Originalarbeit Gehirninfektion nach Beinahe-Ertrinken Abszesse des ZNS stellen eine besondere Komplikation nach Beinahe-Ertrinken dar; sie werden in erster Linie durch Pilze der Gattung Pseudallescheria/Scedosporium verursacht. Es ist von einer hohen Dunkelziffer an Betroffenen auszugehen, da diese Pilzinfektionen zu Lebzeiten häufig nicht rechtzeitig erkannt werden und histologisch beispielsweise mit Aspergillosen verwechselt werden können. Von Michaela Lackner et al* Einleitung © Buenos Dias Angeregt durch die hohe Anzahl von Ertrinkungsfällen wurden anlässlich des ersten Weltkongresses zum Thema Ertrinken (World Congress on Drowning, WCOD 2002) die Begriffe „Drowning“ (Ertrinken) und „Near-Drowning“ (Beinahe-Ertrinken) neu definiert und von der WHO publiziert. Demnach werden als „Drowning“ Ereignisse definiert, die innerhalb von 24 Stunden in Folge von Ein- oder Untertauchen in Flüssigkeit zum Tod führen, und als „Near-Drowning“ ein Überleben eines entsprechenden Ereignisses für mehr als 24 Stunden. 30 Eine besondere Komplikation nach Beinahe-Ertrinken stellen Abszesse des Zentralnervensystems dar, verursacht durch Pilze der Gattung Scedosporium (sexuelle Form: Pseudallescheria) mehrere Tage bis Wochen oder sogar Monate nach dem Unglücksfall. Eine vergleichbare Infektion in Zusammenhang mit Beinahe-Ertrinken ist in dieser Regelmäßigkeit bisher durch keinen anderen Mikroorganismus bekannt. Erreger dieser Pilzinfektionen mit ZNS-Manifestation nach Beinahe-Ertrinken sind S. apiospermum, P. boydii und S. aurantiacum, diese gehören einem Komplex eng verwandter Organismen an. Die Identifizierung der einzelnen Arten erfordert in der Regel molekularbiologische Techniken. Eine exakte Identifizierung bis zur Spezies-Ebene ist nicht zuletzt auf› österreichische ärztezeitung ‹ 15/16 › 15. August 2009 medizin grund unterschiedlicher Resistenzmuster von großer Bedeutung für die Einleitung des optimalen Therapieregimes und damit unmittelbar für das Überleben der Betroffenen. Der erste bewiesene Fall einer Infektion durch Pilze des Pseudallescheria/Scedosporium Komplexes in Folge von Beinahe-Ertrinken wurde indirekt 1980 publiziert: Die Nieren eines nach Beinahe-Ertrinken verstorbenen Patienten wurden als Spenderorgane transplantiert. Beide Empfänger erkrankten kurze Zeit später an einer invasiven Scedosporium-Infektion. Seitdem gibt es weltweit Berichte über ScedosporiumInfektionen nach Beinahe-Ertrinken, in Folge von Flüssigkeitsaspiration aus Dung-Gruben, Gartenteichen, Seen, Flüssen, Regentonnen, dem Meer (Tsunami, Thailand 2004) und Gebirgsseen. Von einer hohen Dunkelziffer an Scedosporiosen nach Beinahe-Ertrinken ist auszugehen, da diese Pilzinfektionen zu Lebzeiten häufig nicht rechtzeitig erkannt werden und histologisch zum Beispiel mit Aspergillosen verwechselt werden können. Der typische Erkrankungsverlauf: Die Patienten entwickeln Tage, Wochen oder sogar Monate nach dem BeinaheErtrinken zerebrale Symptome. Mittels MRT lassen sich dann singuläre oder multiple zerebrale Rundherde nachweisen. Eine Isolierung der Pilze aus diagnostisch gewonnener Zerebrospinalflüssigkeit gelingt selten beziehungsweise erst nach Dissemination der Pilze in das Liquor-System. Dies erfolgt jedoch oft erst in fortgeschrittenem Stadium. Auffallend selten dokumentiert wurde der Erregernachweis bei Patienten nach Beinahe-Ertrinken und späterer Scedosporiose aus respiratorischen Proben kurz nach dem traumatischen Ereignis. Dies › österreichische ärztezeitung ‹ 15/16 › mag einerseits durch den geringen Bekanntheitsgrad dieser Pilze, andererseits durch inadäquate klinisch diagnostische Isolationsmethoden begründet sein. Seit 2008 steht das Selektivmedium SceSel+ (Scedosporium Selective +) für die Isolation dieser Organismen zur Verfügung. Ein Überwuchern der relativ langsam wachsenden Pseudallescheria/ Scedosporium Kolonien durch Bakterien oder schnell wachsende Pilze (zum Beispiel Aspergillus spp., Mucor spp.) wird durch spezielle Zusätze weitgehend verhindert. Proben (BAL, BS, Biopsiematerial, Liquor) von Patienten nach Beinahe-Ertrinken können in einem Mitgliedslabor der ECMM-ISHAM Working Group on Pseudallescheria/ Scedosporium Infections untersucht werden (in Österreich: Labor für Medizinische Mykologie, Institut für Hygiene, Mikrobiologie und Umweltmedizin der Medizinischen Universität Graz; in Deutschland: Konsiliarlaboratorium für Pseudallescheria boydii/Scedosporium spp.). Beim kulturellen Nachweis von Pseudallescheria/Scedosporium aus dem tiefen Respirationstrakt eines Patienten nach Beinahe-Ertrinken ist von einem zur Zeit noch nicht quantifizierbaren Risiko einer zerebralen Manifestation auch noch nach Wochen bis Monaten nach dem Unfall auszugehen. Die unverzügliche Einleitung einer adäquaten antimykotischen Therapie ist in diesen Fällen durchaus zu erwägen. Anamnese Beinahe-Ertrinken oder Aspiration von Schmutzwasser, Dung beziehungsweise Wasser aus Teichen, Seen, dem Meer oder Regentonnen in den letzten Tagen, Wochen oder Monaten. Symptome Erste Symptome einer zerebralen : Pseudallescheriose/Scedosporiose nach A: Kontrastmittel-MRT Aufnahme des Gehirns eines zweijährigen Jungen einen Monat nach Beinahe-Ertrinken in einer Regenwassertonne (Bild: Prof. Dr. med. Mursch). B: Querschnitt durch ein mit Scedosporium apiospermum befallenes Gehirn. Der 39-jährige Patient verstarb rund vier Monate nach Beinahe-Ertrinken in einem Gebirgssee (Bild: Prof. Dr. Roll). C: Ausschnitt aus Abb. 1B (Bild: Prof. Dr. Roll) D: Scedosporium apiospermum-Kultur 15. August 2009 31 medizin : Beinahe-Ertrinken treten - wie bei raumfordernden Prozessen anderer Ätiologie im Gehirn - relativ spät auf, wenn funktionelle Strukturen beeinträchtigt werden (zum Beispiel Sprach- oder Sehzentrum). Im (Kontrast-) MRT des Gehirns der betroffenen Patienten wurden Gehirnabszesse nach frühestens einer Woche aber auch erst nach mehreren Monaten nach einem Beinahe-Ertrinkungsunfall nachgewiesen. Diagnostik Unmittelbar nach einem BeinaheErtrinken sollte eine Probe (BAL, BS, Biopsat) des unteren Respirationstraktes gewonnen werden und diese durch das eingebundene mikrobiologisch-diagnostische Labor auch auf dem Selektivmedium SceSel+ Agar ausgestrichen und bei 37°C für mindestens 28 Tage inkubiert werden. Des Weiteren kann Material aus den oberen Atemwegen (Sputum) nach dem gleichen Muster untersucht werden, um eine Aussage über eine eventuelle Kolonisation/Kontamination zu erhalten. Therapie a) Vorgehensweise bei positiver Kultur aus primär sterilen Proben (gedeckte BAL, Biopsat) Bei positiver Pilzkultur ist von einer bestehenden oder drohenden invasiven Infektion des tiefen Respirationstrakts auszugehen. Nach Auffassung der Autoren ist die unverzügliche Verabreichung von adäquaten Antimykotika zur Therapie, aber auch zur Dekontamination dringend indiziert. Zur Optimierung der Therapie ist die Isolation der Pilze, deren eindeutige Identifikation bis zur Speziesebene sowie die Vorlage der Ergebnisse einer in vitro Resistenz-Testung erforderlich. Der Nachweis von Pilzen aus den klinischen Proben des unteren 32 Respirationstrakts (BS, BAL, Biopsat) erlaubt auf Grund mangelnder Studien keine Aussage zur Wahrscheinlichkeit der Manifestation einer Gehirn-Infektion. Ein fehlender Nachweis schließt eine Kolonisation und somit ein Risiko des Patienten, eine zerebrale Pseudallescheria/Scedosporium-Infektion zu entwickeln, nicht aus. Voriconazol gilt als das Mittel der Wahl und ist für die orale und intravenöse Applikation für eine Mono- oder Kombinationstherapie möglichst mit chirurgischer Herdsanierung verfügbar. Es ist aktuell das einzige hierzulande auf dem Markt befindliche Antimykotikum, das speziell zur Behandlung von Pseudallescheria/Scedosporium-Infektionen auch zugelassen ist. Die Zulassung beruht jedoch auf Daten zu klinischen Studien vor der Re-Klassifikation dieser Pilze und somit vor der Definition neuer Spezies. Demzufolge sind klinische Daten zur Wirksamkeit von Voriconazol auf die neu definierten Arten nicht ausreichend vorhanden. Voriconazol ist nicht für die Anwendung bei Kindern unter zwei Jahren zugelassen. Posaconazol wurde in Einzelfällen ebenfalls erfolgreich zur Behandlung von Pseudallescheriosen/Scedosporiosen eingesetzt. Konkrete Daten zur adäquaten Anwendung dieses relativ neuen Antimykotikums zur Behandlung entsprechender Infektionen sind jedoch sehr limitiert. Posaconazol ist bisher nicht für die Indikation Pseudallescheria/Scedosporium Infektion zugelassen. Caspofungin (intravenös) wurde in einzelnen Fällen erfolgreich zur Behandlung von Scedosporiosen eingesetzt. Ausreichende pharmakokinetische Daten liegen nur bei Erwachsenen und Kindern ab zwölf Monaten vor. Für pädiatrische Patienten (< 18 Jahren) sollte sich die Dosierung nach der Körperoberfläche des Patienten richten. Caspofungin sollte bei lebensbedrohlichen Verläufen wenn möglich in Kombination mit einem der o.g. Azole verabreicht werden. In Monotherapie scheint es dem Voriconazol deutlich unterlegen zu sein. Eine Zulassung für entsprechende Indikationen liegt bisher ebenfalls nicht vor. Terbinafin scheint als Kombinationspartner bei Infektionen durch Scedosporium prolificans eine entscheidende Rolle zu spielen. Dieser Pilz wurde jedoch bisher nicht als Erreger der hier beschriebenen zerebralen Infektionen nach Beinahe-Ertrinken nachgewiesen. Ein Vorteil einer Kombination dieses Antimykotikums (am ehesten mit Voriconazol) bei Infektionen durch die hier beschriebenen Pilze des Pseudallescheria boydii Komplexes (insbesondere die Arten P. boydii, S. apiospermum, S. aurantiacum) ist bisher nicht nachvollziehbar. Terbinafin ist für entsprechende Infektionen nicht zugelassen. Die Entscheidung zu einer Monooder Kombinationstherapie sollte individuell abhängig von der klinischen Situation des Patienten sowie vom Ergebnis der in vitro Resistenztestungen in enger Kooperation zwischen dem behandelnden Arzt und Mikrobiologen abgesprochen und überwacht werden. b) Vorgehensweise bei positiver Kultur aus den oberen Atemwegen (Sputum) Werden die Pilze aus Proben des oberen Respirationstrakts (zum Beispiel Sputum) nachgewiesen, kann zunächst nur eine Besiedlung festgestellt werden. Hier erhebt sich die Frage, ob durch Gabe geeigneter Antimykotika eine Dekolonisation beziehungsweise prophylaktische Therapie durchgeführt werden › österreichische ärztezeitung ‹ 15/16 › 15. August 2009 Fachkurzinformation siehe Seite 53 sollte. Aktuell gibt es für diese Indikation kein zugelassenes Antimykotikum. Demzufolge ist jede Dekolonisationsbehandlung eine ‚Off-Label-Use‘ Anwendung. Da alle Antimykotika auch mit zahlreichen Neben- und Wechselwirkungen verbunden sind, hat eine strenge Nutzen-Risiko-Analyse zu erfolgen. Sollte eine Dekolonisation durchgeführt werden, so ist diese Therapie auf jeden Fall hoch dosiert entsprechend den Dosierungsschemata der Fachinformationen durchzuführen, da Pilze des Pseudallescheria/Scedosporium Komplexes eine hohe Resistenz aufweisen. Während einer prophylaktischen Therapie sowie mehrere Wochen danach sollten regelmäßig weitere diagnostische Proben gewonnen und untersucht werden. c) Vorgehensweise bei negativer Kultur Eine negative Pilzkultur schließt eine zerebrale Pseudallescheriose/Scedosporiose nicht aus. Daher empfehlen die Autoren eine langfristige klinische, radiologische und auch mikrobiologische Überwachung gefährdeter Patienten (bis zu mehreren Monaten nach dem Trauma). 9 Literatur bei den Verfassern *) Mag. rer. nat. Michaela Lackner1, Dr. med. Regine Horré2, Dr. med. Kathrin Tintelnot3 und PD. Mag. Dr. rer. nat. Walter Buzina4; Korrespondierender Autor: Dr. Walter Buzina, Institut für Hygiene, Mikrobiologie und Umweltmedizin, Medizinische Universität Graz, Universitätsplatz 4, 8010 Graz, Tel. 0316/380/77 19; E-Mail: [email protected] Universität Innsbruck/Institut für Mikrobiologie; Universitätsklinikum Bonn/Institut für Medizinische Mikrobiologie, Immunologie und Parasitologie; 3 Robert Koch-Institut Berlin/Konsiliarlaboratorium für Pseudallescheria boydii/Scedosporium spp.; 4 Medizinische Universität Graz/Institut für Hygiene, Mikrobiologie und Umweltmedizin 1 2 Die Autoren sind Mitglieder der „ECMM-ISHAM Working Group on Pseudallescheria/Scedosporium Infections“ (ECMM: EUROPEAN CONFEDERATION OF MEDICAL MYCOLOGY; ISHAM: INTERNATIONAL SOCIETY FOR HUMAN AND ANIMAL MYCOLOGY); www.scedosporium-ecmm.com › österreichische ärztezeitung ‹ 15/16 › 15. August 2009 33