Das Produkt der Kunsttherapie Neuro-ästhetische Reflexionen über einen Nachmittag in der Klinik Karl-Heinz Menzen Als wir zum erstenmal in der Station einer neurologischen Klinik unsere Erfahrungen mit dementiell erkrankten Menschen machen wollten, waren wir zunächst auf schöne bildnerische Produkte und klar strukturierte Projekte bedacht - bis wir konstatierten, dass da Menschen vor uns sassen, die mit malerischen, plastischen Aktionen kaum Sinnvolles verbanden, die aber eine interessante Lebensgeschichte und noch mehr uns interessierende Lebenserfahrungen mitbrachten. Daran knüpften wir an, nachdem wir unsere Aktionen selbstkritisch hinterfragt hatten. Heraus kamen Projekte, die sich an der Werkerfahrung der Männer, zuweilen an der hauswirtschaftlichen Erfahrung der Frauen orientierten. Immer mehr fragten wir uns unter dem Druck einer kunstttherapeutischen Option, ob eine bildnerische Orientierung unserer Arbeit nicht gleichermassen sinnvoll sei. Immer mehr wurde uns bewusst, dass dem Orientierungs-, Sprach-, Bedeutungs- und Handlungszerfall der Betroffenen etwas nahekam, was wir bei Menschen mit geistiger Behinderung schon erlebt hatten und jetzt bei diesen Menschen mit mentaler Behinderung wieder erlebten: Wir hatten erfahren, dass sich Menschen nicht mehr an Namen, Handlungen oder Orte erinnerten. Neurologisch gesehen handelte es sich um die Beschädigung von Verschaltungen der Nervenzell-Komplexe des Gehirns, die offenbar nicht mehr so verfügbar waren, dass die Betroffenen ihren Alltag ohne Schwierigkeiten meistern konnten. Wir fragten uns, was ihnen die schönen Bilder helfen würden, wenn sie diese Bilder nicht mehr erkennten? Alle unsere Hoffnung auf schöne Produkte gerannen. Umso mehr waren wir geneigt, unsere ursprüngliche bildnerische Absicht wieder aufzunehmen, als uns ein Hinweis auf neuro-ästhetische Überlegungen, wie sie ein amerikanischer Neurologe anstellte, geradezu beflügelte. Im Folgenden wollen wir parallel beschreiben, wie erste bildnerische Bemühungen auf ein positives Echo der Patienten stiessen, - während wir uns bemühten, den Vorgang neurologisch nachzuvollziehen. Ein schöner, sonniger Nachmittag mit Piet Mondrian 1 Konstruk tivismus Piet Mondrian 1872-1944 Ein schöner, sonniger Nachmittag lud geradezu ein, mit einfachen Formen und kräftigen Farben zu arbeiten, diese den Patienten anzubieten. Grundsätze einer rezeptiven Kunsttherapie standen Pate. Ein Bild von Piet Mondrian (1872-1944) hatte uns animiert. Jetzt waren wir von Ehrgeiz gepackt. Würde es gelingen, mit den Patienten dieses Bild nachzumalen? Wieso Nachmalen, wenn sie, die Patienten vielleicht doch eigene Bilder mit sich tragen, diese vielleicht zu Papier bringen möchten? Aber wir waren gewarnt: Das rezipieren und das Produzieren, zwei Seiten des alltäglichen Aneignungsvorgangs lebenswichtiger Bedeutungen sind bei dementiell beschädigten Patienten gestört. Eine Anfrage bei den Neurologen der Klinik brachte schnell Ernüchterung: Schwere Subarachnoidalblutungen, so bei drei Patienten diagnostiziert, zwei mit Schädel-HirnTraumen, also Unfall-Schäden, eine Schlaganfall-Patientin. Natürlich machten wir uns kundig, blätterten bei Wikipedia, schlugen Lehrbücher nach, lasen: Subarachnoidalblutung: Die Subarachnoidalblutung (die Subarachnoida ist eine der unteren Hirnhäute) gehört zum Formenkreis der Apoplexien (Schlaganfall). Sie ist für 6 bis 10 Prozent der Schlaganfälle verantwortlich. Die drei Leitsymptome der Subarachnoidalblutung sind: plötzlich einsetzender vernichtender Kopfschmerz (sog. „DonnerschlagKopfschmerz“) gefolgt von kurzer oder länger anhaltender Bewusstseinsstörung bis Bewusstlosigkeit (50 % der Fälle), Nackensteifigkeit (Meningismus). Das Gehirn an sich ist nicht schmerzempfindlich, dafür die Arterien und die Hirnhäute. Der typische plötzliche, als vernichtend empfundene Kopfschmerz lässt sich durch die Ruptur des Gefäßes und die Reizung der benachbarten Gefäße sowie der Hirnhäute erklären. Der Schmerz kann sich auch an anderen Stellen manifestieren. So zeigt er sich in seltenen Fällen im Bereich der Brust, der Wirbelsäule oder auch der Beine. Wahrscheinlich ist dafür die Ausbreitung des Blutes im Subarachnoidalraum verantwortlich. Wir lasen, dass die Bewusstseinsstörungen und die Bewusstlosigkeit, die mit der Blutung einhergingen, unspezifische Reaktionen des Gehirns sind.Und wir erlebten, dass die Patienten verwirrt, m.E. orientierungslos, angewiesen waren auf unsere beredten Anschub-Motivationen. (Wikipedia) Schädel-Hirn-Trauma SHT: Das Schädel-Hirn-Trauma, vornehmlich Folge von Verkehrs- oder Haushaltsunfällen, beschreibt Oliver Sacks, von dessen Lektüre wir profitierten, in den Auswirkungen bei einem seiner Patienten wie folgt: „Aber weiß (er) das, empfindet er es? Nachdem alle, die ihn kennenlernen, ihn zuerst als «Stimmungskanone», als «urkomisch» und «irre witzig» bezeichnen, sind sie über irgend etwas an ihm beunruhigt, ja bestürzt..- «Er hört einfach nicht auf», sagen sie. «Er ist wie ein Mann in einem Wettlauf, wie einer, der immer etwas nachjagt, das sich ihm ständig entzieht. » Und damit haben sie recht: Er kann nicht stehenbleiben, denn der Bruch in seinem Gedächtnis, in seinem Dasein, im Sinn seines Lebens ist nie verheilt und muß jede Sekunde aufs neue überbrückt und «geflickt» werden. Aber die Brücken, die Flicken sind trotz aller Brillanz zu nichts nütze, denn sie sind Erfindungen, Konfabulationen, die nicht als Realität dienen können, wenn sie nicht mit der Realität übereinstimmen. Spürt (er) das? Noch einmal: Was für ein «Gefühl der Realität» hat er? Leidet er ständige Qualen - die Qualen eines Menschen, der sich in der Unwirklichkeit verirrt hat und versucht, sich zu retten, der aber durch seine unablässigen und ihrerseits völlig unwirklichen Erfindungen und Illusionen zu seinem eigenen Untergang beiträgt? Soviel läßt sich mit Gewißheit sagen: Ihm ist nicht wohl in seiner Haut. Sein Gesicht hat immer einen angespannten Ausdruck. Es ist das Gesicht eines Mannes, der dauernd unter einem inneren Druck steht. Gelegentlich, und wenn, dann nur verstohlen, nimmt es den Ausdruck offener, nackter, ergreifender Bestürzung an.“ (Oliver Sacks, 1987, S. 156) Schlaganfall (Apoplex): Jeder sechste Befragte berichtete über Schlaganfall-Symptome, so Virginia Howard von der Universität von Alabama in Birmingham. Wie sie jetzt jetzt mitteilt, gaben 17,8%, also mehr als jeder sechste der Befragten (mittleres Alter 66 Jahre) auf genaue Nachfrage an, bereits einmal oder mehrfach ein Schlaganfall-Symptom erlitten zu haben: Bei 8,5% war dies eine plötzliche Gefühllosigkeit auf einer Körperseite, 5,8% berichteten über eine plötzliche Schwäche auf einer Körperseite, 4,6% über einen plötzlichen Sehverlust in einem oder beiden Augen, 2,7% hatten erlebt, dass sie plötzlich nicht mehr in der Lage waren, zu verstehen, was andere Menschen ihnen sagten, und 3,8% hatten erlebt, dass sie sich plötzlich nicht mehr durch Sprache oder Schrift verständigen konnten. Ganz überraschend sind die Ergebnisse freilich nicht. Howard erwähnt eine Studie, die mit Hilfe von bildgebenden Verfahren bei 11% aller 55- bis 64-Jährigen Infarkte im Gehirn nachgewiesen hat. Der Anteil steigt bei den 65bis 69-Jährigen auf 22%, und bei den über 85-Jährigen waren es sogar 43%. (idwNews 30.11.06) – Wir müssen nicht darauf verweisen, wie wichtig das Sehen, Fühlen, sich-im-Gleichgewicht-befinden, Sprechen ist. Der Verlust dieser wichtigen Rezeptions- und Tätigkeitssphären bringt folgende Symptome mit sich: • Schwäche oder totale Unbeweglichkeit der Glieder • Gefühlsstörungen oder Gefühlsverlust • Ziehen oder andere abnormale Sensationen • Minderung oder Verlust der Sehkraft • Sprachstörungen • Unfähigkeit, Dinge zu erkennen (Agnosie) • Gedächtnisstörungen • Lähmung (Paralyse) der Gesichtsmuskulatur • hängende Augenlider • Schwindel • Koordinationsstörung • Schluckstörung • Persönlichkeitsstörung • Gemütsveränderung • Blasen-/Stuhlinkontinenz • Bewusstseinsstörungen (schläfrig, stuporös, somnolent, lethargisch, comatös) Mich hatte einmal eine Patientin gefragt, ob ich mir vorstellen könne, was passiert, wenn die Welt plötzlich halbiert ist. – Animiert, ergriffen durch die Frage, machten wir uns die neurologischen Grundlagen der Bild-Entstehung zu eigen. Es war schon lange im Gespräch, was 2007 eine Studie explizierte: "Was unsere Aufmerksamkeit erlangt, können einerseits die Augen steuern, aber auch das Gehirn", schildert Dr. Hans-Otto Karnath von der Universität Tübingen. Wenn die Kaffeetasse angeschaut werden soll, befiehlt die Wenn wir nach einer Tasse greifen. müssen viele Areale zeitgleich im Intervall zusammenspielen. Denkzentrale dies den Pupillen. Umgekehrt können auch die Augen das Gehirn auf ein Objekt aufmerksam machen, etwa ein Kind auf einem Dreirad, das am Rand des Blickfeldes auftaucht. - Für beide Strategien, die kopf- und die augengesteuerte Wahrnehmung, sind im Tasse Kaffee Gehirn unterschiedliche Areale verantwortlich. Einzelne dieser Zentren können bei Schlaganfall- und SHT-Patienten zerstört sein: Die Patienten können beispielsweise die Ein Objekt und die Leistung seiner integralen Wahrnehmung Damasio, A.R. und H. (1993)53 Kaffeetasse nicht ansehen, auch wenn sie dies wollen.“ (idw-News 11.9.07) Die Symptome: Die Patienten sind nicht in der Lage, zwei oder mehr Dinge gleichzeitig zu sehen, auch wenn diese direkt nebeneinander liegen. Oder ihre Bewegungs-koordination ist so gestört, dass sie ständig danebengreifen, wenn sie einen bestimmten Gegenstand, sagen wir eine Tasse, in die Hand nehmen möchten. Eine eindeutige Gestalterkennung und GestaltSynchronisation der Einzelelemente im Sinne Vilayanur Ramachandran (2005) Neuronale Grundmuster einer Art Wahrnehmungsgrammatik Neurologe Ramachandran hat die theoretischen Die Bild-Wahrnehmung basiert auf: 1. Akzentverschiebung 2. Gruppierung 3. Kontrast 4. Isolation 5. Perzeptive Problemlösung 6. Symmetrie 7. Vermeidung von Zufällen/ verallgemeinernde Sichtweise 8. Wiederholung, Rhythmus und Ordnung 9. Ausgewogenheit 10. Metapher Vorgaben dazu gemacht. Deren Grundlage bilden gestalttheoretisch fassbare, gesetzesmässige Wahrnehmungsmuster einer ebenso eindeutigen VerhaltenssmusterEingabe ist angesagt, will im Folgenden von unserer Projektgruppe beachtet sein. Der US- Wie es in der Praxis beginnt – mit einem Punkt, einem Farbklecks auf der Hand, mit einem knetbaren Körper. Wir waren trotz des Gelesenen unsicher, ob wir ein Bild Piet Mondrians in der Gruppe so schwer Geschädigter reproduzieren sollten, waren im Zweifel, ob wir damit vielleicht nicht zuviel von den einzelnen Patienten an Wahrnehmungs- und Erkennensleistungen verlangen würden. Aber warum nicht einfacher beginnen? – Warum nicht anfangen mit einer leichteren Übung, - mit einem Klecks auf die Hand? Damit fing unsere Serie von Projekteinheiten an. Was der Klecks, der grosse Punkt auf der Hand auslösen kann, davon berichtet Paul Klee: „… beginne ich da, wo die bildnerische Form überhaupt beginnt“, schrieb er am Anfang seines „Pädagogischen Skizzenbuchs“, „beim Punkt, der sich in Bewegung setzt.“. Tatsächlich begann sich nach dieser Aktion etwas zu bewegen: Buchstäblich handgreiflich fingen unsere Projekte an. Waren entsprechend handwerklich, auch hauswirtschaftlich orientiert; wagten sich nur langsam an die Bilder. Wurden mutiger, nachdem aus dem Klecks-auf-die-HandBild Aktionen entstanden, die im Sinne der ursprünlichen Handicaps zumindest ein Training der lädierten oder ersatzweisen Hirnregionen versprachen. 2 Tatsächlich kam es zu einer Aktivierung der Gliedmassen, zunächst zögerlich, eher unwillkürlich, dann aber willkürlich. Unwissentlich – wie sollte es auch anders sein bei uns Nicht-Medizinern – waren wir einem Umstand auf die Spur gekommen: dass sich willkürliches und unwillkürliches motorisches Nervensystem bedingen, beeinflussen können. Natürlich hatte die alte 75-jährige Dame in der Ergotherapie trainiert – und wir hatten offenbar das Trainingsprogramm erweitert. Das nächste Projekt fing mit jenem Klumpen in der Hand namens Mürbeteig an. Und wieder war ein kleiner Erfolg zu vermelden: Die erste lustvolle Stimulation, Erinnerung aus eh. Tagen ermunterte, zur Teigrolle zu greifen. Eine Bewegung mit dem gelähmten Arm zu tun. Schon bald war die Schlaganfall-Patientin dabei, zu den kleinen Teigförmchen zu greifen und Formen auszustechen. Würde das, wofür wir auf mancher Kunsttherapie-Tagung nicht nur gelobt, sondern auch gescholten wurden – „das ist doch keine Kunsttherapie“ -, würde dieses Herangehen auch greifen, wenn wir aufforderten, sich bildnerisch zu betätigen? Was würde es bringen, nunmehr ein Bild Piet Mondrians in die Mitte des Tisches zu kleben, aufzufordern, das Bild von seinen Rändern weg zur Tischgrenze hin zu verlängern? Eine Studierende der Kunsttherapie, Nadja Stolpe, hatte die Idee, und wir setzten sie um. Zu diesem Zeitpunkt des Projektes schien es mir angebracht, um die BildEntstehung, über das Entstehen der Bilder im Kopf näher nachzudenken, zu recherchieren. Wie Bilder im Kopf entstehen Es beginnt damit, dass wir einfache Kanten, Geraden, Punkte, Flächen, Farben, Bewegung erkennen. Wie tun wir das? Prof. Martin Heisenberg hat uns dies berichtet. Er schildert, wo im Gehirn, in welchen Arealen die Mustererkennung aktiviert wird. Die Taufliege legt das Bild von ihrer Umwelt nicht wie einen fotografischen Schnappschuss im Gehirn ab - das würde zuviel Speicherplatz kosten. Stattdessen merkt sie sich nur bestimmte Mustererkennung Merkmale von Mustern, zum Beispiel die Neigung von Kanten oder deren Lage zueinander, also optische Erinnerungen, die im Gehirn in verschiedenen Zellgruppen gespeichert werden, wie die Forscher vom Würzburger Lehrstuhl für Genetik mit Kollegen aus China, Japan und den USA bewiesen haben. Die Wissenschaftler fanden zwei fest umrissene Schichten von Nervenfasern, in denen jeweils eines der Merkmale abgelegt wird. „Beim Menschen ist das Gedächtnis nicht diffus über das Gehirn verteilt. Wir haben zwei einzelne Gruppen aus etwa 20 Nervenzellen gefunden, die eine hoch spezialisierte Erinnerungsarbeit leisten", erklärt Professor Martin Heisenberg in Nature. Die beiden neu entdeckten "Gedächtnis-Orte" befinden sich in einem fächerförmigen Areal im Zentralhirn. (vgl. http://www.opus-bayern.de/uni-wuerzburg/volltexte/2002/ 115/pdf/dissernst.pdf; Roman Ernst, Diss. Uni Würzburg, 1999) 3 Erklärung der Abbildung: Wir sehen ins Gehirn der Fruchtfliege. Die kleiderbügelförmige, gelb markierte Zellgruppe im oberen Bild entspricht dem Gedächtnis für die unterschiedliche Höhe von Mustern. Für die Erinnerung an die Neigung von Kanten ist dagegen eine andere Gruppe von Nervenzellen zuständig. Sie erscheint ziemlich in der Mitte des unteren Bildes als kleinere, kleiderbügelartige Struktur. (Aufnahmen: A. Jenett/M. Heisenberg 2006) Reinhard Wolf und Martin Heisenberg vom BIO-Zentrum Würzburg recherchierten, dass, so Wolf: "Fliegen … die gesehene Umwelt nicht wie eine Fotografie im Gedächtnis (speichern), sondern … bestimmte Merkmale heraus(ziehen), anhand derer sie ein Muster später wiedererkennen können. Das erfordert weniger Speicherplatz im Gehirn." Insgesamt fünf solche Merkmale haben die Forscher bisher identifiziert: den Schwerpunkt des Musters, die Neigung von Kanten, Größe, vertikale Dichteverteilung und Farbe. (http://www.g-o.de/wissen-aktuell-13812004-08-16.html) Thomas Hülshoff, Mediziner an der FH NRW hat in seinem Buch „Das Gehirn“ erzählt, dass diese Information „Kante“ wie viele andere „Punkte“, „Fläche“, „Farbe“ etc. im Gehirn in spezifischen Arealen analysiert und verglichen werden. Er kann dabei auf die Forschungen des Neurologen M. Zeki (1999) zurückgreifen, Areale der Verarbeitung im Neocortex Verarbeitung visueller Informationen mein roter Ball, der mir zugeworfen wird Thomas Hülshoff Das Gehirn 1996, 133 Zeki (1999) hatte für die Wahrnehmung herausgefunden, dass es ein Prozedere des Abgleichs von gewonnenen Informationen gibt, dass es ein Verarbeitungssystem gibt, das unterschiedlichste Sortierfächer bereit hält, um Einzelinformationen abzugleichen. Der Neurologe M. Zeki führte in "Spektrum der Wissenschaft" (1993) aus: Getrennte Nervenbahnen übermittelten Farb-FormBewegungssignale zu einem Verteiler -- er sprach von "Sortierfächern, in denen die verschiedenen Signale zusammenlaufen" (1993, 30) Abb: M. Zeki, "Spektrum der Wissenschaft" (1993, 30) Es bedurfte nur noch der Abklärung, wie das nach Merkmalen Sortierte zusammenkäme. Ernst Pöppel (München) und Wolf Singer (Frankfurt a.M.) erklärten die Synthese- als eine Synchronisationsleistung des Gehirns. Integration mentaler Ereignisse Ein cortical zur Verfügung gestellter Integrationsmechanismus im 30-40-Hz-Gehirnwellentakt und im Abstand von 30 ms innerhalb von 3 Sek. Evoked Potential mindestens: 40 Hz Mentale Ereignisse ms Abb.: Modifikation eines Schemas von Ernst Pöppel (1993) Sie fanden heraus, dass Eindrücke von 30 Millisekunden in einer kurzen Zeitfolge innerhalb von 3 Sekunden und mit einer Mindestintensität von 40-90 Hertz in derselben Zeiteinheit eintreffen müssten, um verschaltet zu werden. Jetzt stand nur noch die Frage im Raum, ob es mehr oder weniger bevorzugte Wahrnehmungsmuster gebe. Die Antwort erbrachte der Psychoneuroimmunologe Joachim Bauer (Freiburg). Er wies auf die neurobiologischen Motivationssysteme des Ventralen Tegmentalen Areals (VTA), des Nucleus Accumbens (NAc) und des Anterioren Cingulären Cortex (ACC) hin, die für unser Wohlfühlen, gleichzeitig für unsere Süchte zuständig seien. Die nächste Abbildung zeigt, wie bei einem Eindruck vom hinteren VTA eine Neurotransmitterbotschaft (Dopamin) am Hypothalamus vorbei (Endorphine, Wohlfühlstoffe aufnehmend) zum NAc gelangt, dessen Nachfrage befriedet und weiter zum ACC geleitet wird, wo sie das tut, was in der Regel jede Bekundung von Zuneigung auch bewirkt – ein Wohlgefühl – das sich mit dem Wahrgenommenen assoziiert. ACC Anteriorer Cingulärer Cortex Hypothalamus Nucleus Accumbens VAT Von der Area 10 (VAT), dem Entstehensort von Dopamin, ziehen Fasern zum Nucleus Accumbens (NAc) bis ins Frontalhirn, auf welchem Weg (Hypothalamus) zum ACC sie die Bildung von Endorphinen ggfs. anregen Mit der Entdeckung des ACC und seiner Funktion im Motivationssystem des Gehirns waren die wichtigsten Antworten gegeben auf die Frage, welche Wahrnehmungskluster bevorzugt würden. Ein neurobiologischer Verstärker oder: Kompensator ACC Insula: Freude und Trauer ACC Anteriorer Cingulärer Cortex aktiv bei Zuwendung (körpereigene Opioide), deaktiv bei psychischen Schmerzen, z.B. bei sozialer Ausgrenzung oder Nichtanerkennung Das wichtigste Motivationssystem des Gehirns: der ACC – wird aktiviert durch Liebe und Anerkennung, - kann aber auch kompensativ durch Sucht- und Gewaltpotentiale aktiviert werden (Singer et al. 2004) Amygdala Frontaler Cortex Hippocampus Wir wussten nunmehr, worauf unsere Projektgruppe zu achten hätte: Die Arbeit am Bild musste eindrücklich sein, d.h. im Zeitraum der BildWahrnehmung für alle gut einsehbar, nachdrücklich, d.h. über einen gewissen Zeitraum einsehbar, und reizvoll, d.h. motivierend, das Bild zu reproduzieren. Wir fingen an, legten eine Kopie eines Mondrian-Bildes auf den Tisch. „Neoplastisch“ – hatte Mondrian seine Art der Bildherstellung genannt Unseren Patienten gefiel das Bild in seiner Einfachheit. Jetzt erging die Anweisung – ich praktizierte sie als erster -, die Linien nachzuziehen. Grossräumig eine gerade Linie zu ziehen, das schien schon schwierig. Die jeweilige Farbe der entstehenden Rechtecke zu erkennen, zu benennen, wo möglich, auszusuchen, ggfs. anzumischen, das schien schon schwieriger. 5 Aber es gelang. Zunehmend füllte sich die Tischfläche mit bunten Rechtecken und Quadraten. „Neoplastisch“ hatte Mondrian das Unternehmen genannt, Farben im Raum und als Raum darzustellen. „Was will ich in meinem Werk ausdrücken? Schönheit auf der ganzen Linie und Harmonie durch das Gleichgewicht der Beziehungen zwischen Linien, Farben und Flächen zu erreichen. Aber nur auf die klarste und stärkste Weise.“ (vgl. wikipedia), hatte er gesagt. Wir merkten es unseren PatientInnen an, wie das Reproduzieren dieses Bildes animierte, wie stolz sie schliesslich waren, als das Bild fertiggestellt war und im Gang aufgehängt wurde. Immer noch hatten wir das Schema, das wir uns von den neuronalen Gefühls-Mitspielern des Gehirns gemacht hatten, vor Augen. Hypothalamus ACC Anteriorer Cingulärer Cortex VAT VentralesVentrales Tegmentales Areal Nac Nucleus accumbens Dopamin Endorphin ………………… Mitspieler beim Gefühlsprogramm Und jetzt war das, worauf alle stolz waren, fertig. Sie, die nach Monaten des Komas, der schwersten Hirnschädigungen nicht mehr daran glaubten, noch irgendetwas leisten zu können, hatten ein Bild Mondrians kopiert. Das hing allen sichtbar an der Wand. Seit jenen Tagen, da wir neurologisch schwerst geschädigten Menschen helfen konnten, wieder ein bisschen mehr Lebensmut zu schöpfen, sind wir davon überzeugt, dass die Diskussion im Fach über die Frage, ob der Prozess oder das Ergebnis wichtig seien, irrelevant ist. Das Produkt, jenes Bild, das wir erstellten, impliziert doch beides, die Mühsal des Weges und den letztendlichen Erfolg. Und noch eines war uns allen deutlich: Gegen alle Beschwörung vieler Experten, angesichts des unterstützenswerten Gedankens des Empowerments von der Pathodiagnostik abzusehen, gerade darauf zu schauen, was der einzelne Patient dringend braucht, sich also mit seinen Einschränkungen zu beschäftigen, um dann vor allem seine Ressourcen zu wecken, ihn zu stärken. (Anm.: Jene Leser, die sich mehr in die „Neurologie der Wahrnehmung“ einlesen möchten, verweise ich auf das gleichnamige neue Kapitel meines Buches „Grundlagen der Kunsttherapie“, das überarbeitet in 3. Auflage im September 2008 bei UTB/Reinhardt erscheinen wird.) Literatur: Bauer, J. (2007): Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren? 3.A. Hoffmann und Campe: Hamburg. Paul Klee (2003): Pädagogisches Skizzenbuch. Gebrüder Mann Verlag: Berlin. Damasio, A.R. und H. (1993): Sprache und Gehirn. In: Spektrum der Wissenschaft. Spezial 1: Gehirn und Geist, 46-55. Hülshoff, Th. (1996): Das Gehirn. Funktionen und Funktionseinbussen. Hans Huber: Bern. Menzen, K.-H. (2008): Grundlagen der Kunsttherapie. 3. überarb.Aufl. UTB/ Ernst Reinhardt, München. Menzen, K.-H. (2008): Kunsttherapie mit altersverwirrten Menschen. 2.A. Ernst Reinhardt, München. Menzen, K.-H. (2008): Das Bild in Kunst, Pädagogik und Therapie. LIT: Münster. Pöppel, E. (1993): Wo bin ich? Orientierung in Zeit und Raum. In: Funkkolleg "Der Mensch. Anthropologie heute". Studienbrief 7,Studieneinheit 20, 5-41.DIFF, Tübingen. Sacks, O. (1987): Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Rowohlt: Reinbek. Singer, W. (1990): Hirnentwicklung und Umwelt. In: Gehirn und Kognition. 50-66. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg. Singer, W., Engel, C. (1997): Neuronale Grundlagen der Gestaltwahrnehmung. In: Spektrum der Wiss. (Gehirn und Geist), 66-73. Zeki, M. (1993): Das geistige Abbild der Welt. In: Spektrum der Wissenschaften – Spezial: Gehirn und Geist, 26 f. Web-Seiten Greene, Ernest et al.: Das Gehirn im Auge. Spezielle Zellen in der Netzhaut helfen bei der Formerkennung (Universität von Kalifornien in Los Angeles) et al.: PLoS ONE, Band 9, e871; http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/ news/283211.html Heisenberg u.a.: Gang Liu, Holger Seiler, Ai Wen, Troy Zars, Kei Ito, Reinhard Wolf, Martin Heisenberg und Li Liu: "Distinct memory traces for two visual features in the Drosophila brain", Nature 439, Seiten 551556, 2. Februar 2006, doi:10.1038/nature04381 Karnath, H.-O.: http://www.bio-pro.de/de/region/stern/magazin/03182/index.html Keywords* Neurologische Krankheitsbilder, Neuro-Ästhetik, Mustererkennung, Synchronisationsleistung des Gehirns, Konstruktion und Rekonstruktion der Bildwahrnehmung, KT in der neurologischen Rehabilitation *Zusammenfassung* Der Beitrag vollzieht nach, wie Bilder in unserem Kopf entstehen, wie und bei welchen Erkrankungen die Konstruktionsleistungen des Gehirns gestört werden und wie die Wahrnehmungsleistungen des Gehirns bei Schlaganfall, SchädelHirn-Trauma oder Alzheimer-Demenz wieder rekonstruiert werden können – mithilfe von einfachst strukturierten Bildvorlagen der Kunstgeschichte. Der Beitrag fasst zusammen, was in der neuen Ausgabe des UTB-Bandes "Grundlagen der Kunsttherapie" ausführlich dargestellt ist. Autor: Prof. Dr. K.-H. Menzen, Hornweg 4, D-79271 St. Peter