Werteerziehung - Wertegemeinschaft Univ.-Prof. Dr. phil. Dr. phil. h.c. C.F. Gethmann „Wert„Wert-Jargon“ x hat andere Werte als y x und y bilden (k)eine Wertegemeinschaft p ist eine Folge des Wertwandels hi trägt den Gesetzen des Wertwandels nicht Rechnung … … Maxime: Wenn du das Wort „Wert“ verwenden willst, halte kurz inne und frage dich: - Welche Bedeutung verbinde ich mit dem Gebrauch? - Gibt es zu dieser Bedeutung kein passenderes Wort? - Achte ich auf die Gefahr der Exklusion? Möglicher Einwand: - Braucht man zur Erklärung der Funktionsfähigkeit der Moral nicht „Werte“? I Kleine Sprachphilosophie zur Verwendung von „…wert--„…wert---“ ---“ II Kleine Philosophiegeschichte der Werte III Kleine Einführung in die Ethik I Kleine Sprachphilosophie zur Verwendung von „…wert---“ Harmlose Wortverwendungen: o o o o Mein Auto ist noch 5000 € wert. Mein Autohändler hat mein Auto mit 5000€ bewertet. Der Wert meines Autos ist 5000€. Wenn ich das Auto weiter fahre, verfällt sein Wert. Problematische Wortverwendungen: o Zu meinem Auto gehören nicht nur sein Motor, seine Räder usw., sondern auch sein Wert. o Mein Auto kann man ersetzen, aber den Wert meines Autos kann mir niemand ersetzen. Allgemeine Semantik (Bedeutungstheorie) Referenztheorie der Bedeutung: „Die Bedeutung eines Ausdrucks ist der Gegenstand, auf den sich der Ausdruck bezieht.“ • • • Franz Beckenbauer Sokrates Schneewittchen − − − − klassenlose Gesellschaft Paradies Gespenst von Dartmoor höchste Primzahl Und Hilfe Aua poh e-i Gebrauchstheorie der Bedeutung „Die Bedeutung eines Ausdrucks ergibt sich aus seinem sprachlichen Gebrauch.“ Beispiel: „Wert“ Referenztheorie: Es muss etwas geben (ein „Etwas“ (Rickert s.u.), worauf der Ausdruck „Wert“ referiert. Gebrauchstheorie: Sprecher / Hörer kennen (implizit) die Regeln, deren Befolgung die korrekte Verwendung von „Wert“ ist. Unklare Verwendung in normativen (moralischen und juridischen) Kontexten: • „Gerechtigkeit“ ε Wert: Tugend (Habitus) • „Anderen zu helfen ist wichtiger als Geld zu verdienen.“ ε Wert: Maxime • „Handele so, daß die Maxime deines Handelns für jedermann gelten könnte.“ ε Wert: Norm • Würde ε Wert: (Letzt-)Zweck • u. a. These: Die substantivische Verwendung von „Wert“ ist vieldeutig. Für (fast?) jede Verwendung läßt sich ein anderer „besserer“, weil einen Gewinn an Differenzierung bereitstellender, Terminus angeben. II Kleine Philosophiegeschichte der Werte IMMANUEL KANT Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was aber dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, verstattet, das hat eine Würde.“ […] “ Das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde.“ ↑ ökonomische Theorie von Wert/Preis THOMAS HOBBES WILLIAM PETTY JOHN LOCKE „harmlose“ Verwendung Philosophie „Wert (moralisch) (engl. value), value), im weiteren Sinne Bezeichnung für den Grund oder das Ergebnis einer Wertung, d.h. der Bevorzugung einer Handlung vor einer anderen bzw. allgemein eines Gegenstandes oder eines Sachverhaltes vor einem anderen.“ OSWALD SCHWEMMER, „Wert (moralisch)“ in: J. Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 1996, IV 662 Nota: „Wert“ Präsupposition / Prämisse oder Resultat der Handlung „Werten“ „Bevorzugen“ [ „Beschreiben“ & „Auffordern“] Problematische Verwendung Wertethik Soziologie HERMANN LOTZE (+1881): Frage: Grundlage für die Allgemeingültigkeit („Geltung“) wissenschaftlicher Behauptungen? Antwort: nicht empirische Tatsachen (diese verändern sich), sondern ideale Sachverhalte Analog: Frage: Grundlage für die Allgemeingültigkeit („Geltung“) moralischer Aufforderungen? nicht materielle Güter, sd. ideale Sollgrößen ==> Werte Werte: = ideale materiale Sollgrößen „moralische Tatsachen“ Phänomenologie: FRANZ BRENTANO ALEXIUS MEINONG EDMUND HUSSERL: formale (!) Wertethik MAX SCHELER (+ 1928) Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913) NICOLAI HARTMANN (+ 1950) Ethik (1926) Südwestdeutscher Neukantianismus • Wilhelm Windelband (+1915) • Heinrich Rickert (+1936) (+1936) „Wir brauchen dies Wort, das einen Begriff bezeichnet, der sich ebenso wenig wie der des Existierens definieren lässt, für Gebilde, die nicht existieren und trotzdem ‚Etwas‘ sind, und wir drücken dies am besten dadurch aus, dass wir sagen, sie gelten.“ Der Gegenstand der Erkenntnis: ein Beitrag zum Problem der philosophischen Transcendenz, Freiburg 1892, 229f • Max Weber (+ 1920) Werturteilsstreit Max Weber vs. Kathedersozialisten WEBER, MAX: „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ , in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904) „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“ , in: Logos 7 (1918) Grundlagen der Soziologie und Politologie WEBER, MAX: WertWert-Individualismus, - Emotivismus “ Die Geltung solcher Werte zu beurteilen, ist Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber nicht Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft..." („Die ‚Objektivität ‚ … “, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 41973,152) „Dagegen bestreite ich sehr nachdrücklich: daß eine 'realistische' Wissenschaft vom Ethischen ... ihrerseits eine 'Ethik' ergebe, welche jemals über das Gelten sollende etwas aussagen könne." ("Der Sinn der ‚Wertfreiheit' ...", in: Gesammelte Aufsätze ,aaO 502) Kernthesen der Wertethik: (i) Werte sind die Referenzobjekte von moralischen Imperativen. (ii) Werte stehen in einer Wert(rang)ordnung (-hierarchie). (iii) Es gilt die AXIOLOGISCHE GRUND-NORM: Realisiere stets den höheren Wert ! beziehungsweise Beurteile Handlungen (Handlungsoptionen) stets nach dem Maßstab der Wertordnung ! Wertordnung nach Scheler: Wertordnung • heilige (Un-) Werte subj. Rezeption Liebe / Haß heilig / unheilig selig / unselig • geistige (Un-)Werte geistiges Fühlen geistig / ungeistig rein wahr / rein unwahr recht / unrecht schön / häßlich • vitale (Un-) Werte vitales Fühlen edles / gemeines wohl / unwohl • sinnliche (Un-) Werte angenehmes / unangenehmes schädlich / unschädlich sinnliches Fühlen Probleme der Wertethik: 1. Ontologische Defizite: „Platonismus“: Die Möglichkeit parteien-invarianter Behauptungen und Aufforderungen ist auch mit schwächeren ontological commitments erklärbar. (↑ Begründungs-, Rechtfertigungsstrategien) Occams Razor: Entia non sint multiplicanda praeter necessitatem. Τρίτος ἄνθροπος-Problem: Werte von Werten … (unendlicher Regreß) Kategorienfehler: Erklärung moralischer Konflikte, Kollisionen, Dilemmata Sie beruhen darauf, daß ein Akteur den Wert nicht (adäquat) rezipiert hat. (Es gibt nur Wert-Irrtümer, keine echten Wert-Konflikte usw.) 2. Ethische Defizite „Rigorismus“: die axiologische Norm läßt keine Abwägung von Verbindlichkeiten zu; - Wert-Subjektivismus Verkehrung des Projekts: Der Versuch, die Allgemeingültigkeit moralischer Imperative zu erklären, schlägt in einen Individualismus des Wertfühlens um. Jeder hat schließlich "seine" Werte. 3. Politische Defizite Begriffliche Bivalenz soziale Exklusion „Wertegemeinschaft“ • Wer unsere Werte insgesamt nicht teilt, • Wer die axiologische Grundnorm nicht teil, gehört nicht zu uns. Toleranzproblem Einige historische Folgen der Wertethik: 1. Max WEBER: Gesinnungs- vs. Verantwortungsethik Problem: Wer nach seinen Wertfühlungen handelt und die axiologische GrundNorm befolgt, kümmert sich nicht um die Folgen des Handelns. WERT = GRUND der Handlung FOLGE der Handlung Gesinnnungsethik Verantwortungsethik Nota: Jedes ethische Paradigma ist ein Gründe-Folgen-Raisonnement. (↑ KANT) 2. Werte als Gegenstand der Soziologie Soziologie ist die Wissenschaft von den Gesetzen des sozialen Handelns. Frage: Worin unterscheidet sich soziales Handeln von z.B. technischem? ↑ ARISTOTELES: πραξις vs. ποιησις. Antwort: Realisierung von Werten Soziologie handelt von Werten. - Wertwandel - Gesetze des Wertwandels Partikularisierung des Ethos (der Moral, Sitte); „Subjektivismus“ "Deutsches Sonderphänomen" Zusammenfassung: Mehrdeutigkeiten, überstarke ontologische Unterstellungen und ethische / politische Defizite der Wertethik lassen es als empfehlenswert erscheinen, den Ausdruck „Wert“ nicht zu verwenden (oder zu definieren und dadurch seine Eliminierbarkeit anzugeben). III Kleine Einführung in die Ethik DISZIPLIN GEGENSTAND Ethik Ethos (ἔϑος, pl. ἔϑη) oder Moralphilosophie Moral(en) oder Sittenlehre Sitte(n) Adjektive: Ethik Ethos ethisch (moralphilosophisch) ethisch → moralisch Eth-ik *ars eth-ica vgl. Log-ik, Grammat-ik, Rhetor-ik, Mechan-ik, Opt-ik, Akust-ik, Mus-ik, Arithmet-ik u.a. ars Lehre vom Können (↑ artes liberales, Artistenfakultät) scientia Lehre vom Wissen ars ethica Lehre vom ethos Ethos (gr.) - Moral (lt.) – Sitte (de.) „Ensemble von Üblichkeiten (scil. in einer Gruppe)“ (O. MARQUARD) Ensemble (Rhapsodie): kein System, keine logische Ordnung (z.B. Kohärenz) Üblichkeiten: „präsumtive“ Regeln Regeln, für die gilt: • Der Akteur erwartet die Einhaltung der Regeln von den Koakteuren. • Die Koakteure wissen, daß der Akteur die Einhaltung der Regeln von ihnen erwartet. • Der Akteur weiß, daß die Koakteure die Einhaltung der Regeln von ihm erwarten. Nota: Präsumtionen (Erwartungen) werden durch Nicht-Erfüllung enttäuscht, aber nicht „widerlegt“. Gruppe: ETHOS IST EIN SOZIALES PHÄNOMEN. Individualethos (-’ethik’): contradictio in adiecto Sozial-’ethik’: Hendiadyoin Wissenschaften vom Ethos • • • • Moralpsychologie Moralsoziologie Moraltheologie Jurisprudenz o „Rechtsethik“ • Moralphilosophie = Ethik Moralische Regeln: „Bei uns soll es eine gemeinsame Mahlzeit pro Tag geben.“ „Man soll schlechtem Geld kein gutes hinterherwerfen.“ „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib!“ Ethische Regeln: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füge auch keinem andern zu!“ „Handle so, daß du durch deine Handlung das größte Glück der größten Zahl verwirklichst!“ „Handle so, daß die Maxime deines Handelns jederzeit eine Norm sein könnte!“ Kleines Modell eines Ethos: • Wir wollen / sollen nicht lügen (Regel der Wahrhaftigkeit) • Wir wollen / sollen unsere Versprechen halten (Regel der Verläßlichkeit) • Wir wollen / sollen gegenseitig helfen (Regel der Hilfsbereitschaft) Regel-Kollision ? Kann man unter allen Umständen zugleich wahrhaftig und hilfsbereit sein (Regel-Konflikt) Regel-Konflikt Zwei Akteure, die die gleiche Moral anerkennen, müssen nicht zu gleichen Regelsubsumtionen kommen. Regel-Dilemma Jede Handlungsoption verstößt gegen eine der für richtige gehaltenen Regeln Nota: Die Erfahrungen von Regel-Kollisionen, -Konflikten und – Dilemmata sind die Ausgangspunkte für die Suche nach ETHISCHEN REGELN. QUID IURIS ? Moralen: - Familienmoral(en) - Nachbarschaftsmoral(en) - Stammesmoral(en) - Standesmoral(en) - Klassenmoral(en) - religiöse Moral(en) - Staatsmoral(en) - Rassenmoral(en) - Wirtschaftsmoral(en) - MENSCHHEITSMORAL(EN) usw. Ethische Beurteilungskategorien: moralisch... → ... „gut“ verallgemeinerbar → (= „empfehlenswert“) ethisch...: →...→ geboten O(A) →...→ verboten F(A) →...→ erlaubt P(A) ... „schlecht“ (= „verwerflich“) ... „nicht schlecht“ (= „zulässig“) ... „weder gut noch schlecht“ (= „beliebig“) →...→ indifferent I(A) „Norm“: ∆(A) kategorisch: Ø → ∆(A) hypothetisch: B → ∆(A) Paradigmen der Ethik Geschichte der Ethik J. Ritter / A. Pieper, „Ethik“, Hist Wb Phil 2, 759 – 810 Pluralismen Unterscheide: Pluralismus... ... von έθη, Moralen, Sitten, Üblichkeiten (in Gruppen): „moralischer Pluralismus“ ... von moralischen Überzeugungen (von Individuen innerhalb von Gruppen) „Pluralismus individueller Überzeugungen“ ... von Ethik-Konzeptionen, ethischen Theorien, Forschungsparadigmen „ethischer Pluralismus“ Nota: (i) Einheiten wissenschaftlicher Systematisierung (Makrotheorien, Theorien, Paradigmen) müssen sich nicht immer widersprüchlich zueinander verhalten. (ii) Eine theoretische Pluralität diskreditiert nicht die Theorien. Sie ist vielmehr epistemologisch wünschenswert. Unterscheide: Divergente/konvergente Interpretation einer theoretischen Pluralität Konvergente Interpretation := Herstellung einer positiven intertheoretischen Relation Satz: Interpretiere theoretische Pluralitäten möglichst konvergent! 3 + 1 Ethikkonzeptionen Konzeption Affinität Tugendethik (Platon, Aristoteles, Mittelalter) Pädagogik Verpflichtungsethik (Kant, „deontologische Ethik“) Jurisprudenz Nutzenethik (Mill, Bentham, „Utilitarismus“ Konsequenzialismus) Ökonomie [(Wertethik (N. Hartmann, Scheler „ethischer Objektivismus“)] Theologie) Tugendethik (ARISTOTELES) „In welche Handlungsweisen müssen sich die Bürger einüben, damit sie >taugliche< Staatsbürger sind?“ Verpflichtungsethik (KANT) „Wie läßt sich rechtfertigen, daß Akteure kategorisch verpflichtet sind, bestimmte Handlungen auszuführen bzw. zu unterlassen?“ Nutzenethik (BENTHAM) „Wie läßt sich eine Handlung auszeichnen, die für möglichst viele Menschen möglichst erwünschte Folgen zeigt?“ Hintergrund der Wertethik: PLATON (1) Das Gute ist eine Idee. (2) Das dem Guten angemessene Leben beruht daher auf einer richtigen Erkenntnis der Idee. Dagegen ARISTOTELES: (1) Das Gute ergibt sich aus den Zwecken des richtigen Handelns. (2) Das Ethos des Tugendhaften (>Tauglichen<, σπουδᾶιος) liefert das Vorbild, an dem wir das irrelativ Gute (selbstzweckliche Gute) messen. (2) Das dem Gute angemessene Leben beruht in stabilen Handlungsweisen (ἓξεις, habitus), die sich aus dem Ethos als funktional ergeben := Tugenden. Zusammenfassung: Die Ethik hat es nicht mit Erkenntnis (des Guten), sondern den Kriterien des richtigen Handelns zu tun. Für die Bestimmung dessen, was zu tun richtig ist, ist der Verstand (ὄρθος λόγος) einzusetzen, d.h. mit den Instrumenten der Diskursivität*) zu arbeiten. *dis-currere: etwas schrittweise durchlaufen = argumentieren