Tilmann Sutter Interaktionistischer Konstruktivismus Tilmann Sutter Interaktionistischer Konstruktivismus Zur Systemtheorie der Sozialisation Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Mepel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16192-1 Inhalt Vorwort ..........................................................................................................9 1. Einleitung: Die konstruktivistische Herausforderung strukturgenetischer Subjekttheorien .................................................11 1.1 Sozialisationstheorie - jenseits der großen Entwürfe ..................17 1.2 Der genetische Strukturalismus im Kontext theoretischer Leitunterscheidungen ..................................................................22 1.3 Konstitution als Problemstellung ................................................30 2 Strukturgenetischer und radikaler Konstruktivismus.....................37 2.1 Die Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus vor dem Hintergrund einer interaktionistischen strukturgenetischen Theoriestrategie...........................................41 2.1.1 „Realität“ und „Wirklichkeit“ ...........................................41 2.1.2 Konstruktivität und Außenwelt: Piaget und von Glasersfeld................................................45 2.1.3 Abgeschlossenheit, Rekursivität und strukturelle Kopplung.................................................52 2.2 Äquilibration und Adaption - die differenztheoretische Ausgangslage des strukturgenetischen Konstruktivismus Piagets .........................................................................................57 2.3 Differenzerfahrung und die Entstehung des Neuen.....................60 2.4 Der Status strukturgenetischer Fragestellungen vor dem Hintergrund des radikalen Konstruktivismus ......................64 3 Soziale Konstitutions- und soziologische Systemtheorie ..................69 3.1 Die soziale Konstitutionshypothese ............................................71 3.2 Sprachzentrismus und Regelontologie ........................................78 3.3 Sinn als Grundbegriff und die Eigenständigkeit des Sozialen.....81 3.4 Das Problem der doppelten Kontingenz......................................84 3.5 Interpenetration, Selbstsozialisation und strukturelle Kopplung.93 3.6 Differenz und Identität in der System- und sozialen Konstitutionstheorie ..................................................................100 3.7 Zwischenbilanz und Konsequenzen für die Konzeption des Anfangsproblems ................................................................104 4 Die Konstitution der Subjekt-Objekt-Differenz: Das grundlegende Bezugsproblem des interaktionistischen Konstruktivismus...............................................................................111 4.1 Die Subjekt-Objekt-Differenzierung im genetischen Strukturalismus Piagets .............................................................115 4.1.1 Die Ausgangskonstellation..............................................116 4.1.2 Im Reich der Metaphern: Die Rolle der Außenwelt und der Akkommodation.................................................121 4.1.3 Die primären und sekundären Zirkulärreaktionen im Blick des radikalen Konstruktivismus .......................127 4.1.4 Die Ausbildung der Subjekt-Objekt-Gegenlage..............130 4.1.5 Akkommodation und die Konstruktion einer Außenwelt: Probleme der These der funktionellen Kontinuität als Erklärungsansatz.....................................136 4.2 Die Rolle der sozialen Interaktion bei der Subjekt-ObjektDifferenzierung .........................................................................141 4.2.1 Unterschiede des Umgangs mit Personen und unbelebten Objekten aus der Sicht der Piaget-Untersuchungen ...................................................142 4.2.2 Der Beitrag sozialkonstruktivistischer Theorien zum interaktionistischen Konstruktivismus ....................148 4.2.3 Soziogenetische Untersuchungen der frühen Ontogenese ..........................................................160 4.3 Ein Modell der Subjekt-Objekt-Differenzierung in frühen sozialisatorischen Interaktionen.....................................173 4.4 Theoriearchitektonische und erkenntnistheoretische Konsequenzen ...........................................................................178 5 Sozialisatorische Interaktion und soziales Verstehen ....................185 5.1 Bewußtseins- und handlungstheoretische Verkürzungen in der Theorie sozialer Kognition - mit einem Seitenblick auf die Theorie moralischer Entwicklung .................................186 5.2 Die Selbstreferentialität des Handelns in sozialisatorischen Interaktionen .............................................................................206 5.2.1 Die soziale Struktur des Handelns ..................................207 5.2.2 Emergenz und Determination von Neuem in selbstreferentiellen Handlungen......................................212 5.2.3 Die Organisation des Handelns unter Bedingungen doppelter Kontingenz......................................................217 5.3 5.4 5.5 Intersubjektivität und soziales Verstehen..................................224 Die Methode der Perspektivenkoordination..............................228 Konstitutionstheoretische Grenzen............................................235 6 Konstruktivistische Hermeneutik: Zur Rekonstruktion objektiver Sinnstrukturen ................................................................239 6.1 Priorität des Verstehens: Probleme einer selbsttragenden methodologischen Geltungsbegründung ...................................247 6.2 Beobachten und Verstehen: Die Konturen einer systemtheoretisch informierten Hermeneutik............................252 6.3 Konstruktivistische Hermeneutik im Modell der Sozialisation.256 6.3.1 Determinismus und Konstruktivismus in der objektiven Hermeneutik ..................................................258 6.3.2 Strukturrekonstruktion unter Bedingungen doppelter Kontingenz......................................................263 6.3.3 Strukturrekonstruktion und subjektive Konstruktionen ..268 6.4 Kohärenz und Sachhaltigkeit ....................................................274 7 Kommunikation und subjektive Konstruktion: Fallbeispiel zur empirischen Vorgehensweise des interaktionistischen Konstruktivismus ..............................................................................281 8 Resümee und Ausblick: Selbstsozialisation und gesellschaftliche Differenzierung..................................................................................311 Literatur .......................................................................................................323 Vorwort Der vorliegende Band stellt eine überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Neuauflage des 1999 erschienenen Buches „Systeme und Subjektstrukturen. Zur Konstitutionstheorie des interaktionistischen Konstruktivismus“ dar. Die Vorgeschichte dieses Buches bildet eine Reihe von Untersuchungen subjektiver Bildungsprozesse im Kontext sozialisatorischer Interaktionen, die sich vor allem um die strukturgenetische Rekonstruktion der kognitiven, sozial-kognitiven und moralischen Entwicklung drehten. Diese Forschungen führten mich zu der Überzeugung, daß eine Kooperation zwischen dem genetischen Strukturalismus und der soziologischen Systemtheorie, so riskant und schwierig sie zunächst auch erscheinen mag, möglicherweise einige hartnäckige Probleme der etablierten Entwicklungs- und Sozialisationstheorien ein Stück weiter auflösen kann. An diesem Punkt setzt die vorliegende Untersuchung an. Sie verfolgt vor allem zwei Ziele: Erstens nimmt sie sowohl theoretisch als auch empirisch den bereits in strukturgenetischen Theorien angelegten und von der soziologischen Systemtheorie konsequent durchgeführten Gedanken auf, subjektive und soziale Prozesse jeweils eigenständig zu konzipieren, um von da aus zu sehen, welche Folgen dies für das Verständnis ihres wechselseitigen Verhältnisses hat. Auf dieser Grundlage kann zweitens die seit langem bestehende Gegenüberstellung subjektzentrierter und genuin soziologischer Erklärungen menschlicher Entwicklung und Sozialisation mit innovativen Mitteln überwunden werden. Die vorliegende Untersuchung setzt sich von dem Einwand ab, die soziologische Systemtheorie hätte die Subjekte aus den Untersuchungsfeldern der Soziologie hinauskatapultiert. Welches „Subjekt“ die Systemtheorie bislang auch immer zu verabschieden trachtete - die Auflösung empirischer Subjekte hätte sie jedenfalls in Auseinandersetzung mit den relevanten Forschungstraditionen erst noch zu leisten. Aber wie wäre es, wenn statt dessen die Entwicklung subjektiver Strukturen verständlich gemacht werden könnte, indem man von den vorlaufenden Konstruktionen selbstreferentiell operierender Systeme ausgeht? Diese Untersuchungsstrategie wurde bereits von der kognitiven Entwicklungspsychologie Jean Piagets vorgezeichnet und läßt sich mit einer Soziologie sozialisatorischer Interaktionen verbinden, wie sie vor allem von der sozialen Konstitutionstheorie formuliert wurde. Der Buchtitel „interaktionistischer Konstruktivismus“ bringt dementsprechend zum Ausdruck, daß die vorliegende Arbeit keineswegs unter systemtheoretischen Segeln die Welt der menschlichen Entwicklung und Sozialisation ganz neu zu erkunden beabsichtigt. Sie liefert vielmehr Beiträge zu einer Konstitutionstheorie, die sich um das Problem der Entstehung neuer aus bereits entwickelten Strukturen dreht und bei der Bearbeitung dieses Problems nach Alternativen sucht, ohne bereits Bewährtes aus den Augen zu verlieren. Sicherlich wirft dieses Vorhaben die Frage auf, ob hier nicht inkompatible Paradigmen miteinander verbunden werden sollen. Immerhin scheint der „operative Konstruktivismus“ der Systemtheorie, den die nachfolgenden Erörterungen zugrunde legen, gerade gegen einen „interaktionistischen Konstruktivismus“ zu sprechen. Aber die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme ist stets zusammen mit Umweltbeziehungen dieser Systeme zu sehen, so daß – traditionell gesprochen – das „Wechselverhältnis“ zwischen Subjekten und Außenwelt nicht auf der Ebene der Operationen sinnhafter Systeme, sondern auf der Ebene des Strukturaufbaus zu verorten ist. Die vorgelegte Arbeit ist ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer Systemtheorie der Sozialisation, die Kontakt zu bewährten Traditionen der Sozialisationsforschung hält. Wie in diesem Zusammenhang das angesprochene Verhältnis von Operation und Struktur weiter entwickelt werden kann, etwa mit einer Theorie struktureller Kopplungen, darin liegt die Problemstellung künftiger Forschungen. Im Diskussionsfeld einer konstruktivistischen Sozialisationsforschung, das in den letzten Jahren deutlich an Dynamik gewonnen hat, rücken diese Forschungen die Möglichkeiten einer Theorie der Selbstsozialisation unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen in den Mittelpunkt des Interesses. Ich danke Frank Engelhardt vom Verlag für Sozialwissenschaften für die Anregung zu dieser Neuauflage. Für wertvolle Hilfe und Unterstützung bei der Herstellung dieser Neuauflage danke ich Sabine Adam, Florian Lütticke und JanHendrik Passoth. Bielefeld, im Juli 2008 10 Wie kommt man zum Neuen? Das ist wohl die Kernfrage meines Lebens. Jean Piaget 1 Einleitung: Die konstruktivistische Herausforderung strukturgenetischer Subjekttheorien Wie wäre es, wenn die Menschen in die Welt träten, und sie wären blind? Damit ist nicht gemeint, was aus dem Tierreich bekannt ist, daß nämlich Neugeborene erst nach einiger Zeit die Augen öffnen und das Licht der Welt erblicken. Gemeint ist der Prozeß des Erkennens, der nicht zum „Licht“ der Außenwelt vordringt. Wie wäre es, wenn Menschen nicht nur blind in die Welt träten, sondern lebenslang blind blieben, und sie kämen dennoch mit der Außenwelt zurecht? Wenn wir vom alltäglichen ebenso wie vom traditionellen Verständnis menschlicher Erkenntnisprozesse ausgehen, muß diese Vorstellung phantastisch, ja geradezu absurd anmuten. Und doch ist es diese Vorstellung, die uns neuere erkenntnistheoretische Positionen nahezubringen versuchen. Sie radikalisieren den Gedanken, Erkenntnis sei eine Konstruktion, die ohne direkten Kontakt zur Außenwelt aufgebaut werde. Humberto Maturana hat für die Veranschaulichung von Wahrnehmungsprozessen aus der Sicht dieser Positionen das Bild eines Piloten beim Instrumentenflug gefunden: „Wenn der Pilot ohne Sicht fliegen und landen muß, dann muß er die Anzeiger der Instrumente seines Flugzeuges innerhalb genau spezifizierter Grenzwerte halten oder einer Reihe spezifischer Variationen folgen. Wenn der Pilot die Maschine nach der Landung verläßt, könnten seine Frau und seine Freunde zu ihm kommen und sagen: ‚Das war ein wunderbarer Flug mit einer exzellenten Landung! Wir hatten Angst wegen des Nebels! Der Pilot könnte antworten: ‚Was für ein Flug? Was für eine Landung? Ich bin nicht geflogen, ich habe nur meine Anzeigengeräte in bestimmten Bereichen konstant gehalten. Tatsächlich gab es einen Flug nur für einen äußeren Beobachter, und exakt dies geschieht mit einem Organismus und seinem Nervensystem.“ (Maturana 1987, S. 105) Lassen wir dieses Bild für eine Veranschaulichung menschlichen Erkennens gelten, so trifft es alsbald auf naheliegende Einwände: Wie ist es möglich, daß wir da nicht orientierungslos durch die Lüfte taumeln? Warum zerschellen wir nicht an dem nächstbesten Berg oder stoßen gegeneinander? Und wenn wir alle nur in der Scheinwelt leben, die uns unsere Instrumente vorgaukeln, wie sind dann die Formationsflüge wechselseitigen Verstehens möglich? Müssen wir da nicht von einem Chaos ausgehen, in dem jeder einen Kurs fliegt, den ihm seine Scheinwelt diktiert, in der Wahn und Wirklichkeit keinen Unterschied mehr machen? Theorien, die menschliches Erkennen als Blindflug beschreiben, geben uns daraufhin stets den gleichen Bescheid: Diese Probleme können nur innerhalb der Flugzeuge mit den Mitteln der zur Verfügung stehenden Instrumente gelöst werden. Maturana führt uns das Bild eines erkennenden Systems vor Augen, dem die Außenwelt unbekannt bleibt und das sich dennoch erfolgreich durch diese Außenwelt bewegen kann: Der Pilot kann nicht sehen, was draußen vor sich geht, und er muß es auch nicht sehen. Sollte das Flugzeug aufgrund von Turbulenzen absacken, so muß er nicht die Turbulenzen selbst sehen, sondern nur ihre Auswirkungen auf der Instrumentenanzeige registrieren, um durch Korrekturen der Anzeigenveränderung die Flughöhe konstant zu halten. Man müßte dieses Bild wohl in eine Geschichte packen, in der der Pilot den Blindflug erlernt und dabei selbst nicht weiß, ob er sich im Flugsimulator oder im Ernstfall befindet. Wir wollen die Geschichte etwas abändern und annehmen, daß der Pilot eine Metapher für die Erkenntnisprozesse aller Menschen darstellt und niemals aus seinem Cockpit hinauskommt: Es gibt kein „Draußen“, in das er hinaustreten könnte, um gemeinsam mit anderen Piloten (seiner Frau oder seinen Freunden) die Flugzeuge und die Welt zu betrachten, in der sie sich bewegen. Auch alle anderen Piloten sind in ihren Cockpits gefangen: Auch sie nehmen die Außenwelt und die anderen Piloten in ihren Maschinen nur auf ihren Instrumenten und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Medien (z.B. mit Sprechfunk) wahr. Das heißt, alle operieren selbständig, und sie tun dies, solange sie erfolgreich damit sind, und sie bleiben dabei füreinander unsichtbar. Alles, was sich außerhalb der Cockpits befindet und ereignet, bleibt unzugänglich und zeigt sich nur auf den Instrumenten der Blindflieger. Unsere Piloten haben ersichtlich einen großen Vorteil: Sie sind nicht auf gute Verhältnisse angewiesen, sie fliegen bei jedem Wetter, ja sie haben sich, indem sie von vornherein auf Sichtflug verzichten, weitgehend von den äußeren Verhältnissen unabhängig gemacht. 12 Unser Bild resultiert aus einer Geschichte, die schon recht weit fortgeschritten ist. Die Piloten verfügen bereits über ihre Instrumente und wissen mit ihnen umzugehen. Nehmen wir an, daß sie ihre Cockpits auch selbst mit Instrumenten ausstatten müssen, mit sehr leistungsfähigen wohlgemerkt, die für den Blindflug taugen. Nun wird doch sehr vieles rätselhaft: Wie ist es da möglich, daß sie nicht schon mit den ersten Flugversuchen scheitern? Haben sie vielleicht eine Grundausstattung an Instrumenten zur Verfügung, mit denen die ersten Flugversuche unternommen werden können? Oder gibt es vielleicht ein gut funktionierendes Kontroll- und Leitsystem am Boden, das die notwendigen Hilfestellungen leistet? Können sich unsere Blindflieger zunächst auf einen Autopiloten verlassen, der sie in sicherer Höhe auf Kurs hält, um Schritt für Schritt und in aller Ruhe auf Handsteuerung umzustellen, mit der die ersten eigenständigen Kursänderungen vorgenommen werden können? Und läßt sich nicht doch die eine oder andere Luke öffnen, durch die ein Blick nach draußen erhascht werden kann? Die folgende Untersuchung, die sich um die Entwicklung von Subjektstrukturen und damit zusammenhängend vor allem von Erkenntnisstrukturen dreht, wird einigen Versionen nachgehen, in denen sich diese Geschichte der Bildung menschlicher Erkenntnis zugetragen haben könnte. Es werden dabei auch diejenigen Versionen betrachtet, die dem Alltagsverständnis als ziemlich abenteuerlich und unwahrscheinlich vorkommen mögen. Am Beginn der verschiedenen Versionen dieser Geschichte steht nur die Annahme, daß unsere Piloten sich als Konstrukteure betätigen müssen. Diese Annahme schließt an den Konstruktivismus als allgemeine Grundlage des heutigen sozialwissenschaftlichen Denkens an. Der Begriff des Konstruktivismus umspannt mittlerweile ein breites Feld unterschiedlicher erkenntnistheoretischer Positionen. Radikale Positionen einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie, für die Maturana als ein wichtiger Vertreter angesehen werden kann, orientieren sich an der Differenz selbstreferentiell operierender Systeme zu einer unbestimmt bleibenden Umwelt: Unser künftiger Pilot hat keine andere Wahl, als sein Cockpit mit leistungsfähigen Instrumenten für den Blindflug auszurüsten. Die radikalen Positionen fordern gemäßigte Positionen des Konstruktivismus heraus, die von Subjekt-Objekt-Beziehungen und einer empirisch zugänglichen, widerständigen Außenwelt ausgehen: Unser Konstrukteur und künftiger Pilot würde bei der Ausstattung seines Cockpits nicht nur Hilfestellung von anderen, erfahrenen Konstrukteuren, sondern auch die Möglichkeit eines Zugangs zur Außenwelt erhalten, der nicht auf den Umgang mit den Instrumenten im Cockpit beschränkt bleibt. Diese Herausforderung hat bislang in den Theorien der Entwicklung und Sozialisation von Subjekten wenig Resonanz erzeugt. Mangelnde Resonanz ist indessen auf beiden Seiten zu beobachten: Die gemäßigten und die radikalen Positionen des Konstruktivismus nehmen sich gegenseitig eher abgrenzend denn 13 auf wechselseitige Anschlüsse bedacht wahr (vgl. Sutter 2004). Dabei kann die Notwendigkeit solcher Anschlüsse auf beiden Seiten begründet werden: Auf der einen Seite mit dem Hinweis, die radikalen Konstruktivisten verabschiedeten zu Unrecht mit dem philosophischen zugleich auch noch das empirische Subjekt. Auf der anderen Seite kann den gemäßigten Positionen das Festhalten an mittlerweile höchst unsicheren identitätstheoretischen Grundlagen vorgehalten werden. Weder können die Positionen des radikalen Konstruktivismus das Potential empirischer Subjekttheorien noch die empirischen Subjekttheorien das Potential der Weiterentwicklung konstruktivistischer Annahmen ignorieren. Diese Einsicht leitet die folgenden Versuche, Theorien der Konstitution von Subjektstrukturen und erkenntnis- und systemtheoretische Perspektiven des radikalen Konstruktivismus in Kontakt zueinander zu bringen. Die Menschen werden in eine historisch entstandene soziale und kulturelle Außenwelt hineingeboren. Das Vermögen eines Zugangs zu dieser Außenwelt bringen sie aber nicht schon von Natur aus mit, sie müssen es ontogenetisch erst ausbilden. Auch der Bestand der gesellschaftlichen Umwelt ist nicht einfach gegeben, er wird durch die Sozialisation der Gesellschaftsmitglieder ständig reproduziert und verändert. In Entwicklung und Sozialisation der Menschen wird deshalb stets eine doppelte Leistung erbracht: Mit der natürlichen und sozialen Außenwelt wird auch die subjektive Innenorganisation aufgebaut. Die menschliche Entwicklung steht dabei unter den natürlichen Voraussetzungen auf der Seite des Organismus und sie verläuft in sozialen Beziehungen. Neben den natürlichen Voraussetzungen ist deshalb die Einbindung des menschlichen Handelns in soziale Interaktionen Bedingung der Möglichkeit von Entwicklung und Sozialisation. Diese Behauptungen mögen zwar grundlegend und wichtig sein, dabei mittlerweile geradezu banal klingen und als weithin konsentiert gelten, so daß weiter kein Aufhebens darum gemacht werden müßte; tatsächlich aber sind viele schwer zu beantwortende Fragen mit ihnen verknüpft. Das zentrale Motiv der folgenden Untersuchung besteht darin, fundamentale Annahmen kursierender Entwicklungs- und Sozialisationstheorien zu hinterfragen und mögliche Alternativen zu diskutieren. Dieses Motiv entstand in der - für die meisten Soziologen sicherlich eher ungewöhnlichen - Beschäftigung mit der frühen Ontogenese der Menschen. Gerade auf diesem Feld wird deutlich, wie wichtig, aber auch wie schwierig die Beantwortung basaler entwicklungs- und erkenntnistheoretischer Fragen nach wie vor ist. Bereits in der Frage, wie sich die Menschen in der Ontogenese überhaupt einen Zugang zur Außenwelt verschaffen, wie also eine Brücke zwischen der Natur des Organismus und der natürlichen und sozialen Umwelt der Menschen geschlagen wird, gibt es ganz unterschiedliche Antwortmöglichkeiten. 14 Profunde Untersuchungen dieses Brückenschlages verdanken wir dem Entwicklungs- und Erkenntnistheoretiker Jean Piaget. Dieser wohl bedeutendste Entwicklungspsychologe des letzten Jahrhunderts kann auch, wie noch ausführlich erörtert wird, als Pate des Versuchs gelten, konstitutions- und systemtheoretische Perspektiven in der Subjekttheorie zu verknüpfen. Greifen wir aus seinen vielen Beobachtungen frühkindlichen Verhaltens eine Sequenz heraus: „Mit 0; 1 (30) (d.h. das beobachtete Kind ist 1 Monat und 30 Tage alt, T.S.) bewege ich ihm gegenüber den Kopf auf die linke und auf die rechte Seite und mache dabei ‚ta-ta-ta-ta (zweimal zur linken Seite und zweimal zur rechten Seite). Er schaut mich aufmerksam an und folgt meiner Bewegung. Sobald ich aufhöre, stößt er einige Laute aus, danach, so scheint es, macht er selbst einige Kopfbewegungen, die die Akkommodation fortsetzen. Aber diese Deutung ist wenig sicher, denn wenn er aufhört, ein Objekt anzusehen, führt er im allgemeinen von sich aus gewisse spontane Bewegungen ähnlicher Art aus. Alles, was man sagen kann ... ist, daß es scheint, als bewege er seinen Kopf häufiger, nachdem ich vorher dasselbe tat.“ (Piaget 1975, S. 30f.) Bei der Formulierung dieser Beobachtung hält sich der Autor mit Deutungen zurück, und er tut gut daran, denn diese Offenheit schärft den Blick für die Probleme. Einerseits ist es denkbar, daß sich der mit sensorischen und motorischen Fähigkeiten ausgestattete Organismus die Welt nur über intern gesteuerte Aktivitäten erschließt. Piagets Laute und Kopfbewegungen wären dann keine Außenweltqualitäten, denen sich der Säugling anpaßt, sondern nur diffuse Reize, die die ohnehin ablaufenden Aktivitäten stimulieren, ohne sie zu organisieren. Der Brückenschlag zwischen der Natur des Organismus und der natürlichen und sozialen Außenwelt würde durch die Konstruktion einer Wirklichkeit bewältigt, die ganz und gar von den internen Vorgängen des erkennenden Systems abhängt. „Außenwelt“ könnte dann nur noch das sein, was das erkennende System als seine Wirklichkeit konstruiert. Der Status der realen Außenwelt im Entwicklungsprozeß wäre ein nachrangiges und nur spekulativ zu bearbeitendes Problem. Auf der anderen Seite könnte man von Anfang an mit einer widerständigen Außenwelt rechnen, auf die der zur Konstruktion fähige Organismus trifft. Piagets Reaktionen wären dann Elemente einer dem Verhaltensrepertoire des Säuglings angepaßten Außenwelt, die in die kognitiven Konstrukte eingeholt wird und die subjektiven Aktivitäten mitreguliert. Die Brücke zwischen der Natur des Organismus und der natürlichen und sozialen Außenwelt würde in einem Interaktionsprozeß zwischen erkennendem Subjekt und der Außenwelt geschlagen werden. Der Bildungsprozeß stünde unter der Bedingung, daß Erfahrungen an 15 einer realen Außenwelt verarbeitet werden, weil die Fähigkeit des Umgangs mit dieser Realität erworben werden muß. Diese zwei in aller Kürze skizzierten Antwortmöglichkeiten lassen sich, wie unschwer zu erkennen gewesen sein wird, dem radikalen Konstruktivismus auf der einen und den Theorien auf der Basis von Subjekt-Objekt-Relationen auf der anderen Seite zuordnen. An dieser Stelle ist ein Einschub zur Terminologie erforderlich: Unter der Bezeichnung „Radikaler Konstruktivismus“ firmiert die erkenntnistheoretische Tradition.1 Da im folgenden auch die systemtheoretische Variante des radikalen Konstruktivismus zur Sprache kommt, werde ich die Großschreibung („Radikal“) nur für die Erkenntnistheorie und die Kleinschreibung („radikal“) für die erkenntnis- und systemtheoretischen Varianten des radikalen Konstruktivismus verwenden. Ich bin mir bewußt, daß diese Begriffswahl zum Teil unbefriedigend bleibt, aber es wird im stark anwachsenden Feld verschiedener Konstruktivismen immer schwieriger, zu einer sachlich differenzierten und angemessenen Terminologie zu kommen. So hat Niklas Luhmann (1991, S. 68; 1996, S. 17f.) zur Bezeichnung seiner Position den Begriff des „operativen Konstruktivismus“ vorgeschlagen. Damit soll deutlich werden, daß es nicht um eine unbestimmt bleibende „Radikalität“, sondern um den Wechsel der Referenz des Konstruktivismus von einem Subjekt auf ein operativ geschlossenes System geht. Denkbar wäre auch, von einem systemtheoretischen Konstruktivismus zu sprechen. Meine Begriffswahl gründet sich zum einen auf den prominenten Beitrag Maturanas zur autopoietischen Wende der Systemtheorie Luhmanns, der trotz aller Differenzen zwischen Maturana und Luhmann Bestand hat, und zum anderen auf die im folgenden beabsichtigte allgemeine Diskussion von genetischem Strukturalismus und radikalem Konstruktivismus, die im Falle mehrerer Bezeichnungen radikal-konstruktivistischer Positionen teilweise zu sehr unhandlichen Formulierungen gezwungen wäre. Die in den letzten Jahren in aller Breite geführte Diskussion zwischen Theorien auf der Grundlage von Subjekt-Objekt-Relationen einerseits und dem radikalen Konstruktivismus andererseits sind für eine entwicklungs- und sozialisationstheoretische Theorieanlage von paradigmatischer Bedeutung, denn die Entscheidung, ob man von systeminternen Konstruktionen oder von Subjekt-ObjektBeziehungen ausgeht, fungiert als Leitunterscheidung für die Bearbeitung aller weiteren Fragen. Vor diesem Hintergrund erwächst das Erkenntnisinteresse der folgenden Studien aus zwei Problemstellungen: Erstens ist festzuhalten, daß die erwähnte Leitunterscheidung in den Entwicklungs- und Sozialisationstheorien 1 16 Zum sogenannten „Radikalen Konstruktivismus“ vgl. u.a. Maturana/Varela 1987; Riegas/Vetter 1990; Schmidt 1987, 1992; von Glasersfeld 1987; Watzlawick 1985. Um diese Diskussion, die bis Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts lebhaft geführt wurde, ist es seit einigen Jahren still geworden. trotz ihres paradigmatischen Stellenwertes noch wenig ausgelotet und im Hinblick auf die Probleme und Chancen der unterschiedlichen Alternativen diskutiert wurde. Ein wichtiger Grund hierfür liegt darin, daß die allermeisten Entwicklungs- und Sozialisationstheorien sozusagen von Hause aus mit SubjektObjekt-Relationen arbeiten. Zweitens muß der Umstand hervorgehoben werden, daß die mit der Leitunterscheidung markierten Alternativen gerade in der frühesten Ontogenese sehr eng beieinander liegen. Mit dem obigen Beispiel sollte illustriert werden, daß die Frage, ob der von Piaget beobachtete Säugling nur intern regulierte Tätigkeiten ausführt oder bereits in einer Beziehung zu einer wie auch immer abgegrenzten Außenwelt steht, in der Tat sehr schwer fällt. Es ist offenbar äußerst schwierig zu bestimmen, wie sich in der frühesten Ontogenese eine Außenwelt herausbildet und welcher Status dieser Außenwelt im Bildungsprozeß zugeschrieben werden kann. Dieses Problem bietet gerade der entwicklungstheoretischen Diskussion der Leitunterscheidung eine sehr wertvolle Chance: Statt die Alternativen von System-Umwelt-Relationen und Subjekt-Objekt-Beziehungen als theoretische Grundsatzentscheidungen einander gegenüberzustellen, kann mit der Frage nachgefaßt werden, wie sich erkennende Organismen in der Ontogenese von der Außenwelt abgrenzen. Weiterführende Einsichten in dieser Frage könnten zu gut begründeten theoriestrategischen Konsequenzen führen. Zwar kann eine konstruktivistische Sichtweise als allgemein akzeptierte Grundlage der Entwicklungs- und Sozialisationstheorie gelten, die schlechterdings nicht mehr hintergehbar ist, aber die Frage, welches Profil ein tragfähiger Konstruktivismus annehmen muß, bleibt nach dem Stand der aktuellen erkenntnistheoretischen Debatte durchaus umstritten. Mit der Beantwortung dieser Frage, die nur durch eine Verklammerung von entwicklungs- und erkenntnistheoretischen Problemstellungen bearbeitet werden kann, wird dann auch erst entscheidbar, mit welchen Erklärungserwartungen man vernünftigerweise noch antreten kann. Doch treten wir zunächst noch einen Schritt zurück, um wenigstens ein grobes Bild der sozialisationstheoretischen Diskussionslage zu zeichnen und von da aus die Verortung der vorliegenden Arbeit in Gang zu setzen. 1.1 Sozialisationstheorie - jenseits der großen Entwürfe Einer allgemeinen Auffassung zufolge sind Entwicklungs- und Sozialisationstheorien mit Prozessen der Veränderung der Persönlichkeit befaßt. Die zeitliche Abfolge unterscheidbarer Zustände der Persönlichkeit steht unter inneren und äußeren Bedingungen. In der Entwicklungs- und Sozialisationsforschung können drei Ebenen unterschieden und zueinander in Beziehung gesetzt werden: Die 17 Makroebene des Gesellschaftssystems, die Mikroebene der Interaktionen zwischen zwei oder mehreren Personen und die Ebene der Subjektorganisation (vgl. Hurrelmann 2002; Steinkamp 1991). Generell wird in den Übersichten betont, daß die Sozialisationstheorie auf allen drei Ebenen bereits wichtige theoretische und empirische Grundlagen geliefert habe, daß dabei aber auch die relevanten Forschungstraditionen (u.a. auf den Linien von Freud, Mead, Piaget, Chomsky, Marx, Durkheim und Parsons) unüberbrückbare Divergenzen aufweisen. In monographischen Überblicken wählen die Autoren als methodischen Umgang mit dieser Situation deshalb eine je persönlich präferierte Zugangsweise mit bestimmten Bezugsproblemen (vgl. z.B. Geulen 1989; Tillmann 1989). Diese Entscheidung ist bis auf weiteres nicht nur verständlich, sondern sogar unausweichlich, solange noch keine allgemeine Sozialisationstheorie vorliegt. Das Ziel einer allgemeinen Sozialisationstheorie scheint insgesamt gesehen weit entfernt, wenn man es denn überhaupt noch als realistisches Desiderat betrachten kann.2 Zwar haben sich mittlerweile einige konsentierte Grundannahmen herausgebildet, so vor allem die Konzeption von Subjekten als aktiven Konstrukteuren der Wirklichkeit (vgl. Hurrelmann 1983) und die Annahme, daß die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft als zentrales Bezugsproblem der Sozialisationstheorie fungiert. Aber diese Grundannahmen sind doch sehr allgemein und lassen große Spielräume für divergente Perspektiven offen. Noch wichtiger ist jedoch, daß - wie in der folgenden Untersuchung deutlich werden wird - in einigen aktuellen konstruktivistischen Sozial- und Erkenntnistheorien die Gültigkeit des soziologischen Bezugsproblems der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft auf gut begründete Einwände trifft und die genauere Bedeutung einer konstruktivistischen Auffassung der Subjekte umstritten bleibt. Die Sozialisationstheorie erkauft sich den intern aufgebauten Konsens mit einer Abschottung gegenüber diesen aktuellen theoretischen Debatten. In aller Deutlichkeit läßt dies z.B. eine aktuelle Einführung von Matthias Grundmann (2006) in die Sozialisationstheorie erkennen, der in einer Fußnote gleich zu Anfang klarstellt: „Ich verzichte hier auf eine Darstellung systemtheoretischer Überlegungen, da diese zur Aufklärung des Sachverhalts (d.h. der Sozialisation, T.S.) wenig beitragen. Sie übersetzen Bekanntes lediglich in ein anderes, hermetisch 2 18 Wie ein Überblick von Dieter Geulen (1991) über die Entwicklung sozialisationstheoretischer Ansätze zeigt, wird die Kontinuität in dieser Teildisziplin durch die ungeminderte Aktualität des Problems gebildet, wie man genetische Theorien der Subjekte mit den Untersuchungen sozialisatorischer Bedingungen so verbindet, daß diese beiden Bereiche nicht doch wieder - und sei es unter der Hand - in eine Schieflage geraten. Ob die weitere Schwierigkeit bewältigt wird, sich mit einer breiten Gegenstandserfassung - wie in biographischen (vgl. ebda., S. 52ff.) und „ökologischen“ (vgl. Dippelhofer-Stiem 1995) Untersuchungen - theoretische und empirische Heterogenität einzuhandeln, die notwendige Spezifizierungen nicht mehr zuläßt, bleibt mit einiger Skepsis abzuwarten. abgeschlossenes Begriffs- und Theoriegebäude. Mehr noch: Dabei wird der Gegenstandsbereich Sozialisation einer primär systemisch operierenden Sozialität geopfert, die rein funktional begründet ist.“ (ebda., S. 25) Zum Glück gibt es andernorts zumindest Anzeichen, daß vielleicht doch noch etwas Bewegung in eine konstruktivistische Sozialisationstheorie kommen könnte, etwa wenn eine skeptische Einschätzung der Systemtheorie mit dem Hinweis versehen wird, daß hier das letzte Wort möglicherweise noch nicht gesprochen ist (vgl. Geulen 2005, S. 76; Hurrelmann 2002, S. 91 und 126). Nur mit einem gewissen Maß an Offenheit kann berücksichtigt werden, daß der Stand und die Perspektiven der Sozialisationstheorie nach wie vor unterschiedlich eingeschätzt werden. So wurde vor einigen Jahren in einem Überblick auf den außergewöhnlichen Erfolg der Sozialisationsforschung hingewiesen, ablesbar insbesondere an Auflagenhöhen und der Anzahl unveränderter Neuauflagen der Werke (vgl. Bertram 2000). Obwohl wir in der Wissenschaft auf Medien als Instrumente der Selbst- und Fremdbeobachtung angewiesen sind, sollten wir mediale Resonanz nicht vorschnell als entscheidenden Erfolgsindikator zugrunde legen. Der in dem genannten Überblick sogleich nachgeschobenen kritischen Skepsis ist deshalb zuzustimmen, die geltend macht, daß die theoretischen Grundlagen der Sozialisationsforschung seit langem im wesentlichen unverändert geblieben sind und diese Kontinuität nicht so sehr den Erfolg, sondern den Stillstand der Sozialisationstheorie zeigt. Für diese Einschätzung spricht, daß auch die Arbeit in den eingewöhnten Bahnen nicht mehr Entwürfe großen Zuschnitts liefert. Das letzte umfassende Projekt einer Verbindung von Entwicklungs-, Sozialisations- und Gesellschaftstheorie betrieb die Forschungsgruppe um Jürgen Habermas. Dabei sollten Prozesse der Entwicklung von Protestpotentialen in der modernen Gesellschaft umfassend rekonstruiert werden. Zwar gingen daraus eine wegweisende Programmatik (vgl. Döbert/Habermas/Nunner-Winkler 1980a; Habermas 1976) und bemerkenswerte Arbeiten zur sozialen Evolution, zur Identitätsbildung in der modernen Gesellschaft und zur Entwicklung der sozialen Handlungsfähigkeit hervor.3 Aber letztlich resultierte daraus nicht der große, in einer Zusammenschau einheitlich präsentierte Entwurf, der - wie etwa Lawrence Kohlbergs Theorie für die Moralforschung - einen nachhaltigen Einfluß auf die weiteren sozialisationstheoretischen Diskussionen und Forschungen gehabt hätte. Dabei hätte sich eine Weiterentwicklung dieses Entwurfs parallel zur fortlaufenden gesellschaftstheoretischen Debatte um die Theorie des kommunikativen Handelns (vgl. z.B. Giegel 1992; Honneth/Joas 1986) angeboten. In Frage steht die kritische Analyse der modernen Gesellschaft unter einem normativen Bezugspunkt, die zugleich 3 vgl. Döbert/Nunner-Winkler 1979, 1986; Eder 1976, 1985; Freitag 1983; Miller 1984, 1986. 19 Möglichkeiten des Aufbaus gelingender Ich-Identitäten aufzeigt. In Frage steht die Orientierung der Gesellschaftstheorie und der empirischen Subjekttheorien am Modell sprachlicher Verständigung. In Frage steht die Verbindung einer vorgeordneten, sozialphilosophisch begründeten Geltungstheorie kommunikativen Handelns mit einer nachgeordneten Empirie der Bildung von Subjektstrukturen (vgl. dazu Sutter 1990). Eine Nachfolge für diesen beispielhaften Projektzusammenhang ist indessen nicht in Sicht. Eine Kernfrage der Sozialisationsforschung ist, wie sie den Kontakt zu aktuellen Gesellschaftstheorien herstellen kann: Es liegt letztlich kein anschlußfähiger Entwurf zum Verhältnis von Sozialisationsprozessen und gesellschaftlicher Ordnung vor. Statt dessen haben sich Sozialisationstheorien auf der einen Seite und Gesellschaftstheorien auf der anderen Seite mehr und mehr auseinander entwickelt. Während Gesellschaftstheorien oftmals ohne jeden Kontakt zur Sozialisationstheorie unterschiedliche Bilder von Subjekten in der modernen Gesellschaft zeichnen (vgl. etwa Schwinn 1995), zieht sich die Sozialisationstheorie in ihre eingewöhnte Subjekt- und Handlungssprache zurück, und zwar mit dem Hinweis, die Gesellschaft müsse eben in einer anderen, einer Systemsprache beschrieben werden (vgl. dazu Sutter 2004a). Unterhalb dieser allgemeinen Problemlage ist jedoch in letzter Zeit ein deutlicher und begrüßenswerter Aufschwung sozialisationstheoretischer Debatten zu beobachten. Dabei werden zentrale, genuin sozialisationstheoretische Probleme diskutiert. Hier findet man eine Reihe von Teilprojekten, die sich mehr oder weniger erfolgreich mit der Verknüpfung unterschiedlicher entwicklungs-, sozialisations- und gesellschaftstheoretischer Perspektiven befassen. Greifen wir einige Beispiele heraus: So wurden Pierre Bourdieus Sozialtheorie und Ulrich Oevermanns soziale Konstitutionstheorie verglichen, Unterschiede und Konvergenzen herausgearbeitet und daraus subjekt- und sozialisationstheoretische Desiderate abgeleitet (vgl. Liebau 1987). Neben der doch recht unscharfen Zuordnung Oevermanns zu einer identitätslogischen und Bourdieus zu einer konstruktivistischen Theorieanlage bleibt fraglich, warum die Synthese gerade dieser beiden Theorien zu einer vollständigen Sozialisationstheorie führen soll: Das spricht nicht überhaupt gegen dieses Teilprojekt, sondern gegen den Anschein eines großen Entwurfs und die damit verbundenen Ansprüche. Eine sehr naheliegende Unternehmung ist die Verbindung von klassischen, fest etablierten, aber kaum kompatiblen Theorien, die jedoch einander ergänzende Aspekte der Subjektbildung abdecken. Hier wäre der Versuch von Hans G. Furth (1983, 1990) zu nennen, der die strukturanalytische Theorie Piagets mit der psychodynamischen Theorie Freuds verknüpft. Auch die Theorien der Entwicklung des Selbst gehen in diese Richtung (vgl. Edelstein/Noam 1982; Kegan 20 1986; Noam 1986). Allerdings werden in den Synthetisierungen konstitutionstheoretische Differenzen tendenziell abgedunkelt.4 Im Sinne erster programmatischer Anregungen sind Versuche zu verstehen, entwicklungspsychologische und soziologische Theorien zu verknüpfen, etwa die Psychologie des Wissenserwerbs mit den sozialwissenschaftlichen Theorien von Berger, Habermas, Bourdieu und Foucault (vgl. Goodnow 1990). Dabei geht es zunächst nur darum, aussichtsreiche Perspektiven der Nachbardisziplin im eigenen Fach bekannt zu machen. Eine Rarität ist der Versuch, die sozialisationstheoretischen Implikationen der Systemtheorie Niklas Luhmanns in einer Theorie der Selbstsozialisation zu verdeutlichen (vgl. Gilgenmann 1986). Leider hat dieser erste Anlauf bislang noch nicht zu einer umfassenderen systemtheoretischen Aufarbeitung empirischer Subjekttheorien geführt. Das Verhältnis von Sozialisation und gesellschaftlichen Strukturen wird in Theorien sozialer Lagen und Lebensstiltheorien untersucht (vgl. Hurrelmann 2002, S. 114ff.; Sutter 2003, 58ff.). Die neuere sozialstrukturelle Sozialisationsforschung versucht, die Beziehungen zwischen gesellschaftlicher Differenzierung, familialer Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung aufzuklären. Dabei stellt sich vor allem die Aufgabe, Modelle hierarchischer sozialer Schichtung zu überwinden (vgl. Steinkamp 1991, S. 275f.): Mit der These zunehmender Individualisierung und der Auflösung industriegesellschaftlicher Lebensformen in der Moderne (vgl. Beck 1986) ist Bewegung in die Sozialstrukturanalyse gekommen (vgl. Geißler 1996, S. 74ff.). Es reicht nicht mehr aus, die soziale Lage der Gesellschaftsmitglieder nach Klasse oder Schichtung zu bestimmen, wenn man die Vereinheitlichung der Lebensbedingungen, die Entschichtung der Lebenswelt, horizontale Differenzierungen der Soziallagen und Pluralisierung von Lebensweisen und Lebensstilen nicht ignorieren will. Die fortschreitende Entkopplung von objektiven Lebensbedingungen und subjektiven Lebensweisen hat zu neuen, feiner zeichnenden Kategorien der Sozialstrukturanalyse geführt: Milieu und Lebensstil (vgl. Hradil 1992). Zentrale Probleme der Sozialisationsforschung bilden aus dieser Sicht Konzeptualisierungen sozialer Lagen und neuer Ungleichheiten sowie der Einflüsse dieser Bedingungen auf die Persönlichkeitsentwicklung (Mehr hierz am Ende dieser Arbeit). Diese kleine Auswahl zeigt, daß zwar die allgemeine Problemstellung der Verbindung von entwicklungs-, sozialisations- und gesellschaftstheoretischen 4 Strukturtheoretisch muß, einem Postulat von Piaget (1995) folgend, von einer Parallelität von Affektivität und Kognition ausgegangen, die Psychodynamik also in das strukturelle Gerüst der Kognition eingepaßt werden. Entsprechende Erwartungen, die man vor allem in die Erforschung vermutlich stufenspezifischer Abwehr- und Bewältigungsmechanismen gesetzt hat (vgl. Haan 1977; Döbert/Nunner-Winkler 1980), haben sich allerdings nicht erfüllt. 21