Ein fruchtbarer Schmerz?

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Schwerpunkt: Schmerz
Geburtsschmerz
Ein fruchtbarer Schmerz?
Regine Bogensberger
Muss eine Wehende den Geburtsschmerz aushalten oder darf sie ihn ausschalten? Die Frage
nach dem Ob und Wie polarisiert seit jeher
Gynäkologen, Hebammen und Anästhesisten.
N
un wartete sie auf den Schmerz. Seit ihr
morgens die Fruchtblase gerissen und sie
quer durch Wien in ihre Klinik gefahren war,
wartete Renate, Mitte 30, auf jene Schmerzen,
die sie sich all die Monate davor versucht hat
vorzustellen. Mal überkam sie ein Glücksgefühl, weil sie nun bald ihr erstes Kind in den Armen halten würde; mal überwog die Sorge.
Es war Mittag geworden an diesem Wintertag, ihre Hebamme hatte Nelkenöl an ihren
noch kaum geöffneten Muttermund massiert,
sie hat einen Einlauf gemacht – doch noch ließen kraftvolle Wehen auf sich warten. Renate
spürte nur ab und zu ein Ziehen im Unterleib,
so als wenn die Regelblutung einsetzen würde.
Sie war bereit, sie wollte den Schmerz in seiner
ganzen Intensität spüren, aber ein wenig Angst
hatte sie doch. Vor allem wenn sie an eine Bekannte dachte, die ihr mit Mitleid in der Stimme gute Wünsche für die Geburt mit auf den
Weg gegeben hat. Deren Gesicht war plötzlich
voller Entsetzen, als würde der Schmerz, den
sie einst durchgestanden hatte, wieder lebendig werden.
Prägender Geburtsschmerz
Wie kein anderes Schmerzempfinden prägen der Geburtsschmerz und das Erlebnis der
Geburt ihrer Kinder die Lebensgeschichten der
Frauen. Und seit jeher wurde mit mehr oder
weniger bewährten Maßnahmen versucht,
den Wehenschmerz zu lindern. Seit jeher
scheiden sich auch die Geister, wie sinnvoll
dieser Schmerz denn sei und ob er ausgehalten
werden müsse. Bis heute.
Der Schmerz, den Frauen während dem Gebären empfinden, unterscheidet sich von anderen schmerzvollen Erfahrungen in mehrerer
Hinsicht: Zunächst warnt dieser Schmerz nicht
Dr. med. Mabuse 201 · Januar/Februar 2013
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Geburtsschmerz
einfach vor einer drohenden Schädigung des Körpers wie andere Reize,
sondern er resultiert aus einem physiologischen Prozess. Ist dieser abgeschlossen, also das Kind geboren, ist auch der
Schmerz weg, von möglichen Verletzungen der Gebärenden einmal abgesehen. Wie die italienische Hebamme Verena Schmid in ihrem Buch „Der Geburtsschmerz“1 schreibt, ist das rhythmische Zusammenziehen und Entspannen ein wesentliches Merkmal dieses
Schmerzes. Er entsteht – von einem
normalen Verlauf ausgehend – durch
den enormen Dehnungsprozess, dem
der Muttermund, der zuvor die Gebärmutter fest verschließt, und die Scheide
sowie der umliegende Bereich ausgesetzt sind. Da andere körperliche Abläufe wie Atmung oder Ausscheidung
schmerzfrei ablaufen, wurde seit jeher
diskutiert, was dieser Schmerz beim Gebären bedeutet.
Weibliche Urkraft
oder nur körperlicher Prozess?
Die Antworten sind stark von der jeweiligen Kultur abhängig. Wo gebar die
Frau, wie durfte sie ihren Schmerz ausdrücken, wer begleitete sie – all dies ist
einem großen Wandel ausgesetzt. Stand
in westlichen Gesellschaften die biblische Verfluchung wegen Evas Sünde im
Vordergrund, wurde in anderen Kulturen die Wehe als Gabe gesehen, die Leben schenkt. Auch wenn heute „die
Strafe“ nicht mehr im Vordergrund stehen dürfte, die Interpretation des
Dr. med. Mabuse 201 · Januar/Februar 2013
Schmerzes polarisiert noch immer: So
ist der Wehenschmerz für die einen
Ausdruck der weiblichen Urkraft, für
andere wiederum ein Schmerz, der auf
körperliche Prozesse reduziert werden
soll.
Eine Vertreterin der erst genannten
„Schule“ ist Verena Schmid: Sie sieht
den Schmerz als notwendig an, um die
Produktion des Bindungshormons Oxytozin anzukurbeln. Zudem soll die Mutter dadurch angeleitet werden, sich
richtig zu bewegen und sich voll auf das
Gebären zu konzentrieren. Zuletzt
drückt dieser Schmerz die notwendige
Trennung zwischen Mutter und Kind
aus.
Und diese Prozesse empfindet jede
Frau anders, abhängig von ihrer Erwartung, Erfahrung und ihrem Körper. Daher ist der Schmerz auch schwer beschreibbar. Dennoch hat der kanadische
Schmerzforscher Ronald Melzack mit
seiner Forschung Anhaltspunkte geliefert: Er klassifizierte Geburtsschmerzen
als die schlimmsten Schmerzen, die
Menschen erleiden können. Das betrifft
aber nur einen Teil der Frauen. 25 Prozent der Erstgebärenden und neun Prozent der Mehrfachgebärenden gaben in
seiner Untersuchung von 1981 an, dass
die Schmerzen grauenhaft waren.
Renates Schmerzen waren inzwischen stark geworden. Davor hatte sie
gemeinsam mit der Hebamme und einer Ärztin entschieden, die Geburt medikamentös voranzutreiben. Das Ziehen
im Unterleib wurde immer intensiver,
Schwerpunkt: Schmerz
es überkam sie wie eine mächtige Welle, die sich immer stärker vom Unterleib
auf den ganzen Körper ausdehnte.
Während der Wehe wurde ihr übel. Sie
wusste nicht, wie es gewesen wäre,
wenn die Wehen natürlich in Gang gekommen wären, doch das, was sie jetzt
fühlte, war heftiger als alles, was sie bisher kannte. Vielleicht kam eine MagenDarmgrippe kurz vor dem Erbrechen
nahe an den Schmerz heran.
Renate hatte vor der Geburt entschieden, es ohne Schmerzmittel zu
versuchen. Doch als kurz vor Verstreichen des Muttermundes, dieser also allmählich dünner und weicher wurde,
die Schmerzen so heftig waren, dass Renate den Kopf gegen den Boden schlug,
ihre Nase blutete und sie wimmerte,
sterben zu wollen, da rief ihr Mann:
Man müsse doch etwas gegen die
Schmerzen tun. Die Hebamme blieb ruhig und sagte: Renate könne sich auf
den Hocker setzen, jetzt komme ihr
Kind.
Rettungsanker im Wehensturm
Für viele Frauen ist die Periduralanästhesie (PDA) sehr wohl ein Rettungsanker im Wehensturm. Diese Regionalanästhesie ist heute das gängigste schulmedizinische Mittel gegen Geburtsschmerzen. Bei der PDA wird mittels
Katheter ein Schmerzmittel oder Lokalanästhetikum in den Epiduralraum nahe dem Rückenmark gespritzt, um die
Weiterleitung des Schmerzes zu blockieren. Der Schmerz im Unterleib ist
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Schwerpunkt: Schmerz
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somit reduziert bis ausgeschaltet, je
nach Dosis der Medikamente. In
Deutschland wurde im Jahr 2011 bei
fast 27 Prozent aller vaginalen Geburten
eine PDA gelegt2, in Österreich liegt die
Rate landesweit niedriger, laut Geburtenregister 2010 bei etwa 12 Prozent.
Die Tendenz in beiden Ländern ist steigend.
Doch die PDA ist unter Hebammen
und Geburtsmedizinern umstritten. Die
einen sehen darin einen riskanten Eingriff in das natürliche Geburtsgeschehen mit seinem komplexen Zusammenspiel an Hormonausschüttung und körpereigenen Mechanismen der Schmerzbekämpfung. Andere wiederum lenken
die Aufmerksamkeit auf negative Folgen etwa für die fetale Versorgung,
wenn der mütterliche Stresspegel zu
hoch wird.
PDA – eine auch ideologisch
aufgeladene Frage
Nach derzeitigem Wissensstand ist
die PDA eine sehr wirksame Methode
zur Schmerzverminderung. In einer
Cochrane-Übersichtsarbeit von 2011
wurde festgestellt, dass die PDA zwar
keinen Einfluss auf die Kaiserschnittrate hat, es aber öfter zu verlängerten
Austreibungsphasen und vaginal-operativen Geburtsbeendigungen kommt
(mittels Zange oder Saugglocke). Es
musste auch öfter ein wehenförderndes
Medikament gegeben werden. Mögliche Nebenwirkungen sind etwa Blutdruckabfall, Fieber oder erschwertes
Urinieren. Negative Auswirkungen auf
die Neugeborenen wurden nicht beobachtet. Dass Frauen anhaltende Rückenschmerzen als Folge der PDA davontragen, wurde nicht bestätigt. Bezüglich langfristiger Auswirkungen auf
das Kind ist demnach die Studienlage
noch nicht ausreichend.
Es kann in seltenen Fällen auch passieren, dass der Anästhesist versehentlich die innere Schutzhülle des Rückenmarks verletzt. Das kann zu starken
Kopfschmerzen führen.
In der Praxis gibt es von Klink zu Klinik große Unterschiede in der Anwendung der PDA, manche Geburtshelfer
berichten auch von Divergenzen im geburtshilflichen Team in dieser auch
ideologisch aufgeladenen Frage.
Im Wiener St. Josef-Krankenhaus
gibt das Team an, auf einer Linie zu
Bewegung und guter Zuspruch nachweislich schmerzlindernd.
Neben diesen grundlegenden Maßnahmen der Geburtsbegleitung sind
auch alternativmedizinische Methoden
zur Schmerzmilderung bei vielen
Schwangeren beliebt, wie etwa Akupunktur, Massagen, Entspannungstechniken, Homöopathie oder die Hypnose.
Die Studienlage ist hierzu aber noch
unzureichend. Erste Studienergebnisse
zeigen jedoch, dass etwa ein Wasserbad,
Entspannungstechniken, Akupunktur
oder Massage helfen, den Schmerz der
Gebärenden zu mildern.3
Renate hat sich während der Wehen
frei bewegt, ihre Hebamme hat ihr gut
zugesprochen und sie massiert, letztendlich musste sie aber alleine mit dem
Schmerz fertig werden. Der Schmerz
hatte sich mittlerweile verändert, es
drückte nach unten, als ob es ihren
Körper zerreißen würde. Sie verlor vollends die Kontrolle über die körperlichen Vorgänge. Mit Schreien wurde ihre Tochter schließlich gesund geboren.
Als die Hebamme das nackte Kind zu
ihr heraufreichte, spürte sie einen
Glücksrausch: das Kind war da – der
Schmerz war weg. Völlig. ■
sein, was den Einsatz der PDA betrifft.
In diesem Spital kommt die Periduralanästhesie zurzeit in etwa 20 Prozent
der rund 1.750 Geburten pro Jahr zum
Einsatz. Für den Leiter der geburtshilflichen Abteilung, Andreas Brandstetter,
ist dies kein Widerspruch zur grundsätzlichen Linie, die natürliche Geburt zu
forcieren. Für manche Frauen sei die
PDA sinnvoll, vor allem für jene, die
schlecht mit dem Schmerz zurecht
kommen und sich verkrampfen, so
könne auch mancher Kaiserschnitt abgewendet werden.
Brandstetter bestätigt, dass es ab und
zu vorkommen könne, dass nach dem
Legen der PDA die natürliche Wehentätigkeit ins Stocken gerate. Das ist ein oft
gehörter Einwand gegen diese Methode. Anästhesistin Sigrid Herold betont
aber, dass man ja nicht wisse, wie die
Geburt ohne Regionalanästhesie weiter
verlaufen wäre, wenn die Frau etwa
den Schmerz nicht mehr ausgehalten
hätte. Nach ihrer praktischen Erfahrung
ist die PDA gut verträglich. Eine genaue
Anamnese sei wichtig.
Für Claudia Hajszan, Hebamme im
St. Josef-Krankenhaus, ist die intensive
Betreuung der Schwangeren entscheidend. Sie würde zunächst alle anderen
Entspannungstechniken wie ein Wasserbad, Bewegung oder Massage probieren, ehe als letztes Mittel die PDA ins
Gespräch komme. Hajszan betont, dass
der Wunsch der Frau nach einer medikamentösen Schmerzlinderung immer
befolgt werden müsse. Dennoch versucht sie schon im Geburtsvorbereitungskurs den Frauen zu vermitteln,
wie wichtig der Geburtsschmerz für die
Vorbereitung auf die Mutterschaft sei.
„Die Geburt macht uns sehr stark, sie
gibt uns die Kraft, die Kinder groß zu
ziehen“, sagt sie.
XXX?
Autonomie der Gebährenden
„XXX“
Die intensive Betreuung einer Gebärenden durch eine Hebamme fordert
auch das Wiener Hebammengremium
als wichtigstes Mittel gegen den Geburtsschmerz. Der Dresdner Geburtsmediziner Sven Hildebrandt würde
noch weiter gehen. Schon während der
gesamten Schwangerschaft sollten
Frauen von Hebammen und ÄrztInnen
in einer Symbiose betreut und begleitet
werden. Bei der Geburt sind laut Hildebrandt die Autonomie der Gebärenden,
Literatur
1 Verena Schmid: Der Geburtsschmerz. Hippokrates, Stuttgart 2005.
2 AQUA-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen:
Bundesauswertung für Geburtshilfe 2011. Göttingen 2012.
Institut für klinische Epidemiologie der TILAK
GmbH: Bericht über die Geburtshilfe in Tirol
2010 (mit Angaben zu Österreich).
3 Anim-Somuah M, Smyth RM, Jones L: Epidural versus non-epidural or no analgesia in labour. Cochrane Database of Systematic Reviews. Dezember 2011.
Jones L, Othman M, Dowswell T, et. al.: Pain
management for women in labour: an overview of systematic reviews. Cochrane Database
of Systematic Reviews. März 2012.
Regine
Bogensberger
geb. 1973, ist
freie Journalistin
mit den Schwerpunkten Frauen,
Gesundheit, Familie
in Wien.
[email protected]
Dr. med. Mabuse 201 · Januar/Februar 2013
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