Die Nationale VersorgungsLeitlinie Rückenschmerz Zusammenfassung von Michael Pfingsten Seit Juni 2006 haben sich Fachvertreter aus 33 medizinischen und nicht-medizinischen Fachgesellschaften in einer Arbeitsgruppe zusammengesetzt, um die nationalen VersorgungsLeitlinien für den nicht-spezifischen Rückenschmerz auszuarbeiten. Von psychologischpsychotherapeutischer Seite waren eingebunden: Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) Deutsche Gesellschaft für Verhaltensmedizin und Verhaltensmodifikation (DGVM) Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) (Autor dieses Beitrages). Insgesamt haben 15 Treffen in Berlin stattgefunden (2mal davon 2-tägig), dazu kamen zahlreiche Telefonkonferenzen und Email-Abstimmungen. Nach inhaltlicher Konsensfindung über die 12 Kapitel, die die Leitlinie umfasst, ist sie von der Arbeitsgruppe am 06.03.2010 abgeschlossen worden. Vor der Veröffentlichung der endgültigen Version wird der Entwurf in einem öffentlich zugänglichen Diskussionsforum im Internet drei Monate lang für Kommentierungen bereit gestellt (s. Link zur InterNet-Adresse auf der HomePage). Psychologische Faktoren finden in diesen Leitlinien an mehreren Stellen Berücksichtigung, wobei die Bandbreite dabei von der möglichst frühern Berücksichtigung psychosozialer Risikofaktoren (sog. „yellow flags“) bis hin zur Integration kognitiv-verhaltenstherapeutischer Behandlungen und Prinzipien in die Gestaltung multimodaler Behandlungsprogramme (insbesondere für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen) reicht. Die Basisbehandlung akuter nicht-spezifischer Rückenschmerzen setzt sich zusammen aus einer ausführlichen individuellen Informierung des Patienten über die Harmlosigkeit der Erkrankung sowie der Empfehlung möglichst umgehend wieder eine normale körperliche Aktivität einzunehmen. Die kurzfristige Gabe von Analgetika oder muskel-relaxierenden Medikamenten kann diesen Prozess beschleunigen. Passive Maßnahmen sind i.d.R. kontra-indiziert; invasive Techniken werden ebenfalls sehr kritisch gesehen. Für die Wirksamkeit psychologischer Verfahren gibt es an dieser Stelle des Krankheitsverlaufes (akut) kaum wissenschaftliche Evidenz. Zu diesem frühen Zeitpunkt im Krankheitsverlauf (akute bzw. subakute Phase) sind intensive Therapieprogramme mit großem zeitlichem Umfang und hoher Personalintensität sicherlich noch nicht erforderlich. Es wäre jedoch durchaus sinnvoll, bei Patienten, bei denen psychosoziale Risikofaktoren nachgewiesen werden, gezielt durch edukative und psychotherapeutische Maßnahmen einer Chronifizierung entgegenzuwirken. In randomisierten Therapiestudien konnte die Effektivität der sog. Risiko-basierten kognitiven Verhaltenstherapie (RKVT) als Konsequenz auf die frühe Identifikation von Risikofaktoren belegt werden (Hasenbring et al. 1999, Linton u. Nordin 2006). Therapieinhalte müssen dabei in den körperlich übenden ebenso wie in den psychotherapeutischen Anteilen auf die Patienten zugeschnitten sein; letzteres umfasst vor allem Edukation, Schmerz- und Stressbewältigung, Vermittlung sozialer Kompetenzen etc. Erste entsprechende Studien stehen vor dem Abschluß (Schmidt et al. 2010). Ein Problem betrifft in diesem Zusammenhang die Umsetzung derartiger Kurzzeit-Interventionen in die reguläre (psychotherapeutische) Versorgung, was angesichts der dafür fehlenden strukturellen Voraussetzungen derzeit (und vermutlich auch mittelfristig) nicht möglich sein wird. Psychologisches Know-how fließt des Weiteren ein in edukative Interventionen. In einem Cochrane-Review konnte hierzu nachgewiesen werden, dass die auf den Einzelfall bezogene Bereitstellung von Informationen, Hinweisen und Techniken zur Verhaltensänderungen die bei Patienten mit akuten und subakuten Rückenschmerzen die Rückkehr an den Arbeitsplatz begünstigt (Engers et al. 2008). Aufgrund fehlender Evidenz ist die Beurteilung der Wirksamkeit von Entspannungsverfahren (i.d.R. Progressive Muskelrelaxation) zur Behandlung akuter nichtspezifischer Kreuzschmerzen nicht möglich. Bei chronischen Schmerzen ist die therapeutische Wirksamkeit von Entspannungsverfahren im Sinne der Minderung erlebter Schmerzintensität und auch der Häufigkeit von Schmerzanfällen inzwischen aber gut belegt. Die Ergebnisse eines Cochrane Reviews belegen einen positiven Effekt auf Schmerzen und verhaltensbezogene Outcomeparameter (z. B. Verhalten im Bezug auf Schmerz, Angst, Depression) bei Personen mit chronischen nichtspezifischen Kreuzschmerzen. Weiterhin konnte eindeutig gezeigt werden, dass die Kombination von progressiver Muskelentspannung und kognitiver Therapie einen kurzen, mittelgroßen positiven Effekt auf den Schmerz hat (Ostelo et al. 2005). Daher wird eine starke Empfehlung dafür abgegeben, die Progressive Muskelrelaxation bei chronischen nichtspezifischen Rückenschmerzen gezielt anzuwenden. Ihre Wirksamkeit entfaltet sie vor allem in Kombination mit anderen verhaltenstherapeutischen Techniken und in der multimodalen Behandlung (s.u.). In der Regel sind monotherapeutische Maßnahmen beim chronischen Schmerz aber unzureichend. Dies trifft auf somatische und gleichermaßen auch für psychologische Verfahren zu. Während in älteren Studien noch gute Effekte für kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungen (kombiniert mit Entspannungstechniken) gefunden wurden, wiesen kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen in einem kürzlich erschienenen Cochrane-Review nur geringe Effektstärken in der Behandlung von Schmerzpatienten auf (Eccleston et al. 2009). Ihre Stärke entwickeln psychotherapeutische Verfahren bei chronischen Schmerzen vor allem in der Kombination mit anderen evidenz-basierten medizinischen und/oder physiotherapeutischen Verfahren. Es gibt diesbezüglich klare Evidenz dafür, dass Bewegungstherapie-Programme, die einen kognitivverhaltenstherapeutischen Ansatz einbeziehen, u.a. die Rückkehr an den Arbeitsplatz beschleunigen (Airaksinen et al. 2006). Begrenzt sind die Ergebnisse für den Vergleich der Effektivität verhaltenstherapeutischer Maßnahmen zur Bewegungstherapie, obgleich eine aktuelle Metaanalyse positive Kurzzeiteffekte bei der Schmerzreduktion und Langzeiteffekte bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz erbrachte (Hoffman et al. 2007). Für die Versorgungssituation in Deutschland gibt es mehrere Berichte über die Wirksamkeit multimodaler Schmerztherapie, die sich in ihren Konzepten aus der Rückenschmerzbehandlung entwickelt haben. In mehreren wissenschaftlichen Studien konnte die gute Effizienz nachgewiesen werden; die Ergebnisse zeigen, dass multimodale Schmerztherapie statistisch signifikanten Veränderungen der untersuchten Parameter führt, so dass man sowohl von einer kurzfristigen als auch von einer mittel- bis langfristigen Wirksamkeit der Therapie ausgehen kann. Es ergaben sich jeweils signifikante Reduktionen der erlebten durchschnittlichen Schmerzstärke und des schmerz-bedingten Beeinträchtigungserlebens, die Patienten zeigten nach der Behandlung eine deutlich geringere depressive Symptomatik und weniger dysfunktionale Kognitionen zur Schmerzbewältigung als vor der Therapie. Außerdem verbesserte sich die körperliche Leistungsfähigkeit signifikant (Schiltenwolf et al. 2006, Pöhlmann et al. 2009, Schütze et al. 2009). Nahezu in allen publizierten Studien zeigen die in der Mehrzahl stark chronifizierten Patienten weit überwiegend erhebliche Auffälligkeiten im psychopathologischen Bereich. Nur 9% aus der Studie von Schütze et al. (s.o.) hatten keine Diagnose aus dem psychologischen Spektrum. Diese häufig mehrfach belasteten Patienten sind therapeutisch ausgesprochen aufwändig und erfordern neben Gruppenangeboten zusätzliche psychotherapeutische Einzel-Behandlungen. Durch die Multimorbidität dieser Patienten ist das zeit- und personal-intensive Vorgehen im Rahmen der multimodalen Behandlung begründet und gerechtfertigt. Dies ist auch Grund dafür, die Gruppengröße auf die vom OPS-Katalog und den Empfehlungen der Multimodalen Kommission der DGSS (Arnold et al. 2009) vorgegebene Zahl von maximal 8 Patienten zu beschränken. Nach dem Vorliegen der Leitlinie entsteht das (evtl. noch größere) Problem, wie die Empfehlungen in den Versorgungsalltag umgesetzt werden können. Aufgrund der doch gravierenden Veränderungen, die sich vermutlich aus den Empfehlungen ergeben (z.B. in Bezug auf invasive Verfahren oder die Bildgebung), wird eine Umsetzung sicher nicht kurzfristig zu erreichen sein und große Anstrengungen in der Öffentlichkeitsarbeit sowie der Vermittlung an der Versorgungsbasis voraussetzen. Es ist langfristig davon auszugehen, dass die Veröffentlichung dieser Leitlinien – insbesondere über dann zu erwartende Steuerungsprozesse der Kostenträger – zu einer (grundlegenden) Veränderung der Behandlung von Rückenschmerzen führen wird, wobei passive und invasive Verfahren (die dann nicht mehr bezahlt werden) zu Gunsten aktivierender, edukativer und verhaltenstheoretischer Methoden in den Hintergrund treten. Literatur: Airaksinen O, Hildebrandt J, Mannion AF, Ursin H, Brox JI, Klaber-Moffett J, Reis S, Zanoli G, Cedraschi C, Kovacs F, Staal JB (2006) European guidelines for the management of chronic nonspecific low back pain. Eur Spine J 15 (Suppl 2) 192-300 Arnold B, Brinkschmidt T, Casser H, Gralow I, Irnich D, Klimczyk K, Müller G, Nagel B, Pfingsten M, Schiltenwolf M, Sittl R, Söllner W (2009) Multimodale Schmerztherapie. Schmerz 23: 112-20 Chou R, Huffman LH (2007) Nonpharmacologic therapies for acute and chronic low back pain: a review of the evidence. Ann Intern Med 147: 492-504 Eccleston C, Williams AC, Morley S (2009) Psychological therapies for the management of chronic pain (excluding headache) in adults (Review) The Cochrane Library, Issue 4 Engers A, Jellema P, Wensing M, van der Windt DA, Grol R, van Tulder MW (2008) Individual patient education for low back pain. Cochrane Database Syst Rev CD004057 Hasenbring M, Ulrich HW, Hartmann M, Soyka D (1999) The efficacy of a risk factor-based cognitive behavioral intervention and biofeedback in patients with acute sciatic pain. Spine 24: 2525-35 Hoffman BM, Papas RK, Chatkoff DK, Kerns RD (2007) Meta-Analysis of psychological interventions for chronic low back pain. Health psychology 26: 1-9 Linton SJ, Nordin E (2006) A 5-year follow-up evaluation of the health and economic consequences of an early cognitive behavioral intervention for back pain: a randomized, controlled trial. Spine31: 853-8 Ostelo RW, van Tulder MW, Vlaeyen JW, Linton SJ, Morley SJ, Assendelft WJ (2005) Behavioural treatment for chronic low-back pain. Cochrane Database Syst Rev CD002014 Pöhlmann K, Tonhauser T, Joraschky P, Arnold B. Die multimodale Schmerzbehandlung im Klinikum Dachau. Schmerz. 2009; 23: 40-6. Schmidt CO, Chenot JF, Pfingsten M, Fahland RA, Lindena G, Marnitz U, Pfeifer K, Kohlmann T (2010) Assessing a risk tailored intervention to prevent disabling low back pain. BMC Musculoskeletal Disorders 2010, 11:5doi:10.1186/ 1471-2474-11-5 Schiltenwolf M, Buchner M, Heindl B, von Reumont J, Müller A, Eich W: Comparison of a biopsychosocial therapy (BT) with a conventional biomedical therapy (MT) of subacute low back pain in the first episode of sick leave: a randomized controlled trial. Eur Spine J. 2006; 15:1083-92. Schütze A, Kaiser U, Ettrich U, Grosse K, Gossrau G, Schiller M, Pöhlmann K, Brannasch K, Scharnagel R, Sabatowski R: Multimodale Schmerztherapie an der Universitätsklinik Dresden. Schmerz. 2009; 23: 60917.