EINLEITUNG/PROBLEMSTELLUNG 1 1 Einleitung/Problemstellung Kohlenhydrate sind die in der Natur mit der größten Häufigkeit und Vielfalt vorkommende Stoffklasse. Speziell die Polysaccharide lassen sich nach ihrer Funktion in Strukturpolysaccharide, wasserbindende Polysaccharide und Reservepolysaccharide einteilen. Eine herausragende Rolle spielen Kohlenhydrate als Glykokonjugate auf Zelloberflächen. In der Glykokalyx sind Zuckerderivate kovalent an Membranbestandteile in Form von Glykolipiden und Glykoproteinen gebunden und verleihen der Zelle damit ihre Identität. Dabei ist der terminale, oligosaccharidische Teil als Träger biologischer Informationen1 für die Zell-Zell-Erkennung und -Wechselwirkung zuständig. Er fungiert als Rezeptor für Proteine, Hormone, Viren und Bakterientoxine. Auch die Kontrolle des Zellwachstums, der Zellteilung und die Unterscheidung zwischen körperfremden und körpereigenen Zellen und Zellbestandteilen beruht auf Wechselwirkungen terminaler Zuckerreste. Aus pharmazeutischer Sicht werden Kohlenhydratverbindungen dann besonders interessant, wenn sich Krankheiten mit Abweichungen vom normalen Glykosidierungsmuster verbinden lassen. So weisen z.B. entartete Krebszellen ein abweichendes Kohlenhydratmuster terminaler Strukturen gegenüber gesunden Zellen auf. Lysosomale Speicherdefekte, das Leukozytenadhäsionsdefizienzsyndrom Typ II und eine stetig steigende Zahl weiterer Befunde belegen, daß die Glykosidierung an vielfältigen, klinisch relevanten Steuerungsprozessen beteiligt ist. In Verbindung mit Lektinen wird u.a. die Adhäsion von Leukozyten an entzündetes Endothel oder von Bakterien und Viren an Wirtszellen initiiert, womit sich eine neuartige antiinflammatorische Therapie bei chronischen Leiden und Autoimmunerkrankungen eröffnet2. Die Blockierung des Andockens durch eine AntiAdhäsionstherapie ist ein rationaler Ansatz zur Behandlung. Auch auf anderen Gebieten sind Glykolipidderivate von großem Interesse. Aus pharmakologischer Sicht hängt der Therapieerfolg von systemisch applizierten Arzneistoffen von der Spezifität des Arzneistoffmoleküls gegenüber der Zielstruktur ab. Eine Möglichkeit zur Vermeidung häufig auftretender Nebenwirkungen kann der Einschluß von Arzneistoffen in glykolipidhaltigen Liposomen und deren spezifische Anreicherung an der Zielstruktur sein, was auch als Drug-Targeting bezeichnet wird. Erste Erfolge auf diesem Gebiet sind in jüngster Zeit bei mannosylierten Albuminderivaten für kovalent gebundene Arzneistoffe (Muramyldipeptid, Methotrexat)3 und bei der antiviralen Therapie4 zu verzeichnen. Intensive Untersuchungen zur biologischen Funktion von solchen Kohlenhydratderivaten haben zu einem erhöhten Bedarf an modifizierten Glykokonjugaten geführt. Jedoch steht EINLEITUNG/PROBLEMSTELLUNG 2 brauchbares, biologisches Material aufgrund der strukturellen Komplexität nur begrenzt zur Verfügung. Auch die Totalsynthese von natürlich vorkommenden Oligosaccharid-derivaten5 ist sehr aufwendig. Hier haben sicherlich auch andere Synthesepraktiken, wie die kombinatorische Chemie, enzymatische Methoden6 und Festphasensynthese7,8 zukünftig eine Chance. Dennoch besteht die Notwendigkeit, variierbare Modellsubstanzen mit klar definierten, einfach gebauten Strukturen als Glykomimetika geeigneten Untersuchungsmethoden zur Verfügung zu stellen. Im Rahmen unserer Arbeitsgruppe und des Sonderforschungsbereiches 197 wurden umfangreiche Untersuchungen zum physikochemischen Verhalten von einfachen Glykolipiden durchgeführt. Grundlage dieser Untersuchungen waren Verbindungen einer homologen Reihe von Glucosiden, Galaktosiden, Mannosiden und Cellobiosiden mit schrittweiser Vergrößerung des unterschiedlich langen, hydrophilen Abstandshalters in Form von Ethoxyspacern9,10 zwischen langkettigen Alkoholen als hydrophober Teil und den Zuckerkopfgruppen als hydrophiler Teil. Dabei wurde die Hydratation und Lyophilisation dieser amphiphilen Verbindungen untersucht. Desweiteren wurden Untersuchungen zu Zellerkennungsvorgängen durchgeführt. Gegenstand dieser Arbeiten waren Testungen der Liposomenaufnahme durch humane Zellinien und native Makrophagen, wobei die Oberfläche der verwendeten Vesikel durch den Einbau der oben erwähnten Glykolipide charakterisiert war. Es konnte festgestellt werden, daß sich mit Zunahme der Komplexität der Saccharidstruktur die Wechselwirkung der Glykolipide mit Rezeptoren mitunter erheblich ändert11. Dieser Anstieg der Bindungsaffinität an entsprechende Rezeptoren bei Vergrößerung der Zuckerdichte in Glykokonjugaten12a wird auch als Cluster-Effekt bezeichnet. Desweiteren besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Länge des Abstandshalters (Spacer) und der Erkennung des Liganden. Obwohl in den vergangenen Jahren beeindruckende Fortschritte bei der Glykokonjugatsynthese erzielt wurden, sind weitere Innovationen nötig, denn die Synthese von komplexen Oligo- und Polysacchariden ist immer noch eine herausfordernde und zeitaufwendige Aufgabe. Diese Arbeit sollte als zentrale Aufgabe die Darstellung von Cluster-Glykolipiden haben und dazu praktikable Lösungsvorschläge liefern.. Dabei sollten vereinfachte Strukturen Variationen bezüglich der terminalen Zuckerreste, der verwendeten Spacergruppierungen und des lipophilen Molekülteils zulassen und somit Ähnlichkeiten mit natürlichen Liganden herstellen.