Vorwort Wir freuen uns, das erste Kursbuch der integrativen Psychotherapie des Kindesund Jugendalters vorlegen zu können. In Zusammenarbeit mit dem Beltz-Verlag ist ein Konzept entstanden, das uns schon länger ein Anliegen ist: 䉴 aktuelle Entwicklungen in einzelnen Psychotherapieformen in vergleichbarer Weise zugänglich zu machen, 䉴 unterschiedlichen Denkrichtungen die Möglichkeit zum Austausch zu geben, 䉴 mit kasuistischer Arbeit eine unmittelbare und praxisbezogene Vergleichbarkeit herzustellen sowie 䉴 die Verwissenschaftlichung der Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters voranzutreiben. Integration bedeutet also nicht: Gleichschalten und einem simplen Eklektizismus das Wort reden, sondern eine Zusammenschau zu organisieren und dadurch den Austausch zwischen den Schulen – auch durch Umsetzung potentieller Dispute – zu ermöglichen. Integration heißt nicht Beschönigung, so zu tun als ob alle im Grunde dasselbe meinen, wenn sie aus inhaltlichen und politischen Gründen Unterschiede hervorheben! Unterschiedliche Therapieschulen setzen Schwerpunkte in ihren Betrachtungsweisen, beispielsweise auf Beziehungsgestaltung oder Verhaltensänderung. Sie schließen sich nicht aus. In der Behandlung des einzelnen Patienten sieht die Anwendung der Theorien so oder so wieder anders aus. Eine lebensbedrohlich erkrankte Patientin mit Anorexia nervosa muss Gewicht zunehmen, um zu überleben, ein nicht therapiemotivierter Jugendlicher mit Borderline-Syndrom muss erst für eine therapeutische Beziehung gewonnen werden. Beziehungsgestaltung, Einsicht in die Biographie, Verhaltensänderungen und das Üben von neuen Möglichkeiten haben im Therapieverlauf zu unterschiedlichen Zeiten ihren bevorzugten Platz. Eine prozessuale Sichtweise ist angezeigt. Sie muss aus dem blanken Eklektizismus herausführen, der immer dann, wenn man mit einer Methode nicht weiterkommt, zum Wechsel auf eine andere motiviert. Im ersten Kursbuch haben wir uns einem aktuellen Thema angenommen: Traumatisierung und Dissoziation. Zeigt sich doch an diesem Thema besonders das Spannungsfeld zwischen Innen und Außen, zwischen Biologie und Psyche, schließlich zwischen behavioristischer und psychodynamischer Sicht. Unser Ziel ist es, ein lebendiges periodisch erscheinendes Forum der Kinder- und Jugendpsychotherapie zu schaffen, um Aspekte der Fortbildung, des Austauschs und ^X Vorwort Resch/Schulte-Markwort (2004). Kursbuch für integrative Kinder- und Jugendpsychotherapie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. der Abgrenzung sowie des konstruktiven Streits kreativ umzusetzen. Wir hoffen sehr, dass wir uns diesem hohen Anspruch mit dem ersten Band nähern konnten. Unser Konzept lebt von der Lebendigkeit des Konzepts und seinen Autoren, aber auch von der Lebendigkeit der Leser. Zögern Sie nicht, Kritik, Kommentare und Verbesserungsvorschläge sowie Themenwünsche für Nachfolgebände – gerne auch Lob – an die Herausgeber heranzutragen. Es wäre zukünftig auch denkbar, eine Kategorie der „Briefe an die Herausgeber“ einzuführen. Wir danken Dr. Heike Berger vom Verlag für die konstruktive und effektive Zusammenarbeit – unseren Partnern und Familien für die wie immer geduldige Begleitung und Ihnen, den Lesern, im Voraus für aktives Lesen. Heidelberg/Hamburg im September 2004 Franz Resch & Michael Schulte-Markwort Vorwort Resch/Schulte-Markwort (2004). Kursbuch für integrative Kinder- und Jugendpsychotherapie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. XI Grundlagen 1 Einführung zu den Reviews Franz Resch • Michael Schulte-Markwort Warum beginnt die Auseinandersetzung mit seelischen Verletzungen und ihren Folgen auf der neurobiologischen Ebene? Ist das die einzige Ebene, auf die sich unterschiedliche Schulen verständigen können – dass der Mensch in die Psychotherapie mit einem Gehirn kommt? Was kann ein Psychotherapeut aus Tierversuchen lernen? Neurobiologische Erkenntnisse können uns faszinierende Einblicke in die Prozesse ermöglichen, die durch psychische Traumatisierung angestoßen werden. Die Gedächtnisforschung hat uns gezeigt, dass die Annahme unbewusster Vorgänge im Seelenleben nicht mystische Spekulation, sondern tatsachengerechte Modellbildung ist. Biopsychosoziale Sichtweisen vom Menschen heben Wechselwirkungen von angeborenen Erlebnisbereitschaften und Umweltreizen, ebenso wie erlebnisbedingte Einflüsse auf neuronale Sprossungen, Vernetzungen und Rezeptorexprimierungen hervor. Neuronale Plastizität und Lebensgeschichte gehen eine innige Wechselbeziehung ein, unser Gehirn bildet strukturell unsere Erfahrungslandschaft ab und schafft die Voraussetzungen für die Intensität und Breite neuen Erlebens. Vor diesem Hintergrund findet Psychotherapie statt. Psychotherapie schafft Freiräume und Spielräume des Erkennens, Interpretierens und Handelns. Sie hat auf diesem Wege auch eine Rückwirkung auf cerebrale Prozesse. Ein Verständnis solch grundlegender Prozesse in unterschiedlichen Hirnstrukturen kann unser Verständnis für manche psychische Störungen revolutionieren. Der Makel der „Hysterie“ als eingebildeter Krankheit wird beispielsweise durch ein vertieftes Wissen um dissoziative Vorgänge der Bewusstseinsbildung zugunsten einer Erkenntnis neurobiologisch getriggerter Symptome aufgehoben werden. In Zukunft werden Psychotherapeuten und Neurobiologen noch enger zusammenarbeiten und sich wechselseitig bereichern können. Voraussetzung dafür ist ein wechselseitiges Verständnis und eine gemeinsame sprachliche Basis. Integrative Psychotherapie heißt nicht nur Sprachbarrieren zwischen Therapieschulen zu überwinden, sondern auch und insbesondere Ängste und Vorurteile gegenüber neurobiologischen Wissenschaften abzubauen. 1 Einführung zu den Reviews Resch/Schulte-Markwort (2004). Kursbuch für integrative Kinder- und Jugendpsychotherapie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 3 4 Einführung Franz Resch • Michael Schulte-Markwort 4 Einführung Resch/Schulte-Markwort (2004). Kursbuch für integrative Kinder- und Jugendpsychotherapie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. Therapieschulen Die folgenden Übersichtsarbeiten zu aktuellen Entwicklungen sind von namhaften Vertretern der einzelnen psychotherapeutischen Schulen verfasst und sollen wechselseitige Einblicke in die gegenwärtigen Forschungs-, Therapie- und Ausbildungslandschaften ermöglichen. Die verhaltenstherapeutischen Schulen sind in den empirischen Wirkungsnachweisen ihrer Interventionen schon relativ weit gediehen. Der Schwerpunkt ihrer Forschungsbemühungen richtet sich auf Aspekte der Therapieprozessforschung. Ziel ist es, evidenzbasierte Therapiemodule für unterschiedliche psychische Störungen anbieten zu können. Die tiefenpsychologischen Therapierichtungen stehen in der empirischen Evidenzbasierung ihrer Interventionen noch an einem relativen Beginn, wenngleich an den Nachweis ihrer grundsätzlichen Wirksamkeit berechtigte Hoffnungen geknüpft werden. Während an der Symptombesserung, an Veränderungen von Selbstwert oder sozialen Fertigkeiten ein Wirksamkeitsnachweis prinzipiell für alle therapeutischen Interventionen und Denkrichtungen erbracht werden kann, ist die Erfassung von Therapieprozessen bei unterschiedlichen Therapieschulen ein weitaus komplizierteres Unternehmen. Dort wo durch Einsicht, biographische Klärung oder beziehungsorientierte emotionale Veränderungen von mentalen Modellen günstige Effekte erwartet werden, wird die Messung eines Zusammenhanges mit Selbstaspekten und Symptomlinderung im Therapieverlauf komplexer, als bei Verfahren mit modularem Aufbau, die mehr psychoedukativ orientiert sind. Systemische Modellbildungen können praktischen Wert in der Arbeit mit Familien besitzen und unterschiedliche, theoretische Zugänge integrieren. Diese klinische Erfahrungstatsache müsste auch in kontrollierten Studien empirische Nachweise praktischer Nützlichkeit erbringen lassen. Der Nachweis von Wirksamkeit sollte nicht unter Bedingungen erhoffter wechselseitiger Eliminierung therapeutischer Denkrichtungen erfolgen. Die Plattform einer integrativen Psychotherapie kann und will niemandem die richterliche Funktion übertragen. Die ideengeschichtlichen Grundlagen, die Menschenbilder und die unterschiedlichen Interessen von Patienten, Krankenkassen und Therapeuten werden gemeinsam mit zunehmender empirischer Evidenz zu praktischen Handlungsentscheidungen Anlass geben! Schnelligkeit der Symptomreduktion, Nachhaltigkeit der Besserung, Auswirkungen der Therapie auf die Persönlichkeitsentwicklung und die Wahrung sozialer Chancen müssen dabei eine diffe- 43 Therapieschulen renzierte Gewichtung und Wertung erfahren. Psychotherapie wird sich dabei auch gegenüber medikamentösen Therapieangeboten – gerade in Zeiten ökonomischer Verknappung – behaupten müssen. Eine hoch zivilisierte Gesellschaft wird sich daran messen lassen, wie wichtig sie eine nachhaltig positive Entwicklung der kommenden Generation – auch unter psychischen Krisenbedingungen – nehmen will. Und erst dort sollte eine an der Ökonomie orientierte Diskussion beginnen. ^ 44 4 Einführung Resch/Schulte-Markwort (2004). Kursbuch für integrative Kinder- und Jugendpsychotherapie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 8 Editorial: Die Bedeutung des Traumas für psychische Störungen Franz Resch • Michael Schulte-Markwort 8 Editorial: Die Bedeutung des Traumas für psychische Störungen Resch/Schulte-Markwort (2004). Kursbuch für integrative Kinder- und Jugendpsychotherapie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. Trauma und psychische Störung Erlebnisbedingte Traumatisierungen üben nachhaltige Einflüsse auf die Selbstregulation und Persönlichkeitsentwicklung des Kindes aus – daran besteht grundsätzlich kein Zweifel. Die Bedeutung des Traumas für die Entstehung psychischer Störungen wird je nach Blickwinkel unterschiedlich hervorgehoben: 䉴 Betrachtet man die Auswirkung kritischer Lebensereignisse auf psychische Gesundheit oder psychische Krankheit im Allgemeinen, dann kann nicht mehr als 10 % der Varianz von Indikatoren der psychischen Gesundheit durch eine Kumulation kritischer Lebensereignisse erklärt werden (s. Kap. 10). 䉴 Demgegenüber zeigen die Konzepte der posttraumatischen Belastungsstörung sowie der akuten Belastungsreaktion, dass ein empirischer Zusammenhang zwischen überfordernden Erlebnissen und psychischen Störungen nicht zu leugnen ist. Die Diskussion der Bedeutung des Traumas für den Entwicklungsprozess beginnt mit der Definition traumatischer Einflüsse. Zu weit gefasste Definitionen erklären das gesamte Erlebnisrepertoire des Menschen zum potentiellen Trauma, zu eng gefasste Definitionen lassen mögliche Einflüsse erlebnisbedingter Stressoren unberücksichtigt. Wenn man unter einem psychischen Trauma ein Ereignis versteht, das psychische und biologische Bewältigungsmechanismen des Menschen überfordert, dann wird dadurch eine vorsichtige Vorgangsweise angedeutet (s. Kap. 9). Das Trauma ist kein objektiv schädigendes, immer pathologisch wirksames Ereignis, sondern Ausgangspunkt einer Erfahrung, die aufgrund der persönlichen Interpretation des Opfers und seiner dispositionellen Voraussetzungen mehr oder weniger überwältigend sein kann. Ihle et al. heben hervor, dass es Sinn macht, Vulnerabilitäts-Stress-Modelle für die Entwicklung psychischer Störungen zu beachten. Die persönliche Betroffenheit und Verarbeitungskapazität des Individuums werden dadurch in den Vordergrund gestellt. Traumatische Einflüsse rufen im Emotionssystem eine „affektive Alarmreaktion“ hervor, die nicht nur zu einer vermehrten Sympathikusaktivität und zu einer Aktivierung des neuroendokrinen Stressregulationssystems Anlass gibt, sondern sich so weit steigern kann, dass eine dissoziative Reaktion erfolgt. Als Dissoziation wird jener komplexe psychophysiologische Prozess 89 Trauma und psychische Störung bezeichnet, bei dem es zur teilweisen oder völligen Desintegration psychischer Funktionen kommt, wobei die Verfügbarkeit von Empfindungen, Sinneswahrnehmungen und Gedächtnisinhalten für die bewusste (Selbst-)Reflexion verändert wird. Eine solche Dissoziationsreaktion führt zur inneren Distanzierung, die es erlaubt, unerträgliche Ereignisse und Gefahrenmomente für den Moment auszuschalten oder vermeintlich ungeschehen zu machen. Dissoziative Mechanismen haben Einflüsse auf die Gedächtnisleistung insgesamt sowie auf die Selbstregulation in weiterer Folge. Traumatisierungen haben nachweisbare negative Auswirkungen auf das Selbstkonzept (Resch et al., 1998). Zukünftige Forschungsansätze werden die Bedeutung des Traumas für die Entwicklung von Vulnerabilität zu belegen haben. Unter den Aspekten der neuronalen Plastizität und der biographischen Enkodierung kann postuliert werden, dass eine Diathese als konstitutionelle Disposition oder aktuelle Prädisposition zu psychischen Störungen nicht primär als angeboren zu interpretieren ist, sondern sich aufgrund einer Wechselwirkung von angeborenen Diathesen und ungünstigen Lebenserfahrungen herausbilden kann. Auch wenn gegenüber retrospektiven Studien Skepsis angemeldet wird (da anzunehmen ist, dass die eingetretene Krankheit nachträglich die Bewertung vorausgehender Ereignisse beeinflussen kann), so darf doch nicht übersehen werden, dass in der psychischen Konstruktion des Selbst- und Weltbildes auch rückwirkende Interpretationen bedeutsam sind, weil sie als mentale Modelle die zukünftige Erlebnisbereitschaft mitbestimmen. In diesem Zusammenhang sei nochmals hervorgehoben, dass solche mentalen Modelle nicht nur in expliziter Form existieren – d. h. sich auch der Selbstreflexion und dem Narrativ eines persönlichen Dialogs erschließen –, sondern dass mentale Modelle auch implizite Anteile im Sinne von emotionalen Lernprozessen besitzen, die lediglich als übersteigerte Reaktionsbereitschaft imponieren und sich der persönlichen Sinn-Suche im ersten Schritt nicht eröffnen. Solchen impliziten Erlebnisbereitschaften muss in Zukunft mehr Augenmerk gewidmet werden. Die beiden vorliegenden Übersichten geben einen breit gefächerten Überblick zum Stand der Traumaforschung in den verschiedenen therapeutischen Denkrichtungen. Der Dialog unterschiedlicher Forschungsansätze unter dem Dach einer entwicklungspsychopathologischen Theoriebildung ist wünschenswert und angezeigt (Herpertz-Dahlmann et al., 2003). ^ 90 8 Editorial: Die Bedeutung des Traumas für psychische Störungen Resch/Schulte-Markwort (2004). Kursbuch für integrative Kinder- und Jugendpsychotherapie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. Literatur Resch, F., Brunner, R. & Parzer, P. (1998). Markwort, M. & Warnke, A. (2003). Entwicklungspsychiatrie. In B. Herpertz-Dahlmann, F. Resch, M. Schulte-Markwort & A. Warnke (Hrsg.), Entwicklungspsychiatrie – Biopsychologische Grundlagen und die Entwicklung psychischer Störungen. Stuttgart: Schattauer. Dissoziative Mechanismen und Persönlichkeitsentwicklung. In J. Klosterkötter (Hrsg.), Frühdiagnostik und Frühbehandlung (S. 125-141). Berlin: Springer. Trauma und psychische Störung Herpertz-Dahlmann, B., Resch, F., Schulte- Literatur Resch/Schulte-Markwort (2004). Kursbuch für integrative Kinder- und Jugendpsychotherapie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 91