Institut Dialog Ethik Stellvertreterentscheidungen mit und ohne Patientenverfügungen: Chancen und Herausforderungen Ethikforentreffen 8.11.2012 Daniela Ritzenthaler www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Beispiel: Frau Keller • Frau Keller ist 86 Jahre alt. • Verwitwet, 3 erwachsene Kinder, 4 Grosskinder • Bis vor 3 Jahren: gute Gesundheit • Dann: Diagnose Alzheimer • Schneller Verlauf, Angehörige pflegen sie zu Hause • Vor 1 Jahr: Eintritt ins Pflegeheim www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Beispiel: Frau Keller (2) Aktuelle Situation: • Frau Keller ist bettlägrig • Schlechter Allgemeinzustand • Kennt seit einigen Monaten die Angehörigen nicht mehr • Sie kommuniziert nicht mehr verbal • Nun kann sie sich nicht mehr selbst ernähren, der Schluckreflex funktioniert nicht mehr. www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Beispiel: Frau Keller (3) Stellvertreterentscheidung: Soll Frau Keller künstlich ernährt werden? Dilemma: • Darf man das Leben verkürzen? • Wenn eine künstliche Ernährung durchgeführt wird, wird dann nicht ihr Leiden verlängert? www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Dimensionen von Stellvertreterentscheidungen Ethische Aspekte Psychologische Aspekte Rechtliche Aspekte Stellvertretende Entscheidung Organisationale Aspekte Soziologische Aspekte Medizinische Aspekte www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Rechtliche Aspekte Entscheidungsfindung bei urteilsunfähigen PatientInnen (Erwachsenenschutzrecht): 1. Die Patientenverfügung 2. Andere Hinweise auf den mutmasslichen Willen (z.B. mündliche Äusserungen) 3. Vertretungsberechtigte Personen www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Zwei Szenarien A) Frau Keller hat keine Verfügung verfasst B) Frau Keller hat eine Patientenverfügung verfasst B1) Patientenvollmacht B2) Kurze, allgemeine PV B3) Ausführliche PV www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Szenario A: • Frau Keller hat keine Patientenverfügung verfasst. • Sie hatte immer eine positive Lebenseinstellung und dachte „es wird schon gut kommen.“ • Sie hat nie ihren Willen zu medizinischen Massnahmen geäussert. • Als sie die Diagnose erhalten hat, vertraute sie ihren Kindern und den Spitex-Pflegenden www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Rechtliche Aspekte Wer darf in Therapien einwilligen bei urteilsunfähigen Patienten: 1. In der Patientenverfügung (oder im Vorsorgeauftrag) ernannte Vertretungsberechtigte Person 2. Nahe Angehörige nach Art. 378 ZGB www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Eine Kaskade von vertretungsberechtigten Personen (Art. 378 ZGB): 1. Die in einer PV oder Vorsorgeauftrag bezeichnete Person 2. Beistand mit Vertretungsrecht in med. Massnahmen 3. Ehegatte oder eingetragene Partnerin/eingetragener Partner 4. Person, die mit dem urteilsunfähigen Patienten einen gemeinsamen Haushalt führt 5. Nachkommen 6. Eltern 7. Geschwister www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Beispiel: Frau Keller (5), Szenario A • Der mutmassliche Wille von Frau Keller ist nicht bekannt. • Die vertretungsberechtigten Personen entscheiden (in ihrem Fall die Kinder). www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Frau Keller: Szenario A • Die Heimärztin bittet die beiden Töchter und den Sohn von Frau Keller zum Rundtischgespräch • Das Gespräch verläuft schwierig: – Alle Beteiligten leiden emotional unter der zu treffenden Entscheidung – Die 3 erwachsenen Kinder sind sich nicht einig www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Szenario A: Die Entscheidung • Der Sohn möchte auf die künstliche Ernährung verzichten, er findet, seine bisher immer lebensfrohe Mutter wirke leidend. Er möchte, dass sie friedlich sterben darf. • Die ältere Schwester hat ein enges Verhältnis zur Mutter, sie möchte, dass eine künstliche Ernährung durchgeführt wird. • Die jüngere Schwester ist hin- und hergerissen. www.dialog-ethik.ch Der Konflikt im System Sohn Heimärztin Frau Keller Jüngere Tochter Ältere Tochter Institut Dialog Ethik Szenario A): Lösung des Konfliktes • Ethisches Entscheidungsfindungsgespräch um zu einem Konsens zu gelangen • Misslingt dies à Möglichkeit an die Erwachsenenschutzbehörde zu gelangen • Diese trifft die Entscheidung www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Szenario B1) Frau Keller hat eine Patientenvollmacht erstellt • Die von ihr ernannte Person gibt die Einwilligung in die künstliche Ernährung, oder lehnt diese ab. www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Szenario B2) Frau Keller hat eine allgemeine Patientenverfügung erstellt Beispiel: „Für den Fall, dass ich urteilsunfähig werde, möchte ich, dass vorerst alle medizinisch indizierten Massnahmen zwecks Wiedererlangung der Urteilsfähigkeit und Wiederherstellung meines Vorzustandes getroffen werden. Erweist es sich jedoch nach sorgfältigem ärztlichem Ermessen als unmöglich oder unwahrscheinlich, dass ich meine Urteilsfähigkeit wieder erlange, so verlange ich den Verzicht auf alle Massnahmen, die nur eine Lebens- und Leidensverlängerung zur Folge haben.“ (FMH Patientenverfügung Kurzversion) www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Szenario B2) Frau Keller hat eine allgemeine Patientenverfügung erstellt • Die künstliche Ernährung ist nicht erwähnt. • Was bedeutet „Leidensverlängerung“ für Frau Keller? • Wen hat sie als Vertrauensperson eingesetzt? www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Szenario B2) Frau Keller hat eine allgemeine Patientenverfügung erstellt Vorteile: • Wenn sie eines der beiden Kinder eingesetzt hätte, wäre die Ansprechsperson klar • Kurze Verfügungen entsprechen dem Wunsch vieler Menschen (gemäss Harringer/Hoby 2009) Nachteile: • Starke Interpretation des Willens • Keine Handlungsanweisungen in dieser Situation www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Szenario B3) Frau Keller hat eine ausführliche Patientenverfügung erstellt • Die Entscheidung, ob bei schwerer Demenz eine künstliche Ernährung gewünscht ist oder nicht, ist enthalten. www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Beispiel einer Entscheidung www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Szenario B3) Ausführliche Patientenverfügung • Vorteile: – Selbstbestimmung stärker wahrnehmen (klare Handlungsanweisungen an das Behandlungsteam) – Situationsbezogenheit (für Behandelnde hilfreich) – Umsetzbarkeit des Willens eher gegeben – Entscheidungsfindung ist sehr viel einfacher – Entlastung für vertretungsberechtigte Personen und Behandlungsteam www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Szenario B3) Ausführliche Patientenverfügung • Nachteile: – Überforderung (intellektuell, emotional)? – „Nur für (sehr) gut ausgebildete Personen geeignet“ – Situationen der Krankheit in gesundem Zustand vorwegnehmen? Allgemeine Formulierungen sind für Gesunde einfacher (z.B. Wertaussagen) www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Knackpunkte Stellvertreterentscheide Rechtliche Aspekte Psychologische Aspekte Organisationale Aspekte Ethische Aspekte •Komplexität bei Entscheidungen (KESB) •Geschwindigkeit der Entscheidungen (KESB) Vertretungsberechtigte Personen • Überforderung • Schuldgefühle • Erschwerte Trauer Umgang mit Patientenverfügungen •Erfragen von PV •„Administration“: wer fragt, wo wird sie abgelegt, wie/wann wird der Patient darauf wieder angesprochen (z.B. nach Austritt, Wiedereintritt) •Beratung zu PV Stellvertreterentscheidungen •Ethische Entscheidungsfindungsverfahren Wertekonflikt - Selbstbestimmung Patient, vs. Behandlungsteams •Hohe Kommunikationsfähigkeiten Systeme •Konfliktsituationen zw. Angehörigen •Behandlungsteam und Angehörigen www.dialog-ethik.ch - Interessen vertretungsberechtigte Personen Vulnerable Personen - Wie gehen wir als Gesellschaft mit den Schwächsten um? - Können wir in einer marktgesteuerten Medizin und einer Langzeitbetreuung, die u.U. Erspartes kostet, garantieren, dass urteilsunfähige Patienten weder unternoch übertherapiert werden? Institut Dialog Ethik Psychologische Aspekte • Nur 2/3 entscheiden im Sinne der Patienten*) à „Treffsicherheit“ fragwürdig • Die meisten Menschen möchten, dass entweder die Vertrauenspersonen (allein) oder gemeinsam mit dem Arzt entscheiden à Vertrauen ist zentral • Was ist eine gute Entscheidung? *) Bibliographie: Shalowitz et al. (2006): The Accuracy of Surrogate Decision Makers. A systematic review. In: Ach intern Med, 166, 493-497. www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Was ist eine gute Stellvertreterentscheidung? • Eine, die im Sinne des Patienten getroffen wurde (Selbstbestimmung wahrend)? • Eine, die die „best interests“ des Patienten wahrt? • Eine, welche bei den „übrigbleibenden“ Angehörigen und Behandlungsteam ein gutes Gefühl hinterlassen? www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Was ist eine gute Stellvertreterentscheidung? • Selbstbestimmung klar in Recht und ethischen Richtlinien festgehalten • Sind die Angehörigen sich dessen bewusst? à Kommunikationsfähigkeiten im Umgang mit Stellvertretern à Es braucht Charakterstärke, sich gegen Stellvertreter für den Willen des Patienten einzusetzen (wenn nötig bei der Erwachsenenschutzbehörde) àKann bedeuten, dass ein ungutes Gefühl bleibt nach der Entscheidung bei den Angehörigen… www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Institutionelle Aspekte • Konzepte zum Umgang mit urteilsunfähigen Patientinnen & Patienten (Patientenverfügungen): • Werden die Patientinnen beim Eintritt gefragt, ob eine Patientenverfügung vorhanden ist? • Gibt es ein Beratungsangebot beim Erstellen von Patientenverfügungen? An wen wird die Patientin allenfalls weitergeleitet zur Beratung falls die Ressourcen knapp sind? • Sind ethische Gespräche mit vertretungsberechtigten Personen eingeplant (und stehen Ressourcen dafür bereit), falls Stellvertreterentscheidungen mit und ohne Patientenverfügung notwendig sein werden? • Gibt es eine Möglichkeit zum Gespräch für Angehörige nach einem Todesfall mit „Stellvertretungsentscheidung“? www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Zum Schluss… … Entscheidungen am Lebensende zu treffen ist immer belastend und schwierig. • Eine Patientenverfügung erleichtert diese Entscheide • Wenn sich jemand entscheidet, keine Verfügung zu erstellen, ist dies legitim. • Für BürgerInnen: Sich über die Möglichkeiten informieren, sich Gedanken machen und mit nahestehenden Menschen darüber reden kann ein erster Schritt sein • Für Fachpersonen: Engagement für einen bewussten Umgang & gute Entscheidungsstrukturen in der Organisation www.dialog-ethik.ch Institut Dialog Ethik Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! www.dialog-ethik.ch Kontakt www.dialog-ethik.ch Tel. 044 252 42 01 [email protected]