"Therapiekonzepte bei komplexen Schmerzen - etablierte und zukunftsweisende Methoden" 08. Dezember 2011 Dr.med. Anke Scheel, Oberärztin SPZ Nottwil Therapiekonzepte bei komplexen Schmerzen 1. Was heisst komplex? 2. Der querschnittgelähmte Mensch: Schmerz, Spastik, Depression, Coping Strategien? 3. komplexe Therapiekonzepte 4. Herausforderungen für die Zukunft….. Komplexität und Wissen Der Baum des Wissens • traditionelles Organisationsmodell, Hierarchie des Wissens und der Wissenschaften (griechische Antike) • Grundlage für Taxonomien, Klassifikationen, Enzykloädien, Bibliotheken • hierarchisch und dichotomisch: Jedes Element befindet sich auf einer (und nur einer) Ordnungsebene, ist einer höheren Ebene untergeordnet und kann einem oder mehreren Elementen übergeordnet sein. Ramon Llulls Baum des Wissens (1295), veröffentlicht 1482 Das Rhizom Das Rhizom „Ein Rhizom ist als unterirdischer Strang grundsätzlich verschieden von großen und kleinen Wurzeln. … Auch der Bau der Tiere ist in all seinen Funktionen rhizomorph, als Wohnung, Vorratslager, Bewegungsraum, Versteck und Ausgangspunkt. Das Rhizom selber kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen.“ „Der Poststrukturalismus denkt sowohl in differenten Vielheiten wie in Zusammenhängen. Das dabei entstehende Bild von Einheit und Vielheit ordnet die Vielheit der Einheit nicht identitätslogisch unter bzw. sie verfällt nicht in bloß nominalistische Opposition, die nichts am Baumschema … ändert. Vielmehr verweben sich Einheit und Vielheit ineinander und weder existiert das eine vor oder über dem anderen noch hebt das eine das andere auf. Keines gibt es ohne das andere.“ G Deleuze, F Guattari: Tausend Plateaus. 1992 "Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" (ICF), WHO 2001 Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit) Körperfunktion und -struktur Aktivitäten Umweltfaktoren Partizipation Personbezogene Faktoren Ziel: Ist „graphical modeling“ sinnvoll, um die Funktionsfähigkeit des Menschen im ICF Modell zu beschreiben? Methode: Datensätze von 616 Patienten in der Postakuten Rehabilitationsphase, Multizenter. Analyse mittels Shrinkage and Selction Operator für die Abhängigkeiten der ICF Kategorien Ergebnisse: Klinisch relevante Zusammenhänge wurden in diesem Modell dargestellt. Graphische Modelle könnten für komplexe Rehabilitationsziele und Prozesse sinnvoll sein. Inzidenz 65 % aller Querschnittpatienten leiden unter chronischen Schmerzen, davon sind 1/3 relevant invalidisiert. (Sidall & Loeser, 2001) 20- 40% aller MS Patienten leiden unter chronischen Schmerzen. (Saltuari 2003) Schmerzen sind häufig mit Depressionen verbunden. (Kemp 2004, www.icord.org/scire) Prävalenz von Schmerz in SCI 100% Any pain Severe pain 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 1 7 1 2 1 1 8 2 7 3 3 9 7 n 99 99 199 , 199 00 , 200 200 , 200 , 200 , 200 , 200 199 00 1 1 ea 2 2 . , , , , , , , . . . l . l . M . . . . . . l l l l l l l l l l l a a a a a ta ta ta ta ta ta ta ta et et et et r e roft e all et rel e r y ll e rett e ley e lter e öm e rup e w e d a i rn e d d c m r tr in Wa Ne nne Tu vens inn Sid Ba McK Sid Dem Stör ers F d Ke a e i R W Sidall, 2010 Schmerzen - Einteilung Noziceptive-, viszerale-, muskuloskelettale-, neuropathische-, psychisch bedingte Schmerzen A supraläsionelle Schmerzen B infraläsionelle Schmerzen C sub subläsionelle Schmerzen www.asia-spinalinjury.org Einteilung der Schmerzen Schmerzart Schmerzsystem Spezifische Strukturen und Pathologie Nozizeptiver Schmerz Muskoloskelettaler Schmerz Knochen, Gelenke, Muskeltrauma, Entzündung Mechanische Instabilität Muskelspasmen Sekundäres Überlasungssyndrom Viszeraler Schmerz Nierensteine, Darmdysfunkion, Blasendysfunktion, etc. Autonome Dysreflexie, Kopfschmerzen „Über Niveau“ Above-level Kompressionsneuropathien Complex regional pain syndrom „Auf Niveau“ At-level Nervenkompressionssyndrom Syringomyelie Rückenmarkstrauma/- ischämie Wurzelkompression „Unter Niveau“ Below-level Spinal cord trauma/ -ischämie Neuropathischer Schmerz Musculoskeletal pain • in normal innervierter Muskulatur • häufig in Strukturen in der Nähe der Verletzung • assoziierte Verletzungen in der Muskulatur, Knochen und Gelenken • Muskelkrämpfe und Überbelastung • dumpf, schmerzhaft, krampfartig, stechend, bei Bewegung verstärkt. Sidall, 2010 Orthopädie stabil instabil Periartikuläre Ossifikation (PAO) Posttraumatische heterotope Ossifikation Aetiologie multifaktoriell Inzidenz nach Querschnittlähmung. Je nach Autoren zwischen 3 - 60% Endokrinologie Osteoporose Pathologische Frakturen Visceral pain • lokalisiert im Abdomen • assoziiert mit viszeralen Strukturen, wie Darm, Blase, Nieren, Gallenblase. • normalerweise diffus und dumpf. Sidall, 2010 At-level neuropathic SCI pain • segmental, “Endzone”, radikulärer Schmerz • auf der Höhe des neurologischen Niveaus lokalisiert, dem Dermatom entsprechend • einseitig oder bilateral • einschiessend, elektrisierend, brennend • möglicherweise der Nervenwurzel oder dem Rückenmark entspringend Below-level neuropathic SCI pain • der sogenannte “Phantomschmerz”, zentraler Schmerz, die Dysästhesie • unterhalb des neurologischen Niveaus lokalisiert, diffus • normalerweise beidseitig, auch einseitig möglich • meistens zentral bedingt. Siddall P J, Yezierski R P, Loeser J D. In: Spinal Cord Injury Pain: Assessment, Mechanisms, Management. Eds.: Burchiel K J, Yezierski R P, Seattle:IASP Press, 2002, p. 9-24. Mechanismen des neuropathischen Schmerzes Anatomische Veränderungen Strukturelle Reorganisation (Rückenmark, Thalamus) Ungleichgewicht (Spino-thalamischer Trakt, Thermosensible Dysinhibitation) Veränderung von Netzwerkaktivitäten (Neuromatrix, Corticothalamische Reparaturmechanismen) Neurochemische und Exitotoxische Veränderungen Herabgesetzte Hemmung Deafferenzierung, Übererregbarkeit, spontane Aktivitäten Zentrale Sensibilisierung (Erhöhte afferente Informationen aus dem verletzten Hinterhorn) Veränderung in Natrium und Kalzium Kanälen Absteigende Faszilitation Entzündliche Veränderungen Entzündung Aktivieung der Glia Aktivierung des sympathischen Nervensystem Finnerup & Jensen, 2004 Thalamus Neocortex Limbisches System Rückenmark Hinterhorn multimodale Nozizeptoren Nozizeptiver Schmerz: Auslösung der Aktionspotenziale in Nozizeptoren Neuropathic SCI pain mechanisms cortex Brain changes thalamus Spinal cord changes Peripheral changes Sidall, 2010 Schmerzleitung neurobiologische Grundlagen Sinnesempfindung Schmerz Gefühl Schmerz Management of musculoskeletal pain Instabilität Stabilisation (internal, external fixation) Haltung, Überlastungssyndrome Edukation Retraining Übungen/Physiotherapy Anpassung der Hilfsmittel Spastik Baclofen, diazepam, tizanidine Symptomatische Therapie Einfache Analgetika Nicht-steroidale Antiphlogistika Opioids. Management of visceral pain Infektionen? Antibiotika Ureter Obstruktion? chirurgische Intervention, Lithotrypsie Obstipation? intensivierte Abführmassnahmen Optimierung des Darmmanagements Nach Ausschluss organischer Ursachen, Diagnose: neuropathischer Schmerz ? Management of Neuropathic SCI Pain Surgical approaches • (decompression) • (drainage and shunting of syrinx) • (detethering) • dorsal root entry zone lesions • cordotomy Limitations • invasive • better for at-level neuropathic pain. Management of Neuropathic SCI Pain Pharmacological approaches Increased excitation • sodium channels (Lidocain) • NMDA receptors (Ketamin) • mGlu receptors Reduced inhibition • opioid • GABA • serotonin (5HT) • noradrenaline. Wirksamkeit von oralen Medikamenten Substanz Autor, Jahr Design N Ergebnisse Leviteracetam Finnerup et al, 2009 Cross-over 36 L=P Tramadol Norrbrink, 2009 Cross-over 35 T grösser P Pregabalin Vranken, 2008 Parallel 21(40) PG grösser P Amitryptilin/ Gabapentin Rintala, 2007 Cross-over 38 A grösser P. G=P Pregabalin Sidall, 2006 Parallel 137 PG grösser P Gabapentin Levendoglu, 2004 Cross-over 20 GP grösser P Topiramate Harden, 2002 Parallel 14 T=P Lamotrigen Finnerup, 2002 Cross-over 30 L=P Mexiletine Chiou-Tan, 1996 Cross-over 15 M=P Valproate Drewes, 1994 Cross-over 20 V=P Trazodone Davidoff, 1987 Parallel 19 T=P Empfehlung für neuropathischen Schmerz SCI 1 2 3 Gabapentin Pregabalin Imipramin Amitryptilin Nortryptilin Clomipramin Duloxetin Venlafaxin Lamotrigen Tramadol Other Opioids Baastrup und Finnerup, 2008 Kombinationstherapie ANTIEPILEPTIC OPIOID TRICYCLIC ANTIDEPRESSANT Stimulation für die Analgesia TENS • (Davis & Lentini, 1975) Acupuncture • (Rapson et al., 2003; Norrbrink Budh and Lundeberg 2004) Dorsal column stimulation (DCS) Deep brain stimulation Motor cortex stimulation • Epidural • Transcranial (Fregni et al 2006) Psychotherapie Entspannungsverfahren Verhaltenstherapie Immaginationsverfahren Körperorientierte Psychotherapie Somatic Experience Kunst- und Musiktherapie Efficacy of cognitive behehavioer therapy, Dorstyn, 2010 Klärung der psychiatrischen Diagnose • • • • • • • • • • • • F32.0 leichte depressive Episode F40 phobische Störungen F41 sonstige Angststörungen F41.1 generalisierte Angststörung F41.2 Angst und depressive Störung, gemischt F42 Zwangsstörung F43 Reaktion auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen F43.22 Angst und depressive Reaktion F44 dissoziative/ Konversionsstörungen F45 somatoforme Störung F60.3 emotional instabile Persönlichkeitsstörung F68.1 artifizielle Störung Depression nach Querschnittlähmung • eine Depression ist eine häufige Folge nach Querschnittlähmung, 10 bis 60% (Kemp 2004) • die Inzidenz variiert vom Untersuchungszeitraum und Untersuchungsinstrument (Beck Depression Index oder HADS) • die Suizidrate ist 3 bis 5 mal höher als im Vergleich zur Normalbevölkerung (Hartkoop 1998) www.icord.org/scire Ergebnis: 40 spezifische psychologisch- persönliche Faktoren haben sich als relevant herausgestellt. 1) soziodemographische persönliche Charakteristika, 2) die Position im aktuellen sozialen und physischen Kontext 3) die persönliche Geschichte und Biographie 4) Gefühle 5) Gedanken und Überzeugungen 6) Motive 7) Erfahrungsmuster und Verhalten Psychological Factors A negative psychosocial environment along with increased age, depression, anxiety and intellect were found to be associated with reports of greater post-SCI pain severity interfering with activities of daily living (Richards et al. 1980). The authors were unable to distinguish whether the psychological factors were a consequence of, or contributors to, greater pain severity. In the Summers et al (1991) study 54 SCI patients (19 with quadriplegia and 35 with paraplegia) were studied, and of these 42 patients "revealed that anger and negative cognitions were associated with greater pain severity” after a careful psychological assessment and Pain Questionnaire. Psychological Factors Those who were less accepting of their disability reported greater pain severity. Additionally, patients who perceived a significant other expressing punishing responses (e.g., expressing anger at the patients or ignoring the patients) to their pain behaviours reported more severe pain. Finally, pain was associated with emotional distress over and above the distress associated with the SCI itself.„ The authors concluded that, "Overall, psychosocial factors, not physiological factors were most closely associated with the experience of pain. Multidimensional aspects of pain are used to explain these findings and suggest that treatment should be directed at the emotional and cognitive sequelae of chronic SCI pain." Spinale Spastik •Läsion des ersten, zentralen motorischen Neurons •pathologische Steigerung des Muskeltonus bei Dehnung des Muskels •pathologisch gesteigerte Reflexe •Taschenmesserphänomen (plötzliches Nachlassen des Tonus bei Maximaldehnung) Willkürliche Bewegung- Reflex- Spastik Idee Entscheidung Impuls BewegungHemmung und Beschleunigung - Bei Schädigung zentralnervöser Strukturen Spastik -Ursachen: - Ausfall supraspinaler Hemmeinflüsse - Ausfall segmentaler Interneurone - Sprouting von afferenten sensiblen Bahnen zu den AlphaMotoneuronen - Muskelfaserveränderungen (Steifheit, Kontrakturen, Fibrose, Atrophie) Pharmakotherapie GABA analogues (inhibition) • Benzodiazepine (Valium, Musaril) (alfa Rezeptor Blocker) • Baclofen (Lioresal) (beta Rezeptor Blocker) • Gabapentine (Neurontin) • Pregabalinum (Lyrica) • Piracetam (Nootropil) Ionenkanalblocker •Dantrolen (Dantamacrin) (blockiert Calciumaufnahme) •Lamotrigin (Lamictal) (Natrium und Calciumblocker) Monoaminooxidasehemmer •Tizanidine (Sirdalud) •Clonidin (Catapresan) Das Botulinumtoxin ist das stärkste Gift, das in der Toxikologie bekannt ist Clostridium Botulinum Regionale Spastizität Therapie mit Cannabinoiden www.haenseler.ch CAMS Studie - Cannabinoids for treatment of spasticity and other symptoms related to Multiple Sclerosis – Lancet 2003 Vorsicht bei der Einnahme von Cannabinoiden bei folgenden Situationen: Erhöhtes Risiko der Entwicklung einer Erstmanifestation einer schizophrenen oder affektiven Psychose bei Patienten in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter Familiäre Vorbelastung Beim Auftreten affektiver (Angst, Depression) oder schizophreniformer Symptome Kontraindiziert bei: manifesten endogenen Psychosen manifesten Suchterkrankungen Neigung zur Beeinflussung des subjektiven psychischen Befindens mittels extern zugeführter Suchtmittel Studiendesign: Open Label Studie, um die Dosierung für eine randomisierte Doppel- Blind- Placebo kontrolliert Parallel. Methode: 25 Patienten mit SCI wurden in eine Dreiphasen Studie zur Dosisfindung eingeschlossen, je 6 Wochen. Resultate: Mittlere Dosis 31mg THC. Der Spasticity Summ Score (SSS) zeigte eine deutliche Reduktion. Hauptgründe für drop out waren Schmerzzunahme und psychologische Nebenwirkungen. Und was nun ? • Der erste Schritt ist eine gute klinische Anamnese, nach und im Bewusstsein von ICF • Der zweite Schritt eine gute klinische Untersuchung, somatisch und psychopathologisch, nach und im Bewusstsein von ICF • Falls notwendig ergänzende Diagnostik • Der dritte Schritt ist die Entwicklung und Darstellung der realistischen Ziele, nach und im Bewusstsein von ICF • Der vierte Schritt ist die Planung eines interdisziplinären Therapiekonzeptes, nach und im Bewusstsein von ICF Interdisziplinäre Zusammenarbeit ICF basiert Paraplegiologe Spezialisierte Pflege Physiotherapeut Patient mit Schmerz Sozialberatung Ergänzende Dienste Psychotherapeut Kunst- /Musiktherapeut Seelsorge Ergotherapeut Konsiliarärzte: Schmerztherapeut/Urologe Psychiater/ Hämatologe Radiologe/Gastroenterologe ………. Vielen Dank fü Aufmerksamkeit