Die somatoforme SCHMERZSTÖRUNG FIBROMYALGIE State of the Art Von S.Venkat M. Pummerer Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin Nürnberg S. Venkat & M. Pummerer Schmerz ist das komplizierte Resultat verschiedener neuronaler Aktivitäten unseres Gehirns und nicht nur das einfache Ergebnis der Tätigkeit des peripheren nozizeptiven Systems. Die Erfahrung von Schmerz wird heute als komplexes Ergebnis der Verarbeitung der einströmenden sensorischen Information verstanden in Verbindung mit Gedächtnisprozessen, emotionalen Erfahrungen, Lernvorgängen und motivationalen Prozessen, sowie Aspekten der subjektiven Bewältigung. S. Venkat & M. Pummerer Der Begriff FIBRO-MY-ALGIE wurde von Hench 1976 eingeführt, und 1990 von der ACR (Amer.college of Rheumatology) definiert. Es gibt verschiedene (veraltete) als Synonyma gebräuchliche Bezeichnungen: -Fibrositis -Weichteil- oder psychogener rheumatismus S. Venkat & M. Pummerer ACR Unter Fibromyalgie versteht man heute üblicherweise ein multilokuläres chronisches Schmerzsyndrom im Bereich der Muskeln, des Sehnenapparats, der Ligamente und periartikulärer Strukturen, ohne Entzündungsparameter. Das Konzept der Tender- Points beinhaltet, dass 11 von 18 typischen Schmerzpunkten (Sehneninsertionsstellen) betroffen sein müssen. Die Ätiologie ist unklar. S. Venkat & M. Pummerer Die Problematik der Codierung der Fibromyalgie im ICD 10 Die Fibromyalgie (FM) wird selbst im aktuellen ICD 10 nicht zur Gruppe F 45 SOMATOFORME STÖRUNGEN zugeordnet, sondern den Krankheiten des Muskel- Skelett- Systems und des Bindegewebes (M79.7) In dieser Gruppe wird aber eine sehr ähnliche Krankheitsentität, die sog. anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ASS) (F45.4) codiert. Es sind zwei verschiedene Erkrankungen. S. Venkat & M. Pummerer Die Fibromyalgie gehört zur Gruppe des zentral bedingten chronischen Schmerzes, (dem chronischen somatoformen Schmerz) abzugrenzen vor allem vom chronischen Nozizeptorschmerz, der in der Peripherie entsteht. S. Venkat & M. Pummerer nach Mechanismen Nozizeptorschmerz (Schädigung peripher) 2) Neuropathischer Schmerz 1) Fibromyalgie (Schmerzleitungssysteme) Somatoforme Schmerzstörung (Schmerzgedächtnis) 3) Generalisierter Schmerz (zentrale Störung, mediales und laterales Schmerzzentrum) S. Venkat & M. Pummerer DIE SCHMERZ BAHNEN UND ZENTREN DER SCHMERZ-VERARBEITUNG Hemmende Schmerzbahnen S. Venkat & M. Pummerer DIFFERENTIALDIAGNOSE BEI CHRONISCHEM SCHMERZ (n. Egle) bio nozizeptiv neuropathisch inadäquate Bewältigung nozizeptiv/neuropathisch psychische Komorbidität v.a. somatoforme Schmerzstö. Somatisierungsstörung depressive Störung Hypochondrie coenästhetische Psychose PTSD dysfunktionelle Störung sozial psychische Störungen psycho S. Venkat & M. Pummerer Schmerzlokalisation und Ausstrahlung bei somatoformen Schmerz (von Venkat& Söllner) Information über Ausmass der Beeinträchtigung (oft über Körperschema hinaus bzw. nicht übereinstimmend mit definierten Schmerzfeldern) S. Venkat & M. Pummerer S. Venkat & M. Pummerer Nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen (Egle et al.) liegt beiden zugrunde eine: STÖRUNG DES ZENTRALEN SCHMERZ- UND STRESSVERARBEITUNGSSYSTEMS Zum Verständnis ist das biopsychosoziale Pathogenesemodell erforderlich. S. Venkat & M. Pummerer Bei der FM besteht eine erhöhte Stressvulnerabilität. Früh übermäßig einwirkende psychosoz. Stresserfahrungen führen zu einer eingeschränkten Ausreifung und Funktionsfähigkeit unseres Stressbewältigungssystems, dysfunktionale Stressverarbeitung! (es entwickelt sich ein `über´-sensibilisiertes Nervensystem, das unter Stress und Reizüberflutung leicht entgleist) Das genetisch determinierte Stress-Verarbeitungssystem reift erst in den ersten Lebensjahren aus S. Venkat & M. Pummerer Dies hat Langzeitfolgen für unsere Gesundheit Pat mit einer FM werden in der Kindheit sehr belastet. Massive frühe Stresserfahrungen beeinträchtigen die AusReifung und spätere Funktion des Stresssystems erheblich. S. Venkat & M. Pummerer Risiko- Belastungsfaktoren (23) Niedriger sozioökonomischer Status Schlechte Schulbildung der Eltern Arbeitslosigkeit Altersabstand zum nächsten Geschwister <18 Monate Hohe Risikogesamtbelastung Jungen vulnerabler als Mädchen Große Familien und sehr wenig Wohnraum Kontakte mit Einrichtungen der„ sozialen Kontrolle " (z. B. Jugendamt) Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils Chronische Disharmonie in der Primärfamilie Mütterliche Berufstätigkeit im ersten Lebensjahr Unsicheres Bindungsverhalten nach 12./18. Lebensmonat Psychische Störungen der Mutter / des Vaters Schwere körperliche Erkrankungen der Mutter / des Vaters Chronisch kranke Geschwister Alleinerziehende Mutter Autoritäres väterliches Verhalten Verlust der Mutter Kompensatorische Schutzfaktoren (13) Dauerhafte gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson Sicheres Bindungsverhalten Großfamilie, kompensatorische Elternbeziehungen Entlastung der Mutter (v.a. wenn allein erziehend) Gutes Ersatzmilieu nach früherem Mutterverlust Überdurchschnittliche Intelligenz Robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament Internale Kontrollüberzeugungen, „self-efficacy„ Soziale Förderung (z. B. Jugendgruppen, Schule, Kirche) Längere Trennung von den Eltern in den ersten 7 Lebensj. Verlässlich unterstützende Bezugsperson (en) im Erwachsenenalter Anhaltende Auseinandersetzungen infolge Scheidung bzw. Trennung der Eltern Lebenszeitlich spätere Familiengründung (im Sinne von Verantwortungsübernahme) Häufig wechselnde frühe Beziehungen Geringe Risikogesamtbelastung Sexueller und / oder aggressiver Missbrauch Geschlecht: Mädchen weniger vuinerabel Schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen in der Schule (n. Egle) S. Venkat & M. Pummerer SOMATOFORME SCHMERZSTÖRUNG CHRONIFIZIERUNG Kappis et al 2001 nach U.T.Egle/Mainz è è è è è è è Zeit bis Diagnosestellung Zahl der bisher aufgesuchten Behandler Krankschreibungen/Häufigkeit Dauer stationäre Behandlung 3x und mehr Dauer (Wochen) > 12 Wochen invasive Eingriffe Analgetika 68 Mo 9 (2 - 83) 64% 20 Wo 57% 21% 5 (1 - 24) 22% 26% 82% EG 125/1 S. Venkat & M. Pummerer Bedeutsame Persönlichkeitsfaktoren: •Durchhaltemuster/Vermeidungsverhalten •Hoher Leistungsanspruch •„action proneness“ (u.a. überhöhte Aktivitätsneigung) •Hohes Depressions- und Angstniveau •inadäquate Schmerzbewältigung und Hilflosigkeit, •ungenügende Konfliktlösungsstrategien •unsicherer Bindungsmodus Alltagsstress: (daily hassles) hohes, allgemeines Stressniveau S. Venkat & M. Pummerer Biopsychosoziales Pathogenesemodell S. Venkat & M. Pummerer ERHÖHUNG DER WAHRSCHEINLICHKEIT FÜR SPÄTERE PSYCHISCHE STÖRUNGEN INFOLGE EINZELNER KINDHEITSBELASTUNGSFAKTOREN nach U.T.Egle/Mainz A C E - STUDIE MAINZ (EG 125/1, KG: n=301) SOM ANX DEP EAT (n=98) (n=69) (n=62) (n=39) 2.5*** 1.9** 2.1** 2.4*** 2.1** 1.6*** 1.9*** 1.7** häufiger handgreifliche Auseinandersetzungen 1.6* 2.2** 2.7** Mutter mit psychischer Störung/Sucht - 2.1** 2.7*** schlechte ökonomische Situation vor 7. Lj. 1.3* - 1.4* - Vater mit psychischer Störung/Sucht - 1.7* 1.8** 2.5** schwerer sexueller Missbrauch 1.6* - 2.7** - - - emot. Vernachlässigung durch beide Eltern chronische familiäre Konflikte häufige körperliche Misshandlung 2.2** *** p = .001, ** p = .01, * p = .05 unter Berücksichtigung von Geschlechts- und Alterseffekten S. Venkat & M. Pummerer STRESS UND ZENTRALE SCHMERZVERARBEITUNG Gyrus cinguli ant. Gyrus cinguli ant. >> affektive Schmerzverarbeitung Integration aller Stimulus- und >> Aufmerksamkeitsfokusierung Schmerzempfindungen Somatosensorische r Cortex Th Amygdala HPA-/LC-NE-Achse >> Somatisierung nach D. PRICE, SCIENCE 2000 Von U.T. Egle S. Venkat & M. Pummerer Aufgrund der komplexen Ätiologie, der vielschichtigen Symptomatik und der hohen Komorbidität gestaltet sich therapeutische Beeinflussung der FM als ausgesprochen schwierig Ausgeprägtes Krankheits- bzw. Inanspruchnahmeverhalten Im Einzelfall viele mögliche Bedingungsfaktoren Multimodale statt monokausale Behandlungskonzepte S. Venkat & M. Pummerer Pharmakotherapeutische Ansätze: Klassiche antirheumatische Behandlungsansätze: Analgetika, wie nicht- steroidale Antirheumatika führen - kurzfristig zu einer moderaten Schmerzreduktion - bei längerem Gebrauch kein sicherer Effekt. Steroide (z.B. Prednison) führen zu keiner Änderung des Krankheitsbildes (Alarcon & Bradley 1998) Intravenös applizierte Anästhetika nur kurzfristige Wirksamkeit (Alarcon & Bradley 1998) Zentral wirksame Schmerzmittel keine befriedigende Ergebnisse (Gefahr des Missbrauchs) S. Venkat & M. Pummerer Pharmakotherapeutische Ansätze: Antidepressiva, Anxiolytika und andere Psychopharmaka Keine eindeutige Überlegenheit von trizyklischen Antidepressiva und SSRI‘s gegenüber Placebo Kurzfristige Wirksamkeit von Antidepressiva zum einen auf antidepressive Wirkung (mit Symptomverbesserung) und durch direkte analgetische Wirkung Keine befriedigende allein medikamentöse Behandlungsmöglichkeit S. Venkat & M. Pummerer Zentrale Elemente: •Psychoedukation (in Einzel- und Gruppensetting) •Erlernen von Entspannungsverfahren (u.a.. PMR) •Verminderung der Zentrierung auf den Schmerz, (Aufmerksamkeitslenkung, Ablenkung, Imagination) •Veränderung des Schmerzverhaltens und schmerzverstärkende Faktoren (u.a. Veränderung von kognitive Schemata) •Erlernen von Bewältigungsfähigkeiten (u.a. Umgang mit Stress) •Kombination mit anderen therapeutischen Massnahmen (Entspannungsverfahren bzw. Biofeedback, Übungen zu körperlichen Fitness, etc.) im Einzel und Gruppensetting S. Venkat & M. Pummerer Die kognitive Verhaltenstherapie führt bei FM Patienten zu einer signifikanten, jedoch nur mittleren Symptomverbesserung insbesondere : •Kontrollüberzeugung (geringere Hilflosigkeit, Selbsteffizienz) •Krankheitsbewältigung •Schmerzen werden subjektiv als erträglicher beurteilt •Psychische Symptomatik verbessert sich (E. Leibling, G. Schüssler) S. Venkat & M. Pummerer - Arbeit am sicheren Arbeitsbündnis – Holding, Verminderung der Gefühle von Unsicherheit, Inkompetenz und Verlassenheit, - Bearbeitung der Folgen von Traumatisierung, intrapsychischer Konflikte und typischer Beziehungsmuster. Methodik sind verschiedene Verfahren der psychodynamischen Psychotherapie, z.B.: - interaktionelle Gruppentherapie, Fokaltherapie, Partnergespräche Konzentrative Bewegungs- und Gestaltungstherapie. S. Venkat & M. Pummerer Die homogene Gruppentherapie, Pat. fühlen sich hier mit ihren Schmerzen besonders ernst genommen. Die Homogenität der Gruppe auf Symptomebene trägt rasch zur Gruppenkohärenz bei und verstärkt die Gruppenwirkfaktoren. •Breites Übertragungsfeld (für pathologische Beziehungsmuster). •Erleben interaktioneller Prozeße •Lernen am Modell. •Wiederentdecken und Integrieren von Erfahrungen (z.B. massive Entwertungen). •Verbesserung der Affekttoleranz. S. Venkat & M. Pummerer Rechtzeitiger Einsatz einer interdisziplinären multimodalen Therapie bei FM und ASS kann den Verlauf hinsichtlich Schmerzintensität, Arbeitsfähigkeit und Lebensfähigkeit deutlich verbessern. Im Vordergrund steht die Schmerzreduktion und der adäquate Umgang mit dem chronischen Schmerz. (Schmerzfreiheit ist kein Ziel!) S. Venkat & M. Pummerer