Geshe Thubten Ngawang Den chronisch kranken Geist heilen

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Unterweisung
Den chronisch
kranken Geist heilen
Geshe Thubten Ngawang
W
ill man den eigentlichen Sinn des kostbaren
Menschenlebens erkennen, ist die beste Hilfe der Dharma, die Religion. Es ist jedoch
töricht zu erwarten, dass schon die Teilnahme an einigen Kursen in wenigen Monaten oder Jahren große
Veränderungen bringt. Auch eine chronische Krankheit,
mit der man sich über Jahre plagt, ist nicht einfach auf
die Schnelle zu beseitigen. Das erfordert eine bewusste
kontinuierliche Behandlung über längere Zeit. Falsche
Erkenntnis, die uns innewohnende Unwissenheit des
Geistes, wirkt wie ein Krankheitsherd. Auf Grund dieser
Unwissenheit, die über lange Zeit gewissermaßen chronisch in uns wurde, ist das gesamte eigene Bewusstsein
„Wir gehen nicht gern daran, unser
Bewusstsein zu ändern, den eigenen
Geist zu wandeln, die Fehler in
unserem Geist zu beseitigen. Statt
dessen machen wir lieber schöne
Worte über Mitgefühl, Altruismus
und über den Frieden in der Welt.
Sie allein haben keinerlei Wirkung.“
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Tibet und Buddhismus • Heft 62 • Juli August September 2002
fehlerhaft geworden. Wir haben uns schlechte Denkweisen angewöhnt und dadurch eine Art schlechte, ungesunde Veranlagung entwickelt.
Wie wirkt sich diese Unwissenheit aus? Sie hindert
uns in erster Linie am Sehen und Erkennen der Realität.
Durch die Unwissenheit ist unser Blick getrübt, wir erkennen nicht, was uns auf lange Sicht hilft und dauerhaftes Wohlergehen bringt. Statt dessen hängen wir an
Dingen, die uns kurzweilige Annehmlichkeiten verschaffen. Gewiss, sie bringen nette Formen und Farben in
unser Leben, aber sie absorbieren unsere ganze Aufmerksamkeit. Unser Interesse kreist darum, Wohlgefälliges zu
sehen und zu hören, wir sind an einflussreichen Positionen und materiellen Annehmlichkeiten interessiert.
Das sind die Auswirkungen der grundlegenden Unwissenheit und des daraus entstehenden Verlangens.
Wäre es nur ein einziger Mensch, der so dächte und
handelte, könnten wir es leicht ertragen. Tatsächlich gibt
es aber Milliarden Menschen, die ihr Leben und Streben
auf kurzfristige Annehmlichkeiten ausrichten. Das
bringt unheilsame Eigennützigkeit und Selbstsucht ins
Spiel. Und die wiederum führen zu Konflikten zwischen
Menschen, Ländern und schließlich zu Gewalt und Kriegen. Diese Spirale ist unaufhaltsam. Zwischendurch
mögen wir viele freundliche Worte in Bücher schreiben,
Worte über Altruismus, also anderen zu helfen, über
Nächstenliebe und darüber, wie wichtig es ist, Frieden
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in der Welt zu erreichen. Das mag alles sehr schön klingen, solange es jedoch nur die Bücherregale füllt und
nicht unsere Herzen, hat es keinen großen Einfluss. Die
Wurzel aller Probleme dieser Welt ist in unserem Geist
zu finden, im Bewusstsein jedes einzelnen Menschen.
Wir gehen nicht gern daran, unser Bewusstsein zu ändern, den eigenen Geist zu wandeln, die Fehler in unserem Geist zu beseitigen. Statt dessen machen wir lieber
schöne Worte über Mitgefühl, Altruismus und über den
Frieden in der Welt. Sie allein haben keinerlei Wirkung.
Oft gehen Menschen auf die Straße, um für den Frieden
zu demonstrieren, dafür, dass die Menschen sich besser
verstehen. Betrachtet man kritisch den eigenen Geist,
stellt man oft fest, dass man auch in solchen Momenten
nur an sich selbst denkt und seine eigenen Ziele verfolgt.
Tatsächlich gibt es im Dharma hervorragende Mittel,
um die grundlegenden Fehler des Geistes zu beseitigen
und das eigene Bewusstsein positiv zu verändern. Ich
denke, auch das Christentum anerkennt die Bedeutung
von Nächstenliebe, Mitgefühl, liebevoller Zuneigung
und vor allem Geduld. Da heißt es zum Beispiel, wenn
einem einer auf die eine Wange schlägt, solle man ihm
auch die andere hinhalten. Das ist eine äußerst segensreiche und gute Anweisung. Allerdings dürfen wir uns
fragen, wie viele Menschen es gibt, die diese Form von
Mitgefühl in ihrem Alltag wirklich leben, und wenn sie
auf die eine Wange geschlagen werden, sogar noch die
andere hinhalten.
Es sind wenige Menschen, die so denken und handeln. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Worte aus
den alten Büchern wie der Bibel, einen langen Weg bis
zu unserem Geist haben, der ganz unter dem Einfluss
negativer Faktoren steht. Dies sind die Ursachen dafür,
dass wir in unserem Leben immer wieder auf Schwierigkeiten treffen. Wir müssen nicht einmal von zukünftigen
Existenzen sprechen oder darüber, wie sich unsere jetzigen Handlungen nach dem Tode auswirken. Es reicht,
wenn wir dieses Leben mit seinen täglichen Problemen
betrachten. Wir befinden uns in einem ständigen
Kreislauf von Problemen, die wir zu lösen haben. Wieso
das so ist? Weil falsche Denkweisen in unserem Bewusstsein zu viel Macht haben.
Bei sich selbst anfangen
Wer Frieden erreichen will, dem es wirklich am Herzen
liegt, Harmonie unter den Menschen zu stiften, sollte
sich zuerst darum bemühen, seinen eigenen Geist zu reinigen. Es ist sehr wichtig, darauf zu achten, die guten
Ursula Friese
Worte über Frieden und Mitgefühl füllen die
Bücherregale; solange sie jedoch nicht unser
Herz erreichen, ist ihr Nutzen beschränkt.
Eigenschaften, die in der Religion erklärt werden, in sich
selbst zu wecken und zu pflegen. Dabei ist es entscheidend, den Geist in kleinen Schritten zu schulen. Man
beginnt zunächst damit, weniger dramatische Schwierigkeiten anzunehmen. Wenn man darin etwas Übung
hat, wird es Schritt für Schritt gelingen, größere Nöte
auf sich zu nehmen.
Das gilt besonders für den Umgang mit anderen
Menschen. Wie oft kritisieren wir jemanden, setzen ihn
vor anderen herab, weil uns sein Auftreten, sein Handeln ärgert oder weil er uns etwas antut, was wir als ungerecht empfinden. Diese Kleinigkeiten sollten wir lernen, geduldig hinzunehmen, ohne sie dem anderen
heimzahlen zu wollen. Wir können denken, dass der
andere eigentlich auch nur glücklich sein will. Er möchte, genau wie wir selbst, kein Leid erleben. Dies lenkt
unseren Geist auf Toleranz und Verständnis für andere
Menschen. Gute Beispiele sind in diesen Zeiten die vielen Hilfsaktionen für Notleidende in fernen Ländern;
sie beruhen auf der Einsicht, dass die anderen kein Leiden wünschen, sondern Glück, genau wie wir selbst.
Gewöhnliche Handlungen
können einen Nutzen haben
Eine starke geistige Kraft hatte eine Frau, die in der Lebensgeschichte des tibetischen Heiligen Milarepa erwähnt wird. Ihre innere Kraft hat Sale-Ö dazu veranlasst, Milarepa immer wieder zu bitten, sie den Dharma
zu lehren. Es genügte ihr nicht, sich nur um ihr Vieh zu
kümmern, um die Kinder, den Ehegatten und es dabei
bewenden zu lassen. Allerdings sah sie auch den Nutzen
dieser weltlichen Handlungen. Wird der Wunsch nach
eigener Vervollkommnung aus der tiefen Sehnsucht genährt, anderen auf ihrem Weg zur Befreiung zu helfen,
Tibet und Buddhismus • Heft 62 • Juli August September 2002
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Es gibt Menschen, die selbst bei einem
Buddha noch Fehler sehen, obwohl dieser
vollkommen ist. Sie sollten daran gehen,
ihre eigenen Fehler zu beseitigen.
sind auch die simpelsten Dinge des Alltags verdienstvoll.
Die altruistische Einstellung, zum Nutzen der anderen die Erleuchtung anzustreben, hat einen echten
Gleichmut als Wurzel. Das bedeutet, dass man nicht unterscheidet zwischen Menschen, die einem nahe sind,
und solchen, die man nicht mag. Es kommt darauf an,
diese ungleiche Betrachtung abzulegen. Sale-Ö erkannte, wenn man diesen Gleichmut nicht hat, betrachtet
man das Vieh als eine Art materiellen Besitz, als Reichtum für eigene Zwecke.
Sie gestand Milarepa die Nachteile, die sich aus der
Sicht ergeben, sich nur zum eigenen Nutzen um das Vieh
zu kümmern. Und sie sprach über die Kehrseiten, die
sich daraus ergeben. Zuerst entsteht im eigenen Geist viel
Begierde und Verlangen. Wenn man als Nomade mit
einer großen Herde von Tieren umherzieht, entwickeln
sich Stolz und Überheblichkeit. Sieht man, dass andere
noch mehr haben, entstehen Neid, Eifersucht und der
Wunsch, den anderen zu übertrumpfen. Am Ende stellt
sich vielleicht Streit mit den Feinden ein, weil man sei-
„Wir sehen selten die Fehler
bei uns selbst, aber bei
anderen sehen wir die Fehler
ganz klar. Aus diesem
Grunde ist es schwer, dass
alle Menschen in Harmonie
miteinander leben.”
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Tibet und Buddhismus • Heft 62 • Juli August September 2002
nen großen Besitz schützen muss vor Dieben oder Räubern oder wilden Tieren.
Sale-Ö sagte, wenn sie sich diese Seiten vor Augen
halte, verspüre sie keinen Wunsch mehr nach einem solchen Leben. Stattdessen wolle sie sich lieber um den
Dharma bemühen. Man könnte sich jetzt fragen, ob sie
vielleicht nur die Absicht hatte, sich aus allen Verpflichtungen zu lösen, um es sich gut gehen zu lassen. Vielleicht dachte sie‚ sich nur um wenige Wesen zu kümmern, lohnt den Aufwand nicht. Lieber etwas tun, was
gleich allen Wesen in den sechs Daseinsbereichen dient.
Bei aller Achtung für diese Haltung darf man jedoch die
große Bürde nicht übersehen, die in der Verantwortung
für das Wohl sämtlicher Lebewesen steckt. Es erfordert
außerordentlich großes Mitgefühl, sich um all die Wesen in den sechs Bereichen zu kümmern – ohne Parteilichkeit, ohne Voreingenommenheit, allein mit tief
verwurzeltem Erleuchtungsgeist (Bodhicitta), wie es im
Bodhisattva-Fahrzeug (Mahåyåna) heißt.
Milarepa gab Sale-Ö den Rat, mit ihren Nachbarn
und anderen Menschen friedlich ohne Streitigkeiten und
Neid zusammenzuleben. „Ja“, antwortete sie, „die meisten Menschen sehen die Fehler der anderen sehr klar,
für die eigenen sind sie blind.“ Damit drückt sie das aus,
was ich schon zu Anfang gesagt habe: Wir beklagen uns
über andere, treten für eine Verbesserung der Welt ein,
aber für unseren eigenen Geist tun wir herzlich wenig.
Wir wissen nicht einmal, wie sehr unsere Unwissenheit
uns gefangen hält. Dadurch erwachsen Gier, Hass und
Verblendung. Fast möchte man sagen, wir können
nichts dafür, da die Fehler des Geistes, unsere schlechten Eigenschaften, oft gut getarnt daherkommen und
gar nicht so einfach zu erkennen sind.
Wir sehen selten die Fehler bei uns selbst, aber bei
anderen sehen wir die Fehler ganz klar. Aus diesem
Grunde ist es für die Menschen schwer, in Harmonie
miteinander zu leben. Solange die Geistesgifte Gier,
Hass, Verblendung usw. in uns aktiv bleiben und wir
nicht ernsthaft dagegen vorgehen, ist es schwer, Harmonie mit den Nachbarn und allen anderen zu erreichen.
Es gibt Menschen, die selbst bei einem Buddha, der
makellos und in jeder Hinsicht vollkommen ist, noch
Fehler sehen. Sie sind verblendet und nehmen ihre eigenen Untugenden nicht wahr. Unter diesen Vorzeichen
ist es äußerst schwierig, in diesem Leben mit weltlichen
Mitteln Harmonie unter den Menschen zu schaffen.
Wer seine geistigen Tugenden und Erkenntnisse weiterentwickelt, braucht sich keine Sorgen zu machen, wenn
diese Entwicklung im jetzigen Leben noch nicht abgeschlossen sein wird.
Unterweisung
Bewusstsein setzt sich endlos fort
Bewusstsein setzt sich endlos fort. So kann man in sich
selbst diese Fähigkeiten mit der Zeit weiterentwickeln.
Sale-Ö sagt sinngemäß, dass sie noch nicht fähig ist, unter allen anderen Harmonie zu schaffen, weil sie nicht
mit allen Menschen gut auskommt. Und dass sie erst in
ihrem eigenen Geist genügend Tugenden entwickeln
muss, um später effektiv helfen zu können.
Milarepa sprach auch von einem Mönch, der sich 12
Jahre in der Nähe des Buddha aufhielt. Sein tibetischer
Name war Legpä Karma. Obwohl er den Buddha ständig begleitete, entdeckte er keinerlei Vorzüge an ihm.
Wann immer er Unterweisungen des Buddha hörte,
meinte der Mönch, sie seien nichts als Lügen, die der
Buddha vorbringt, um Essen oder andere Vorteile zu erhalten. Welche Tragik, den Buddha auf Grund eigener
Verblendungen und schlechten Karmas nicht zu erkennen!
Sale-Ö sagte dazu: „Wenn ich dies höre, stimmt es
mich traurig. Ich sehe keinen Sinn mehr darin, mich
mit weltlichen Angelegenheiten zu beschäftigen. Stattdessen wähle ich den Dharma. Ich will mich darum bemühen, die Natur des Geistes zu erkennen. Buddha sagt,
dass man die Dinge weggeben sollte, an denen man sehr
hängt.“ In der Tat ist Reichtum wie ein Trugbild, eine
Illusion. Schmuck, der von außen sehr schön und kostbar aussieht, hat keine wirkliche Essenz, keine Substanz,
die echtes Glück hervorbringen kann.
Zuflucht macht uns stark
Die Zufluchtnahme ist die Eingangspforte zum BuddhaDharma. Wir entscheiden uns klar, den Anweisungen
und Lehren des Buddha zu folgen, um die Freiheit vom
Leiden zu erreichen. Wir vertrauen darauf, dass diese
Entscheidung zu dauerhafter Glückseligkeit führt. Diese Klarheit des Denkens hilft uns, die Lehren des
unübertroffenen Lehrers als das Beste anzuerkennen, was
das Leben für uns bereithält. Das stärkt uns, das Ziel der
Befreiung wirklich zu erreichen.
Einer solchen Lehre kann man nicht im Alleingang
folgen. Vorbilder sind wichtig; sie unterstützen uns.
Deshalb sollten wir die Gemeinschaft derjenigen suchen,
die den Pfad des Buddha einwandfrei ausüben. Ihre
Anwesenheit ist für uns sehr kostbar. Das sollten wir
schon früh erkennen. Sale-Ö wollte sich nicht mehr in
der weltlichen Gesellschaft aufhalten, stattdessen suchte
sie die geistige Gemeinschaft.
Die eigentliche Zuflucht, die mit einer Art Zeremonie verbunden ist, besteht darin, dass wir diese Gedanken – Zuflucht zu Buddha, zur Lehre und der geistigen
Gemeinschaft – in uns entwickeln. Wir gehen zu unserem Lehrer und legen vor ihm das “Gelübde der Zuflucht” ab. Damit fällen wir die Entscheidung, uns ganz
„Man muss eine
Entschlossenheit haben,
sämtliche Situationen des
Lebens ertragen,
erdulden, annehmen zu
wollen, egal wie schwer
sie sind.”
Milarepa
auf Buddha, seine Lehre und die geistige Gemeinschaft
zu verlassen, um die Befreiung zu erreichen. Wenn wir
das tun und diese Zeremonie durchführen, entsteht eine
besondere geistige Verbindung zu den Drei Juwelen.
Dieses Potenzial, das im eigenen Geist entsteht, nennt
man Zufluchtsgelübde.
Nach der Zufluchtnahme ist es wichtig, die verschiedenen Anweisungen, die damit verbunden sind, einzuhalten. Wir bemühen uns um ethisches Verhalten und
vermeiden nach besten Kräften die zehn untugendhaften
Handlungen.
Milarepa sagte zu Sale-Ö: „Du bist jemand, der ein
sehr großes Ziel vor Augen hat, der den Willen hat, die
vollkommene Buddhaschaft zu erreichen; damit bist Du
in den Pfad des Großen Fahrzeugs eingetreten. Wenn
jemand ein so hohes Ziel vor Augen hat, darf er sich
nicht durch angenehme oder unangenehme Situationen
aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Man muss eine
Entschlossenheit haben, sämtliche Situationen des Lebens ertragen, erdulden, annehmen zu wollen, egal wie
schwer sie sind.“
Diese Anweisung scheint uns auf den ersten Blick
nicht so tiefgründig zu sein; näher betrachtet erkennen
wir sie vielleicht als sehr bedeutsam an. Wenn wir den
Dharma ausüben wollen, taucht durchaus die Gefahr
auf, Gelesenes oder Gehörtes als uns schon bekannt abzutun. Wenn wir dann in Situationen kommen, die neu
für uns sind oder besonders angenehm, die uns für kurze
Zeit Vergnügen bereiten, könnten wir den Dharma als
etwas uns schon Bekanntes schnell vergessen. Dann sitzen wir in der Falle. Lassen wir uns auf diese Weise durch
kurzzeitige Annehmlichkeiten vom Dharma wegtragen,
legen ihn sogar beiseite, bedeutet das, dass wir „die angenehmen Bedingungen nicht ertragen konnten“. In unserer Verblendung denken wir vielleicht, dass wir durchaus die Kontrolle über sie haben. Doch es ist genau umgekehrt. Wir sind ganz unter ihren Einfluss geraten. Das
ist die Falle.
Auf der anderen Seite sollten wir uns auch nicht in
unangenehme Situationen verstricken. Die innere Festigkeit darf besonders in schwierigen Momenten nicht
verlorengehen. Es gilt, sie zu ertragen, das heißt, geduldig anzunehmen, was peinlich, dramatisch oder gefährTibet und Buddhismus • Heft 62 • Juli August September 2002
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Unterweisung
Jens Nagels
Zufluchtnahme bedeutet, den Dharma
als das Beste anzuerkennen,
was das Leben bereit hält.
lich ist, ganz gleich, wie es ist. Geduld entsteht durch
Vertrauen in das Gesetz der eigenen Handlung und ihrer Resultate. Wer überzeugt davon ist, dass das, was er
erlebt, die Resultate seiner vergangenen Handlungen
sind, hat keinen Grund, sich zu beklagen. Wir könnten
denken: „Probleme sind nur die natürlichen Resultate
meiner eigenen Handlungen in der Vergangenheit.
Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als diese
Schwierigkeiten auf mich zu nehmen und damit fertig
zu werden.“
„Probleme sind nur die
natürlichen Resultate
meiner eigenen
Handlungen in der
Vergangenheit. Deshalb
bleibt mir nichts anderes
übrig, als diese
Schwierigkeiten auf mich
zu nehmen und jetzt
damit fertig zu werden.“
Wenn man das Wesen des Begriffes Karma versteht,
wird das sehr helfen, in schwierigen Situationen nicht
seinen inneren Halt zu verlieren. Im Bodhicaryåvatåra
des indischen Meisters Œåntideva heißt es sinngemäß:
Wenn man an einer Situation nichts ändern kann, warum sollte man sich dann Sorgen machen? Wenn man
sie aber ändern kann, gibt es ebenfalls keinen Grund,
verzweifelt zu sein.
Sorgen nützen nichts. Allein zu denken: „Gut, es ist
so, ich kann im Moment an meinem Leiden nichts
ändern”, hilft, das geistige oder körperliche Leid zu ertragen. Wir erschöpfen uns dann nicht in negativen Gedanken, die unsere Lage nur noch verschlimmern. Meistens ist unser Denken nur auf uns selbst bezogen. Wenn
wir leiden, erscheint es uns, als wären wir die einzigen
leidenden Wesen auf der ganzen Welt. Das ist ganz und
gar falsch. Ein einziger Blick ins Fernsehen zeigt uns,
wie viele Menschen auf der Welt Not und Qualen zu
ertragen haben. Wenn wir positive Denkweisen wie das
Ertragen immer wieder anwenden und für schwierige
Zeiten sozusagen in uns programmieren, werden wir viel
besser klar kommen. Wir bleiben im Gleichgewicht und
denken gar nicht erst, dass alles so unerträglich ist und
wir nicht länger leben wollen.
Es gibt immer einen Ausweg
Lassen wir die Menschen einmal beiseite und schauen
auf die Tiere, seien es Schafe oder Schweine, die wir vielleicht für dumm halten. Sie würden niemals freiwillig in
einen Abgrund springen. Alle Kraft werden sie aufbieten,
um nicht sterben zu müssen. Würde man sie mit Gewalt
hinunterwerfen, hätten sie sicher keine Chance. Aber
von sich aus tun sie alles, um ihr Leben so lange wie
möglich zu erhalten.
Wir haben in vielerlei Hinsicht bessere Lebensvoraussetzungen. Das menschliche Leben ist etwas Besonderes. Unser Verstand ist weitreichend, wir können Vernunft aufbringen und hoch gesteckte Ziele erreichen.
Ein Wesen mit solchen Möglichkeiten sollte nicht an
Sinn und Wert des Lebens zweifeln. Sein Leben leichtfertig wegzuwerfen ist das Schlimmste, was ein Mensch
sich antun kann. Selbst den bloßen Gedanken daran
sollte er verbannen. Aus jeder noch so verfahrenen Situation gibt es einen Ausweg; das muss erkannt werden.
Haben wir es erkannt, können wir unserem Leben einen
neuen, heilsamen Verlauf geben. Im positiven Tun lösen sich Lebensangst und Verzweiflung auf.
Aus dem Tibetischen übersetzt von Christof Spitz
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Tibet und Buddhismus • Heft 62 • Juli August September 2002
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