Gehirn, Alter und erkrAnkunGen

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Das Magazin aus dem Forschungszentrum
FORSCHEN
in Jülich
Gehirn, Alter und Erkrankungen
:: Gedächtnisschwund und Altersweisheit
:: Dem unmerklichen Anfang auf der Spur
:: Länger gut Leben
01|2008
FORSCHEN
in Jülich
Das Magazin aus dem Forschungszentrum
IMPRESSUM
Forschen in Jülich
ISSN 1433-7371
Magazin des Forschungszentrums Jülich
Herausgeber
Forschungszentrum Jülich GmbH
52425 Jülich
Redaktion
Dr. Wiebke Rögener, Dr. Angela Lindner
(v.i.S.d.P), Dr. Barbara Schunk,
Annette Stettien
Autoren
Dr. Frank Frick, Dr. Karin Hollricher,
Dr. Wiebke Rögener
2
Design und Layout
SeitenPlan GmbH, Dortmund
Bildnachweis
Forschungszentrum Jülich (S. 6 li., S. 7
re. u., S. 11, S. 14, S. 15, S. 18/19, S. 19
li. o., S. 22/23, S. 26, S. 27 re., S. 28, ­
S. 31 re., S. 33, S. 34/35, S. 36/37, ­S. 38­
o., S. 39 o.), R. U. Limbach (S. 2, S. 3, S. 7
o., li. u., S. 21, S. 27 li., S. 30, ­S. 31­li., ­­
S. 38 u.), Deutscher Zukunftspreis, Ans­
gar Pudenz (S. 4 re. u., S. 17), Thomas
Klink (S. 6 li.), RWTH Aachen (S. 20),
Hermann Krämer (S. 25), vario images
(S. 29), Sergey Lavrentev (S. 39 li. u.),
Simone van den Berg (S. 38 li.u.), Natalia
Sinjushina & Evgeniy Meyke (S. 39 re. u.)
Kontakt
Stabsstelle
Unternehmenskommunikation
Tel. 02461 61 - 4661
Fax 02461 61 -4666
[email protected]
Druck
Druckerei Medienhaus Plump GmbH
Auflage
15 000
Forschen in Jülich 1 | 2008
Exzellente Hirnforschung
D
as vor Ihnen liegende Heft aus der Reihe
„Forschen in Jülich“ geht in seinem Schwerpunktthema der Frage nach: Was kann die
Hirnforschung bei der Diagnose und Therapie von
neurologischen und neurodegenerativen Erkrankungen leisten? Sie erfahren etwas darüber, wie sich
das Gehirn im Laufe des Lebens verändert und wie
sich ganz normale Alterungsprozesse beispielsweise
von einer Alzheimer-Demenz unterscheiden. Lesen
Sie, welche Möglichkeiten Jülicher Wissenschaftler
erforschen, Erkrankungen des Gehirns so frühzeitig
zu erkennen, dass sich Chancen für eine Behandlung
ergeben! Patienten würden gesunde Lebenszeit gewinnen und die Gesellschaft enorme Kosten sparen
– geschätzte 40 Milliarden Euro pro Jahr –, wenn sich
der Beginn von Demenzen um durchschnittlich fünf
Jahre verzögern ließe. Außerdem stellen wir Ansätze
für zukunftweisende Therapieverfahren vor, die im
Forschungszentrum Jülich entwickelt werden, beispielsweise einen neuartigen Hirnschrittmacher für
Parkinson-Patienten. Auch neue Wege der Schlag­
anfalltherapie werden aufgezeigt. All dies ist aber nur
auf der Basis einer exzellenten Grundlagenforschung
möglich, die es uns erlaubt, die Organisation des
­Gehirns besser zu verstehen.
Das Forschungszentrum Jülich ist für diese Forschung
hervorragend ausgestattet. So entwickeln wir gemeinsam mit Siemens ein Gerät, das einzigartige Einblicke
in das lebende Gehirn liefern wird – einen 9,4-TeslaMagnetresonanz-Positronenemissionstomo­grafen.
Vor allem aber forschen in Jülich Naturwissenschaftler und Mediziner mit herausragenden Kompetenzen
in der Hirnforschung, die in strategischen Allianzen
mit Kliniken und Universitäten der Region vernetzt
sind. Das Besondere an der Neuroforschung in Jülich
ist die fachliche Kombination von Physik und Medizin. Viele unserer Forschungsgruppen sind in beiden
Fächern qualifiziert.
Forschen in Jülich 1 | 2008
Eine einmalige Forschungskooperation besteht mit
der RWTH Aachen im Rahmen der 2007 gegründeten
Jülich-Aachen Research Alliance JARA. So ist es ein
wichtiges Ziel der Sektion JARA-BRAIN, Forschungsergebnisse zu erzielen, die Patienten helfen können,
und diese Erkenntnisse möglichst rasch in den Klinikalltag zu übertragen.
Dass Jülich eine herausragende Rolle in der Demenzforschung spielt, machte eine forschungspolitische Entscheidung im Frühjahr 2008 deutlich: Im
bundesweiten Wettbewerb um die Errichtung eines
nationalen Zentrums für neurodegenerative Erkrankungen, den die Bundesministerin für Bildung und
Forschung, Frau Annette Schavan, initiiert hatte, war
das Forschungszentrum Jülich mit seinen Partnern
in Bonn und Köln erfolgreich. Im März 2008 fiel die
Wahl auf den Antrag aus Nordrhein-Westfalen, sodass nun das „Helmholtz-Zentrum Bonn – Deutsches
Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen“
(DZNE) mit seinem Kernzentrum auf dem Campus
der Universitätsklinik Bonn errichtet wird. „Ohne
das Engagement Jülichs wäre es nicht zu dieser
Positionierung des Antrags im Wettbewerb gekommen“, hob NRW-Innovationsminister Prof. Andreas
Pinkwart­ hervor. Wir freuen uns, dass unsere seit
Jahren ­exzellenten Forschungsleistungen auf dem
Gebiet der Hirnforschung damit eine besondere Anerkennung gefunden haben und wir einen wesentlichen Beitrag liefern werden.
Prof. Dr. Achim Bachem
Vorstandvorsitzender des
Forschungszentrums Jülich
3
10
:: Gedächtnisschwund und AltersweisheiT
Jülicher Wissenschaftler erforschen den Umbau des Denkorgans im Alter. So erarbeiten
sie einen Hirnatlas, der die Strukturen des Gehirns mit bisher ungekannter Genauigkeit
beschreibt, und untersuchen, wie Organisation und Funktion miteinander verknüpft
sind.
4
12
15
:: Dem unmerklichen Anfang auf der Spur
Wer leidet nicht hin und wieder an Vergesslichkeit? Doch kann
sie auch frühes Anzeichen einer Demenzerkrankung sein. In
Jülich arbeiten Forscher daran, erste Vorboten der AlzheimerErkrankung, aber auch von Schizophrenie oder Multipler Sklerose früher zu erkennen.
:: Länger gut Leben Mit Magnetfeldern können Jülicher Neurowissenschaftler die Zusammenarbeit der Hirnhälften nach einem Schlaganfall verbessern. Neuartige Hirnschrittmacher helfen Parkinson-Patienten.
Zwei Beispiele dafür, wie die Jülicher Hirnforschung den Weg von
Theorie und Laborexperiment zum klinischen Einsatz geht.
Forschen in Jülich 1 | 2008
IN DIESER AUSGABE
3Editorial
:: Highlights
:: Schnappschüsse aus Jülich
26 Durchblick bis ins Detail
Ein Bericht über ein einzigartiges Großgerät der
Hirnforschung.
6 Forschung im Überblick
Ein buntes Kaleidoskop von Bildern zeigt Highlights aus der Jülicher Forschung – von Klimaforschern im Zeppelin über den Physik-Nobelpreis für Peter Grünberg bis zu einem der schnellsten zivilen Supercomputer der Welt.
:: SCHWERPUNKT
8 Alterungsprozesse und Erkrankungen des Gehirns
10 Gedächtnisschwund und Altersweisheit
Jülicher Wissenschaftler erforschen den Umbau des
Denkorgans im Alter.
12Dem unmerklichen Anfang auf der Spur
Das alternde Gehirn: Wie lassen sich schwere Symptome von Alzheimer, Schizophrenie oder Multipler Sklerose
aufhalten?
15Länger gut leben
Hirnforschung für neue Therapien
Die Jülicher Hirnforschung auf dem Weg von Theorie
und Laborexperiment zum klinischen Einsatz.
18 Schritte zur Normalität
Sichtbare Besserung bei Parkinson-Patienten.
20 Forschungsallianz für neue Therapien
Interview mit Prof. Frank Schneider, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklini-
kum Aachen und Geschäftsführender Direktor von JARA.
28Der weibliche Blick
Ein Hirnareal, das Bewegung im Gesichtsfeld wahrnimmt, unterscheidet sich bei Frauen und Männern.
30Das Molekül, das müde macht
Neurowissenschaftler identifizieren einen Schlaffaktor im Gehirn und erklären, wie Kaffee die Müdigkeit vertreibt.
32 Tumor im Fokus
Mit einem speziellen radioaktiv markierten Molekül lassen sich Hirntumore genauer orten.
34 Besondere Kontakte
Der unterschiedliche strukturelle Aufbau verschiedener Synapsen – Schaltstellen zwischen Nervenzellen im
Gehirn – wird in virtuellen dreidimensionalen Modellen sichtbar.
36 Hirnlandschaften
Orientierungshilfe im Gehirn.
38 Nachrichten aus der Medizin
Von Molekülen, die Herzen höher schlagen lassen,
einer Sonde zur Alzheimer-Diagnostik und Erkenntnissen aus Computersimulationen – Schlaglichter auf die medizi-
nische Forschung in Jülich.
22 Vom Molekül zur Hirnkarte
24Tics in der Röhre
Jülicher und Aachener Neurowissenschaftler erforschen mit modernsten Methoden die Vorgänge im Hirn von Tourette-Patienten.
Forschen in Jülich 1 | 2008
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Klimaforscher im Luftschiff
Er schwebt in geringen Höhen langsam in der Luft, kann in
der Luft anhalten und ist für Bodensee-Touristen eine Attraktion: der Zeppelin NT. Die einzigartigen Flugeigenschaften des
Luftschiffs nutzten Jülicher Atmosphärenforscher erstmals im
Sommer 2007, um die Luft über Süddeutschland genauestens
zu analysieren. Die Wissenschaftler bestimmten verschiedene
Schad- und Spurengase bis in eine Höhe von 1 000 Metern
über dem Boden. In dieser chemisch sehr aktiven untersten
Schicht der Atmosphäre sind die Prozesse bisher nur lückenhaft bekannt. Im Oktober 2008 startet der Zeppelin erneut.
Leben im Supercomputer
Nach vier Monaten Rechenzeit auf
2 000 Prozessoren des Jülicher Super­
computers JUBL fanden Bochumer
Wissenschaftler heraus, wie sich vor
vier Milliarden Jahren Aminosäuren zu
den Bausteinen des Lebens, den Peptiden, zusammenschließen konnten – an
vulkanischen Schloten in den Tiefen der
Ozeane.
Forschung im Überblick
Die Jülicher Gesundheitsforschung steht im Mittelpunkt dieses Magazins.
Jülicher Wissenschaftler sind aber auch auf anderen Forschungsgebieten
aktiv und erfolgreich. Einige Momentaufnahmen künden davon.
Frank Frick
LINKTIPP
www.fz-juelich.de/portal/kurznachrichten
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Forschen in Jülich 1 | 2008
Schnappschüsse
Höchste Ehrung
Der Nobelpreis für Physik 2007 ging an den Jülicher Forscher Peter
Grünberg und seinen Pariser Kollegen Albert Fert. „Die Zeit“ fand für
die Physiklaien unter ihren Lesern dazu folgende Worte: „Über Grünbergs Arbeit müssen Sie nur wissen, dass ohne sie dieser Text so nicht
entstanden wäre. Ohne sie gäbe es kein digitales Familienalbum auf
Ihrer Computerfestplatte, keine tragbare Musiksammlung – und keine
pünktlich erscheinende moderne Wochenzeitung.“ Grünberg und Fert
hatten in den 80er-Jahren unabhängig voneinander den Riesenmagnetowiderstand entdeckt – ein Effekt, der den Durchbruch zu GigabyteFestplatten brachte, die heute in jedem PC im Einsatz sind.
Ein Reformer, der kaum altert
Aus Wasserstoffgas erzeugen Brennstoffzellen effizient Strom – ohne dabei Schadstoffe freizusetzen. Das Problem: Wasserstoff steht nicht flächendeckend zur Verfügung. Deshalb haben Jülicher Forscher
mithilfe von Supercomputer-­Simulationen
einen Reformer entwickelt, der den Wasserstoff aus Diesel oder Kerosin erzeugt.
Er zeigt kaum Alterserscheinungen und
verrichtet seinen Dienst mehr als 2 000
­Betriebsstunden lang.
Forschen in Jülich 1 | 2008
Weltspitze
JUGENE, der neueste Supercomputer
des Forschungszentrums Jülich, schafft
unvorstellbare 167 Billionen Rechenoperationen pro Sekunde. Damit war er der
schnellste zivile Rechner der Welt, als er
im Februar 2008 mit einem feierlichen
Festakt offiziell für die Nutzer freigeschaltet wurde.
Diskussion ums Ozonloch
Die Laborergebnisse einer kalifornischen Forschergruppe vom
Jet Propulsion Laboratory erschütterten im April 2007 das bisherige Verständnis von der Entstehung des Ozonlochs. Einige
Monate danach rückten Jülicher Forscher die Ergebnisse im
renommierten Fachmagazin „Science“ gerade. „Unter anderem aufgrund eigener neuer Experimente ist es auf keinen
Fall angebracht, die Rolle der Fluorchlorkohlenwasserstoffe
(FCKW) und das Montrealer Protokoll infrage zu stellen“, so
der Jülicher Atmosphärenchemiker Marc von Hobe. Im
Montreal-Protokoll und mehreren Folgeabkommen wurde die
Produktion der FCKW stark begrenzt.
7
8
Forschen in Jülich 1 | 2008
Schwerpunkt
XXX
:: ALTERUNGSPROZESSE UND
ERKRANKUNGEN des GEhirns
Immer mehr Menschen erreichen ein hohes Alter. Doch diese insgesamt erfreuliche Entwicklung hat auch ihre Schattenseiten: Alterstypische Erkrankungen, wie Alzheimer oder Parkinson, betreffen einen
wachsenden Teil der Bevölkerung. Bereits heute leben in Deutschland
mehr als eine Million Menschen mit Demenzerkrankungen – Tendenz
steigend. Auch mit den Folgen eines Schlaganfalls müssen vorwiegend
ältere Menschen fertig werden. Die Zunahme solcher Erkrankungen in
einer alternden Bevölkerung bedeutet eine Herausforderung, nicht zuletzt für die Forschung. Denn noch verfügen wir über keine wirksame
Prävention oder Therapie nach Ausbruch der Erkrankung.
Forschen in Jülich 1 | 2008
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Gedächtsnisschwund
und Altersweisheit
Vergesslichkeit ist ein alltägliches Phänomen. Und je ­älter man wird, desto häufiger
lässt einen das Gedächtnis im Stich. Jülicher Forscher wollen ­herausfinden, welche
anatomischen und funktionellen Veränderungen im Gehirn ­dafür verantwortlich sind
und wie sich das Gehirn im ­Laufe des Lebens wandelt.
W
ie war doch gleich der Name?
Jeder hat wohl schon erlebt,
dass man jemanden auf der
Straße trifft, sich aber beim besten Willen nicht daran erinnern kann, woher
man diese Person kennt und wie sie
heißt. Mit zunehmendem Alter passiert
das immer häufiger. Doch muss das
nicht gleich Anzeichen einer Erkrankung
sein. Vergesslichkeit gehört zum normalen Alterungsprozess des Gehirns.
Was dabei im Gehirn vor sich geht,
kann man heute noch nicht genau beantworten. Das gesunde alternde Gehirn ist erst seit Kurzem Gegenstand
der wissenschaftlichen Neugier. Die
10
Hirnforscher konzentrierten sich bisher
darauf, die Entwicklung des jungen Gehirns und krankheitsbedingte Veränderungen im Denkorgan zu untersuchen.
Von dem, was das gesunde Hirn ab 30
so alles durchmacht, ist daher nur wenig
bekannt.
Fest steht, dass die Alterung des Gehirns von den Genen und vom Training
abhängig ist, das man dem Oberstübchen zuteil werden lässt. „Jeder von uns
wird mit dem Alter vergesslicher. Dies
betrifft aber vor allem die fluide Intelligenz, also die Fähigkeit, neue Probleme
ohne Rückgriff auf Erfahrungen zu lösen“, erklärt Prof. Gereon Fink, Direktor
am Institut für Neurowissenschaften und
Biophysik in Jülich. „Die im Laufe des
Lebens erworbenen Kenntnisse, also die
kultur- und wissensabhängige Software,
bleiben dagegen meist lange erhalten
– man spricht hier auch von kristalliner
Intelligenz. Dies ist die Altersweisheit,
mit der ältere Menschen viele Defizite
ausgleichen können.“
Was und WO?
Die Jülicher Neurowissenschaftler
untersuchen, wie sich Menschen unterschiedlichen Alters Dinge, Personen
und Ereignisse einprägen und wie sie
sich daran erinnern. In einem ExperiForschen in Jülich 1 | 2008
Schwerpunkt
ment zeigten die Forscher beispielsweise jüngeren und älteren Probanden in
schneller Folge 100 Gegenstände, die in
unterschiedlichen Positionen auf einem
Bildschirm angeordnet waren. Anschließend sollten sich die Probanden daran
erinnern, was sie gesehen haben und
wo dieser Gegenstand abgebildet war.
Währenddessen zeichneten die Forscher
mithilfe eines Kernspintomatografen die
Hirnfunktionen der Probanden auf.
Das Ergebnis: Vergessen ist nicht
gleich vergessen. Junge wie ältere Menschen konnten sich gleich gut an die
gezeigten Objekte erinnern. Allerdings
nutzten die Altersgruppen beim Einprägen der Gegenstände unterschiedliche
Gehirnregionen. Das könnte ein Indiz
auf einen ausgleichenden Mechanismus
sein, der Älteren ein ähnlich effizientes
Kurzzeitgedächtnis beschert wie den
Jüngeren.
Deutliche altersabhängige Unterschiede zeigten sich indes beim räumlichen Kontext, also bei der Erinnerung
daran, wo die Probanden einen Gegenstand gesehen hatten. Die Hälfte der
Objekte, die sich die Älteren korrekt
gemerkt hatten, ordneten sie einer
falschen Position zu. Die Jüngeren dagegen konnten sich in fast zwei Dritteln
der Fälle richtig daran erinnern, wo sie
das Objekt gesehen hatten. Die korrekte
Erinnerung spiegelte sich in einer höheren Aktivität im Hippocampus wider.
Dieses Gehirnareal, das sich im Schläfenlappen befindet, ist ein wichtiges
Zentrum, das neue Informationen ins
Langzeitgedächtnis überführt.
Umbau des Gehirns
Es stellt sich nun die Frage, wie die
beobachteten Veränderungen in den
Hirnfunktionen mit Änderungen in der
Anatomie des Gehirns zusammenhängen. Viele Jahrzehnte lang glaubte man,
dass der Verlust von Nervenzellen die
Forschen in Jülich 1 | 2008
Ursache für altersbedingte Vergesslichkeit sei. Doch inzwischen sieht man das
etwas anders. „Das Gehirn schrumpft
nicht einfach, sondern verändert sich
während des ganzen Lebens“, betont
Prof. Katrin Amunts. Die Leiterin der Arbeitsgruppe „Funktionelle Architektonik“
am Institut für Neurowissenschaften und
Biophysik untersucht die Gehirne Verstorbener und entwickelt aus diesen Daten einen detaillierten dreidimensionalen
Gehirnatlas. „Die Alterung des Denkorgans ist mehr als ein Massensterben
von Nervenzellen, nämlich ein komplexer
Umbau- und Anpassungsprozess, der für
verschiedene Hirnregionen unterschiedlich abläuft“, sagt Amunts. Mithilfe des
hochgenauen Atlas' lassen sich die anatomischen Umbauprozesse in Gehirnen
gesunder Probanden während der Hirn­
alterung genau lokalisieren. Der Atlas
dokumentiert beispielsweise einen altersabhängigen Verlust an Gehirnmasse
in solchen Hirnarealen, die motorische
Fähigkeiten steuern. Dieser Abgleich von
Hirnfunktion und Hirnanatomie ist Teil
des „International Consortium for Human Brain Mapping“ (ICBM), eines großen Gemeinschaftsprojekts, das unter anderem vom US-amerikanischen National
Institute of Health (NIH) finanziell unterstützt wird.
Insgesamt zeigen die verschiedenen
Forschungsprojekte immer deutlicher,
dass das Gehirn ausgesprochen elastisch
ist. Daher kann man auch mit 60 Jahren
noch Sprachen oder Klavierspielen erlernen. Die Hirne der meisten älteren
Menschen sind weit davon entfernt, sich
langsam abzuschalten, sondern sie reagieren im Alter noch sehr geschmeidig
auf jegliche Reize. Auch wenn das Gedächtnis ein wenig nachlässt – viele Aufgaben werden nicht schlechter, sondern
einfach nur anders bewältigt als in jüngeren Jahren. Diesen Prozessen auf den
Grund zu gehen, bleibt eine extrem spannende Aufgabe für die Hirnforschung. ::
Karin Hollricher
Schnitte in der Horizontalebene (links) und der Sagittalebene (rechts) durch einen
MR-Datensatz eines menschlichen Gehirns. Die orange-gelben Regionen zeigen
Bereiche, in denen das Gehirn zwischen 18 und 51 Jahren an Substanz verliert. Hierzu gehören auch eine Faserbahn (Tractus corticospinalis), die für die Steuerung von
­Bewegungen wichtig ist (braune Konturlinien), sowie das Kleinhirn.
11
Dem unmerklichen Anfang
auf der Spur
Jülicher Forscher entwickeln Methoden, Krankheiten wie Alzheimer, Schizophrenie
und Multiple Sklerose früher als bisher sicher zu diagnostizieren. Für die Kranken
heißt das: Früher richtig behandelt, gewinnen sie Lebenszeit, in der sie noch nicht
unter schweren Symptomen leiden.
D
as kann jedem passieren: Man
­hat vor einigen Tagen ein neues
­Handy gekauft, und nun will einem
die PIN partout nicht einfallen. Oder man
tritt aus der Haustür und kann sich nicht
erinnern, wo man am Vorabend das ­Auto
geparkt hat ­– am botanischen Garten
oder doch in der Riehler Straße? Manche
– vor allem Jüngere – nehmen es mit Humor und sagen „Alzheimer lässt grüßen“.
Andere dagegen fragen sich ernsthaft,
ob solche Aussetzer erste Vorboten einer Demenzerkrankung sein könnten.
Gänzlich unbegründet ist die Sorge
nicht: „Recht viele Menschen, die zum
Arzt gehen, weil sie mit zunehmendem
12
Alter erste Beeinträchtigungen ihres Erinnerungsvermögens feststellen, entwickeln tatsächlich später eine AlzheimerDemenz“, sagt der Jülicher Neurologe
Prof. Gereon Fink.
Suche nach Gewissheit
Wer befürchtet, dass sein Gedächtnis nachlässt, den treibt wohl zunächst
vor allem das Bedürfnis nach Gewissheit
zum Arzt. Insofern ist es für ihn wichtig,
dass der Mediziner eine sichere Diagnose stellen kann – auch wenn die Krankheit noch nicht sehr ausgeprägt ist. Aber
auch aus einem anderen Grund ist es
bedeutsam, die Vorzeichen möglichst
früh zu erkennen: „Indem man dann sofort mit einer Therapie – etwa einem Gedächtnistraining – beginnt kann man die
Erkrankung zwar nicht verhindern, aber
das Auftreten schwerer Symptome zeitlich hinauszögern“, sagt Fink.
Sein Kollege Prof. Andreas Bauer
erklärt noch aus einem anderen Blickwinkel heraus, warum eine frühzeitige
Diagnosestellung bei vielen Krankheiten
des Gehirns wünschenswert ist. Ausgangspunkt ist eine eigentlich niederschmetternde Erkenntnis: „Was zerstört
ist, bleibt in der Regel dauerhaft zerstört
und ist zumeist nicht wiederherzustellen
– für das zentrale Nervensystem gilt das
Forschen in Jülich 1 | 2008
Schwerpunkt
Die Vorzeichen der Alzheimer-Demenz sind schwer zu
erkennen. Doch eine frühzeitige und sichere Diagnose
der Krankheit ist wichtig, um das Auftreten schwerer
Symptome zeitlich hinauszögern zu können.
immer noch, trotz allen medizinischen
Fortschritts und der Erkenntnis, dass
das Gehirn zu erstaunlichen Kompensationsleistungen fähig ist.“ Daher, so
der Neurologe weiter, müsse man versuchen, die Nervenzellen von vornherein
vor der Zerstörung zu bewahren und so
der Krankheit entgegenzuwirken. In der
Praxis bedeutet das üblicherweise, den
Patienten möglichst frühzeitig und gezielt medikamentös zu behandeln.
Zeitige Therapie nützt
Wie erfolgreich diese Strategie ist,
hängt von der Art der Erkrankung ab.
„Studien zur Schizophrenie beispielsweise zeigen einen doppelten Nutzen
des frühzeitigen pharmakologischen Eingriffs: Zum einen verläuft die Krankheit
weniger dramatisch, und zum anderen
lässt sich ihr Schwerpunkt in Richtung
eines höheren Lebensalters verschieben“, so Bauer.
Eine vorbeugende Gabe von Medikamenten ohne sichere Diagnose kommt
jedoch nicht infrage: Alle Arzneistoffe
haben Nebenwirkungen, und ihre Einnahme ist stets mit einem gewissen gesundheitlichen Risiko verbunden. Hinzu
kommt, dass die prophylaktische Medikamentengabe mit enormen Kosten
verbunden wäre. „Somit ist die sichere
Diagnose der neurologischen oder psychischen Erkrankung Voraussetzung,
um gezielt pharmakologisch intervenieren zu können“, folgert Bauer.
Um herauszufinden, ob jemand tatsächlich unter krankheitsbedingten Gedächtnisstörungen leidet, setzen Ärzte
üblicherweise neuropsychologische Tests
ein. So legen sie ihren Patienten zum
Beispiel zehn Bilder von verschiedenen
Tieren mit der Aufforderung vor, sich
diese einzuprägen. Fünf Minuten später
Forschen in Jülich 1 | 2008
sollen die Patienten dann möglichst viele
Tiere aufzählen. Bei einem anderen Test
haben die Patienten eine Minute Zeit, um
möglichst viele Begriffe etwa zum Oberbegriff „Supermarkt“ zu nennen.
Um zur Diagnose Schizophrenie zu gelangen, beobachten die Ärzte das Verhalten der Patienten und befragen sie, wobei
sie auf standardisierte Interviewbögen
zurückgreifen können. Auf diese Weise
stellen sie fest, ob die ­Patienten unter
bestimmten Symptomen leiden, die für
die Schizophrenie typisch sind. Zu ihnen
zählen Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Betroffene – 800 000 Menschen in Deutschland – hören Stimmen,
sehen Personen, die nicht da sind, oder
fühlen sich verfolgt. Weit verbreitet ist
auch die wahnhafte Überzeugung, durch
Außerirdische oder magische Mächte
beobachtet und kontrolliert zu werden.
Schon Jahre vor diesen auffälligen, sogenannten Positivsymptomen, beginnen
die weniger eindeutigen Negativsymp­
tome, zu denen unter anderem Antriebsverlust, Konzentrationsschwäche und
der soziale Rückzug von Freunden und
Familie gehören.
Schizophrenie früh erkannt
Der Nachteil der Diagnose durch solche Tests: „Selbst der beste Mediziner
kann die Diagnose Schizophrenie erst
dann stellen, wenn auch die Positivsymptome auftreten“, erläutert Bauer.
Vergleichbares gilt auch für die Diagnose Alzheimer: Die Defizite, die von den
maßgeschneiderten Tests aufgedeckt
werden, müssen schon sehr gravierend
sein, bevor ein Mediziner davon ausgehen kann, dass sein Patient wirklich an
dieser Demenzerkrankung leidet – und
völlig sicher kann er selbst dann noch
nicht sein.
Angesichts dessen liegt es nahe, mit
Verfahren wie der Magnetresonanztomografie (MRT) oder der Positronen­
emissionstomografie (PET) nach Veränderungen im Gehirn zu suchen, die für
die jeweilige Krankheit charakteristisch
sind. Spiegelt sich die Erkrankung tatsächlich in den Bildern wider, die diese
Verfahren liefern, so kann man im nächsten Schritt untersuchen, ob diese Abweichungen auch schon sichtbar sind,
bevor jemand unter schweren Symptomen leidet. Genau das tun viele Hirnforscher weltweit, darunter auch Jülicher
Neurowissenschaftler.
Das Team um Andreas Bauer hat sein
Augenmerk auf ein Molekül namens
5‑HT2A – einen sogenannten Transmitter­
rezeptor – gerichtet. Transmitterrezeptoren sind Eiweißmoleküle in der äuße­
ren Hülle von Nervenzellen und für die
Informationsübertragung im Gehirn entscheidend. Mithilfe der PET können die
Wissenschaftler feststellen, wie viele
dieser 5-HT2A-Rezeptoren in den einzelnen Hirnregionen vorhanden sind. Dazu
injizieren sie den Menschen, die sie untersuchen wollen, eine schwach radioaktiv markierte Substanz, das [18F]Altanserin. Im Gehirn angelangt, lagert es
sich spezifisch an die 5-HT2A-Rezeptoren
an. Durch den spontanen Zerfall der
radioaktiven Atome entsteht dann ein
messbares Signal, das die Position der
Rezeptoren anzeigt.
Gemeinsam mit Bonner Kollegen
­untersuchten die Wissenschaftler um
Bauer so Menschen, bei denen es aufgrund der herkömmlichen Diagnoseverfahren mit standardisierter Befragung
als wahrscheinlich galt, dass sie an Schizophrenie erkrankt waren, obwohl die
schweren Positivsymptome noch nicht
aufgetreten waren. Dabei fanden sie
13
Wie sich im Gehirn ein erhöhtes SchizophrenieRisiko widerspiegelt, zeigt diese Gegenüberstellung: Die Zunahme blauer, violetter und schwarzer
Bereiche (links) zeigt eine verringerte 5-HT2A-Rezeptorendichte gegenüber derjenigen im gesunden
Gehirn (rechts).
Das Gehirn von Gesunden (obere Zeile) reagiert auf
Reize, die das Langzeitgedächtnis ansprechen, anders
als das von Menschen mit einer sogenannten „leichten
kognitiven Beeinträchtigung“ (mittlere Zeile). Die untere
Zeile macht die Unterschiede auf einen Blick sichtbar.
heraus: Je stärker die psychologischen
Tests auf eine beginnende Schizophrenie hinwiesen, desto geringer war die
Konzentration von 5-HT2A-Rezeptoren
im Gehirn. „Allerdings müssen wir noch
mehr Menschen über einen längeren
Zeitraum untersuchen, um tatsächlich
sagen zu können, ob wir auf einen biologischen Marker zur Frühdiagnose von
Schizophrenie gestoßen sind“, schränkt
Bauer ein. Erst nach einer Beobachtungszeit von fünf Jahren wird endgültig
feststehen, ob sich bei Betroffenen mit
weniger 5-HT2A-Rezeptoren wirklich häufiger eine ausgeprägte Schizophrenie
entwickelt.
Anzeichen der MS
Jülicher Wissenschaftler um Prof. Jon
Shah sind ebenfalls auf der Suche nach
frühen Anzeichen einer Hirnerkrankung.
Sie haben mithilfe einer speziellen,
selbst entwickelten MRT-Methode die
Gehirne von MS-Patienten untersucht.
MS ist das Kürzel für „Multiple Sklerose“, eine sehr unterschiedlich verlaufende Krankheit, bei der im Gehirn und
im Rückenmark charakteristische Entzündungsherde auftreten. Körpereigene
Abwehrzellen greifen dort die MyelinSchutzschicht an, die die Nervenfasern
14
umhüllt – ähnlich der Isolierung um ein
elektrisches Kabel. MS-Patienten bekommen dann unter anderem Schwierigkeiten beim Sehen und beim Gehen und
leiden unter gestörten Empfindungen für
Berührung und Temperatur.
Das patentierte MRT-Verfahren der
Jülicher Forscher erlaubt es, den Wassergehalt in unterschiedlichen Bereichen
des lebenden Gehirns bis auf ein Prozent
genau zu bestimmen. „Antrieb für unsere Untersuchungen an MS-Patienten ist
die Vermutung, dass es schon Störungen
im Gehirn gibt, bevor die Entzündungsherde in herkömmlichen MRT-Aufnahmen sichtbar werden“, sagt Shah. Diese
Störungen werden möglicherweise von
Veränderungen des Wassergehaltes begleitet. Noch stehen die Wissenschaftler mit ihrer Forschung ganz am Anfang.
Doch: „Es gibt erste Hinweise, dass wir
auf dem richtigen Weg sind“, freut sich
Shah.
Vergesslichkeit als Warnung
Die Vorboten der Alzheimer-Erkrankung hat sich die Jülicher Arbeitsgruppe
um Gereon Fink näher angeschaut.
Gemeinsam mit Dresdener Forschern
untersuchten die Wissenschaftler Menschen, die laut neuropsychologischer
Tests unter einer „leichten kognitiven
Beeinträchtigung“ (LKB) litten. Studien
weisen darauf hin, dass Menschen mit
einer LKB später besonders häufig an
Morbus Alzheimer erkranken. „Typisch
für die Betroffenen ist, dass sie kürzlich
zurückliegende Ereignisse vergessen,
während das Gedächtnis für länger zurückliegende Ereignisse noch funktioniert“, erläutert Fink. Trotzdem zeigen
die funktionellen MRT-Bilder, die von
den Forschern aufgenommen wurden:
Das Gehirn von Menschen mit einer LKB
reagiert auf Reize, die das Langzeitgedächtnis ansprechen, mit anderen Aktivitäten als das Gehirn gesunder älterer
Menschen. „Darin spiegelt sich der – anfänglich noch gelingende – Versuch des
Gehirns wider, Defizite zu kompensieren“, so Fink.
Die Ergebnisse der Jülicher Forscher
könnten künftig helfen, zunehmende Vergesslichkeit aufgrund normalen Alterns
besser von krankhaften Gedächtnisstörungen abzugrenzen. Eine interessante
Perspektive auch speziell für diejenigen,
die sich gerade auf die Suche nach ihrem Auto begeben. ::
Frank Frick
Forschen in Jülich 1 | 2008
Schwerpunkt
Länger gut leben
Bei guter Gesundheit alt werden – wer möchte das nicht? Doch viele neurologische
Erkrankungen werden mit höherem Alter wahrscheinlicher: die Parkinson-Erkrankung
etwa oder ein Schlaganfall. Aktuelle Ergebnisse der Jülicher Neurowissenschaftler
­zeigen neue Behandlungsmöglichkeiten auf.
W
enn plötzlich rasende Kopfschmerzen auftreten, Schwindel, Sehstörungen oder Taubheit an Armen oder Beinen, kann das ein
Schlaganfall sein – der Verschluss eines
Blutgefäßes oder, seltener, eine Blutung
im Gehirn. Mehr als 200 000 Menschen
werden jährlich in Deutschland „vom
Schlag getroffen“. Wer sofort in eine
Klinik mit spezialisierter Schlaganfalleinheit kommt, hat die besten Karten: Oft
lässt sich der Blutpfropf auflösen, und
der Patient wird wieder ganz gesund.
„Doch nur etwa jedes 20. Schlaganfallopfer erhält rechtzeitig eine solche
Akuttherapie“, sagt Prof. Gereon Fink,
Direktor des Bereichs Kognitive Neurologie in Jülich und Chefarzt der Klinik für
Neurologie der Universitätsklinik Köln.
Der Hirnschlag ist daher nicht nur die
dritthäufigste Todesursache in Deutschland, sondern auch die wichtigste Ursache dauerhafter Behinderungen wie Lähmungen oder Sprachstörungen.
SchlaganfallTherapie
Finks Team sucht nach Wegen,
solche Dauerschäden zu verringern.
„Schlaganfallpatienten kann geholfen werden“, betont der Neurologe. Er
nennt drei Ansätze für die Therapie:
Zum einen hilft ein Verhaltenstraining,
beispielsweise bei Menschen, die nach
Forschen in Jülich 1 | 2008
einem Schlaganfall die eine Hälfte der
Welt ignorieren. Ist die rechte Hirnhälfte geschädigt, übersehen die Betroffenen, was sich in der linken Hälfte
ihres Gesichtfeldes befindet. Wenn man
sie etwa auffordert, in einem Text bestimmte Buchstaben durchzustreichen,
gelingt ihnen dies zunächst nur auf der
rechten Seitenhälfte. „Doch mit einem
speziellen Computertraining lässt sich
die Aufmerksamkeit auf die andere Seite lenken“, berichtet Fink. Nach einigen
Wochen Übung am Bildschirm finden
die Patienten auch auf der zunächst
vernachlässigten Seite die gesuchten
Buchstaben.
Zum anderen arbeiten die Jülicher
Forscher daran, den Heilungsprozess
auf molekularer Ebene zu fördern. Ein
Unterfangen, das ihnen unerwartet die
Aufmerksamkeit der Boulevardpresse
einbrachte: „Trost für Raucher – Nikotin
gut fürs Gehirn“ lautete eine Schlagzeile.
Tatsächlich können einige Schlaganfallpatienten Aufgaben, bei denen es auf die
rasche räumliche Orientierung ankommt,
besser lösen, wenn sie dabei Nikotinkaugummi kauen. In einem Experiment
Hemmung
Wenn Gesunde die rechte Hand bewegen, ist ganz überwiegend die linke Hirnhälfte
aktiv (linkes Bild). Bei Schlaganfallpatienten findet sich dagegen eine Überaktivität der
nicht geschädigten rechten Hemisphäre. Sie hemmt die Aktivität der geschädigten
Hirnrinde (rechtes Bild).
15
„Wie die Signale beschaffen sein müssen, um einen therapeutischen Umbau von Nervenzellverbänden zu erreichen, haben wir
zunächst mit Bleistift und Papier berechnet. Für die immer komplexeren Modelle, die sich daraus entwickelt haben, nutzen wir
auch die Jülicher Großrechner.“
Peter Tass
wurden verschiedene Objekte nacheinander auf einem Bildschirm gezeigt. Später
sollten die Patienten angeben, ob und wo
sie die Gegenstände gesehen haben –
oben, unten, links oder rechts? Mit Nikotin im Blut reagierten viele schneller und
machten weniger Fehler. Die Erklärung:
Für die Ausrichtung der Aufmerksamkeit
spielt eine Hirnregion, die als ParietalKortex bezeichnet wird, eine zentrale Rolle. Die Gehirnzellen dort erhalten Nachrichten aus anderen Gehirnabschnitten
über Empfängermoleküle, sogenannte
cholinerge Rezeptoren. Nikotin stimuliert
diese Empfänger und erleichtert damit
den Patienten die Orientierung – allerdings nur, wenn der Parietal-Kortex selbst
nicht geschädigt ist. Zum Rauchen verführen will Fink aber keineswegs: „Es gilt
nun, ein Medikament zu entwickeln, das
ebenso die räumliche Aufmerksamkeit
unterstützt, aber ohne die Suchtwirkung
von Nikotin“, betont er.
Unerwünschte Einmischung
Drittens schließlich möchten die Forscher besser verstehen, wie ein Schlaganfall die Vernetzung der Hirnregionen
beeinträchtigt. Ein Verfahren namens
„funktionale Magnetresonanztomografie“ liefert dafür Bilder aus dem Gehirn.
„Sie zeigen, dass ein Schlaganfall die Zusammenarbeit im Gehirn stört“, erläutert
Fink. So steuern normalerweise Nervenzellen im Motorkortex der rechten Hirnhälfte Bewegungen der linken Hand.
Zugleich hemmen sie den Motorkortex
der anderen Hemisphäre. Bei manchen
Schlaganfallpatienten aber fällt diese
Hemmung aus. Dadurch mischt sich die
„unzuständige“ Hirnhälfte ein und bringt
das Zusammenspiel der Nervenzellen
durcheinander. Wenn beispielsweise die
rechte Hirnhälfte geschädigt und da-
16
durch die Bewegungsfähigkeit der linken
Hand beeinträchtigt ist, wird auch die
linke Hirnhälfte aktiv, sobald der Patient
die gelähmte Hand bewegen will. „Das
ist wahrscheinlich ein Versuch des Hirns,
die Ausfälle zu kompensieren“, nimmt
Fink an. Tatsächlich aber wird dadurch
alles nur schlimmer: Der blinde Aktionismus von der falschen Seite hemmt die
Tätigkeit des zuständigen Motorkortex'.
Je stärker ­diese störenden Signale sind,
desto ausgeprägter ist die Lähmung. Mit
starken Magnetfeldern können die Jülicher Forscher dieses „Störfeuer“ unterbinden: Wenn sie eine Magnetspule über
der übereifrigen Schädelhälfte platzieren, geht die Lähmung zurück. Der Effekt
dieser „transkraniellen Magnetstimulation“ hält etwa eine halbe Stunde an.
Damit lässt sich die Frührehabilitation
von Schlaganfallpatienten verbessern,
erläutert Fink. Wenn Patienten gelähmte
Gliedmaßen früher und besser wieder
bewegen können, bleiben weniger Schäden zurück.
Neue Hirnschrittmacher
Ein Glas Wasser einzuschenken, kann
für Menschen, die an der Parkinson­Erkrankung leiden, eine unmögliche Aufgabe sein. Die „Schüttellähmung“ lässt
die Hand so heftig zittern, dass mehr
Flüssigkeit verschüttet wird als ins Glas
gelangt. Andere Symptome sind Steifheit
oder Gehstörungen. Die Ursache liegt in
einer kleinen Region des Gehirns, der Substantia nigra. Wenn hier Zellen zugrunde
gehen, die einen Botenstoff namens Dopamin bilden, wird die Kommunikation der
Nervenzellen in anderen Hirnregionen gestört. Statt fein aufeinander abgestimmte
Signale auszutauschen, feuern sie stereo­
typ im Gleichtakt. „Erst kürzlich konnte
bewiesen werden, dass diese synchrone
Aktivität die Ursache des unkontrollierbaren Zitterns, des sogenannten ­Tremors,
bei der Parkinson-Erkrankung ist“, berichtet Prof. Peter Tass vom Institut für
Neurowissenschaften und Biophysik des
Forschungszentrums Jülich.
Der Mediziner, Mathematiker und
Physiker Tass hat einen neuartigen Hirnschrittmacher entwickelt, der den krankhaften Gleichtakt im Gehirn unterbricht.
Die Wirkung ist frappierend: ParkinsonPatienten können wieder mit entspannt
schwingenden Armen gehen, und auch
das Einschenken eines Getränks gelingt
mühelos. Ein Hirnschrittmacher besteht
aus Elektroden, die in die betreffenden
tiefen Hirnregionen reichen, und einem
damit verbundenen Stimulator. Bei herkömmlichen Schrittmachern, wie sie in
der Medizin bereits verwendet werden,
sendet dieser ständig Impulse mit hoher
Frequenz ins Hirn. Sie unterbrechen den
Gleichtakt der Nervenzellen. Aber das
Dauerfeuer hat auch Nebenwirkungen.
„Wir entwickeln einen Hirnschrittmacher mit einer ganz anderen Herangehensweise“, erläutert Tass. „Er beruht auf detaillierten mathematischen Modellierungen,
die wir dann experimentell überprüfen.“
Tass bildet Nervenzellverbände in mathematischen Modellen nach und errechnet
daran, wie schon kurze, schwache Störsignale die Synchronisierung verhindern
können. Das Ergebnis ist ein Stimulator,
der nur dann kurzzeitig Signale ans Gehirn
sendet, wenn dort Zellverbände in den
gleichen Rhythmus verfallen. So bringt er
die Nervenzellen aus dem Takt – die Wissenschaftler sprechen vom „koordinierten
Reset“. „Dieser wirkt qualitativ anders als
die Hochfrequenzstimulation“, erklärt
Tass. „Die Aktivität der stimulierten Nervenzellverbände wird nicht einfach unterdrückt, sondern gezielt desynchronisiert.“
Forschen in Jülich 1 | 2008
Schwerpunkt
Mittels Elektroenzephalografie (EEG) wird die
Hirnaktivität während
der Stimulation mit
dem Hirnschrittmacher
gemessen. Das erlaubt
Rückschlüsse auf die
Effektivität unterschiedlicher Stimulationsverfahren. Die EEG-Messung
ist eine wichtige nichtinvasive Methode zur
Beobachtung der Hirnaktivität.
Ein solcher Schrittmacher mit geringer
Stromstärke, der nur bei Bedarf aktiv ist,
verringert das Risiko, dass andere Areale im Gehirn in Mitleidenschaft gezogen
werden. Der Jülicher Hirnschrittmacher
ist nicht nur schonender, sondern er wirkt
auch nachhaltiger. „Wenn ein herkömmlicher Stimulator ausgeschaltet wird,
kehren die Symptome sofort zurück“, berichtet Tass. „Dagegen haben wir in einer
ersten Pilotstudie mit unserem neuen Verfahren beeindruckende therapeutische Effekte gefunden, die bei einigen Patienten
bis zum Ende der Beobachtungsphase,
also bis zu fünf Tage lang, anhielten.“
Ziel ist es, nicht nur Symptome zu unterdrücken, sondern die Hirnzellen dazu
zu bringen, dass sie ihr krankhaftes Verhalten ganz verlernen. „Nervenzellen, die
wiederholt im gleichen Rhythmus aktiv
sind, verstärken ihre Kopplung unterein­
ander“, erläutert Tass. Der Gleichtakt im
Gehirn wird also immer wahrscheinlicher.
„Wenn wir aber diese gleichförmige Aktivität unterbrechen, schwächt das die
Forschen in Jülich 1 | 2008
Verbindung der Zellen untereinander.“
Damit nutzen die Forscher die natürlichen
Mechanismen des Lernens im Gehirn aus
und verringern so die Wahrscheinlichkeit,
dass die Zellen gemeinsam feuern. „Wie
die Signale beschaffen sein müssen, um
einen therapeutischen Umbau von Nervenzellverbänden zu erreichen, haben wir
zunächst mit Bleistift und Papier berechnet. Für die immer komplexeren Modelle,
die sich daraus entwickelt haben, nutzen
wir auch die Jülicher Großrechner“, berichtet Tass.
Bald in der Klinik
2005 gründete er gemeinsam mit dem
Neurochirurgen Prof. Volker Sturm von
der Universitätsklinik Köln und dem Neurologen Prof. Hans-Joachim Freund, dem
ehemaligen Direktor der Universitätsklinik Düsseldorf, das Unternehmen „ANM
Adaptive Neuromodulation GmbH“, um
Hirnschrittmacher für den klinischen
Einsatz herzustellen. Noch werden
die bedarfsgesteuerten Stimulatoren
nur wenige Tage an Patienten ausprobiert, bevor diese einen herkömmlichen
Schrittmacher erhalten. Doch die Ergebnisse sind so vielversprechend, dass Ende 2008 die ersten Patienten dauerhaft
mit Hirnschrittmachern mit dem Jülicher
Stimulationsverfahren versorgt werden
sollen. „Wir erwarten, dass wir innerhalb
von drei Jahren eine Zulassungsstudie für
die EU abschließen werden“, sagt Tass.
Profitieren könnten nicht nur ParkinsonKranke. Auch bei Patienten mit Epilepsie
oder bei schweren Zwangserkrankungen
tritt krankhafte rhythmische Aktivität im
Gehirn auf. Die Forscher hoffen, dass
der neuartige Hirnschrittmacher auch
diesen Menschen helfen kann.
::
Wiebke Rögener
LinktiPP
www.fz-juelich.de/portal/forschung/
highlights/parkinson/hirnschrittmacher
17
Schritte zur Normalität
Jülicher Forscher entwickeln einen besonders schonenden und nachhaltigen Hirnschrittmacher. Er verhindert eine synchrone Aktivität von Nervenzellen, die Ursache des unkontrollierbaren Zitterns und anderer Bewegungsstörungen bei der Parkinson-Erkrankung ist.
VORHER
Der Tremor vieler Parkinson-Patienten ist so stark, dass es ihnen unmöglich ist, einfache
Figuren wie eine Spirale zu zeichnen. Die Körperhaltung ist steif und der Gang stockend.
18
Forschen in Jülich 1 | 2008
Schwerpunkt
Elektroden zur bedarfsgesteuerten tiefen Hirnstimulation
ermöglichen Parkinson-Patienten ein normales Leben.
NACHHER
Nach der Implantation des Hirnschrittmachers können Patienten trotz ihrer ParkinsonErkrankung wieder entspannt ausschreiten. Auch das Zeichnen einer Spirale gelingt.
Forschen in Jülich 1 | 2008
19
Prof. Frank Schneider im Gespräch
Forschungsallianz für
neue Therapien
Mit der Jülich-Aachen Research Alliance JARA erreicht die Zusammenarbeit
des Forschungszentrums Jülich mit der RWTH Aachen eine neue Qualität.
Schwerpunkte der Sektion JARA-BRAIN sind neurodegenerative Erkrankungen, Schizophrenie und affektive Erkrankungen sowie Entwicklungsstörungen. Prof. Frank Schneider, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Aachen, Geschäftsführender Direktor von
JARA und gemeinsam mit Prof. Karl Zilles vom Forschungszentrum Jülich
Direktor von JARA-BRAIN, erläutert die Perspektiven.
Frage: In der Forschungsallianz JARABRAIN verbinden Jülich und Aachen
ihre Kompetenzen in der Hirnforschung.
Welches sind die spezifischen Stärken
der beiden Partner?
Schneider: Mancher neigt dazu, das auf
die Formel zu bringen: Die Jülicher haben die Maschinen, wir in Aachen haben
die Patienten. Doch das trifft es nicht
gut. In Jülich gibt es eine Forschungsbettenstation, und in Aachen haben wir
beispielsweise mit zwei 3-T-Magnetresonanztomografen (MRT) eine weit bessere
apparative Ausstattung als die meisten
Universitätskliniken. Es geht vielmehr
darum, Grundlagen- und klinische Forschung enger zu verknüpfen und dafür
eine bessere Organisationsstruktur zu
schaffen. Dazu gehört es beispielsweise,
Professorenstellen stets einvernehmlich zu besetzen und alle Forschungsprogramme miteinander abzustimmen.
Forscher aus Jülich werden noch dichter
an die Klinik angebunden und Kliniker
aus Aachen enger an die Grundlagenforschung in Jülich.
20
mit neuropsychischen Erkrankungen mittels leistungsfähiger MRT und Positronenemissionstomografie untersuchen. Das
kann helfen, Medikamente richtig auszuwählen und zu dosieren. Auch arbeiten
wir gemeinsam mit Jülicher Kollegen an
neuen Ansätzen für die Psychotherapie
in Form von Neurofeedback: Patienten
mit Depressionen oder Angsterkrankungen erhalten dabei eine unmittelbare
Rückmeldung über ­ihre Hirnaktivitäten,
während sie im MRT liegen. Zum anderen
werden künftige ­Patienten von unseren
Forschungsergebnissen profitieren.
Prof. Frank Schneider
Frage: Was haben die Patienten von
dieser Zusammenarbeit?
Schneider: Zum einen können wir innerhalb der Allianz eine ungewöhnlich aufwendige Diagnostik in Forschungsprojekten leisten, beispielsweise Patienten
Frage: In welcher Weise?
Schneider: Wenn wir herausfinden, welche Moleküle und Mechanismen im Gehirn beteiligt sind, wenn ein Mensch psychisch erkrankt oder sich eine Demenz
entwickelt, ist dies eine Voraussetzung
für die Entwicklung experimenteller Therapien und neuer Medikamente. Hier erwarten wir auch wichtige Impulse durch
das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen.
Forschen in Jülich 1 | 2008
Schwerpunkt
Der 3-T-MRT ist eines der Geräte für bildgebende Verfahren in der Hirnforschung.
Das neue 9,4-T-MR-PET-Hybridsystem wird diesen Bereich in Zukunft optimal ergänzen.
Frage: Es wird auch ein für Deutschland neues Berufsbild geschaffen, der
„Klinische Forscher“. Warum?
Schneider: Wir brauchen Professoren,
die sowohl hervorragende wissenschaftliche als auch klinische Kompetenzen
be­sitzen. Im Rahmen von JARA-BRAIN
wurden daher durch die dritte Förderlinie
der Exzellenzinitiative mit dem Zukunfts­
konzept der RWTH vier Juniorprofessuren geschaffen, für Fachärzte oder
Psychologen mit klinischer Ausbildung,
die sich hier der klinischen Ausbildung
wie der Forschung widmen können. Wir
hoffen, dass dieses Modell Vorbild für
andere Bereiche der Medizin sein wird.
Außerdem wollen wir bei der Besetzung
den Frauenanteil erhöhen, wie es die
Gutachter der Exzellenzinitiative mit
Recht gefordert haben.
Forschen in Jülich 1 | 2008
Frage: In einer alternden Gesellschaft
werden neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson
immer häufiger. Kann die Forschung
damit Schritt halten?
Schneider: Ja. Wir werden eine Demenzerkrankung künftig frühzeitiger diagnostizieren können und individuell maßgeschneiderte Therapien entwickeln, die
das Voranschreiten der Erkrankung zumindest bremsen. Wann solche ­neuen
Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen werden, kann niemand
genau vorhersagen. Aber ich bin sehr
zuversichtlich, dass wir mit JARA-BRAIN
die Entwicklung beschleunigen.
::
Interview: Wiebke Rögener
21
2
1
4a
3
Vom Molekül
bis zur Hirnkarte
4b
Das menschliche Gehirn ist auf allen Ebenen äußerst komplex organisiert: vom fein abstimmten Zusammenspiel verschiedener Signalmoleküle über tausendfach miteinander
verknüpfte Nervenzellen bis zur Zusammenarbeit ganzer Hirnregionen.
22
1
Ein Molekül, das Empfänger für bestimmte Botenstoffe in
Nervenzellen an ihren Zielort geleitet – das GABAA-Rezeptorassoziierte Protein GABARAP.
2
Verteilung des muskarinischen M2-Rezeptors im menschlichen
Gehirn. Der M2-Rezeptor ist ein Eiweißmolekül in der Zellmembran, das einen Botenstoff – Azetylcholin – bindet und so die
Weiterleitung von Informationen zwischen Nervenzellen ermöglicht. Er ist besonders konzentriert in Arealen der Hirnrinde,
mit denen wir Berührungen und Töne wahrnehmen.
3
Schaltstelle zwischen Nervenzellen – eine Synapse (gelb) mit
einer Gliazelle und einem Blutgefäß.
Forschen in Jülich 1 | 2008
SCHWERPUNKT
Schwerpunkt
5
6
7
8
9
10
4
a) Zwei Nervenzellkörper umgeben von Gliazellen.
b) Nervenzellen mit Fortsätzen in der Hirnrinde.
5
Nervenzelle des Kleinhirns mit ihren Verzweigungen
(Purkinje-Zelle).
6
Zellarchitektur der Hirnrinde – ein Ausschnitt aus der Sehrinde
(visueller Kortex).
7
Horizontalschnitt durch das Gehirn mit Magnetresonanz­
tomografie bei höchster Auflösung.
8
Funktionelle Magnetresonanztomografie macht die Aktivität
von Hirnregionen sichtbar – hier die Reaktion auf Flickerlicht.
Forschen in Jülich 1 | 2008
9
Hirnkarte, die auf der Analyse der Zellarchitektur beruht ­
(Abb. 6) und von Jülich der wissenschaftlichen Gemeinschaft
weltweit zur Verfügung gestellt wird. Die Farben kennzeichnen
­Areale, die sich in Struktur und Funktion sowie in ihrer Verknüpfung mit anderen Hirnarealen unterscheiden.
10 Analyse der lokalen Veränderungen der Hirnstruktur, wie sie
bei der Untersuchung neurodegenerativer Erkrankungen angewendet wird. Rot und orange markierte Bereiche entsprechen
großen Veränderungen, blaue dagegen kleinen.
23
Tics in der Röhre
Wenn ein Kind grundlos zuckt und sich dabei selbst verletzen kann, Grimassen
schneidet oder obszöne Wörter ruft, wird es oft von anderen Kindern gehänselt und
von Erwachsenen für unerzogen gehalten. Doch mitunter steckt eine ernste neuropsychische Erkrankung hinter derartigen „Tics“: das Tourette-Syndrom. Wegen der
für die Umwelt unverständlichen und befremdenden Verhaltensweisen führt es zu
sozialer Isolation. Tics treten meist schon im Kindesalter auf, verstärken sich in der
Pubertät und werden danach häufig schwächer. Erstmals beschrieben wurde das
Syndrom von dem französischen Nervenarzt Georges Gilles de la Tourette im Jahr
1885. Jülicher und Aachener Neurowissenschaftler erforschen mit modernsten
Methoden die Vorgänge im Hirn von Tourette-Patienten.
M
it Verfahren wie der funktionalen Magnetresonanztomografie (fMRT) wollen Wissenschaftler des Forschungszentrums Jülich und
der RWTH Aachen klären, was während
der Tics im Gehirn passiert. „Innerhalb
der Jülich-Aachener Forschungsallianz
JARA-BRAIN wird hier die Jülicher Expertise in bildgebenden Verfahren der
Hirnforschung mit den klinischen Kompetenzen in Aachen in beispielhafter
Weise kombiniert“, betont Prof. Karl
Zilles, Direktor des Jülicher Instituts für
Neurowissenschaften und Biophysik und
Mitglied von JARA-BRAIN.
Erste Untersuchungen zeigten, dass
bei Tourette-Patienten die Kommunikation zwischen bestimmten Hirnbereichen,
der Substantia nigra und den Basalgang-
24
lien, beeinträchtigt ist. Die Signalübertragung über den Botenstoff Dopamin ist
gestört. „Dazu passt die Beobachtung,
dass sich Tics manchmal durch Medikamente lindern oder unterdrücken lassen,
die Dopamin hemmen“, erläutert der Jülicher Diplom-Physiker Peter Pieperhoff.
Als er MR-Bilder von Patientengehirnen mit denen gesunder Kontrollpersonen verglich, zeigte sich, dass
bestimmte Regionen des Gehirns, wie
die Substantia nigra, in der Dopamin gebildet wird, die Amygdala und die Insel­
sowie das Kleinhirn bei Tourette-Patienten ein geringeres Volumen haben.
Die in der Arbeitsgruppe von Prof. Katrin
Amunts erstellten Karten dieser Gebiete
ermöglichen hierbei eine hochpräzise
Zuordnung dieser Volumenunterschiede
zu verschiedenen Hirnregionen – eine
wichtige Voraussetzung, um die betroffenen Netzwerke genauer zu verstehen.
Doch was genau passiert im Gehirn
eines Patienten zu dem Zeitpunkt, an
dem er von den Tics befallen wird? Ein
Team von Forschern um die Aachener
Neurologin und Psychiaterin Dr. Irene
Neuner und den Jülicher Physiker Prof.
Jon Shah entwickelte ein Verfahren, das
diese Frage klärt. Es erlaubt, die Hirnaktivitäten eines Patienten im Magnetresonanztomografen zu registrieren und
gleichzeitig seine Bewegungen und Mimik
mittels Videoaufnahmen aufzuzeichnen.
Das war schwierig, denn im MRT-Gerät
dürfen sich keine Metall­gegenstände befinden, die das Magnetfeld stören oder
durch dieses gestört werden – nicht einmal ein winziger Ohrring, schon gar keine Videokamera.
Die findigen Forscher lösten das Problem mithilfe von Spiegeln, die sie über
dem Gesicht des Patienten anbrachten.
Sie lenken das Spiegelbild in eine
­Kamera hinter dem Tomografen um, die
die Bewegungen des Gesichts aufzeichnet. Eine zweite Kamera hängt an der
Decke des Untersuchungsraums und
registriert die Bewegungen des ganzen
Körpers. Spezielle Bauteile, beispielsForschen in Jülich 1 | 2008
SCHWERPUNKT
Hermann Krämer lebt seit seinem zwölften Lebensjahr mit dem Tourette-Syndrom. In Texten und Bildern gewährt er Einblicke in sein
Leben mit Tics. Mit seinen ausdrucksstarken Postern und Postkarten (hier: „tic-explosion“) lädt er seine Mitmenschen dazu ein, hinzuschauen und sich mit Tourette auseinanderzusetzen. Hermann Krämer ist Mitglied der Tourette-Gesellschaft Deutschland, betreibt
eine eigene Homepage mit Forum (www.tourette-syndrom.de) und engagiert sich in der Redaktion der Zeitschrift „Tourette-aktuell“.
weise aus Keramik, und besonders abgeschirmte Kabel sorgen dafür, dass­dies
störungsfrei möglich ist. In Rechnern
außerhalb des MRT-Raums kommen die
verschiedenen Informationen zusammen. So erhalten die Forscher Auskunft
darüber, welche Hirnaktivitäten mit
den unwillkürlichen Bewegungen oder
Grimassen einhergehen. Das System
wurde mit dem Wissenschaftspreis der
Deutschen Tourette-Gesellschaft 2007
ausgezeichnet.
Forschen in Jülich 1 | 2008
Dieses Verfahren kann künftig auch
zur Erforschung anderer neuropsy-­­
chischer Erkrankungen beitragen – von
der Parkinson-Erkrankung bis zu Chorea
Huntington.
::
Wiebke Rögener
LinktiPP
www.tourette-syndrom.de
www.tourette-gesellschaft.de
25
Durchblick bis ins Detail
Strukturen und Stoffwechselvorgänge des Gehirns abbilden, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat – das ist die Mission der Wissenschaftler am Großgerät „9Komma4“.
Dabei helfen ihnen Magnetfelder, die 190 000-mal so stark sind wie das der Erde.
W
er sich mit Prof. Jon Shah in
aller Ruhe unterhalten will, hat
derzeit schlechte Karten. Zum
einen wegen des Baulärms, der in sein
Büro dringt, zum anderen wegen der Arbeiter, die eine geschlossene Tür nicht
beachten. „So ist es halt als Bauherr“,
schmunzelt Shah – eigentlicher Beruf:
Wissenschaftler – entschuldigend und
folgt den Männern in den direkt angrenzenden Rohbau.
Das Gebäude, das seine Aufmerksamkeit verlangt, ist kein gewöhnliches.
Es wird schon bald ein weltweit einzigartiges Großgerät beherbergen, mit
dem die Forscher vom Jülicher Institut
für Neurowissenschaften und Biophysik
Strukturen und Stoffwechselstörungen
des Gehirns auf den Millimeter genau lokalisieren können.
26
Wenn die neue Beobachtungsstation
der Hirnforscher – 1 500 Quadratmeter
groß – 2009 offiziell ihren Betrieb aufnimmt, werden seit Baubeginn weniger
als zwei Jahre vergangen sein. Bei den
Feierlichkeiten anlässlich des ersten
Spatenstichs sagte Thomas Rachel, Parlamentarischer Staats­sekretär bei der
Bundesministerin für Bildung und Forschung (BMBF): „Die Technologie, die
hier durch die gemeinsame Initiative des
Forschungszentrums Jülich, der Siemens
Healthcare und des Bundesforschungsministeriums entwickelt und aufgebaut
wird, verspricht erhebliche Verbesserungen für die Patienten: genauere und
schonendere
Diagnosemöglichkeiten
– etwa bei der Tumorfrüherkennung
– ebenso wie eine Verkürzung der Entwicklungszeiten für neue Arzneimittel.“
Der Mittelpunkt dieser Technologie – das Gerät, für das extra ein neues
Gebäude errichtet wird – kostet 20
Millionen Euro, die jeweils zur Hälfte
vom BMBF und von Siemens Healthcare stammen. Doch es ist eine andere
Zahl, die dem Gerät seinen Spitznamen
gibt. „9Komma4“ steht für die Feldstärke von 9,4 Tesla (T), die von seinen Magnetspulen erzeugt wird – eine Kraft, die
rund 190 000-mal so stark ist wie das
Magnetfeld der Erde. „9Komma4“ ist
ein Kombisystem, bestehend aus einem
­Magnetresonanztomografen (MRT) und
einem Positronen­­emissionstomografen
(PET).
Im Magnetfeld eines MRT richten sich
Atomkerne des menschlichen Körpers –
zumeist Wasserstoffkerne – wie winzige
Kompassnadeln aus. Mit elektromagneForschen in Jülich 1 | 2008
Highlights
tischen Wellen, ähnlich den Radiowellen,
können sie aus dieser aufgezwungenen
Orientierung ausgelenkt werden. Nach
dem Abschalten der Radiowellen kehren
sie in ihre alte Richtung zurück und senden dabei wiederum elektromagnetische
Wellen aus, die von Empfängerspulen
registriert werden. Daraus berechnet
der Computer Schnittbilder des Gehirns
oder des ganzen Körpers.
Je höher das Magnetfeld, desto besser wird die Bildqualität und desto klarer unterscheiden sich verschiedene
Gewebetypen voneinander. Insofern ist
„9komma4“ ein gewaltiger Fortschritt
gegenüber 1,5-T- oder 3-T-Geräten, wie
sie derzeit üblicherweise in Kliniken stehen. „Sogar das Verhalten einzelner Zellen im lebenden Organismus wird sich
verfolgen lassen, wenn wir sie mithilfe
von Kontrastmitteln markieren“, ist Shah
überzeugt.
Doch wirklich einzigartig wird „9Komma4“ durch den integrierten PET. Mit
ihm lässt sich verfolgen, wie sich eine
zuvor injizierte, schwach radioaktive
Substanz – in der Fachsprache Radiotracer genannt – im Gehirn verteilt. Je
nach Radiotracer können die Forscher
Stoffwechselvorgänge beobachten oder
sogenannte Rezeptoren, die für die Kommunikation zwischen den Gehirnzellen
sorgen. Die Bilder eines PET alleine sind
aber unscharf, sodass sich daraus nur
sehr ungenaue Ortsinformationen ergeben. Gemeinsam mit dem MRT jedoch
bildet das PET ein perfektes Team, das
den Wissenschaftlern anatomisch detaillierte Bilder liefert und ihnen gleichzeitig die Analyse der ablaufenden molekularen Mechanismen erlaubt.
Manche Stoffwechselvorgänge lassen sich auch alleine mit dem MRT verfolgen. Mithilfe des simultan messenden
PET beobachten die Wissenschaftler
dann ergänzend andere Stoffwechselvorgänge. „Durch diese kombinierte
Untersuchung können wir das Gehirn
Forschen in Jülich 1 | 2008
Für das neue „9komma4“- Gerät, ein einzigartiges Instrument der
Hirnforschung, musste eigens ein 1 500 Quadratmeter großes
Gebäude errichtet werden (Bild links). Bild rechts: Prof. Jon Shah
vom Institut für Neurowissenschaften und Biophysik vor dem
­derzeit installierten 4-T-MRT.
gleichsam aus verschiedenen Blickwinkeln im selben Zustand erforschen, was
nicht möglich ist, wenn die MRT- und
PET-Bilder nacheinander aufgenommen
werden“, so Shah.
Auch wenn „9Komma4“ der Star im
Observatorium der Hirnforscher ist, so
ist das Gerät letztlich nur ein Teil des
Jülicher Forschungsspektrums an bildgebenden Verfahren. Die Aktivitäten der
Wissenschaftler haben dabei für Prof.
Achim Bachem, Vorstandsvorsitzender
des Forschungszentrums, Modellcharakter: „Durch die enge Zusammenarbeit
mit der Industrie und den benachbarten
Universitätskliniken – insbesondere mit
der RWTH Aachen im Verbund JARABRAIN – kommt Grundlagenforschung
aus Jülich zeitnah in die Praxis. Der Weg
von der Erkenntnis zum Nutzen für Patienten wird so entscheidend verkürzt.“
Kein Gerät von der Stange
Zum Forschungsspektrum zählt auch
ein MRT für Mäuse und Ratten, das auf
ähnlichen Komponenten beruht wie
„9komma4“. Auch seine Spulen erzeugen Magnetfelder von 9,4 Tesla, sind
aber auf die Größe der Tiere hin ausgelegt, um Bilder in optimaler Qualität zu
ermöglichen. „Wenn wir bei der Untersuchung von Patienten oder Probanden
Ergebnisse erhalten, die wir nicht vollständig verstehen, so können wir versuchen, die aufgetauchten Fragen mithilfe
des Tier-MRT zu beantworten“, erläutert
Shah. Für Menschen sind weiterführende Experimente meist nicht zumutbar.
Die derzeitigen Bauaktivitäten können
Shah nicht aus der Ruhe bringen – eben-
so wenig wie provozierende Fragen. Ob
es denn – jenseits des geschickten Einwerbens von Finanzmitteln – eine Leistung sei, für 20 Millionen Euro ein Großgerät zu kaufen? Freundlich erläutert der
Physiker, dass es sich keineswegs um
ein Gerät von der Stange handele. Siemens Healthcare habe das Forschungszentrum als Standort gewählt, weil es
über ausgezeichnete Expertisen für den
Einsatz und den erfolgreichen Aufbau
verfügt. „Beispielsweise entwickeln wir
Methoden zur intelligenten Steuerung
des „9komma4“-MRT und des Tier-MRT
und verbessern ständig die Datenauswertung“, so Shah. Außerdem müssten
zum Beispiel der Tier-MR-Tomograf und
der PET-Teil von „9komma4“ auf Basis
von gekauften – aber auch von selbst
gebauten – Komponenten in Eigenregie
installiert werden. „Da muss man wirklich in allen Einzelheiten wissen, wie
­Tomografen funktionieren“, sagt Shah.
Häufig sind es eben gerade die scheinbar
winzigen Details, die den Unterschied
machen. Das gilt für die Geräte ebenso
wie für die Bilder des Gehirns. Dass der
Professor stets die Details im Blick hat,
kann bestätigen, wer erlebt hat, wie er
mit den Baufachleuten über die richtige
Position eines automatischen Türöffners
verhandelt.
::
Frank Frick
LinktiPP
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27
Der weibliche Blick
Wenn eine Fahrerin ihr Auto nur mit Mühe in eine enge
Parklücke manövriert, heißt es schnell: Typisch Frau!
Und auch sonst wird Frauen oft nachgesagt, sie hätten
ein schlechteres Orientierungsvermögen als Männer.
Indes lernen Mädchen früher sprechen als Jungen. Gibt
es für solche geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen biologische Ursachen? Neurowissenschaftler des
Forschungszentrums Jülich fanden heraus, dass ein
­Hirnareal, das Bewegung im Gesichtsfeld wahrnimmt,
sich bei Frauen und Männern unterscheidet.
T
ypisch männliche oder weibliche
Verhaltensmuster seien durch unsere Evolution geprägt und von
Geburt an im Gehirn verankert, behaupten – nicht nur – Bestsellerautoren. Allerdings wissen Hirnforscher, Psychologen
und Mediziner bis heute nicht, ob tatsächlich biologische Ursachen für weibliche oder männliche Stärken und
Schwächen
verantwortlich
sind. Ebenso gut könnten
die beobachteten Unterschiede ­allein auf
erlernten
Verhaltensweisen oder auf
einer Kombination­
aus biologischen
und Umwelteinflüssen beruhen. Prof.
Katrin Amunts vom
Institut für Neurowissenschaften und Biophysik am Forschungszentrum Jülich geht diesen Fragen­ auf den
Grund. Die Leiterin der Arbeitsgruppe
„Funktionelle Architektonik“ analysiert
geschlechtsspezifisches Verhalten und
seine neurobiologischen Ursachen. Da-
28
bei entdeckte sie in einer bestimmten
Region des Sehzentrums Unterschiede
zwischen Frauen- und Männergehirnen.
„Mich hat interessiert, wie das Sehzentrum des Gehirns aufgebaut ist, und in
diesem Zusammenhang bin ich auf diese
Unterschiede aufmerksam geworden“,
berichtet die Hirnforscherin. Seit über
zehn Jahren arbeitet sie mit Prof.
Karl Zilles am Forschungszentrum Jülich an ei­nem
dreidimensionalen
anatomischen Atlas
des Gehirns. Diese
„Brain Map“ soll
eine Hirnkarte aus
dem Jahr 1909 ersetzen, die auf Arbeiten des Hirnforschers und Psychiaters Korbinian Brodmann zurückgeht und
bis heute von den meisten
Neurowissenschaftler verwendet wird. An hauchdünnen Schnitten von
Gehirnen verstorbener Frauen und Männer unterschiedlichen Alters dokumentiert Amunts dazu mikroskopisch feinste
Zellstrukturen und hat mit ihren Kollegen
inzwischen etwa die Hälfte des Gehirns
neu kartiert. Bei diesen Untersuchungen
stellte sie fest, dass bestimmte Regionen
im Sehzentrum, die Bewegungssignale
verarbeiten, bei Männern etwas größer
sind als bei Frauen.
Die Sehrinde befindet sich im Hinterkopf, im Okzipitallappen. Sie besteht aus
mehreren Arealen, die unterschiedliche
Aufgaben wahrnehmen. Das optische
Signal gelangt von der im Augapfel gelegenen Netzhaut über den Sehnerv
und das Zwischenhirn zunächst in die
sogenannte primäre Sehrinde, eine Art
Schaltzentrale, die eintreffende Signale
analysiert und in andere Areale weiterleitet. Dort werden sie weiterverarbeitet
und interpretiert. So entsteht schließlich
das bewusst wahrgenommene Bild.
Kleiner Unterschied im Gehirn
Amunts entdeckte, dass ein für das
räumliche Sehen zuständiger Bereich in
der rechten Hirnhälfte im Sehzentrum
bei Männern größer ist als bei Frauen.
Dieses hOc5 genannte Areal ist beispielsweise dann aktiv, wenn der Blick
Forschen in Jülich 1 | 2008
Highlights
XXX
Männer und Frauen verarbeiten Informationen über Bewegungen im Gesichtsfeld unterschiedlich – der dunkelblau
markierte Bereich im Bild auf der linken Seite zeigt die Hirnregion, die dafür zuständig ist. Sie ist bei Frauen etwas
kleiner. Was dieser Unterschied für die Orientierung im Alltag bedeutet, ist jedoch noch offen. An der Verarbeitung
von Sehinformationen sind alle farbigen Areale beteiligt.
auf ein bewegtes Objekt fällt. „Es ist
ein sehr kleines Gebiet, das nur etwa
ein Zwanzigstel so groß ist wie die primäre Sehrinde und nur einen winzigen
Bruchteil des gesamten Hirnvolumens
ausmacht“, erklärt Amunts.
Ist dieser kleine Unterschied nun die
Ursache, dass Frauen mehr Schwierigkeiten beim Einparken haben oder links
und rechts verwechseln? „Nein“, betont
Amunts. „Das heißt nur, dass es in den
betreffenden Bereichen der männlichen
Gehirne potenziell mehr Platz gibt, in
dem zusätzliche Informationen verarbeitet werden könnten. Das wiederum bedeutet, dass Frauen visuell wahrgenommene Informationen über Bewegung ein
wenig anders verarbeiten als Männer.“
Verhaltenstests zeigten bereits: Frauen
orientieren sich tatsächlich nach anderen Prinzipien als Männer. Sie nutzen
eher Landmarken, Männer dagegen haben eher eine Landkarte im Kopf. Eine
Wegbeschreibung wie: „An der Ampel
Forschen in Jülich 1 | 2008
rechts, dann am Supermarkt links abbiegen“, wird eher von einer Frau stammen.
„Fünf Kilometer nach Süden, dann rechts
abbiegen und nach 300 Metern wieder
links“ ist eher „typisch Mann“.
Woran liegt´s?
Ob solche geschlechtsspezifischen
Problemlösungen tatsächlich auf Unterschiede im Oberstübchen oder auf das
sozial geprägte Verhalten zurückzuführen sind, kann die Neuroanatomie alleine
nicht beantworten. Amunts: „Was der
Unterschied in der Hirnstruktur für die
Hirnfunktion bedeutet und welches Verhalten daraus resultiert, wissen wir oft
nicht. Unsere Studie zeigt anatomische
Unterschiede in den Zentren, die für die
Wahrnehmung von Bewegung zuständig
sind. Sie sagt aber nichts darüber aus,
ob Frauen ungeschickter einparken.“ Um
das Auto perfekt in eine enge Parklücke
zu manövrieren, ist erheblich mehr Hirnarbeit nötig als nur die Verarbeitung der
Information, wohin sich das Fahrzeug
bewegt. Einparken ist ein komplexes
Verhalten, bei dem Lernen, Gewohnheit
und Kultur entscheidende Faktoren sind.
Und die kann man mit der Hirnanatomie
alleine nicht erfassen. „Wir Anatomen
arbeiten daher eng mit Wissenschaftlern
zusammen, die sich mit der Hirnfunktion und dem Verhalten beschäftigen.
Dazu haben wir in Jülich optimale Möglichkeiten, etwa durch die funktionelle
Bildgebung. Vielleicht lassen sich diese
Fragen dann in nicht allzu ferner Zukunft
beantworten“, sagt Amunts. So könnte
auch einfach mangelnde Übung die Probleme beim Orientieren oder Einparken
verursachen. Denn eine Studie ergab,
dass Frauen sich ebenso gut zurechtfinden wie Männer, wenn sie das gezielt
trainieren. ::
Karin Hollricher
29
Das Molekül,
das müde macht
Nur die Aussicht auf eine Tasse köstlich duftenden Kaffees hilft manchem Morgenmuffel nach einer viel zu kurzen Nacht aus dem Bett. Und wer nachmittags einen
toten Punkt überwinden oder gar in der Nacht arbeiten muss, greift ebenfalls gern
zum koffeinhaltigen Heißgetränk. Kaffee macht müde Menschen munter, das ist altbekannt. Aber warum das funktioniert und wie Müdigkeit überhaupt entsteht, haben
Jülicher Forscher erst kürzlich herausgefunden.
I
ch muss dringend meine Adenosin­
rezeptoren blockieren“ – so würden
es wohl nur wenige Menschen ausdrücken, wenn die Schläfrigkeit und
das Begehren nach einem Espresso
oder Milchkaffee immer stärker werden.
Doch der alltägliche Wunsch „Ich brauche jetzt einen Kaffee!“ besagt nichts
anderes. Denn Adenosinrezeptoren im
Gehirn sind es, die hinter dem Schlafbedürfnis stecken. Wer sie blockiert, bleibt
länger wach.
30
Schon seit über hundert Jahren vermuten Wissenschaftler, dass sich bestimmte Substanzen im Gehirn ansammeln, wenn man zu lange nicht geschlafen hat. In jüngerer Zeit zeigten vor allem
Tierversuche: Nach längerem Schlafentzug finden sich im Gehirn große Mengen des Signalmoleküls Adenosin, viel
mehr als im hellwachen Zustand. Doch
nur wenn dieser Botenstoff im Gehirn
auf passende Empfängermoleküle – die
Adenosinrezeptoren – trifft, beeinflusst
er die Hirnzellen und macht schläfrig. Ein
bestimmter Typ dieser Rezeptoren, A1
genannt, wurde nun vom Jülicher Neurowissenschaftler Prof. Andreas Bauer und
seiner Arbeitsgruppe „Molekulares Neuroimaging“ als Schlaffaktor identifiziert.
Für diese Experimente mussten zwölf
Freiwillige ihre Nachtruhe opfern. Und
auch den Mitgliedern des Forscherteams war kein Schlaf vergönnt – ihre
Aufgabe war es, die Versuchspersonen
wach zu halten. Vor und nach der durchForschen in Jülich 1 | 2008
Highlights
wachten Nacht maßen die Wissenschaftler, wie hoch die Konzentration der
A1-Rezeptoren im Gehirn der Versuchspersonen war. Eine Vergleichsgruppe,
die ungestört durchschlafen durfte,
wurde ebenfalls untersucht. Dafür bekamen ­alle Teilnehmer des Experiments
ein ­radioaktiv markiertes Molekül in die
Blutbahn gespritzt, das spezifisch an das
A1-Eiweiß bindet. Im Positronenemissionstomografen (PET) lässt sich die kurzlebige Strahlung, die von den markierten
Molekülen ausgeht, genau orten. Die
Messung ergab: Nach einer schlaflosen
Nacht enthält das Gehirn in vielen Regionen, vor allem aber im orbitofrontalen
Kortex, der dicht hinter den Augen liegt,
weit mehr A1-Rezeptoren als nach einer
erholsamen Nachtruhe. Offenbar werden
diese Eiweißmoleküle vom Körper vermehrt gebildet, wenn man ihm keine Ruhe gönnt. Sie sind zumindest mitverantwortlich dafür, dass wir rund ein Drittel
unseres Lebens verschlafen, schließen
die Forscher aus diesen Experimenten.
Denn je mehr A1-Rezeptoren vorhanden
sind, desto mehr Adenosin kann an die
Nervenzellen binden und dem Gehirn
mitteilen: Zeit für ein Nickerchen!
Wie dieses Müdigkeitssignal im Einzelnen seine Wirkung entfaltet, wissen
die Forscher noch nicht genau. „Wahrscheinlich gibt es mehrere Pfade, über
die Adenosin und A1 die Regulation des
Schlaf-Wach-Rhythmus' beeinflussen“,
er­­läutert Bauer. „Einerseits gibt es Adenosinrezeptoren auf spezialisierten Zellen im Hypothalamus. Das ist die Hirnregion, in der unsere innere Uhr tickt.
Andererseits entsteht Adenosin als Abbauprodukt beim Energieverbrauch in
allen Gehirnzellen und wirkt seinerseits
Forschen in Jülich 1 | 2008
Horizontaler Schnitt durch ein Gehirn vor (oben) und nach (unten) Schlafentzug.
Die Positronenemissionstomografie zeigt die erhöhte Menge des Schlaffaktors
A1 nach einer schlaflosen Nacht: Blau und Grün stehen für geringe, Orange und
Rot für hohe Konzentrationen.
hemmend auf die Energieproduktion.
Wir vermuten daher einen zusätzlichen
globalen, überall im Gehirn auftretenden
Mechanismus, der über die Zunahme
von A1-Rezeptoren das Schlafbedürfnis
erhöht.“
Hilfe bei Schlafstörungen
Hemmen lässt sich dieser Schlaffaktor mit Koffein. Es bindet – genau
wie die radioaktiven Markermoleküle
aus den Jülicher Experimenten – an die
A1-Rezeptoren und blockiert sie so für
Adenosin. Damit wird das Müdigkeitssignal unterbunden. So erklärt sich die
aufmunternde Wirkung von Cappuccino
und Co.
Doch die Jülicher Forscher wollen
mehr. Die neuen Erkenntnisse über Einschlafmechanismen in Gehirn können einerseits helfen, in kritischen Situationen
wach zu bleiben, andererseits Schlafstörungen entgegenwirken. So gibt es bereits Anfragen aus der Luftfahrtmedizin,
ob sich aufgrund dieser Forschungsergebnisse nicht ein Mittel entwickeln ließe, das Piloten und Crews auf Langstreckenflügen munter hält. Ein Super-Koffein gewissermaßen. „Denkbar wäre ein
solcher Muntermacher schon“, sagt Bauer. Doch sein Forschungsinteresse richtet sich in erster Linie auf Medikamente,
die Patienten mit Schlafstörungen helfen
sollen. „Eine Substanz, die gezielt an
Adenosinrezeptoren des Gehirns wirkt
und vom Körper nicht so rasch abgebaut
wird wie Adenosin selbst, hätte große
Potenziale in der Schlafmedizin“, ist Bauer überzeugt. Denn sie würde nachhaltiger schläfrig machen – voraussichtlich
ohne die Nebenwirkungen herkömmlicher Schlafmittel. Davon könnten viele
Menschen profitieren. Denn zahlreiche
neurologische und psychische Leiden,
wie Parkinson, Alzheimer und Depressionen, gehen mit Ein- oder Durchschlafstörungen einher.
Derzeit untersucht Bauers Arbeitsgruppe, ob sich die an gesunden Versuchspersonen gewonnenen Erkenntnisse bei Patienten bestätigen lassen,
deren normaler Schlafrhythmus gestört
ist. Beispielsweise bei Menschen, die an
Narkolepsie leiden, also ein krankhaftes
Schlafbedürfnis haben. „Aufgrund der
Befunde an gesunden Personen wäre zu
erwarten, dass diese Patienten vermehrt
A1-Rezeptoren bilden“, sagt Bauer. Ob
das tatsächlich so ist und ob Medikamente, die auf der Jülicher Grundlagenforschung aufbauen, einmal Menschen
helfen können, die zu viel oder zu wenig
Schlaf bekommen, müssen weitere Studien zeigen. ::
Wiebke Rögener
31
Tumor im Fokus
Etwa 5 000 Menschen erkranken in Deutschland jährlich neu an einem Hirntumor,
der aus dem Stützgewebe der Nervenzellen, den Gliazellen, entsteht. Damit sind
solche als Gliome bezeichneten Krebswucherungen zwar relativ selten, doch für
die Betroffenen ist das kein Trost: Gliome sind oft sehr bösartig und schwer zu
­behandeln. Das Team des Nuklearmediziners Prof. Karl-Josef Langen arbeitet daran,
­Diagnostik und Therapie dieser Hirntumoren zu verbessern.
W
er seinen Gegner schlagen
will, muss wissen, wo er sich
versteckt. Um die Krebszellen
aufzuspüren, nutzt Langens Arbeitsgruppe „Hirntumordiagnostik“ am Jülicher
Institut für Neurowissenschaften und
Biophysik ein ganz spezielles Designermolekül: [18F]-Fluorethyltyrosin, kurz
FET genannt (siehe Kasten). „Mit dieser radioaktiv markierten Aminosäure
lassen sich Krebszellen im Hirn besser
identifizieren als mit herkömmlichen
Diagnoseverfahren“, erläutert Langen.
Denn FET wird von Tumoren besonders stark angereichert. Mithilfe der
Positronenemissionstomografie
(PET)
lässt sich diese Anhäufung radioaktiver
Moleküle genau lokalisieren. Anders als
andere Radiopharmaka – etwa die häufig
in der Krebsdiagnostik genutzte [18F]Fluordeoxyglukose (FDG) – sammelt sich
FET nicht in gesundem und nur selten in
entzündetem oder anderweitig geschädigtem Hirngewebe an. Die Forscher
hoffen daher, dass FET für die Patienten
künftig in vielfacher Weise nützlich sein
kann: zur Bestimmung, wie weit ein Hirntumor sich ausdehnt, zur Vorhersage,
wie ein Gliom sich entwickeln wird, und
zur Kontrolle der Therapie.
32
Um den Krebs mit Operationen oder
Strahlen gezielt angreifen zu können, ohne das umliegende Hirngewebe zu schädigen, müssen die Ärzte Lage und Größe
des Tumor möglichst genau bestimmen.
Zwar liefern moderne Verfahren wie die
Magnetresonanztomografie (MRT) sehr
präzise Bilder aus dem Gehirn, doch
lassen diese die Grenzen des Krebsgeschwulstes nicht sicher genug erkennen.
Denn wenn ein Hirntumor wächst, bilden
sich oft Schwellungen – Ödeme – im
umgebenden gesunden Hirngewebe.
Diese begleitenden Veränderungen sind
im MRT-Bild nicht zuverlässig vom Tumor
zu unterscheiden.
„Die FET-Diagnostik ist hier überlegen, weil sie biologische Prozesse sichtbar macht und nicht nur Strukturen, die
auch in die Irre führen können“, erläutert
Langen. In Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik Düsseldorf konnte sein
Team zeigen: Eine Ansammlung von FETMolekülen findet sich fast nur im Tumorgewebe.
Ende der Unsicherheit
Besonders präzise Aussagen erlaubt
eine Kombination von FET-PET und MRT.
Wenn beide Verfahren auf einen Hirntumor hindeuteten, ließen sich in 97 Prozent
der Fälle bei einer Gewebeentnahme an
dieser Stelle Krebszellen nachweisen. Bei
einer Strahlentherapie können die Ärzte
so ihr Ziel sehr genau ins Visier nehmen.
Damit werden höhere, gezielte Strahlendosen möglich, während gleichzeitig die
Nebenwirkungen geringer sind als bei
­einer breiter gestreuten Bestrahlung.
Nicht immer ist ein Gliom lebensbedrohlich. Manche dieser Tumoren wachsen so gemächlich, dass die Patienten
viele Jahre ohne Beschwerden damit
leben können. Doch andere Tumoren
entwickeln sich rasch zu aggressiven
Formen weiter. Welches Los ein Patient
gezogen hat, ist bisher kaum vorauszusagen. Jetzt deuten Studienergebnisse auf
ein Ende der Unsicherheit hin: Solange
der Tumor kein FET anreichert, verhält
er sich kaum angriffslustig. Erst wenn
sich der Stoffwechsel der Krebszellen
ändert und sie vermehrt FET aufnehmen,
scheint eine Operation für den Patienten
von Nutzen zu sein. Wenn dagegen sowohl FET-PET als auch MRT auf einen
wenig aktiven Tumor hinweisen, kann
man auf stark belastende Therapien vorerst verzichten.
Auch wenn – etwa im Rahmen von
wissenschaftlichen Studien – mittels
MRT Strukturveränderungen im Gehirn
entdeckt werden, kann FET helfen, diese
Zufallsbefunde richtig zu interpretieren.
„Wenn die Strukturen kein FET anreichern, kann man sehr gelassen sein“,
sagt Langen.
Nachdem ein Patient operiert oder
bestrahlt wurde oder eine Chemotherapie erhielt, bleiben stets die bangen
Fragen: Wirkt die Behandlung? Kommt
der Tumor wieder? Auch hier hoffen die
Forscher, dass das FET-Molekül bald
schnellere und genauere Antworten erForschen in Jülich 1 | 2008
Highlights
Die Anreicherung der radioaktiv markierten Aminosäure FET (rechts) lässt die Grenzen eines Hirntumors klarer erkennen als die
Magnetresonanztomografie allein (links).
lauben wird. Nimmt der Tumor im Verlauf der Therapie immer weniger von der
markierten Aminosäure auf, so scheint
der Krebs gut auf die gewählte Behandlungsmethode anzusprechen, ergaben
erste Untersuchungen. Und ob ein auffälliger Befund im Röntgenbild ein nachwachsender Tumorherd ist oder einfach
nur Narbengewebe, wie es sich häufig
nach einer Operation bildet, soll sich
bald ebenfalls mit dem Jülicher Designermolekül entscheiden lassen. Denn
Narben schlucken kein FET.
„Zwar gibt es noch keine Studien, die
beweisen, dass eine Diagnose mittels
FET-PET die Überlebenschancen der Patienten mit einem Hirntumor erhöhen“,
erklärt Langen. Aber das gelte auch für
andere bildgebende Verfahren. „Ich meine, dass es höchste Zeit ist, FET in die
klinische Routinediagnostik einzuführen,
weil sich mit diesem Verfahren die Behandlungsplanung erheblich verbessern
lässt.“ ::
Mit Aminosäuren gegen Hirntumoren
Für den Einsatz als Kundschafter in der Positronenemissionstomografie braucht
ein Molekül ganz spezielle Eigenschaften: Es muss sich in den gesuchten Zellen
anreichern, und es muss Strahlung abgeben, die sich im Körper millimetergenau orten lässt. [18F]-Fluorethyltyrosin (FET) ist so ein in den Jülicher Labors
gezüchteter Spezialist. Bei dieser Aminosäure – eigentlich einem Eiweißbaustein – wurde ein Wasserstoffatom durch ein etwa gleich großes radioaktives
Fluor­atom ersetzt. Dieses strahlt Positronen ab, positiv geladene Antimaterieteilchen also, die die gleiche Masse wie ein Elektron besitzen. Das strahlende
Fluor-Isotop wird in einem Jülicher Zyklotron erzeugt, das Verfahren zur Markie­­­
rung der Aminosäure wurde von Nuklearchemikern unter Leitung von Prof.
Heinrich Coenen entwickelt.
Besonders zielgenau ist dieses Designermolekül, weil es durch bestimmte
Transportmoleküle in der Zellmembran der Krebszellen aufgenommen wird.
Dort wird es allerdings nicht – wie gewöhnliche Aminosäuren – in Eiweiße eingebaut, sondern es sammelt sich in der Zelle an. In der Membran entzündeter
Zellen finden sich die spezialisierten Transporter dagegen nicht. Besser als mit
anderen Verfahren unterscheidet FET daher Krebszellen von Entzündungsherden. Ein weiterer Vorteil: Mit einer Halbwertszeit von 110 Minuten ist die radioaktive Markierung verglichen mit anderen „Kundschaftermolekülen“ relativ
langlebig. FET kann daher von Forschungsinstituten, die ein geeignetes Zyklotron besitzen, für Krankenhäuser im Umkreis von etwa 200 Kilometern produziert werden.
Wiebke Rögener
Forschen in Jülich 1 | 2008
33
Besondere Kontakte
Synapsen sind die Schlüsselstrukturen der Kommunikation zwischen Nervenzellen.
Diese Strukturen sind in die unterschiedlichsten Netzwerke des Gehirns eingebunden und ermöglichen somit die Komplexität und Vielfalt der Leistungen, zu denen
unser Gehirn fähig ist. Den Aufbau einzelner Synapsen in unterschiedlichen Gehirnregionen haben Jülicher Forscher in jahrelanger Arbeit bis ins Detail untersucht und
anschließend in virtuellen dreidimensionalen Modellen nachgestellt.
I
nsgesamt etwa 20 bis 40 Milliarden
Nervenzellen – Neurone – gibt es in
der menschlichen Großhirnrinde. Zum
Vergleich: Im Jahr 2007 verfügten etwa
1,2 Milliarden Menschen über einen Zugang zum Internet. Das menschliche Gehirn ist also ein noch weit komplexeres
Netzwerk als das World Wide Web. Jedes
Neuron innerhalb eines Netzwerks ist
über 10 000 bis 15 000 Synapsen mit anderen Neuronen verbunden. An diesen
Schaltstellen werden Informationen, die
als elektrische Signale dort eintreffen,
durch Botenstoffe von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen. Dort wird
die Botschaft wieder in ein elektrisches
­Signal übersetzt und weitergeleitet.
Variable Schaltstellen
Synapsen sind keine statischen Gebilde, sie verändern sich strukturell und
funktionell im Laufe des Lebens. Im
Hippocampus, einem mit Lern- und Gedächtnisfunktionen assoziierten Gehirnareal, können Synapsen im Minutentakt
neu entstehen oder verschwinden, je
nachdem, ob sie benötigt werden oder
nicht.
„Die Anzahl und der strukturelle Aufbau von Synapsen in einer gegebenen
Region des Gehirns entscheiden über
die Effizienz, Stärke und Modulation
des eingehenden Signals“, erklärt Prof.
­Joachim Lübke, Leiter der Arbeitsgruppe
„Struktur von Synapsen“ am Institut für
Neurowissenschaften und Biophysik des
Forschungszentrums Jülich.
Obwohl der Begriff „Synapse“ schon
vor ca. 150 Jahren durch den Physiologen Charles Sherrington eingeführt
wurde, ist bis heute nur unzureichend
geklärt, wie diese Schaltstellen im Detail
aufgebaut sind. Aber erst wenn man ihre
Struktur genau kennt, wird ihre Funktion
verständlich und nachvollziehbar, was
Links: Elektronenmikroskopische (EM) Aufnahme eines synaptischen Kontakts (Moosfaserbouton, gelb) und eines dendritischen
Fortsatzes mit Dornen (blau) einer Pyramidenzelle im Hippocampus. Ausläufer von Stützzellen (Astrozyten, grün) umgeben diesen
synaptischen Komplex (Größe: 0,0004 Millimeter) als dichtes Netzwerk.
Mitte: 3-D-Rekonstruktion eines Moosfaserboutons (gelb) und seiner Zielstruktur (Dendrit, blau) einer Pyramidenzelle.
Rechts: Verteilung der synaptischen Vesikel (grün), welche den Botenstoff enthalten, im Moosfaserbouton.
34
Forschen in Jülich 1 | 2008
Highlights
Links: EM-Aufnahme im Bereich der Schicht 5 (einer von sechs Schichten
der Großhirnrinde) mit postsynaptischen Dendriten und dendritischen
Dornen (blau). Die mit diesen Zielstrukturen kontaktbildenden Synapsen
sind gelb markiert.
Rechts: 3-D-Rekonstruktion eines Dendritenabschnittes (blau) mit zwei
kontaktbildenden Synapsen (oliv), die synaptische Vesikel (hellgrün)
­beinhalten.
sich während der Entwicklung oder bei
einer Erkrankung des Gehirns verändert. Zwar bestehen alle Synapsen des
Zentralnervensystems aus den gleichen
strukturellen Elementen: jeweils einer
hochspezialisierten prä- und postsynaptischen Membran, die beide durch einen
schmalen, synaptischen Spalt voneinander getrennt sind, den Signalübertragungsstellen (aktiven Zonen) und den
synaptischen Vesikeln, kleinen Bläschen
in der Synapse, die den Botenstoff enthalten. „Entscheidend ist aber die Anzahl und Verteilung dieser Elemente für
die Stärke, Effizienz und Modulation der
zu übertragenden Information an einer
solchen Kommunikationsschnittstelle“,
betont Lübke.
Um die Kommunikation zwischen
Nervenzellen in definierten neuronalen
Netzwerken besser zu verstehen, untersucht er gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. Astrid Rollenhagen den Aufbau
und die Funktionsweise von Synapsen
an seriellen Ultradünnschnitten von
Rattengehirnen. Basierend auf den
Ultradünnschnittserien nehmen die
Forscher digitale Bildreihen am Elektronenmikroskop auf. So können synaptische Strukturen im Detail dargestellt
werden. Aus diesen Daten entstehen in
silico – am Computer – dreidimensionale
Modelle für verschiedene Synapsentypen.
Keine Standardsynapse
Der von den Wissenschaftlern betriebene Aufwand ist enorm: Allein die
Untersuchungen an einer RiesensynapForschen in Jülich 1 | 2008
se im Hörsystem, bei denen die Jülicher
mit einem Team von Wissenschaftlern
um den Nobelpreisträger Prof. Bert
­Sakmann zusammenarbeiteten, dauerten fünf Jahre. Mit den Arbeiten an
der „Heldschen Calyx“ war die Hoffnung verbunden, ­diese Synapse als eine Art Modell für ­diese Schaltstellen im
Gehirn anzusehen. „Doch wir mussten
leider im Laufe der Zeit erkennen, dass
die Heldsche Calyx strukturell und funktionell eher die Ausnahme als die Regel
bezüglich der Signalübertragung im Gehirn ist“, sagt Lübke. „Deswegen haben
wir unsere Forschungsaktivitäten auf
den Moosfaserbouton ausgedehnt. Dies
ist eine Synapse im Hippocampus, einer Region, die mit Lern- und Gedächtnisfunktionen assoziiert ist. Zusätzlich
haben wir ­Synapsen der Großhirnrinde,
des Teil des Gehirns, der wesentlich unser Bewusstsein und Verhalten steuert,
analysiert.“
Die bisherigen Ergebnisse zeigen
deutliche Unterschiede, nicht nur hinsichtlich der Größe und Form der untersuchten Synapsen, sondern auch in
der Anzahl, Größe und Verteilung der
aktiven Zonen (Transmitterfreisetzungsstellen) und der Größe und Organisation
der sogenannten „Pools“ synaptischer
Vesikel. Diese strukturellen Parameter
tragen entscheidend zur Effizienz, Stärke und Plastizität von Synapsen bei. Im
Vergleich zur Heldschen Calyx mit etwa
600 Transmitterfreisetzungsstellen und
ca. 70 000 synaptischen Vesikeln, enthält der Moosfaserbouton im Mittel nur
25 aktive Zonen und 32 000 synaptische
Vesikel. Korticale Synapsen dagegen
haben in der Regel ein bis zwei aktive
Zonen und im Mittel 1 000 synaptische
Vesikel.
Allein diese Zahlen deuten auf ­enorme
Unterschiede im „Verhalten“ der Synapse wie Stärke und Effizienz synaptischer
Übertragung sowie Kurz- und Langzeitplastizität hin. Die Befunde weisen darauf
hin, dass jede einzelne Synapse strukturell und funktionell perfekt an das jeweilige neuronale Netzwerk der verschiedenen Gehirnregionen angepasst ist und
deshalb flexibel auf die entsprechenden
Sinnesreize reagieren kann. „Der Traum
von einer ‚Standardsynapse‘ im Gehirn
ist deshalb wohl nicht realistisch“, resümieren Rollenhagen und Lübke.
Hinsichtlich der Zunahme von Demenzerkrankungen weltweit haben
diese grundlegenden Erkenntnisse zu
Synapsen mittlerweile einen wachsenden aktuellen Bezug. „Alle derartigen
Erkrankungen, wie beispielsweise Morbus Alzheimer, lassen sich letztlich auf
massive strukturelle Veränderungen im
Gehirn zurückführen und erklären damit
die Dysfunktion oder den Ausfall dieser Strukturen“, sagen Rollenhagen und
Lübke. Den krankhaften Veränderungen
an Synapsen wird das Jülicher Team in
Zukunft verstärkt seine Aufmerksamkeit
widmen. ::
Karin Hollricher
35
Hirnlandschaften
Von vielen unterschiedlichen Hirnregionen, ihren Strukturen, Funktionen und Veränderungen haben wir in diesem Heft berichtet. Hier wollen wir Ihnen helfen, sich in
den komplexen Hirnlandschaften zu orientieren. Zwei Querschnitte (links) und ein
Längsschnitt (rechts) durch das Gehirn sowie eine schematische Zeichnung zeigen,
wo die Areale des menschlichen Gehirns liegen, von denen in den Artikeln die Rede
war – von der Amygdala bis zum Zwischenhirn.
Basalganglien
Zwischenhirn
Insel
Schläfenlappen
Präfrontaler Kortex
Amygdala
Sehnerv
Hypothalamus
Basalganglien
Zwischenhirn
Insel
Großhirnrinde
Schläfenlappen
Hippocampus
Substantia nigra
36
Forschen in Jülich 1 | 2008
Highlights
Motorkortex
Präfrontaler Kortex
Parietalkortex
Okzipitallappen
Orbitofrontaler Kortex
Schläfenlappen
Parietalkortex
Zwischenhirn
Basalganglien
Okzipitallappen
Kleinhirn
Hippocampus
Amygdala
Forschen in Jülich 1 | 2008
37
Nachrichten
aus der Medizin
Dreh gegen Fehlfaltung
38
Proteine sind die Arbeitspferde in der Zelle und steuern wichtige
Körperprozesse. Durch Computersimulationen konnten Jülicher
Forscher des John von Neumann-Instituts für Computing zeigen,
wie sich bestimmte Proteine fehlerfrei zusammenbauen können:
Am Anfang entsteht ein langes, gerades Segment, das normaler-
weise wie ein klebriger Faden freie Moleküle einfangen und sich
dadurch selbst zerstören würde. Davor schützt es sich, indem
es sich zu einer Art Spirale aufwickelt. Erst zu einem späteren
Zeitpunkt entrollt es sich wieder und verbindet sich mit einem
komplementären Endstück zu einer stabilen Faltblattstruktur.
Tag der Entscheidung
Patente Methode
Am 11. März 2008 gab das Bundesministerium für Bildung und
Forschung (BMBF) das Ergebnis der Ausschreibung für das „Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen“ bekannt: Es
wird in Bonn angesiedelt – mit Beteiligung des Forschungszentrums Jülich. „Ich freue mich, dass … die besonderen Kompetenzen des Forschungszentrums Jülich mit seinen exzellenten
Möglichkeiten bei der Bildgebung des menschlichen Gehirns bei
der Entscheidung für Bonn eine wichtige Rolle gespielt haben“,
sagte Thomas Rachel, Parlamentarischer Staatssekretär.
Bei nuklearmedizinischen Untersuchungen injizieren Ärzte dem
Patienten eine radioaktiv markierte Substanz, die mithilfe der
Positronenemissionstomografie (PET) Stoffwechselvorgänge im
Gehirn sichtbar macht. Vor allem bei Parkinson-Kranken sowie
zur Tumordiagnose setzen sie dabei sogenanntes [18F]FDOPA
ein. Mit einem von Jülicher Nuklearchemikern entwickelten Verfahren, das inzwischen patentiert wurde, lässt sich dieses wichtige PET-Radiopharmakon künftig einfacher, billiger und ­sicherer
herstellen als bisher.
Forschen in Jülich 1 | 2008
Highlights
Hilfreicher
Hirnschrittmacher
Mithilfe der Positronenemissionstomografie konnte Prof. Gereon Fink mit Wissenschaftlern aus Jülich, Kiel und Köln
beobachten, wie bei Parkinson-Patienten
der Hirnschrittmacher in das sensorische
System im Gehirn eingreift. Er verstärkt
das Signal für den Harndrang und verringert so Störungen der Blasenfunktion,
die eine häufige Begleiterscheinung der
Parkinson‘schen Krankheit sind.
Das Schwingen
der Neuronen
Sonde zur Diagnose von Alzheimer
Im Gehirn von Menschen, die unter der Alzheimer-Demenz leiden, bilden sich klumpenförmige Ablagerungen. Sie bestehen aus fehlerhaft gefaltetem Beta-Amyloid
(im Bild blau, hier umgeben von bestimmten Nervengewebszellen, den Astrozyten).
­Jülicher Wissenschafter um Prof. Dieter Willbold haben ein eiweißartiges Molekül
entwickelt, das in Gewebeproben nur an dieses Beta-Amyloid bindet. Es könnte
künftig helfen, wie eine Sonde die krankhaften Ablagerungen im lebenden Gehirn
frühzeitig aufzuspüren.
Jülicher Forscher haben mathematisch
das Verhalten einer großen Zahl von gekoppelten Oszillatoren untersucht, also
von schwingenden Systemen wie etwa
Pendeln oder Nervenzellen (Neuronen)
im Gehirn. Bisher nahm man an, dass
räumlich ausgedehnte Populationen von
gekoppelten Oszillatoren entweder alle auf unterschiedlich komplexe Weise
im Takt schwingen oder völlig aus dem
Takt sind. Nun konnte ein Team um Prof.
Peter Tass zeigen, dass die Mischform
dieser extremen Zustände in medizinisch
relevanten Situationen weit verbreitet
ist. Dies könnte für die Therapie der
Parkinson‘schen Krankheit bedeutsam
sein, weil es bei ihr zu einer fehlerhaften
Synchronisation der neuronalen Oszillatoren im Hirn kommt.
Was Herzen höher schlagen lässt
Im Erwachsenenalter wird der Herzschlag durch andere „Schrittmacherkanäle“ – bestimmte Eiweißmoleküle im Herzen – reguliert als während der
Embryonalentwicklung. Das gilt zumindest
für Mäuse. Herausgefunden hat das ein
Wissenschaftlerteam aus dem Bereich
„Zelluläre Biophysik“ des Jülicher
­Instituts für Neurowissenschaften
und Biophysik.
Forschen in Jülich 1 | 2008
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