1 Einleitung: Die konstruktivistische Herausforderung

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Tilmann Sutter
Interaktionistischer Konstruktivismus
Tilmann Sutter
Interaktionistischer
Konstruktivismus
Zur Systemtheorie
der Sozialisation
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1. Auflage 2009
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© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
Lektorat: Frank Engelhardt
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Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-16192-1
Inhalt
Vorwort ..........................................................................................................9
1.
Einleitung: Die konstruktivistische Herausforderung
strukturgenetischer Subjekttheorien .................................................11
1.1 Sozialisationstheorie - jenseits der großen Entwürfe ..................17
1.2 Der genetische Strukturalismus im Kontext theoretischer
Leitunterscheidungen ..................................................................22
1.3 Konstitution als Problemstellung ................................................30
2
Strukturgenetischer und radikaler Konstruktivismus.....................37
2.1 Die Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus
vor dem Hintergrund einer interaktionistischen
strukturgenetischen Theoriestrategie...........................................41
2.1.1 „Realität“ und „Wirklichkeit“ ...........................................41
2.1.2 Konstruktivität und Außenwelt:
Piaget und von Glasersfeld................................................45
2.1.3 Abgeschlossenheit, Rekursivität
und strukturelle Kopplung.................................................52
2.2 Äquilibration und Adaption - die differenztheoretische
Ausgangslage des strukturgenetischen Konstruktivismus
Piagets .........................................................................................57
2.3 Differenzerfahrung und die Entstehung des Neuen.....................60
2.4 Der Status strukturgenetischer Fragestellungen vor
dem Hintergrund des radikalen Konstruktivismus ......................64
3
Soziale Konstitutions- und soziologische Systemtheorie ..................69
3.1 Die soziale Konstitutionshypothese ............................................71
3.2 Sprachzentrismus und Regelontologie ........................................78
3.3 Sinn als Grundbegriff und die Eigenständigkeit des Sozialen.....81
3.4 Das Problem der doppelten Kontingenz......................................84
3.5 Interpenetration, Selbstsozialisation und strukturelle Kopplung.93
3.6 Differenz und Identität in der System- und sozialen
Konstitutionstheorie ..................................................................100
3.7 Zwischenbilanz und Konsequenzen für die Konzeption
des Anfangsproblems ................................................................104
4
Die Konstitution der Subjekt-Objekt-Differenz:
Das grundlegende Bezugsproblem des interaktionistischen
Konstruktivismus...............................................................................111
4.1 Die Subjekt-Objekt-Differenzierung im genetischen
Strukturalismus Piagets .............................................................115
4.1.1 Die Ausgangskonstellation..............................................116
4.1.2 Im Reich der Metaphern: Die Rolle der Außenwelt
und der Akkommodation.................................................121
4.1.3 Die primären und sekundären Zirkulärreaktionen
im Blick des radikalen Konstruktivismus .......................127
4.1.4 Die Ausbildung der Subjekt-Objekt-Gegenlage..............130
4.1.5 Akkommodation und die Konstruktion einer
Außenwelt: Probleme der These der funktionellen
Kontinuität als Erklärungsansatz.....................................136
4.2 Die Rolle der sozialen Interaktion bei der Subjekt-ObjektDifferenzierung .........................................................................141
4.2.1 Unterschiede des Umgangs mit Personen und
unbelebten Objekten aus der Sicht der
Piaget-Untersuchungen ...................................................142
4.2.2 Der Beitrag sozialkonstruktivistischer Theorien
zum interaktionistischen Konstruktivismus ....................148
4.2.3 Soziogenetische Untersuchungen der
frühen Ontogenese ..........................................................160
4.3 Ein Modell der Subjekt-Objekt-Differenzierung in
frühen sozialisatorischen Interaktionen.....................................173
4.4 Theoriearchitektonische und erkenntnistheoretische
Konsequenzen ...........................................................................178
5
Sozialisatorische Interaktion und soziales Verstehen ....................185
5.1 Bewußtseins- und handlungstheoretische Verkürzungen
in der Theorie sozialer Kognition - mit einem Seitenblick
auf die Theorie moralischer Entwicklung .................................186
5.2 Die Selbstreferentialität des Handelns in sozialisatorischen
Interaktionen .............................................................................206
5.2.1 Die soziale Struktur des Handelns ..................................207
5.2.2 Emergenz und Determination von Neuem in
selbstreferentiellen Handlungen......................................212
5.2.3 Die Organisation des Handelns unter Bedingungen
doppelter Kontingenz......................................................217
5.3
5.4
5.5
Intersubjektivität und soziales Verstehen..................................224
Die Methode der Perspektivenkoordination..............................228
Konstitutionstheoretische Grenzen............................................235
6
Konstruktivistische Hermeneutik: Zur Rekonstruktion
objektiver Sinnstrukturen ................................................................239
6.1 Priorität des Verstehens: Probleme einer selbsttragenden
methodologischen Geltungsbegründung ...................................247
6.2 Beobachten und Verstehen: Die Konturen einer
systemtheoretisch informierten Hermeneutik............................252
6.3 Konstruktivistische Hermeneutik im Modell der Sozialisation.256
6.3.1 Determinismus und Konstruktivismus in der
objektiven Hermeneutik ..................................................258
6.3.2 Strukturrekonstruktion unter Bedingungen
doppelter Kontingenz......................................................263
6.3.3 Strukturrekonstruktion und subjektive Konstruktionen ..268
6.4 Kohärenz und Sachhaltigkeit ....................................................274
7
Kommunikation und subjektive Konstruktion: Fallbeispiel
zur empirischen Vorgehensweise des interaktionistischen
Konstruktivismus ..............................................................................281
8
Resümee und Ausblick: Selbstsozialisation und gesellschaftliche
Differenzierung..................................................................................311
Literatur .......................................................................................................323
Vorwort
Der vorliegende Band stellt eine überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Neuauflage des 1999 erschienenen Buches „Systeme und Subjektstrukturen. Zur
Konstitutionstheorie des interaktionistischen Konstruktivismus“ dar. Die Vorgeschichte dieses Buches bildet eine Reihe von Untersuchungen subjektiver Bildungsprozesse im Kontext sozialisatorischer Interaktionen, die sich vor allem um
die strukturgenetische Rekonstruktion der kognitiven, sozial-kognitiven und
moralischen Entwicklung drehten. Diese Forschungen führten mich zu der Überzeugung, daß eine Kooperation zwischen dem genetischen Strukturalismus und
der soziologischen Systemtheorie, so riskant und schwierig sie zunächst auch
erscheinen mag, möglicherweise einige hartnäckige Probleme der etablierten
Entwicklungs- und Sozialisationstheorien ein Stück weiter auflösen kann. An
diesem Punkt setzt die vorliegende Untersuchung an. Sie verfolgt vor allem zwei
Ziele: Erstens nimmt sie sowohl theoretisch als auch empirisch den bereits in
strukturgenetischen Theorien angelegten und von der soziologischen Systemtheorie konsequent durchgeführten Gedanken auf, subjektive und soziale Prozesse jeweils eigenständig zu konzipieren, um von da aus zu sehen, welche Folgen
dies für das Verständnis ihres wechselseitigen Verhältnisses hat. Auf dieser
Grundlage kann zweitens die seit langem bestehende Gegenüberstellung subjektzentrierter und genuin soziologischer Erklärungen menschlicher Entwicklung
und Sozialisation mit innovativen Mitteln überwunden werden.
Die vorliegende Untersuchung setzt sich von dem Einwand ab, die soziologische Systemtheorie hätte die Subjekte aus den Untersuchungsfeldern der Soziologie hinauskatapultiert. Welches „Subjekt“ die Systemtheorie bislang auch
immer zu verabschieden trachtete - die Auflösung empirischer Subjekte hätte sie
jedenfalls in Auseinandersetzung mit den relevanten Forschungstraditionen erst
noch zu leisten. Aber wie wäre es, wenn statt dessen die Entwicklung subjektiver
Strukturen verständlich gemacht werden könnte, indem man von den vorlaufenden Konstruktionen selbstreferentiell operierender Systeme ausgeht? Diese
Untersuchungsstrategie wurde bereits von der kognitiven Entwicklungspsychologie Jean Piagets vorgezeichnet und läßt sich mit einer Soziologie sozialisatorischer Interaktionen verbinden, wie sie vor allem von der sozialen Konstitutionstheorie formuliert wurde. Der Buchtitel „interaktionistischer Konstruktivismus“
bringt dementsprechend zum Ausdruck, daß die vorliegende Arbeit keineswegs
unter systemtheoretischen Segeln die Welt der menschlichen Entwicklung und
Sozialisation ganz neu zu erkunden beabsichtigt. Sie liefert vielmehr Beiträge zu
einer Konstitutionstheorie, die sich um das Problem der Entstehung neuer aus
bereits entwickelten Strukturen dreht und bei der Bearbeitung dieses Problems
nach Alternativen sucht, ohne bereits Bewährtes aus den Augen zu verlieren.
Sicherlich wirft dieses Vorhaben die Frage auf, ob hier nicht inkompatible
Paradigmen miteinander verbunden werden sollen. Immerhin scheint der „operative Konstruktivismus“ der Systemtheorie, den die nachfolgenden Erörterungen
zugrunde legen, gerade gegen einen „interaktionistischen Konstruktivismus“ zu
sprechen. Aber die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme
ist stets zusammen mit Umweltbeziehungen dieser Systeme zu sehen, so daß –
traditionell gesprochen – das „Wechselverhältnis“ zwischen Subjekten und Außenwelt nicht auf der Ebene der Operationen sinnhafter Systeme, sondern auf der
Ebene des Strukturaufbaus zu verorten ist. Die vorgelegte Arbeit ist ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer Systemtheorie der Sozialisation, die Kontakt
zu bewährten Traditionen der Sozialisationsforschung hält. Wie in diesem Zusammenhang das angesprochene Verhältnis von Operation und Struktur weiter
entwickelt werden kann, etwa mit einer Theorie struktureller Kopplungen, darin
liegt die Problemstellung künftiger Forschungen. Im Diskussionsfeld einer konstruktivistischen Sozialisationsforschung, das in den letzten Jahren deutlich an
Dynamik gewonnen hat, rücken diese Forschungen die Möglichkeiten einer
Theorie der Selbstsozialisation unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen in den Mittelpunkt des Interesses.
Ich danke Frank Engelhardt vom Verlag für Sozialwissenschaften für die
Anregung zu dieser Neuauflage. Für wertvolle Hilfe und Unterstützung bei der
Herstellung dieser Neuauflage danke ich Sabine Adam, Florian Lütticke und JanHendrik Passoth.
Bielefeld, im Juli 2008
10
Wie kommt man zum Neuen?
Das ist wohl die Kernfrage
meines Lebens.
Jean Piaget
1 Einleitung: Die konstruktivistische
Herausforderung strukturgenetischer
Subjekttheorien
Wie wäre es, wenn die Menschen in die Welt träten, und sie wären blind? Damit
ist nicht gemeint, was aus dem Tierreich bekannt ist, daß nämlich Neugeborene
erst nach einiger Zeit die Augen öffnen und das Licht der Welt erblicken. Gemeint ist der Prozeß des Erkennens, der nicht zum „Licht“ der Außenwelt vordringt. Wie wäre es, wenn Menschen nicht nur blind in die Welt träten, sondern
lebenslang blind blieben, und sie kämen dennoch mit der Außenwelt zurecht?
Wenn wir vom alltäglichen ebenso wie vom traditionellen Verständnis menschlicher Erkenntnisprozesse ausgehen, muß diese Vorstellung phantastisch, ja geradezu absurd anmuten. Und doch ist es diese Vorstellung, die uns neuere erkenntnistheoretische Positionen nahezubringen versuchen. Sie radikalisieren den Gedanken, Erkenntnis sei eine Konstruktion, die ohne direkten Kontakt zur Außenwelt aufgebaut werde. Humberto Maturana hat für die Veranschaulichung
von Wahrnehmungsprozessen aus der Sicht dieser Positionen das Bild eines
Piloten beim Instrumentenflug gefunden:
„Wenn der Pilot ohne Sicht fliegen und landen muß, dann muß er die Anzeiger der
Instrumente seines Flugzeuges innerhalb genau spezifizierter Grenzwerte halten
oder einer Reihe spezifischer Variationen folgen. Wenn der Pilot die Maschine nach
der Landung verläßt, könnten seine Frau und seine Freunde zu ihm kommen und sagen: ‚Das war ein wunderbarer Flug mit einer exzellenten Landung! Wir hatten
Angst wegen des Nebels! Der Pilot könnte antworten: ‚Was für ein Flug? Was für
eine Landung? Ich bin nicht geflogen, ich habe nur meine Anzeigengeräte in bestimmten Bereichen konstant gehalten. Tatsächlich gab es einen Flug nur für einen
äußeren Beobachter, und exakt dies geschieht mit einem Organismus und seinem
Nervensystem.“ (Maturana 1987, S. 105)
Lassen wir dieses Bild für eine Veranschaulichung menschlichen Erkennens
gelten, so trifft es alsbald auf naheliegende Einwände: Wie ist es möglich, daß
wir da nicht orientierungslos durch die Lüfte taumeln? Warum zerschellen wir
nicht an dem nächstbesten Berg oder stoßen gegeneinander? Und wenn wir alle
nur in der Scheinwelt leben, die uns unsere Instrumente vorgaukeln, wie sind
dann die Formationsflüge wechselseitigen Verstehens möglich? Müssen wir da
nicht von einem Chaos ausgehen, in dem jeder einen Kurs fliegt, den ihm seine
Scheinwelt diktiert, in der Wahn und Wirklichkeit keinen Unterschied mehr
machen? Theorien, die menschliches Erkennen als Blindflug beschreiben, geben
uns daraufhin stets den gleichen Bescheid: Diese Probleme können nur innerhalb
der Flugzeuge mit den Mitteln der zur Verfügung stehenden Instrumente gelöst
werden. Maturana führt uns das Bild eines erkennenden Systems vor Augen,
dem die Außenwelt unbekannt bleibt und das sich dennoch erfolgreich durch
diese Außenwelt bewegen kann: Der Pilot kann nicht sehen, was draußen vor
sich geht, und er muß es auch nicht sehen. Sollte das Flugzeug aufgrund von
Turbulenzen absacken, so muß er nicht die Turbulenzen selbst sehen, sondern
nur ihre Auswirkungen auf der Instrumentenanzeige registrieren, um durch Korrekturen der Anzeigenveränderung die Flughöhe konstant zu halten.
Man müßte dieses Bild wohl in eine Geschichte packen, in der der Pilot den
Blindflug erlernt und dabei selbst nicht weiß, ob er sich im Flugsimulator oder
im Ernstfall befindet. Wir wollen die Geschichte etwas abändern und annehmen,
daß der Pilot eine Metapher für die Erkenntnisprozesse aller Menschen darstellt
und niemals aus seinem Cockpit hinauskommt: Es gibt kein „Draußen“, in das er
hinaustreten könnte, um gemeinsam mit anderen Piloten (seiner Frau oder seinen
Freunden) die Flugzeuge und die Welt zu betrachten, in der sie sich bewegen.
Auch alle anderen Piloten sind in ihren Cockpits gefangen: Auch sie nehmen die
Außenwelt und die anderen Piloten in ihren Maschinen nur auf ihren Instrumenten und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Medien (z.B. mit Sprechfunk)
wahr. Das heißt, alle operieren selbständig, und sie tun dies, solange sie erfolgreich damit sind, und sie bleiben dabei füreinander unsichtbar. Alles, was sich
außerhalb der Cockpits befindet und ereignet, bleibt unzugänglich und zeigt sich
nur auf den Instrumenten der Blindflieger. Unsere Piloten haben ersichtlich einen
großen Vorteil: Sie sind nicht auf gute Verhältnisse angewiesen, sie fliegen bei
jedem Wetter, ja sie haben sich, indem sie von vornherein auf Sichtflug verzichten, weitgehend von den äußeren Verhältnissen unabhängig gemacht.
12
Unser Bild resultiert aus einer Geschichte, die schon recht weit fortgeschritten ist. Die Piloten verfügen bereits über ihre Instrumente und wissen mit ihnen
umzugehen. Nehmen wir an, daß sie ihre Cockpits auch selbst mit Instrumenten
ausstatten müssen, mit sehr leistungsfähigen wohlgemerkt, die für den Blindflug
taugen. Nun wird doch sehr vieles rätselhaft: Wie ist es da möglich, daß sie nicht
schon mit den ersten Flugversuchen scheitern? Haben sie vielleicht eine Grundausstattung an Instrumenten zur Verfügung, mit denen die ersten Flugversuche
unternommen werden können? Oder gibt es vielleicht ein gut funktionierendes
Kontroll- und Leitsystem am Boden, das die notwendigen Hilfestellungen leistet? Können sich unsere Blindflieger zunächst auf einen Autopiloten verlassen,
der sie in sicherer Höhe auf Kurs hält, um Schritt für Schritt und in aller Ruhe
auf Handsteuerung umzustellen, mit der die ersten eigenständigen Kursänderungen vorgenommen werden können? Und läßt sich nicht doch die eine oder
andere Luke öffnen, durch die ein Blick nach draußen erhascht werden kann?
Die folgende Untersuchung, die sich um die Entwicklung von Subjektstrukturen und damit zusammenhängend vor allem von Erkenntnisstrukturen dreht,
wird einigen Versionen nachgehen, in denen sich diese Geschichte der Bildung
menschlicher Erkenntnis zugetragen haben könnte. Es werden dabei auch diejenigen Versionen betrachtet, die dem Alltagsverständnis als ziemlich abenteuerlich und unwahrscheinlich vorkommen mögen. Am Beginn der verschiedenen
Versionen dieser Geschichte steht nur die Annahme, daß unsere Piloten sich als
Konstrukteure betätigen müssen. Diese Annahme schließt an den Konstruktivismus als allgemeine Grundlage des heutigen sozialwissenschaftlichen Denkens
an. Der Begriff des Konstruktivismus umspannt mittlerweile ein breites Feld
unterschiedlicher erkenntnistheoretischer Positionen. Radikale Positionen einer
konstruktivistischen Erkenntnistheorie, für die Maturana als ein wichtiger Vertreter angesehen werden kann, orientieren sich an der Differenz selbstreferentiell
operierender Systeme zu einer unbestimmt bleibenden Umwelt: Unser künftiger
Pilot hat keine andere Wahl, als sein Cockpit mit leistungsfähigen Instrumenten
für den Blindflug auszurüsten. Die radikalen Positionen fordern gemäßigte Positionen des Konstruktivismus heraus, die von Subjekt-Objekt-Beziehungen und
einer empirisch zugänglichen, widerständigen Außenwelt ausgehen: Unser Konstrukteur und künftiger Pilot würde bei der Ausstattung seines Cockpits nicht nur
Hilfestellung von anderen, erfahrenen Konstrukteuren, sondern auch die Möglichkeit eines Zugangs zur Außenwelt erhalten, der nicht auf den Umgang mit
den Instrumenten im Cockpit beschränkt bleibt.
Diese Herausforderung hat bislang in den Theorien der Entwicklung und
Sozialisation von Subjekten wenig Resonanz erzeugt. Mangelnde Resonanz ist
indessen auf beiden Seiten zu beobachten: Die gemäßigten und die radikalen
Positionen des Konstruktivismus nehmen sich gegenseitig eher abgrenzend denn
13
auf wechselseitige Anschlüsse bedacht wahr (vgl. Sutter 2004). Dabei kann die
Notwendigkeit solcher Anschlüsse auf beiden Seiten begründet werden: Auf der
einen Seite mit dem Hinweis, die radikalen Konstruktivisten verabschiedeten zu
Unrecht mit dem philosophischen zugleich auch noch das empirische Subjekt.
Auf der anderen Seite kann den gemäßigten Positionen das Festhalten an mittlerweile höchst unsicheren identitätstheoretischen Grundlagen vorgehalten werden.
Weder können die Positionen des radikalen Konstruktivismus das Potential empirischer Subjekttheorien noch die empirischen Subjekttheorien das Potential der
Weiterentwicklung konstruktivistischer Annahmen ignorieren. Diese Einsicht
leitet die folgenden Versuche, Theorien der Konstitution von Subjektstrukturen
und erkenntnis- und systemtheoretische Perspektiven des radikalen Konstruktivismus in Kontakt zueinander zu bringen.
Die Menschen werden in eine historisch entstandene soziale und kulturelle
Außenwelt hineingeboren. Das Vermögen eines Zugangs zu dieser Außenwelt
bringen sie aber nicht schon von Natur aus mit, sie müssen es ontogenetisch erst
ausbilden. Auch der Bestand der gesellschaftlichen Umwelt ist nicht einfach
gegeben, er wird durch die Sozialisation der Gesellschaftsmitglieder ständig
reproduziert und verändert. In Entwicklung und Sozialisation der Menschen wird
deshalb stets eine doppelte Leistung erbracht: Mit der natürlichen und sozialen
Außenwelt wird auch die subjektive Innenorganisation aufgebaut. Die menschliche Entwicklung steht dabei unter den natürlichen Voraussetzungen auf der Seite
des Organismus und sie verläuft in sozialen Beziehungen. Neben den natürlichen
Voraussetzungen ist deshalb die Einbindung des menschlichen Handelns in soziale Interaktionen Bedingung der Möglichkeit von Entwicklung und Sozialisation.
Diese Behauptungen mögen zwar grundlegend und wichtig sein, dabei mittlerweile geradezu banal klingen und als weithin konsentiert gelten, so daß weiter
kein Aufhebens darum gemacht werden müßte; tatsächlich aber sind viele
schwer zu beantwortende Fragen mit ihnen verknüpft. Das zentrale Motiv der
folgenden Untersuchung besteht darin, fundamentale Annahmen kursierender
Entwicklungs- und Sozialisationstheorien zu hinterfragen und mögliche Alternativen zu diskutieren. Dieses Motiv entstand in der - für die meisten Soziologen
sicherlich eher ungewöhnlichen - Beschäftigung mit der frühen Ontogenese der
Menschen. Gerade auf diesem Feld wird deutlich, wie wichtig, aber auch wie
schwierig die Beantwortung basaler entwicklungs- und erkenntnistheoretischer
Fragen nach wie vor ist. Bereits in der Frage, wie sich die Menschen in der Ontogenese überhaupt einen Zugang zur Außenwelt verschaffen, wie also eine
Brücke zwischen der Natur des Organismus und der natürlichen und sozialen
Umwelt der Menschen geschlagen wird, gibt es ganz unterschiedliche Antwortmöglichkeiten.
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Profunde Untersuchungen dieses Brückenschlages verdanken wir dem Entwicklungs- und Erkenntnistheoretiker Jean Piaget. Dieser wohl bedeutendste
Entwicklungspsychologe des letzten Jahrhunderts kann auch, wie noch ausführlich erörtert wird, als Pate des Versuchs gelten, konstitutions- und systemtheoretische Perspektiven in der Subjekttheorie zu verknüpfen. Greifen wir aus seinen
vielen Beobachtungen frühkindlichen Verhaltens eine Sequenz heraus:
„Mit 0; 1 (30) (d.h. das beobachtete Kind ist 1 Monat und 30 Tage alt, T.S.) bewege
ich ihm gegenüber den Kopf auf die linke und auf die rechte Seite und mache dabei
‚ta-ta-ta-ta (zweimal zur linken Seite und zweimal zur rechten Seite). Er schaut
mich aufmerksam an und folgt meiner Bewegung. Sobald ich aufhöre, stößt er einige Laute aus, danach, so scheint es, macht er selbst einige Kopfbewegungen, die die
Akkommodation fortsetzen. Aber diese Deutung ist wenig sicher, denn wenn er aufhört, ein Objekt anzusehen, führt er im allgemeinen von sich aus gewisse spontane
Bewegungen ähnlicher Art aus. Alles, was man sagen kann ... ist, daß es scheint, als
bewege er seinen Kopf häufiger, nachdem ich vorher dasselbe tat.“ (Piaget 1975, S.
30f.)
Bei der Formulierung dieser Beobachtung hält sich der Autor mit Deutungen
zurück, und er tut gut daran, denn diese Offenheit schärft den Blick für die Probleme. Einerseits ist es denkbar, daß sich der mit sensorischen und motorischen
Fähigkeiten ausgestattete Organismus die Welt nur über intern gesteuerte Aktivitäten erschließt. Piagets Laute und Kopfbewegungen wären dann keine Außenweltqualitäten, denen sich der Säugling anpaßt, sondern nur diffuse Reize, die
die ohnehin ablaufenden Aktivitäten stimulieren, ohne sie zu organisieren. Der
Brückenschlag zwischen der Natur des Organismus und der natürlichen und
sozialen Außenwelt würde durch die Konstruktion einer Wirklichkeit bewältigt,
die ganz und gar von den internen Vorgängen des erkennenden Systems abhängt.
„Außenwelt“ könnte dann nur noch das sein, was das erkennende System als
seine Wirklichkeit konstruiert. Der Status der realen Außenwelt im Entwicklungsprozeß wäre ein nachrangiges und nur spekulativ zu bearbeitendes Problem.
Auf der anderen Seite könnte man von Anfang an mit einer widerständigen
Außenwelt rechnen, auf die der zur Konstruktion fähige Organismus trifft. Piagets Reaktionen wären dann Elemente einer dem Verhaltensrepertoire des Säuglings angepaßten Außenwelt, die in die kognitiven Konstrukte eingeholt wird
und die subjektiven Aktivitäten mitreguliert. Die Brücke zwischen der Natur des
Organismus und der natürlichen und sozialen Außenwelt würde in einem Interaktionsprozeß zwischen erkennendem Subjekt und der Außenwelt geschlagen
werden. Der Bildungsprozeß stünde unter der Bedingung, daß Erfahrungen an
15
einer realen Außenwelt verarbeitet werden, weil die Fähigkeit des Umgangs mit
dieser Realität erworben werden muß.
Diese zwei in aller Kürze skizzierten Antwortmöglichkeiten lassen sich, wie
unschwer zu erkennen gewesen sein wird, dem radikalen Konstruktivismus auf
der einen und den Theorien auf der Basis von Subjekt-Objekt-Relationen auf der
anderen Seite zuordnen. An dieser Stelle ist ein Einschub zur Terminologie erforderlich: Unter der Bezeichnung „Radikaler Konstruktivismus“ firmiert die
erkenntnistheoretische Tradition.1 Da im folgenden auch die systemtheoretische
Variante des radikalen Konstruktivismus zur Sprache kommt, werde ich die
Großschreibung („Radikal“) nur für die Erkenntnistheorie und die Kleinschreibung („radikal“) für die erkenntnis- und systemtheoretischen Varianten des radikalen Konstruktivismus verwenden. Ich bin mir bewußt, daß diese Begriffswahl
zum Teil unbefriedigend bleibt, aber es wird im stark anwachsenden Feld verschiedener Konstruktivismen immer schwieriger, zu einer sachlich differenzierten und angemessenen Terminologie zu kommen. So hat Niklas Luhmann (1991,
S. 68; 1996, S. 17f.) zur Bezeichnung seiner Position den Begriff des „operativen
Konstruktivismus“ vorgeschlagen. Damit soll deutlich werden, daß es nicht um
eine unbestimmt bleibende „Radikalität“, sondern um den Wechsel der Referenz
des Konstruktivismus von einem Subjekt auf ein operativ geschlossenes System
geht. Denkbar wäre auch, von einem systemtheoretischen Konstruktivismus zu
sprechen. Meine Begriffswahl gründet sich zum einen auf den prominenten Beitrag Maturanas zur autopoietischen Wende der Systemtheorie Luhmanns, der
trotz aller Differenzen zwischen Maturana und Luhmann Bestand hat, und zum
anderen auf die im folgenden beabsichtigte allgemeine Diskussion von genetischem Strukturalismus und radikalem Konstruktivismus, die im Falle mehrerer
Bezeichnungen radikal-konstruktivistischer Positionen teilweise zu sehr unhandlichen Formulierungen gezwungen wäre.
Die in den letzten Jahren in aller Breite geführte Diskussion zwischen Theorien auf der Grundlage von Subjekt-Objekt-Relationen einerseits und dem radikalen Konstruktivismus andererseits sind für eine entwicklungs- und sozialisationstheoretische Theorieanlage von paradigmatischer Bedeutung, denn die Entscheidung, ob man von systeminternen Konstruktionen oder von Subjekt-ObjektBeziehungen ausgeht, fungiert als Leitunterscheidung für die Bearbeitung aller
weiteren Fragen. Vor diesem Hintergrund erwächst das Erkenntnisinteresse der
folgenden Studien aus zwei Problemstellungen: Erstens ist festzuhalten, daß die
erwähnte Leitunterscheidung in den Entwicklungs- und Sozialisationstheorien
1
16
Zum sogenannten „Radikalen Konstruktivismus“ vgl. u.a. Maturana/Varela 1987; Riegas/Vetter 1990; Schmidt 1987, 1992; von Glasersfeld 1987; Watzlawick 1985. Um diese Diskussion, die bis Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts lebhaft geführt wurde, ist es seit
einigen Jahren still geworden.
trotz ihres paradigmatischen Stellenwertes noch wenig ausgelotet und im Hinblick auf die Probleme und Chancen der unterschiedlichen Alternativen diskutiert wurde. Ein wichtiger Grund hierfür liegt darin, daß die allermeisten Entwicklungs- und Sozialisationstheorien sozusagen von Hause aus mit SubjektObjekt-Relationen arbeiten. Zweitens muß der Umstand hervorgehoben werden,
daß die mit der Leitunterscheidung markierten Alternativen gerade in der frühesten Ontogenese sehr eng beieinander liegen. Mit dem obigen Beispiel sollte
illustriert werden, daß die Frage, ob der von Piaget beobachtete Säugling nur
intern regulierte Tätigkeiten ausführt oder bereits in einer Beziehung zu einer
wie auch immer abgegrenzten Außenwelt steht, in der Tat sehr schwer fällt. Es
ist offenbar äußerst schwierig zu bestimmen, wie sich in der frühesten Ontogenese eine Außenwelt herausbildet und welcher Status dieser Außenwelt im Bildungsprozeß zugeschrieben werden kann.
Dieses Problem bietet gerade der entwicklungstheoretischen Diskussion der
Leitunterscheidung eine sehr wertvolle Chance: Statt die Alternativen von System-Umwelt-Relationen und Subjekt-Objekt-Beziehungen als theoretische
Grundsatzentscheidungen einander gegenüberzustellen, kann mit der Frage
nachgefaßt werden, wie sich erkennende Organismen in der Ontogenese von der
Außenwelt abgrenzen. Weiterführende Einsichten in dieser Frage könnten zu gut
begründeten theoriestrategischen Konsequenzen führen. Zwar kann eine konstruktivistische Sichtweise als allgemein akzeptierte Grundlage der Entwicklungs- und Sozialisationstheorie gelten, die schlechterdings nicht mehr hintergehbar ist, aber die Frage, welches Profil ein tragfähiger Konstruktivismus
annehmen muß, bleibt nach dem Stand der aktuellen erkenntnistheoretischen
Debatte durchaus umstritten. Mit der Beantwortung dieser Frage, die nur durch
eine Verklammerung von entwicklungs- und erkenntnistheoretischen Problemstellungen bearbeitet werden kann, wird dann auch erst entscheidbar, mit welchen Erklärungserwartungen man vernünftigerweise noch antreten kann. Doch
treten wir zunächst noch einen Schritt zurück, um wenigstens ein grobes Bild der
sozialisationstheoretischen Diskussionslage zu zeichnen und von da aus die Verortung der vorliegenden Arbeit in Gang zu setzen.
1.1 Sozialisationstheorie - jenseits der großen Entwürfe
Einer allgemeinen Auffassung zufolge sind Entwicklungs- und Sozialisationstheorien mit Prozessen der Veränderung der Persönlichkeit befaßt. Die zeitliche
Abfolge unterscheidbarer Zustände der Persönlichkeit steht unter inneren und
äußeren Bedingungen. In der Entwicklungs- und Sozialisationsforschung können
drei Ebenen unterschieden und zueinander in Beziehung gesetzt werden: Die
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Makroebene des Gesellschaftssystems, die Mikroebene der Interaktionen zwischen zwei oder mehreren Personen und die Ebene der Subjektorganisation (vgl.
Hurrelmann 2002; Steinkamp 1991). Generell wird in den Übersichten betont,
daß die Sozialisationstheorie auf allen drei Ebenen bereits wichtige theoretische
und empirische Grundlagen geliefert habe, daß dabei aber auch die relevanten
Forschungstraditionen (u.a. auf den Linien von Freud, Mead, Piaget, Chomsky,
Marx, Durkheim und Parsons) unüberbrückbare Divergenzen aufweisen. In monographischen Überblicken wählen die Autoren als methodischen Umgang mit
dieser Situation deshalb eine je persönlich präferierte Zugangsweise mit bestimmten Bezugsproblemen (vgl. z.B. Geulen 1989; Tillmann 1989). Diese Entscheidung ist bis auf weiteres nicht nur verständlich, sondern sogar unausweichlich, solange noch keine allgemeine Sozialisationstheorie vorliegt.
Das Ziel einer allgemeinen Sozialisationstheorie scheint insgesamt gesehen
weit entfernt, wenn man es denn überhaupt noch als realistisches Desiderat betrachten kann.2 Zwar haben sich mittlerweile einige konsentierte Grundannahmen herausgebildet, so vor allem die Konzeption von Subjekten als aktiven Konstrukteuren der Wirklichkeit (vgl. Hurrelmann 1983) und die Annahme, daß die
Vermittlung von Individuum und Gesellschaft als zentrales Bezugsproblem der
Sozialisationstheorie fungiert. Aber diese Grundannahmen sind doch sehr allgemein und lassen große Spielräume für divergente Perspektiven offen. Noch
wichtiger ist jedoch, daß - wie in der folgenden Untersuchung deutlich werden
wird - in einigen aktuellen konstruktivistischen Sozial- und Erkenntnistheorien
die Gültigkeit des soziologischen Bezugsproblems der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft auf gut begründete Einwände trifft und die genauere
Bedeutung einer konstruktivistischen Auffassung der Subjekte umstritten bleibt.
Die Sozialisationstheorie erkauft sich den intern aufgebauten Konsens mit einer
Abschottung gegenüber diesen aktuellen theoretischen Debatten. In aller Deutlichkeit läßt dies z.B. eine aktuelle Einführung von Matthias Grundmann (2006)
in die Sozialisationstheorie erkennen, der in einer Fußnote gleich zu Anfang
klarstellt: „Ich verzichte hier auf eine Darstellung systemtheoretischer Überlegungen, da diese zur Aufklärung des Sachverhalts (d.h. der Sozialisation, T.S.)
wenig beitragen. Sie übersetzen Bekanntes lediglich in ein anderes, hermetisch
2
18
Wie ein Überblick von Dieter Geulen (1991) über die Entwicklung sozialisationstheoretischer
Ansätze zeigt, wird die Kontinuität in dieser Teildisziplin durch die ungeminderte Aktualität
des Problems gebildet, wie man genetische Theorien der Subjekte mit den Untersuchungen sozialisatorischer Bedingungen so verbindet, daß diese beiden Bereiche nicht doch wieder - und
sei es unter der Hand - in eine Schieflage geraten. Ob die weitere Schwierigkeit bewältigt wird,
sich mit einer breiten Gegenstandserfassung - wie in biographischen (vgl. ebda., S. 52ff.) und
„ökologischen“ (vgl. Dippelhofer-Stiem 1995) Untersuchungen - theoretische und empirische
Heterogenität einzuhandeln, die notwendige Spezifizierungen nicht mehr zuläßt, bleibt mit einiger Skepsis abzuwarten.
abgeschlossenes Begriffs- und Theoriegebäude. Mehr noch: Dabei wird der Gegenstandsbereich Sozialisation einer primär systemisch operierenden Sozialität
geopfert, die rein funktional begründet ist.“ (ebda., S. 25) Zum Glück gibt es
andernorts zumindest Anzeichen, daß vielleicht doch noch etwas Bewegung in
eine konstruktivistische Sozialisationstheorie kommen könnte, etwa wenn eine
skeptische Einschätzung der Systemtheorie mit dem Hinweis versehen wird, daß
hier das letzte Wort möglicherweise noch nicht gesprochen ist (vgl. Geulen
2005, S. 76; Hurrelmann 2002, S. 91 und 126).
Nur mit einem gewissen Maß an Offenheit kann berücksichtigt werden, daß
der Stand und die Perspektiven der Sozialisationstheorie nach wie vor unterschiedlich eingeschätzt werden. So wurde vor einigen Jahren in einem Überblick
auf den außergewöhnlichen Erfolg der Sozialisationsforschung hingewiesen,
ablesbar insbesondere an Auflagenhöhen und der Anzahl unveränderter Neuauflagen der Werke (vgl. Bertram 2000). Obwohl wir in der Wissenschaft auf Medien als Instrumente der Selbst- und Fremdbeobachtung angewiesen sind, sollten
wir mediale Resonanz nicht vorschnell als entscheidenden Erfolgsindikator
zugrunde legen. Der in dem genannten Überblick sogleich nachgeschobenen
kritischen Skepsis ist deshalb zuzustimmen, die geltend macht, daß die theoretischen Grundlagen der Sozialisationsforschung seit langem im wesentlichen unverändert geblieben sind und diese Kontinuität nicht so sehr den Erfolg, sondern
den Stillstand der Sozialisationstheorie zeigt.
Für diese Einschätzung spricht, daß auch die Arbeit in den eingewöhnten
Bahnen nicht mehr Entwürfe großen Zuschnitts liefert. Das letzte umfassende
Projekt einer Verbindung von Entwicklungs-, Sozialisations- und Gesellschaftstheorie betrieb die Forschungsgruppe um Jürgen Habermas. Dabei sollten Prozesse der Entwicklung von Protestpotentialen in der modernen Gesellschaft umfassend rekonstruiert werden. Zwar gingen daraus eine wegweisende Programmatik (vgl. Döbert/Habermas/Nunner-Winkler 1980a; Habermas 1976) und bemerkenswerte Arbeiten zur sozialen Evolution, zur Identitätsbildung in der modernen Gesellschaft und zur Entwicklung der sozialen Handlungsfähigkeit hervor.3 Aber letztlich resultierte daraus nicht der große, in einer Zusammenschau
einheitlich präsentierte Entwurf, der - wie etwa Lawrence Kohlbergs Theorie für
die Moralforschung - einen nachhaltigen Einfluß auf die weiteren sozialisationstheoretischen Diskussionen und Forschungen gehabt hätte. Dabei hätte sich eine
Weiterentwicklung dieses Entwurfs parallel zur fortlaufenden gesellschaftstheoretischen Debatte um die Theorie des kommunikativen Handelns (vgl. z.B. Giegel 1992; Honneth/Joas 1986) angeboten. In Frage steht die kritische Analyse
der modernen Gesellschaft unter einem normativen Bezugspunkt, die zugleich
3
vgl. Döbert/Nunner-Winkler 1979, 1986; Eder 1976, 1985; Freitag 1983; Miller 1984, 1986.
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Möglichkeiten des Aufbaus gelingender Ich-Identitäten aufzeigt. In Frage steht
die Orientierung der Gesellschaftstheorie und der empirischen Subjekttheorien
am Modell sprachlicher Verständigung. In Frage steht die Verbindung einer
vorgeordneten, sozialphilosophisch begründeten Geltungstheorie kommunikativen Handelns mit einer nachgeordneten Empirie der Bildung von Subjektstrukturen (vgl. dazu Sutter 1990). Eine Nachfolge für diesen beispielhaften Projektzusammenhang ist indessen nicht in Sicht.
Eine Kernfrage der Sozialisationsforschung ist, wie sie den Kontakt zu aktuellen Gesellschaftstheorien herstellen kann: Es liegt letztlich kein anschlußfähiger Entwurf zum Verhältnis von Sozialisationsprozessen und gesellschaftlicher
Ordnung vor. Statt dessen haben sich Sozialisationstheorien auf der einen Seite
und Gesellschaftstheorien auf der anderen Seite mehr und mehr auseinander
entwickelt. Während Gesellschaftstheorien oftmals ohne jeden Kontakt zur Sozialisationstheorie unterschiedliche Bilder von Subjekten in der modernen Gesellschaft zeichnen (vgl. etwa Schwinn 1995), zieht sich die Sozialisationstheorie
in ihre eingewöhnte Subjekt- und Handlungssprache zurück, und zwar mit dem
Hinweis, die Gesellschaft müsse eben in einer anderen, einer Systemsprache
beschrieben werden (vgl. dazu Sutter 2004a).
Unterhalb dieser allgemeinen Problemlage ist jedoch in letzter Zeit ein deutlicher und begrüßenswerter Aufschwung sozialisationstheoretischer Debatten zu
beobachten. Dabei werden zentrale, genuin sozialisationstheoretische Probleme
diskutiert. Hier findet man eine Reihe von Teilprojekten, die sich mehr oder
weniger erfolgreich mit der Verknüpfung unterschiedlicher entwicklungs-, sozialisations- und gesellschaftstheoretischer Perspektiven befassen. Greifen wir einige Beispiele heraus:
So wurden Pierre Bourdieus Sozialtheorie und Ulrich Oevermanns soziale
Konstitutionstheorie verglichen, Unterschiede und Konvergenzen herausgearbeitet und daraus subjekt- und sozialisationstheoretische Desiderate abgeleitet (vgl.
Liebau 1987). Neben der doch recht unscharfen Zuordnung Oevermanns zu einer
identitätslogischen und Bourdieus zu einer konstruktivistischen Theorieanlage
bleibt fraglich, warum die Synthese gerade dieser beiden Theorien zu einer vollständigen Sozialisationstheorie führen soll: Das spricht nicht überhaupt gegen
dieses Teilprojekt, sondern gegen den Anschein eines großen Entwurfs und die
damit verbundenen Ansprüche.
Eine sehr naheliegende Unternehmung ist die Verbindung von klassischen,
fest etablierten, aber kaum kompatiblen Theorien, die jedoch einander ergänzende Aspekte der Subjektbildung abdecken. Hier wäre der Versuch von Hans G.
Furth (1983, 1990) zu nennen, der die strukturanalytische Theorie Piagets mit
der psychodynamischen Theorie Freuds verknüpft. Auch die Theorien der Entwicklung des Selbst gehen in diese Richtung (vgl. Edelstein/Noam 1982; Kegan
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1986; Noam 1986). Allerdings werden in den Synthetisierungen konstitutionstheoretische Differenzen tendenziell abgedunkelt.4
Im Sinne erster programmatischer Anregungen sind Versuche zu verstehen,
entwicklungspsychologische und soziologische Theorien zu verknüpfen, etwa
die Psychologie des Wissenserwerbs mit den sozialwissenschaftlichen Theorien
von Berger, Habermas, Bourdieu und Foucault (vgl. Goodnow 1990). Dabei geht
es zunächst nur darum, aussichtsreiche Perspektiven der Nachbardisziplin im
eigenen Fach bekannt zu machen.
Eine Rarität ist der Versuch, die sozialisationstheoretischen Implikationen
der Systemtheorie Niklas Luhmanns in einer Theorie der Selbstsozialisation zu
verdeutlichen (vgl. Gilgenmann 1986). Leider hat dieser erste Anlauf bislang
noch nicht zu einer umfassenderen systemtheoretischen Aufarbeitung empirischer Subjekttheorien geführt.
Das Verhältnis von Sozialisation und gesellschaftlichen Strukturen wird in
Theorien sozialer Lagen und Lebensstiltheorien untersucht (vgl. Hurrelmann
2002, S. 114ff.; Sutter 2003, 58ff.). Die neuere sozialstrukturelle Sozialisationsforschung versucht, die Beziehungen zwischen gesellschaftlicher Differenzierung, familialer Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung aufzuklären. Dabei
stellt sich vor allem die Aufgabe, Modelle hierarchischer sozialer Schichtung zu
überwinden (vgl. Steinkamp 1991, S. 275f.): Mit der These zunehmender Individualisierung und der Auflösung industriegesellschaftlicher Lebensformen in der
Moderne (vgl. Beck 1986) ist Bewegung in die Sozialstrukturanalyse gekommen
(vgl. Geißler 1996, S. 74ff.). Es reicht nicht mehr aus, die soziale Lage der Gesellschaftsmitglieder nach Klasse oder Schichtung zu bestimmen, wenn man die
Vereinheitlichung der Lebensbedingungen, die Entschichtung der Lebenswelt,
horizontale Differenzierungen der Soziallagen und Pluralisierung von Lebensweisen und Lebensstilen nicht ignorieren will. Die fortschreitende Entkopplung
von objektiven Lebensbedingungen und subjektiven Lebensweisen hat zu neuen,
feiner zeichnenden Kategorien der Sozialstrukturanalyse geführt: Milieu und
Lebensstil (vgl. Hradil 1992). Zentrale Probleme der Sozialisationsforschung
bilden aus dieser Sicht Konzeptualisierungen sozialer Lagen und neuer Ungleichheiten sowie der Einflüsse dieser Bedingungen auf die Persönlichkeitsentwicklung (Mehr hierz am Ende dieser Arbeit).
Diese kleine Auswahl zeigt, daß zwar die allgemeine Problemstellung der
Verbindung von entwicklungs-, sozialisations- und gesellschaftstheoretischen
4
Strukturtheoretisch muß, einem Postulat von Piaget (1995) folgend, von einer Parallelität von
Affektivität und Kognition ausgegangen, die Psychodynamik also in das strukturelle Gerüst der
Kognition eingepaßt werden. Entsprechende Erwartungen, die man vor allem in die Erforschung vermutlich stufenspezifischer Abwehr- und Bewältigungsmechanismen gesetzt hat
(vgl. Haan 1977; Döbert/Nunner-Winkler 1980), haben sich allerdings nicht erfüllt.
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