SIM Tagung 15.03.12 Chronische Rückenschmerzen: Psychosomatische Therapiekonzepte und Prognose Prof. Dr. Peter Keel Chefarzt Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik, Bethesda-Spital, Basel 1 Aufbau des Vortrages • Unspezifisch – somatoform • Multifaktoriell - viele Hunde sind des Hasen Tod? • Über- oder unterbehandelt? • Nicht der Rücken ist krank, sondern die Arbeitswelt, aber macht das invalid? • Ausblick 2 „Nicht sichtbare Leiden“: Pseudodiagnosen? Unspezifisch, somatoform, idiopathisch, ... .. doch die essentielle Hypertonie ist anerkannt, da messbar.. 3 Unspezifisch – somatoform Definition: Körperliche Symptome ohne ausreichende organische Ursache Synonyme (gleichbedeutend): psychosomatisch, funktionell, unspezifisch, essentiell, idiopathisch Entstehung: (teilweise unbewusste) emotionale Konflikte oder psychosoziale Belastungen bewirken eine Dauerspannung (Stress), die über vegetative und hormonelle Zwischenglieder zu funktionellen Organstörungen führt 4 Was tut weh? Was behindert? A B 5 Multifaktoriell - viele Hunde sind des Hasen Tod? 6 Meist (85%) unspezifischer Rückenschmerz, geringe Korrelation zwischen Beschwerden und sichtbaren Veränderungen („Rückenschäden“) (Waddell 1987, Keel 1996, Boos 1995) 7 Erkenntnisstand 15 Jahre später 8 „Risikofaktoren“ für Chronifizierung (Zielgrössen: „return to work“, Schmerz, Behinderung) [Keel et al. Swiss Medical Forum, 2007 (7) 514-519;Ramond A et al. Family Practice 2011(28) 12-21; Iles RA, Occ Environ Med 2008; 65;507-517] 1. 2. 3. 4. Schmerzsymptomatik andere Symptome/ Faktoren psychosoziale Faktoren Arbeitssituation Primäre und sekundäre Phänomene teils schwierig zu unterscheiden! vieles IV-fremd! * „Yellow flags“ und weitere 9 „Risikofaktoren“ für Chronifizierung 1. • • • • • • Schmerzsymptomatik: frühere Schmerzepisoden frühere längere Arbeitsunfähigkeit Schmerzausstrahlung ins Bein Zeichen der Nervenwurzelreizung langsamer Schmerzbeginn hohe Schmerzintensität (10/10) 10 „Risikofaktoren“ für Chronifizierung 2. andere Symptome / Faktoren • schlechter Trainingszustand (allgemein, Rumpfmuskulatur, sek.?)* • allgemeine schlechte Gesundheit • starker Nikotin- & Alkoholkonsum* • Alter über 50 Jahre*, Geschlecht*, Zivilstand* 11 „Risikofaktoren“ für Chronifizierung 3. psychosoziale Faktoren • Angst, Depression, Somatisierung, Schlafstörung (sekundär) ungünstige Selbst- und Arztprognose, „fear avoidance beliefs“, Rückkehr an Arbeit unmöglich, Katastrophisieren (Coping) (sekundär?) • passive Behandlungserwartungen* • belastende Lebensprobleme (Stress in Familie, Beruf) (primär & sekundär) [Iles RA, Occ Environ Med 2008; 65;507-517] 12 „Risikofaktoren“ für Chronifizierung 4. Arbeitssituation • • • • • • geringe Bildung, unqualifizierte Arbeit * Überzeugung Schmerz sei arbeitsbedingt, Arbeit sei schädlich (FAB) Unzufriedenheit mit der Arbeit* Lange Dauer der Arbeitsunfähigkeit Verlust der Arbeitsstelle* Ersatzleistungen/ Rechtsstreit* 13 Was meinen die Experten: Factors that influence chronic disability in LBP Individual factors Treatment provider factors Compensation and Health Care System Factors Probability of Long Term Problems Workplace and/or Home Environment Factors Pincus T et al., Spine 27/5, 2002 /E133-E138 14 The Glasgow Illness Model A visual representation of the analysis and concept of illness Rollenerfüllung, Arbeitsfähigkeit Behinderung Funktionsausfall Störung Waddell et al., (1984) Social interactions (Sozialverhalten) Illness behaviour (Krankheitsverhalten) Distress (Beeinträchtigung) Physical Problem (Körperschaden) Psychosoziale Faktoren 15 Einfluss der psychosozialen Faktoren auf Verlauf und therapeutische Beeinflussbarkeit • Die vielen Erkenntnisse zu psychosozialen Faktoren insbesondere von Kognitionen („Überzeugungen“, Bewältigungsstil) wurden zwar in multimodalen Behandlungsprogrammen umgesetzt, haben aber – laut guten Studien (RCT) - geringen oder keinen Einfluss auf den Verlauf. • Ohnehin sind ca. 40% der Faktoren nicht beeinflussbar. • Der Einfluss all dieser Faktoren auf den Verlauf ist ohnehin gering, d.h. ein grosser Anteil der Varianz ist nicht erklärbar. • Individuelle Prädisposition durch traumatische Kindheitserfahrungen nicht erfasst, da oft verdrängt. Ramond A. et al. Family Practice 2011(28) 12-21; Heitz CA et al. Eur Spine J. 2009 (18) 1829-35. 16 Ätiopathogenese somatoformer Störungen: Individuelle Faktoren • Bindungsstörungen (unsicher, vermeidend/ Borderlinestruktur) auf Grund von Belastungen/ Traumatisierungen in der Kindheit – – – körperliche Misshandlungen und sexuelle Übergriffe Armut, emotionale Vernachlässigung Verlust eines Elternteils Beeinträchtigen auch Arzt-(Therapeut-)Patient-Beziehung • Veränderte physiologische Stressverarbeitung (Cortison, Sympathikus, Neurotransmitter): frühe Beziehungsstörungen hinterlassen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Disposition für spätere Beschwerden und dissoziative Phänomene • Frühe Störung in der Beziehung zum eigenen Körper, Krankheit als Kind/in Ursprungsfamilie 17 Über- oder unterbehandelt? „Die Wurzel des Übels“ Am Anfang jeder invalidisierenden somatoformen Schmerzstörung steht eine somatische (Verdachts-) Diagnose und daher eine somatische Krankschreibung gefolgt von unwirksamen passiven Behandlungen der vermeintlichen Ursache. Wenn alles versagt hat wird der Patient «psychiatrisiert». 18 Iatrogene Faktoren für die Chronifizierung von Schmerzen • • • • • • • • • • • Mangelnde ärztliche Deeskalation bei ängstlichen, «katastrophisierenden» Patienten Somatisierung und Angstförderung durch «katastrophisierende» ärztliche Beratung Fehlende oder inadäquate Medikation in der Akutphase Förderung passiver (regressiver) Therapiekonzepte Lange, unreflektierte Krankschreibung Übertriebener Einsatz diagnostischer Massnahmen Überschätzen unspezifischer somatischer Befunde Unterschätzen psychiatrischer Komorbidität Fehlende Beachtung psychosozialer Belastungsfaktoren Präferenz und fehlerhafte Indikationsstellung invasiver und/oder suchtfördernder Therapien Inadäquate Therapie im weiteren Verlauf aus: AWMF-Leitlinie für die Begutachtung von Schmerzen: http://leitlinien.net 19 Unnötige Diagnostik, Überbewertung von Befunden, Überbehandlung JAMA: Rückenprobleme in den USA 1997 - 2005 Kostensteigerung von 65% Zunahme der Personen mit Behinderung 20% 20 Fortschritte dank „evidence based medicine“? Viele Länder haben Leitlinien entwickelt, Grundtenor ähnlich wie «BACK in time»: Frühintervention, Patienten aktivieren, psychosoziale Faktoren («Flags») beachten. Aber deren Verbreitung, Implementierung und Effizienz ist noch nicht belegt. Burton, AK & Waddell, G, Baillieres Clin Rheumatol, 12, 17-35 (1998) 2004 21 Evidenzbasierte Wirksamkeit (Keel et al. (2007): Das Vermeiden der Chronifizierung unspezifischer lumbaler Rückenschmerzen. Teil 2. Evidenzbasierte Empfehlungen für die Therapie in den Phasen des Verlaufs. Swiss Medical Forum; www.kreuzschmerz.versorgungsleitlinien.de; August 2011) • Aktive Physiotherapie ev. kombiniert mit Massagen – Wirksam bei subakut/chron. Sz., keine Methode überlegen • Rückenschule, ergonomische Massnahmen – Wirksamkeit umstritten, besser wirksam integriert in betriebliche Massnahmen/Training • Schmerzstillende Massnahmen (Analgetica, NSAR*, ev. Tramadol, Wärme, Infiltrationen, Manipulationen, ausser Elektrotherapie) – in Akutphase wirksam, später nicht nachgewiesen • Antidepressiva*: TCA und SNRI – bescheidene Wirksamkeit erwiesen bei chronischen (unspezifischen) Schmerzen • Integrierte Behandlungsprogramme (siehe Tabelle) – Alle Elemente in Kombination bei subakuten/ chronischen Schmerzen wirksam, Effekte aber bescheiden (Funktionserhalt) *Wirksamkeit gegen NW abwägen 22 Multimodale, interdisziplinäre Rehabilitationsprogramme Information über Krankheit • Krankheitsbild (Symptome, pathophysiologische und psychologische Hintergründe) • Behandlungsmöglichkeiten (erwiesen oder möglich wirksame, unwirksame und potentiell schädliche Angebote) Physiotherapie • Anleitung zur Selbstbehandlung mit Übungen für Beweglichkeit (Dehnübung), Kraft (v.a. Rumpfmuskulatur), Ausdauer (allg., Aerobics), Koordination (Balance, Körpergefühl) • Informationen, Instruktionen („Rückenschule“, Einsatz der Übungen, ergonomische Beratung) Psychotherapie • Entspannungsverfahren (meist progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training, Biofeedback; Körperwahrnehmungsschulung, Atemübungen, Achtsamkeitstraining, Selbsthypnose, Autosuggestionen etc.) • Kognitive Verfahren: – – – – • Wahrnehmungsschulung Korrektur ungünstiger Denkmuster oder Copingstile (v.a. Katastrophisieren, Vermeidungsverhalten wie „fear avoidance beliefs) Verbesserung der Schmerzbewältigung Neudefinition von Zielen, „Pacing“-Techniken (Vermeidung von Überforderung) Ablenkstrategien, Genusstraining 23 Zirkuläre Zusammenhänge: Schmerz Bewegung - Depression Erhöhte Schmerzanfälligkeit bei Belastung Schmerz Konditionsverlust* Schonung, Inaktivität Gefühl nutzlos zu sein° Depression vermindertes Selbstwertgefühl (*Sportmedizinisches Reha-Konzept/ °psychodynamisches Konzept) 24 Fear avoidance beliefs: „Arbeit schadet dem Rücken!“ (Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Konzept) Die Überzeugung der Rückenschmerz sei durch die Arbeit verursacht, resp. diese sei schädlich für den Rücken beeinflusst die Prognose längerfristig stärker negativ als die momentane Behinderung. Thomas E, Silman AJ, Croft PR et al: Predicting who develops chronic low back pain in primary care, a prospective study. Br Med J 1999; 318:1662-7 25 The role of fear-avoidance beliefs in acute LBP: relationship with current and future disability and work status Pearson correlation with (future) 4-week disability (Oswestry) • FABQ work 0.46 • FABQ physical activity 0.37 • Pain rating 0.34 • Physical impairment 0.3 But: no correlation with aerobic fitness, deconditioning not due to FAB? Fritz JM et al., Pain 94: 7-15 (2001)/ Smeets RJ, Arch Phys Med Rehabil 90. 2009 26 Huhn oder Ei: Konditionsmangel oder Schonverhalten, was war zuerst? 27 Prospektive Studie an 124 Patienten mit subakuten Rückenschmerzen Based on these results, we conclude that as to the assumption that patients with CLBP suffer from disuse and physical deconditioning empirical evidence is still lacking. Bousema et al., Disuse and physical deconditioning in the first year after the onset of back pain, Pain 130 (2007)/ Verbunt JA, Cause or effect? Deconditioning and CLBP, Pain 149 (2010) 28 Dekonditionierung schuld? Gerade die Tapferen leben gefährlich! (Psychosomatisches Stresskonzept) „Fröhliche Durchhalter“ sind eine besondere Risikogruppe für Chronifizierung von und Invalidisierung durch bandscheibenbedingte postoperative Rückenschmerzen. Hasenbring,M: Der Schmerz, 7, 1993 29 Nicht der Rücken ist krank, sondern die Arbeitswelt, aber macht das invalid? 30 The contribution of job satisfaction to the transition from acute to CLBP (Sekundärer Krankheitsgewinn = psychodynamisches Konzept) • 82 Männer, 1. Episode von LBP (tgl. Schmerz während 6-10 Wochen) in ambulantem Setting, übliche konservative Behandlung • Arbeitszufriedenheit (baseline) stärkster (sig.) Prädiktor für Behandlungsergebnis nach 6 Monaten unabhängig vom objektiven Behinderungsgrad • Art der Arbeit (Sitzen, Heben von Lasten etc.) und soziale Schicht korrelieren mit Zufriedenheit, haben aber selbst keinen prädiktiven Wert Williams, RA (1998) Arch.Phys.Med.Rehabil. 79:366-374. 31 Preonset factors: Perceived Adequacy of Income as a Risk for Future Episodes of LBP with Consultation • Marked or severely inadequate income increases risk by 3.6 lower class, unskilled work? (Sekundärer Krankheitsgewinn = psychodynamisches Konzept) Papageorgiou et al., Spine 22/10, 1997: 1137-1142: Work-Related Psychosocial Risk for LBP 32 Premorbid levels of disstress increase probability of chronicity (Psychosomatisches Stresskonzept/ primärer Krankheitsgewinn) Back pain: The straw that broke the camels back? (Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte). Thomas E, Silman AJ, Croft PR et al: Predicting who develops chronic low back pain in primary care, a prospective study. Br Med J 1999; 318:1662-7 33 Stressor Immer mehr Leistung gefordert 34 Weitere soziale und medizinische „Risikofaktoren“ für die Chronifizierung von Rückenschmerzen Arbeitswelt: • hohe Arbeitslosigkeit, Wegfall von unqualifizierten Tätigkeiten in Produktionsbetrieben • zunehmender Stress in Arbeitswelt (Produktivitätssteigerung, Sparmassnahmen, Konkurrenzund Leistungsdruck) • „Zwang“ zu Doppelbelastung Beruf/Haushalt (niedrige Löhne) Medizinisches System • Gefahr der Überbewertung und -Behandlung harmloser Befunde durch Verbesserung der Angebote (Röntgen-, MRIUntersuchungen, Wirbelsäulenchirurgie, Arzt- und Therapeutendichte) • therapeutisch kaum angehbare Schmerzüberempfindlichkeit durch zentrale Sensibilisierung • Mangel an qualifizierten, individuellen Therapieangeboten für somatoforme Störungen (fehlendes Interesse der Behandler) 35 Ausblick: Massnahmen für Behandler/ Versicherung Ziele: • Iatrogene Chronifizierung vermeiden: führt in eine Einbahnstrasse • Behandlung gemäss „Evidence based guidelines” • Sekundäre Effekte verhindern durch Frühintervention (“BACK in time” Paradigmawechsel: “Mit Schmerz leben”), Integrationsmassnahmen der IV 36 Results of Early Intervention After 8 weeks of sickness leave: • 2 special consultations: thorough examination, information, instruction (reassurance) • Increases return to work rate by 2.2 • Best results for younger patients (<40 years) Indahl,A,Velund,L,Reikeraas,O, Good Prognosis for Low Back Pain When Left Untampered, Spine 1995 37 Arbeitsplatz- und Umgebungsfaktoren Ziele: • Arbeitszufriedenheit verbessern • Stress abbauen (Arbeit / zu Hause) • Arbeitsplatzerhalt fördern 38 Ausblick: Massnahmen für Behandler/ Arbeitgeber/ Versicherung Ergebnisse: • geringes Interesse an Schulungen für Früintervention • Stress in Arbeitswelt wächst weiter • Arbeitsintegration scheitert oft mangels Arbeitsplätzen und fehlender Kooperation der Arbeitgeber, Fehlen von Arbeitsplätzen für Teilbehinderte • Rückenpatienten werden rasch entlassen 39 Anstellung verweigert wegen Rückenproblem Zu Lesen im „Beobachter“ Juni 2007 40 Stephan Schuppli 41 Fortschritte dank „evidence based medicine“? Epilogue: Back pain was a 20th-century health care disaster • Human beings have had back pain throughout recorded history • Back pain has not changed: it is no different, no more severe, and no more common than it has always been • What has changed is how we think about back pain and what we do about it • We have turned a benign bodily symptom into one of the most common causes of chronic disability in western society today • But if we can create that epidemic, we can also reverse it! 2004 42 Arbeiten trotz Schmerzen: Gründe für die Einschränkung der Zumutbarkeit • Sicherheit: – z.B. Unfallgefahr wegen Schwindel oder Konzentrationsstörungen (Medikamente!), aber gäbe es eine harmlose Arbeit? • Gesundheit: – Verschlechterung des Zustandes durch Arbeit (auch Sensibilisierungsprozesse?) • Arbeitsleistung zu gering, aber Motivation? – Verunfallter/ operierter Sportler erbringt weiter Spitzenleistungen • Lebensqualität, Leidensdruck – zermürbende Schmerzen, hoher Schmerzmittelbedarf, Erschöpfung (zu wenig Freizeit), trotz adäquater Behandlung (Foerster-Kriterien) Adaptiert nach :Oliveri, Kopp, Stutz, Klippstein, Zollikofer, Swiss Med. Forum 2006, 6 448-454 43 Danke für Ihre Aufmerksamkeit! 44