit dem Hörsystem in vielfältiger Weise verbunden sind, auch bei der Entstehung und bei der Generierung der Belastung durch Tinnitus eine bedeutende Rolle spielen. Insbesondere die negativen Bewertungen und emotionalen Begleitreaktionen, die den chronischen dekompensierten Tinnitus charakterisieren, sind nicht den auditorischen Strukturen zuzuordnen. Anzumerken ist, dass das neurophysiologische Modell und die in der TRT vermittelten Aspekte schon früh auch von anderen Autoren postuliert wurden (Goebel 1997). Wesentliche Vorarbeit leistete hier vor allem Hallam (1987, et al. 1984, 1988), der in seinem „Habituationsmodell“ Tinnitus als mehrdimensionales Geschehen begreift, welches eng mit kognitivem und emotionalem Erleben verknüpft ist. 4.0 Grundlagen der Tinnitus-Retrainingtherapie Die Tinnitus-Retrainingtherapie (TRT) ist ein Modell zur Therapie des chronischen Tinnitus. Ziel der TRT ist die mit der Wahrnehmung des Tinnitus verknüpften negativen Emotionen zu reduzieren oder die Verbindung zwischen Tinnitus und negativer emotionaler Reaktion zu lösen. Dies wird als Habituation der emotionalen Reaktion bezeichnet und gilt als Voraussetzung für die Habituation der Perzeption, also das zeitweise oder dauerhafte „Überhören“ des Tinnitus. Bezogen auf das Neurophysiologische Tinnitusmodell stellt sich dieser Prozess der Habituation folgendermaßen dar: D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 17 3. Hörzentrum Wahrnehmung und Bewertung Habituation der Perzeption Neubewertung 2. Subkortikal Lymbisches System: Neutrale bzw. positive Emotionale Assoziation Filterfunktion Abschwächung Habituation der tinnitusinduzierten Reaktion 1. Innenohr Autonomes Nervensystem: Sensor Ursprung der Tinnitusgenerierung Abnahme der Belästigung durch Tinnitus Abbildung 5: Therapeutische Implikationen nach dem neurophysiologischen Modell (in Anlehnung an Jastreboff & Hazell 1993) Die TRT zielt nicht darauf ab, den Tinnitus im Bereich des peripheren Tinnitusgenerators auszuschalten, sondern beabsichtigt die Induktion von Umgewöhnungsprozessen (= retraining) in zentraler Hörbahn, limbischem und autonomem System. Dadurch soll der Mustererkennungsprozess des Tinnitus auf subkortikaler Ebene günstig beeinflusst werden (Hazell 1999, von Wedel & von Wedel 2000). Wie schon beschrieben (vgl. Abschnitt: 2.0 Einleitung) besteht die „klassische“ TRT aus den therapeutischen Elementen: akustische Stimulierung des Hörorgans zum Zwecke (direktives der Defokussierung Counseling) des (Geräuschtherapie) Patienten unter und Krankheitsinformation Berücksichtigung des neurophysiologischen Tinnitusmodells (Jastreboff & Hazell 1993). In Anlehnung an die „klassische“ TRT nach Jastreboff (Jastreboff & Hazell 1993, Jastreboff 1995, 1999, Jastreboff & Jastreboff 2000) werden in dem deutschen Konzept der TRT (ADANO 2000) neben der HNO-ärztlichen und audiologischen Diagnostik weitere Elemente hinzugefügt, die aus psychologischer Diagnostik und (tinnitusspezifischer) Psychotherapie der sekundären psychischen und D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 18 psychosomatischen Störungen bestehen. Die TRT-ADANO umfasst – in Abhängigkeit der psychischen Sekundärsymptomatik bzw. der empfundenen subjektiven Belastung durch Tinnitus – folgende therapeutische Bausteine (vgl. von Wedel & von Wedel 2000, Hesse & Laubert 2001, Schaaf et al 2002, Goebel 2003 b): Die Geräuschtherapie, ein nicht-direktives Counseling und eine tinnituszentrierte psychologische Beratung und/ oder tinnitusspezifische Psychotherapie Tabelle 1: therapeutische Bausteine der TRT-ADANO Die Geräuschtherapie hat zum Ziel durch die Nutzung natürlicher Umgebungsgeräusche aus der „Klangwelt“ des Patienten und mittels apparativer Versorgung (mit einem sogenannten Noiser bzw. Rauschgenerator und bei entsprechender medizinischer Indikation mit einem Hörgerät, Übersicht bei Delb 2002 a, b) eine Teil-Verdeckung des Tinnitus zu erreichen. Damit soll das Ohrgeräusch aus der Wahrnehmung des Patienten rücken und der Prozess der Habituierung unterstützt werden. Die Prinzipien und die Umsetzung der Geräuschtherapie in den Alltag des Patienten werden in der Regel von dem HNOFacharzt im Rahmen des (nicht-direktiven) Counseling besprochen. Als nicht-direktives Counseling (Psychoedukation) wird hier – in Abgrenzung zum Konzept der „klassischen“ TRT – ein ausführliches Aufklärungs-, Informations- und Beratungsgespräch bezeichnet, das im Sinne des Selbstmanagements Krankheitsverständnis fördern und einen selbstverantwortlichen Umgang mit der Störung unterstützen soll (Kanfer et al. 2000, Bäuml et al. 2003). In der Regel wird das Counseling durch den HNO-Facharzt geführt. Im Dialog mit dem Patienten und aufbauend auf sein subjektives Krankheitsmodell sollen medizinische Grundlagen des Hörorgans, Modelle der Tinnitusentstehung und Möglichkeiten und Grenzen therapeutischer Maßnahmen vermittelt werden. Dadurch sollen angstbesetzte Fehlkognitionen zum Tinnitus und dessen Verlauf korrigiert und dem Patienten ein psychosoziales bzw. psychosomatisches Verständnis seiner Tinnitusproblematik ermöglicht bzw. die Bedeutung psychischer Prozesse und psychosozialer Faktoren D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 19 auf das Krankheitserleben verdeutlicht werden (Preyer & Bootz 1995). Durch das Ohrgeräusch belastete Patienten haben üblicherweise ein somatisch orientiertes Modell ihrer Erkrankung und – gemessen an dem Wunsch, den Tinnitus „zu beseitigen“ – bereits eine ganze Reihe von erfolglosen Therapien hinter sich. Sie verknüpfen mit dem Besuch der „Tinnitus-Sprechstunde“ eine Heilserwartung an den behandelnden HNO-Facharzt, der sich wiederum insbesondere bei schwerer belasteten Patienten einem erhöhten Handlungsdruck ausgesetzt sieht. Für die Planung der Therapie und für die Herstellung einer tragfähigen BehandlungsCompliance ist es wichtig, auf das somatisch ausgerichtete subjektive Krankheitsmodell des Patienten einzugehen und dies entsprechend zu modifizieren. Auch wenn die Erwartungen des Patienten bezüglich einer "Heilung" des Tinnitus relativiert bzw. korrigiert werden müssen, ist es zur Erhaltung der Therapiemotivation notwendig, keine Feststellungen zu machen bzw. zu dozieren und medizinische „Fakten“ zu präsentieren, sondern zusammen mit dem Betroffenen ein lösungsorientiertes Verständnis der Störung zu erarbeiten. Counseling ist zwar ein wesentlicher und therapeutisch wirksamer Bestandteil der TRT, eignet sich jedoch nicht als alleinige Therapie bei schwer belasteten Patienten (Grad 3 und 4 nach Biesinger et al. 1998) und muss deshalb durch eine psychotherapeutische Intervention ergänzt werden (Wilson et al. 1998, Schaaf & Holtmann 1999, ADANO 2000, Rosanowsky et al. 2000, Schilter 2000, Schaaf et al. 2002, Schilter et al. 2002). Aus diesem Grund werden beim Vorliegen einer psychischen Beeinträchtigung die oben genannten Behandlungsmodule der TRT ergänzt durch eine tinnitusspezifische psychologische Beratung und/ oder psychotherapeutische Intervention (s. Abschnitt: 5.2 Die Psychologische Tinnitus-Therapie). Über die Modifikation dysfunktionaler Bewertungen zum Tinnitus, der Vermittlung von Entspannungstechniken, Methoden zur Aufmerksamkeitslenkung, Maßnahmen zur Stressimmunisierung und der Vermittlung funktionaler Bewältigungsstrategien (z.B. Analyse und Abbau von Vermeidungsverhalten) soll eine adaptiver Umgang mit dem Tinnitus erlernt werden (deutschsprachige Manuale zu einer tinnitusspezifischen kognitiv-behavioralen Psychotherapie wurden von Kröner-Herwig 1997, D’Amelio 2002 erstellt). D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 20 Aus den Ausführungen geht hervor, dass die TRT-ADANO eine interdisziplinär aufgebaute Therapie mit einem kombinierten und integrativen medizinischpsychologischen Vorgehen ist. Ziel der TRT-ADANO ist das Vermitteln von Verhaltensweisen und Bewertungen, die bei den Patienten zu einer Defokussierung des Ohrgeräusches und damit zu einer Reduktion der psychosozialen Belastung führen (ADANO 2000). Die Voraussetzung zur Einleitung einer Therapie bei chronischem subjektiven Tinnitus ist eine anhaltende Beeinträchtigung im Erleben und Verhalten des Betroffenen, wobei sich die therapeutischen Maßnahmen nach dem subjektiven Grad der tinnitusspezifischen Belästigung und dem Ausmaß der psychischen Sekundärsymptomatik bzw. möglichen Komorbidität ausrichten (D’Amelio 2002, Goebel 2003 a, b). 5.0 Das Homburger Behandlungskonzept Das hier vorgestellte ambulante Therapiekonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus resultiert aus einem interdisziplinären Projekt, das an der Universitätsklinik des Saarlandes in Kooperation der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, der HNO-Klinik und der Fachrichtung für Medizinische und Klinische Psychologie durchgeführt wurde (Delb 1999 a, b, von Osterhausen et al. 2001, Delb et al. 2002 b, D’Amelio et al. 2003, Delb et al. 2003). Dieses Programm wurde evaluiert und ist in manualisierter Form publiziert worden (Delb et al. 2002). Im folgenden soll ein Überblick über das Homburger Therapiekonzept gegeben werden unter besonderem Augenmerk auf die „Psychologische Tinnitus-Therapie“ (PTT, D’Amelio 2002), welche in der Behandlung von Patienten mit dekompensiertem Tinnitus eingesetzt wird. 5.1 Diagnostik der Tinnitusbelastung und therapeutische Implikationen Die Indikation zur Durchführung der TRT sollte ausschließlich nach entsprechender medizinischer und psychologischer Diagnostik gestellt werden und bedarf einer engen Abstimmung zwischen HNO-Facharzt und Psychotherapeuten. Die Feststellung der Behandlungsbedürftigkeit erfolgt im Rahmen einer interdisziplinär geführten „Tinnitus-Sprechstunde“ und orientiert sich an der Einschätzung („staging“) der Tinnitusbelastung. D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 21 Tinnitussprechstunde Medizinische Diagnostik Psychologische Diagnostik Interdisziplinäre „Tinnitus-Konferenz“ Behandlungsempfehlung + Behandlungsvereinbarung Abbildung 6: Ablauf der integrativen medizinisch-psychologischen Diagnostik nach dem Homburger Modell Zur Objektivierung des Tinnitus-Schweregrades mittels standardisierter Fragebögen bietet sich der Tinnitusfragebogen (TF) nach Goebel und Hiller (1998) an. Der TF ist ein Selbstbeurteilungsfragebogen zur Bestimmung der subjektiven psychischen Belastung durch Tinnitus. Die Items des Fragebogens repräsentieren typische Aussagen bzw. Beschwerden von Patienten mit chronischem Tinnitus. Der Patient kreuzt an, inwieweit die Aussagen des TF jeweils auf ihn zutreffen, die Beantwortung erfolgt auf einer dreistufigen Skala mit den Abstufungen: „stimmt“, „stimmt teilweise“ und „stimmt nicht“. Der TF umfasst folgende sechs Faktoren: Emotionale Belastung (E), Kognitive Belastung (C), Penetranz des Tinnitus (I), Hörprobleme (A), Schlafstörungen (Sl) und Somatische Beschwerden (So). Mit den ermittelten Skalenwerten können tinnitusspezifische Belastungsfaktoren in den oben beschriebenen Bereichen im Sinne eines differentiellen Belastungsprofil erfasst werden. Damit ist eine Unterscheidung von emotionalen und kognitiven Belastungsfaktoren, psychoakustischen Beschwerden und der subjektiv erlebten Penetranz des Ohrgeräusches möglich. Zusätzlich kann ein globaler Gesamtwert der subjektiv empfundenen Belastung durch Tinnitus des Patienten gebildet und damit (in Abstimmung mit dem klinischen Eindruck) entschieden werden, ob es sich um einen kompensierten oder dekompensiertem Tinnitus handelt. Darüber hinaus ist der D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 22 TF geeignet für Veränderungsmessung und kann somit zur Abbildung von Verläufen bzw. zur Überprüfung von therapeutischen Fortschritten eingesetzt werden. Die Zuordnung zu den Schweregraden der subjektiven tinnitusbezogenen Belastung kann entsprechend dem klinischen Eindruck und/ oder dem Gesamtscore im TF getroffen werden: Belastung durch Tinnitus Schweregrad entspricht Klinische Symptomatik TF-Gesamtscore Schweregrad 1 (kompensiert) 0-30 Punkte Schweregrad 2 (kompensiert) 31-46 Punkte Kein Leidensdruck Tinnitus ist hörbar bei geringen Ungebungsgeräuschen und wirkt störend bei Stress und emotionaler Belastung. Tinnitus ist maskierbar durch Umgebungsgeräusche Schweregrad 3 (dekompensiert) 47-59 Punkte Tinnitus übertönt alle Geräusche. Die Betroffenen fühlen sich durch den Tinnitus sowohl im beruflichen wie auch privaten Bereich erheblich beeinträchtigt. Es treten ausgeprägte Störungen im kognitiven, emotionalen und körperlichen Bereich auf Schweregrad 4 (dekompensiert) 60-84 Punkte Der Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im privaten und beruflichen Bereich, bis hin zur Arbeitsunfähigkeit Tabelle 2: Gesamtscore im TF (Hiller & Goebel 1998) und Gradeinteilung der Tinnitusbelastung nach klinischer Symptomatik (Biesinger et al. 1998) Die Schweregrade 1 und 2 entsprechen in ihrem klinischen Gesamtbild dem kompensierten Tinnitus. Es handelt sich um Patienten ohne bzw. mit nur geringem, Leidensdruck. Die Schweregrade 3 und 4 entsprechen in ihrem klinischen Gesamtbild dem dekompensierten Tinnitus. Patienten mit Grad 3 sind in ihrer Lebensführung und hinsichtlich ihres psychischen Befindens in erheblichem Maß beeinträchtigt. In Grad 4 können die mit dem Tinnitus einher gehenden psychosozialen Folgen als so gravierend eingestuft werden, dass hier ambulante Maßnahmen nicht greifen und der Patient zuerst in einem stationären Setting behandelt werden muss. D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 23 Einen Überblick über das therapeutische Procedere in Abhängigkeit des Schweregrades der Tinnitusbelastung ist in der folgenden Tabelle zusammengefasst: Grad 1 Counseling, Geräuschtherapie Grad 2 •Zusätzlich zu Grad 1 wird eine Analyse der aktuellen Stressoren durchgeführt und Maßnahmen zur Stressreduktion (Umdeutung, Positive Selbstverbalisation, Entspannung, Bewegung) erarbeitet Grad 3 •Counseling, „Geräuschtherapie“, [Versorgung mit Noiser], ambulante Psychologische Tinnitus-Therapie (PTT), Mitbehandlung der komorbiden Störungen Grad 4 •I.d.R. stationäre Therapie mit Fokus auf Behandlung der komorbiden Störung und tinnitusspezifischer Psychotherapie, anschließend ambulante Fortführung der Behandlung entsprechend Grad 3 Tabelle 3: Therapeutische Konsequenzen in Abhängigkeit vom ermittelten Schweregrad der Belastung. (ergänzt nach von Wedel & von Wedel 2000). In Schweregrad 1 beschränkt sich die Perzeption des Tinnitus auf wenige und begrenzte zeitliche Abschnitte, die beim Betroffenen keine aversiven emotionalen Reaktionen auslösen. Bei diesen Patienten mit kompensiertem Tinnitus wird eine Kombination aus Verständnisfähigkeit Geräuschtherapie des Patienten und ein orientiertes am Wissensstand (nicht-direktives) und der Counseling durchgeführt. Dieses Aufklärungs- und Beratungsgesprächgespräch wird in der Regel vom kooperierenden HNO-Facharzt gestaltet und erfolgt in Verbindung mit der klinischen und audiologischen Untersuchung oder zeitgleich mit der Besprechung etwaiger Befunde. Dadurch sollen beim Patienten negative und angstbesetzte Kognitionen (z.B. über die Notwendigkeit bestimmter diagnostischer Maßnahmen) vermieden bzw. bei Bedarf gezielt angesprochen und revidiert werden. Das therapeutische Vorgehen orientiert sich an dem Grundsatz, den Patienten über den chronischen Tinnitus und den zu erwartenden Verlauf aufzuklären, Wissen zu vermitteln und dadurch auch etwaige Fehlinformationen bzw. Befürchtungen zu korrigieren. Fehlinformationen können z.B. nicht zuletzt durch das in den Medien verbreitete Schreckensbild der „Volkskrankheit Tinnitus“ entstehen, das unzulässige katastrophisierende Aussagen über den Verlauf und die psychische Belastung bei chronifiziertem Verlauf nahe legt und so eine dysfunktionale Lenkung der Aufmerksamkeit auf den Tinnitus begünstigen kann. Das Counseling dient auch als D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 24 präventive Maßnahme, insofern die krankheitsbezogene Aufklärung und die Wissensvermittlung das Entstehen von tinnitusbezogenen angstbesetzte Kognitionen verhindern soll. Darüber haben die Patienten die Möglichkeit, sich bei aufkommenden Fragen oder Unsicherheit erneut mit dem behandelnden HNO-Arzt in der „Tinnitus-Sprechstunde“ in Verbindung zu setzen („always keep the door open“). Patienten mit kompensiertem Tinnitus des Schweregrades 2 nehmen ihren Tinnitus zeitweise stärker wahr und empfinden ihn dann auch als Störung bzw. fühlen sich durch ihn belästigt. Insbesondere bei Stille und unter emotionaler Anspannung wird das Ohrgeräusch als lauter und beeinträchtigender erlebt. Zusätzlich zu den unter Grad 1 genannten therapeutischen Elementen und Strategien werden diese Patienten mit einer individuellen psychologische Beratung und/ oder Intervention im Einzelsetting behandelt, unter Einbezug von Modulen und Materialien aus der PTT. Im Fokus der Behandlung steht dabei die Verhaltensanalyse der situativen Bedingungen der Zunahme der Belästigung durch den Tinnitus und Strategien zur Reduktion der psychischen Anspannung bzw. zur Stressimmunisierung. Die Einbindung der Patienten mit Schweregrad 2 in die PTT muss individuell entschieden werden und kann dann hilfreich sein, wenn der Betroffene zeitweise (etwa unter bestimmten belastenden Lebensbedingungen) ein wesentlich höheres Maß der Belastung und psychosozialer Beeinträchtigung durch den Tinnitus erlebt und damit auch die Gefahr einer Dekompensation besteht. Durch diese frühzeitige Intervention soll die psychosozialen Belastung gesenkt und damit eine spätere Dekompensation des Tinnitus verhindert werden. In der Durchführung der PTT sollte in diesem Fall darauf geachtet werden, möglichst homogene Gruppen in Bezug auf den Schweregrad der Belastung zu bilden, weil die beschriebenen Fehlinformationen und katastrophisierenden Kognitionen auch durch die Konfrontation mit hoch belasteten Patienten entstehen und deren Symptomatik „übernommen“ werden könnte. Patienten mit dekompensiertem Tinnitus des Schweregrades 3 fühlen sich andauernd durch ihr Ohrgeräusch belästigt und weisen deutliche psychische Beeinträchtigungen und/ oder eine komorbide Störung auf. Es lässt sich eine erhebliche Beeinträchtigung im beruflichen als auch im privaten Bereich, etwa in der D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 25 Paarbeziehung und in anderen sozialen Interaktionen feststellen. Die Patienten leiden unter Schlafstörungen, depressiver Grundstimmung und haben Versagensängste bezüglich ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit, die sie aufgrund der erlebten Belastung durch den Tinnitus als eingeschränkt empfinden. In diesen Fällen sind die Patienten nicht in der Lage, die Informationen aus dem Counseling und die Prinzipien der Geräuschtherapie sinnvoll umzusetzen und hierdurch allein eine Reduktion ihrer subjektiven Belastung zu erreichen. Bei dieser Patientengruppe werden die bereits dargestellten Behandlungsmodule der TRT zwingend mit der PTT in einem ambulanten Setting kombiniert (s.a. Abschnitt 5.2: Die Psychologische Tinnitus-Therapie). Bei der Klassifizierung eines Schweregrades 4 liegt die schwerste Beeinträchtigung mit umfassender Dekompensation im privaten und im beruflichen Bereich vor. Bei diesen Patienten entscheidet Art und Ausprägung der komorbiden psychischen Störung über das Procedere in der Behandlung. In der Regel wird bei diesen Patienten eine stationäre Therapie vorgeschaltet, um den Patienten psychisch zu entlasten und um seine im Vordergrund stehende komorbide psychische Störung (z.B. schwere depressive Störung) adäquat zu versorgen. Diese Behandlung sollte in einer psychiatrischen bzw. psychosomatischen Fachklinik erfolgen, die gleichermaßen eine Versorgung der komorbiden Störung (z.B. schwere Depression) als auch eine tinnitusspezifische Psychotherapie gewährleistet. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass gemäss dem Procedere nach dem Homburger Therapiekonzept gerade auch Patienten mit einem dekompensierten Tinnitus in einem ambulanten Setting effektiv behandelt werden können, i.S. der Reduzierung der psychischen Sekundärsymptomatik und Rückführung in einen kompensierten Grad der Tinnitusbelastung (Delb et al. 2002 a, b, D’Amelio et al. 2002, Delb et al. 2003). Als maßgebliche Voraussetzung für eine ambulante Behandlung ist eine ausreichende psychische Stabilität (insbesondere Ausschluss der Suizidalität) zu werten. 5.2 Die Psychologische Tinnitus-Therapie (PTT) Psychotherapeutische Interventionen bei Patienten mit chronischem dekompensierten Tinnitus verfolgen folgende übergeordnete Ziele: D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 26 • Coping: Den Patienten bei der Bewältigung der Tinnitusbelastung zu unterstützen • Counseling: Dem Patienten adäquate und bewältigungsorientierte Krankheitsinformation zu geben und ihn über geeignete Therapien aufzuklären • Habituation: Die Gewöhnung des Patienten an den Tinnitus zu fördern und das Ohrgeräusch nicht mehr als störend zu erleben • Retraining: Die Wahrnehmung des Tinnitus zu “verlernen“ und ihn periodisch bzw. dauerhaft zu überhören Tabelle 4: Ziele der Psychologischen Tinnitus-Therapie Der Patient soll auf der Reaktions- und Wahrnehmungsebene an das Ohrgeräusch habituieren und seine empfundene Belästigung durch den Tinnitus reduzieren. Das bedeutet zum einen, dass die aversive Reaktion des Patienten (z.B. Angst, Hilflosigkeit) auf das Ohrgeräusch mittels geeigneter therapeutischer Interventionen minimiert und dadurch der Tinnitus zeitweise bzw. dauerhaft aus dem Bewusstsein ausgeblendet wird (Toleranzentwicklung). Des weiteren sollen Funktionalisierungen des Tinnitus abgebaut werden, die ihn positiv und/ oder negativ verstärken und zu seiner Aufrechterhaltung beitragen. Bewertung des Tinnitus als nebensächlich bzw. unbedeutend Realistische verfügbaren Bewältigung Positive Selbstverbalisationen Entspannung Bewegung Soziale Aktivitäten/ Geselligkeit Einschätzung Strategien der zur Abnahme der Belastung Abbau von Funktionalisierungen des Tinnitus positive Verstärkung der Abwendung vom Tinnitus durch Tinnitus Umlenkung der Aufmerksamkeit Geräuschtherapie Abbildung 7: Tinnitusbewältigungskreis (D’Amelio R, unveröffentlichter Vortrag auf dem 2. Homburger Kurs zur Tinnitus-Retrainingtherapie in der HNO-Universitätsklinik, 2003) D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 27 Um dies zu erreichen wird bei Patienten mit dekompensiertem Tinnitus eine störungs- (Tinnitus-) spezifische Psychotherapie durchgeführt, in der neben der Aufklärung und Beratung des Patienten auch adaptive Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategien vermittelt werden und kognitive Umstrukturierung, Neubewertung, Angstabbau und psychische Stabilisierung stattfindet. Darüber hinaus soll der Patient befähigt werden Probleme zu lösen, die neben und unabhängig vom Tinnitus bestehen. Nach dem Homburger Behandlungskonzept wird zu diesem Zweck ab dem Schweregrad 3 – zusätzlich der bereits dargestellten Behandlungsmodulen Counseling und Geräuschtherapie - dem Patienten die Teilnahme an der Psychologischen Tinnitus-Therapie (PTT) empfohlen. Die PTT beinhaltet insgesamt 12 Kursstunden a 120 Minuten, die 1x pro Woche abgehalten werden und liegt in manualisierter Form vor (D’Amelio 2002). Die einzelnen Kursstunden sind für den Einsatz in einer geschlossenen Gruppe ausgelegt, können aber auch auf die therapeutische Arbeit mit Patienten im Einzelsetting übertragen werden. Die in der PTT verwendeten Methoden und Konzepte stammen größtenteils aus der kognitivbehavioralen Therapie und der Hypnotherapie (vgl. Attias et al. 1990, Joisten 1992). • Indikation: Klienten mit einem (behandlungsbedürftigen) dekompensierten Tinnitus und gegebener Gruppenfähigkeit bzw. Motivation für die Therapie. Die TT kann auch im Einzelsetting durchgeführt werden. • Dauer und zeitlicher Umfang der Therapie: 12 Sitzungen à 120 Minuten • Empfohlene Gruppengröße: 8 bis 12 Teilnehmer Tabelle 5: Formale Kriterien der Psychologischen Tinnitus-Therapie Das Manual beinhaltet sowohl umfangreiches Informationsmaterial für die Teilnehmer, wie auch Anregung und Anleitungen zur Gestaltung und Durchführung verschiedener therapeutischer Übungen. Die verschiedenen Therapiebausteine umfassen im einzelnen: • Krankheitsinformation • Die Veränderung dysfunktionaler Kognitionen • Übungen zur Lenkung der Aufmerksamkeit • Entspannung und Selbsthypnose D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 28 • Positive Verstärker und Euthyme Methoden • Stressmanagement. Tabelle 6: Therapiebausteine der Psychologischen Tinnitus-Therapie Aufgaben und Materialien für die Zeit zwischen den einzelnen Kursstunden runden das Manual ab und erleichtern den Transfer des erworbenen Wissens in den Alltag des Teilnehmers. Die vorgestellten Techniken sollen dabei als Angebot verstanden werden, aus dem jeder Teilnehmer - unterstützt und beraten durch den Kursleiter sich seinen individuellen Selbsthilfekoffer zur Bewältigung der Belästigung durch den Tinnitus zusammenstellt. Als wesentliches Merkmal der hier vorgestellten PTT verstehen die Autoren die enge Kooperation zwischen dem Psychotherapeuten und dem behandelnden Arzt. Bereits vor Kursbeginn leistet der behandelnde Arzt im Counseling wichtige Informationsund Motivationsarbeit. Darüber hinaus gestaltet der Arzt in der 2. Kursstunde wesentliche Teile der Krankheitsinformation und ist zusätzlich in der 9. Stunde im Kurs anwesend um Fragen der Teilnehmer zu beantworten. Die Teilnehmer der PTT können somit umfassend und synergetisch medizinisch und psychotherapeutisch betreut werden. Die folgende Tabelle gibt einen schematischen Überblick über die 12 Stunden der PTT: 1 2 3 4 Subjektive Krankheitstheorie und Im Anschluss an ein erstes Kennenlernen beschäftigen sich individuelles Health Belief Modell die Teilnehmer mit ihren bisherigen persönlichen Erfahrungen mit dem Tinnitus, diskutieren eigene Bewältigungsmaßnahmen und formulieren erste Therapieziele. Krankheitsinformation und Eine ausführliche medizinische Information und Individuelle Therapieziele psychologische Erklärungsmodelle zum Tinnitus stehen im Vordergrund der Stunde. Diskussion der situativen Einbettung des Tinnitus in den Alltag. Die Therapieziele werden überarbeitet und konkretisiert. Einführung in die Atementspannung. Analyse der situativen Faktoren Es wird der Zusammenhang zwischen Anspannung und von Zunahme und Reduktion der Lautheit bzw. Belästigung durch den Tinnitus besprochen. Belästigung durch Tinnitus Individuelle Entspannungsmerkmale werden erarbeitet. Einführung der Begriffe „entmutigende“ bzw. „ermutigende“ Kognitionen. Die Rolle der Gedanken bei der Imaginationsübungen erleichtern den Einstieg in das Thema empfundenen Belästigung durch „Gedanken“. Der Zusammenhang zwischen Gedanken und Tinnitus den damit assoziierten Gefühlen wird dargestellt und von den Teilnehmern auf den Tinnitus übertragen. Bearbeitung des Begriffes der “negativen Gedankenlawine“. D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 29 5 6 7 8 9 10 Unterstützende Gedanken und Zur Umstrukturierung entmutigender Gedanken bezüglich des ermutigende Tinnitus werden “neue“ hilfreiche Kognitionen gesucht und Selbstverbalisationen von den Teilnehmer umgesetzt. Die Bewertung von Situationen und deren Effekt wird anhand psychologischer Modelle (A-B-C) erläutert. Die Rolle der Aufmerksamkeit Der Stellenwert der Aufmerksamkeit wird erörtert und die und Methoden der Teilnehmer erfahren den positiven Effekt, den die Aufmerksamkeitslenkung Aufmerksamkeitsumlenkung auf das Ausmaß ihrer Tinnitusbelästigung hat. Grundlagen von Stress und Darstellung der Psychobiologie von Stress und Stressbewältigung Stressreaktion. Identifikation von internen und externen Stressoren. Elaboration des Zusammenhangs zwischen individuellen Stressoren und Stressreaktion. Alltägliche, wiederkehrende Identifikation und Maßnahmen zur Reduktion Stressoren und Zunahme der wiederkehrender Stressoren. Der Einfluss von internen bzw. Belästigung durch den Tinnitus externen Stressoren auf die Zunahme der Belästigung durch den Tinnitus. Maßnahmen zur Regeneration. Kognitive und imaginative Abschluss des Themenblocks Stress und Stressreaktion. Methoden des Körperliche Betätigung als weitere Maßnahme zur Reduktion Problemmanagements von Belastung. Einführung der Technik des “Mentalen Zielmanagements“ als imaginative Methode zur Problembewältigung. Genusstraining In dieser Stunde geht es darum alle Sinne wieder positiv auf Genuss einzustellen. Hierzu werden verschieden positive Sinneserfahrung in der Gruppe erlebt. Es werden Empfehlungen zum Genießen im Alltag besprochen. Analyse operanter Faktoren im Den Tinnitus in einen neuen Kontext setzen bzw. ihm eine Zusammenhang mit der “hilfreiche“ Bedeutung zuweisen (reframing). Belästigung durch Tinnitus. 12 Rückblick und Würdigung Anhand der Therapieziele aus Stunde 1 werden die Erfolge in der PTT für jeden einzelnen hervorgehoben. Zusammenstellung der Bewältigungsmöglichkeiten (“Selbsthilfe-Koffer“) zur Reduktion der Tinnitusbelastung und zur sekundären Prophylaxe. Tabelle 7: Überblick über die 12 Stunden der Psychologischen Tinnitus-Therapie 11 5.3 Evaluation des Homburger Behandlungskonzeptes Untersucht wurden Patienten der Tinnitusambulanz an der Universitäts-HNO-Klinik Homburg/Saar, dekompensierten die seit Tinnitus mindestens litten. Die drei Monaten an Tinnitusbelastung einem wurde chronischen anhand der Gesamtbelastung im Tinnitusfragebogen (TF; Goebel & Hiller 1998) erhoben, darüber hinaus wurde der Grad der Depressivität (BDI) erfasst. Der Therapieerfolg wurde mittels TF unmittelbar nach Therapieende sowie katamnestisch nach 3 und 6 Monaten gemessen. Die therapeutische Intervention bestand aus 12 Sitzungen der hier beschriebenen tinnitusspezifischen Psychotherapie (D’Amelio 2002). Die Wartekontrollgruppe (WKG) wurde zu Beginn und am Ende einer dreimonatigen Wartezeit audiologisch und testpsychologisch untersucht. Weitere Interventionen D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 30 wurden in diesem Zeitrahmen nicht durchgeführt. Nach Abschluss der Studie wurden auch diese Patienten in das Behandlungsprogramm aufgenommen. 5.3.1 Beschreibung der Stichprobe Die Stichprobe umfasste 47 Patienten im Alter von 17 bis 73 Jahren (x = 48,6 Jahre), die sich in der Tinnitusambulanz der Universitäts-HNO-Klinik Homburg/Saar zur Untersuchung vorstellten. 51% (n = 24) der Patienten waren männlich und 49% (n = 23) waren weiblich. Die Patienten wurden auf eine Therapiegruppe (TG, n = 34) und eine Wartekontrollgruppe (WKG, n = 13) verteilt, die nach Alter, Tinnitusdauer und Geschlecht miteinander vergleichbar war. In der WKG waren 54% (n = 7) der Patienten männlich und 46% (n = 6) weiblich, der Altersdurchschnitt lag bei 53 Jahren. In der TG (n = 34) waren 50,0% (n = 17) der Patienten männlich und 50,0% (n = 17) weiblich, der Altersdurchschnitt lag bei 47,0 Jahren. Alle Patienten litten unter einem chronischen dekompensierten Tinnitus, der mindestens seit 3 Monaten bestand (3 Monate - 25 Jahre, x = 40,6 Monate). Der durchschnittliche Gesamtscore im Tinnitusfragebogen (TF, Goebel & Hiller 1998) vor Durchführung der Intervention betrug für die Kontrollgruppe 48 und für die Therapiegruppe 50 Punkte. Dies entspricht einer durchschnittlichen Belastung von Grad 3. 5.3.2 Darstellung der Ergebnisse In der Therapiegruppe konnte unter dem oben beschriebenen Vorgehen, bestehend aus Counseling und dreimonatiger ambulanter tinnitusspezifischer Psychotherapie (PTT), eine hochsignifikante (p ≤ 0,001) Reduktion der Tinnitusgesamtbelastung von initial 50 auf posttherapeutisch 36 gemessen werden. Dies entspricht einer Reduktion im TF-Gesamtscore um durchschnittlich 14 Punkte. Die Patienten der Therapiegruppe konnten sich bezüglich des Schweregrads der Tinnitusbelastung um eine Kategorie verbessern und posttreatment einen kompensierten Tinnitus (im Durchschnitt Grad 2) erreichen. Die erzielte Reduktion der Gesamtbelastung durch den Tinnitus in der Therapiegruppe blieb im untersuchtem Katamnese-Zeitraum auf signifikantem Niveau stabil. Im gleichen Zeitraum konnte eine signifikante Verringerung der Depressivität von einer mäßigen Ausprägung in einen klinisch D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. Schaub (Hrsg) Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze zur Krankheitsbewältigung für die klinische Praxis. Tübingen: DGVT Verlag 31 unauffälligen Bereich erzielt werden. Besonders deutlich zeigten sich die Veränderungen bei der Subgruppe der dekompensierten Patienten mit Schweregrad 4 (n = 9). Diese konnten sich von TF-Gesamtwert 66 auf einen Gesamtwert von 46 verbessern, was einem kompensierten Tinnitus entspricht. Im vergleichbaren Zeitraum ließ sich in der Wartekontrollgruppe kein Effekt (TF Gesamtwert 47,6) bezüglich der Reduktion der Tinnitusbelastung feststellen Ausgangswert TF nach der TF nach Im TF PTT 3 Monaten 50 36 34 TF nach 6 Monaten 35 TherapieGruppe Tabelle 8: Darstellung der Ergebnisse 6.0 Fazit Bei dem an der Universitätsklinik Homburg entwickelten interdisziplinären therapeutischem Programm, handelt es sich um ein effizientes Verfahren zur ambulanten Behandlung Kombination aus des chronischen Counseling, dekompensierten Geräuschtherapie und Tinnitus. Die standardisierter tinnitusspezifischer Psychotherapie nach dem Modell der TRT-ADANO führt zu einer deutlichen Verringerung der psychischen Gesamtbelastung, die im Verlauf stabil bleibt. Dieses Ergebnis weist auf die Bedeutung interdisziplinärer Kooperation in der Medizin und unterstreicht die Wirksamkeit von Psychoedukation und störungsspezifischer psychotherapeutischer Intervention bei der Behandlung einer primär somatischen Grunderkrankung (vgl. auch von Wedel & von Wedel 2000, Hesse & Laubert 2001, Hiller & Haerkötter 2003, Goebel 2003, Zachriat & KrönerHerwig 2003). In der vorliegenden Arbeit konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass auch bei schwer belasteten Patienten (Grad 4) eine ambulante Therapie mit Erfolg durchgeführt werden kann und sich somit als Alternative zu einer Behandlung im stationären Setting anbietet (D’Amelio et al. 2002). 7.0 Literatur 1. ADANO: Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT/ ADANO) ADANO-Sitzung, Hannover, 2000 D’Amelio R. et al. (2005) Tinnitus-Retrainingtherapie. Ein integratives medizinisch-pschologisches Behandlungskonzept für Patienten mit chronischem Tinnitus. In: B. Behrendt & A. 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