6. VORLESUNG / 15.3.2000 / Katschnig - poekl

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6. VORLESUNG / 15.3.2000 / Katschnig
* Psychiatrische Krankheiten (z.B. neurotische Depression) gibt es eigentlich nicht
wirklich, sind nur Konstrukte. Es gibt aber sehr wohl die Symptome.
Mehrere Symptome -> Syndrom (z.B. depressives Syndrom)
* Diverse psychiatrische Krankheiten werden immer wieder neu definiert.
GESCHICHTE DER PSYCHIATRIE:
1) Psychische Kranke vor Französischer Revolution -> Gefängnis / umgebracht
(-> psychische Krankheit gesehen als Verbrechen / Besessenheit)
2) ab ca. 1790 Wende:
a) Erkenntnis: psychisch Kranke haben eine KRANKHEIT
(=> Patienten sind nicht schuld daran;
verhalten sich unabsichtlich anders als andere).
Vgl. PINEL: Befreiung der psychisch Kranken von ihren Ketten
(Neu: psychisch Kranke gemeinsam an einem Ort
-> Fazit: durch Vergleichsmöglichkeit diverser Krankheiten miteinander
neue Erkenntnisse)
b) psychiatrische Großkrankenhäuser / Kuranstalten im Grünen, weit weg von den
Städten;
z. B. The Retreat in Großbritannien (Anstalt der Quäker) -> vgl. Name: spiegelt negative
Einstellung zum Leben in den Großstädten.
Direktor fungiert als Art Herbergsvater; es gibt Ergotherapie, Musiktherapie, usw.
ABER: große Entfernung von den Städten
Fazit:
* humanistischer Ansatz: man muß gut sein zu den Patienten
* wissenschaftlicher Ansatz: „das ist eine Schizophrenie“ -> gleichzeitig
wieder Distanzierung von den Patienten.
Patient wird mit seiner Krankheit
identifiziert.
Klassifizieren -> Distanzieren!
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Einschub: Vergleich diverser Diagnoseschemata:
Diagnoseschema
Handhabbarkeit
Vollständigkeit
1) narrativer Text
2) mehrdimensionale Beurteilung
3) multiaxiale Diagnostik
4) kategoriale (uniaxiale) Diagnostik
sehr schlecht
schlecht/gut
gut/schlecht
sehr gut
sehr gut
gut/schlecht
schlecht/gut
sehr schlecht
ad 1) z.B. Krankengeschichte, die sich wie ein Roman liest.
ad 4) z. B. ganze Krankheit in einem Wort komprimiert
Besser: Kombination -> mehrdimensionale Beurteilung mit verschiedenen
Erhebungsinstrumenten (Leistungs-, Persönlichkeitstests, Befunde,
Lebensgeschichte, usw.)
ad 3) Multiaxiale Diagnostik:
Patient wird nicht nur mit Krankheitsbild beurteilt, sondern mit einigen weiteren
Aspekten.
BEISPIEL: ICD-10 = triaxiale Diagnostik:
* Achse 1: Diagnose
* Achse 2: Behinderung des Patienten im Alltag
* Achse 3: Lebensumstände des Patienten
Merke:
Im komplexen Organisationen / bei multiprofessioneller Teamarbeit ist
multiaxiale Diagnostik sehr wichtig!
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c) KRAEPELIN: um 1900 Beschreibung
* der Schizophrenie1 als Dementia praecox und
* der Zyklothymie2 (MDK = manisch-depressive Krankheit / heute: bipolare affektive
Störung)
1899 Lehrbuch der Psychiatrie:
* beschreibt Symptome der psychischen Erkrankungen
* beschreibt Verlauf der psychischen Erkrankungen
=> psychische Erkrankungen als psychopathologische Zustandsverlaufsgebilde
=> psychische Krankheit wie z.B. Zuckerkrankheit gesehen
Fazit: Kraepelin wendet medizinisches Krankheitsmodell auf psychische
Erkrankungen an.
1
Begriff „Schizophrenie“ von Eugen BLEULER
2
Unterschiede zwischen Dementia praecox und Zyklothymie nach Kraepelin:
* Dementia praecox: Patient wird nicht mehr gesund / Beginn mit 15-35 Jahren
* Zyklothymie: Patient wird wieder gesund / Beginn ab 35 Jahren
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FREUD: führt gleichzeitig mit Kraepelin (1895) Begriffe „Angst- und Zwangsneurose“ in
Psychiatrie ein; Angstneurose getrennt von Neurasthenie
Kraepelin und Freud = Beginn der psychiatrischen Krankheitslehre
* Kraepelin: betreibt sogenannte „große Psychiatrie“
-> Schizophrenie (ABER: Lebenszeitprävalenz = 1%).
Ist großer Beobachter -> beobachtet, weil er mit seinen Patienten nicht
sprechen konnte (Leiter einer Anstalt in Dorpat/Estland)
* Freud:
betreibt sogenannte „kleine Psychiatrie“
-> Sozialphobie (ABER: Lebenszeitprävalenz = 13%).
Ist großer Horcher -> redet mit seinen Patienten / Begründer der
Psychoanalyse
zur Bezeichnung von Krankheiten:
* -itis: = Entzündung
* -ose: = nicht entzündliche Erkrankung
Fazit: Neurose = nicht entzündliche Erkrankung der Nerven
IST ABER
Psychose = nicht entzündliche Erkrankung der Seele
FALSCH
oder: Neurose: enthält bestimmte Psychogenität (Entwicklung, etc.)
Psychose: meist Hirnerkrankung
DETTO
=> Merke:
Psychose:
Bezug zur Realität ist verloren
Neurose:
Bezug zur Realität ist vorhanden
ABER: Realität nur in sehr groben Zügen zu verstehen
* Wahrnehmungsstörungen / Halluzinationen
typisch für
* Wahn (= falsches Konzept über die Welt)
Psychose
z.B. Verfolgungs-, Eifersuchts-,Liebeswahn
BEISPIEL: Angst:
a) Spinnenphobie -> Phobiker WEIß, daß Angst unbegründet ist, daß
andere sich nicht fürchten => neurotisch3
b) Spinnen sind von Außerirdischen geschickt -> Patient WEIß NICHT,
daß Angst unbegründet ist; = Realitätsverlust => psychotisch
neurotische Realitätsverkennung: Realität aus Vergangenheit wird auf aktuelle
Situation übertragen. Folge = „falsche“ Reaktion.
Psychopathie:
3
= antisoziale Persönlichkeitsstörung (schwindeln, stehlen, leben auf
Kosten anderer)
=> Neurotiker hingegen lebt zu sehr auf eigene Kosten!
ABER: Psychotiker leidet auch an neurotischen Symptomen
ähnlich Sozialphobie (Unterart = Redeangst)
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Fazit: * Psychose und Neurose sind keine Dichothomie (diese nur mehr historisch
wichtig);
* Borderline = heute überholt
In Österreich gilt heute noch laut Vorschrift der Krankenkassa ICD-9 (ca. 15 Jahre alt):
enthält noch immer Freud’sche Definitionen.
Weltweit gilt sonst ICD-10 (dort: Angstneurose heute bereits obsolet).
Grund: Bei uns Computerproblem, weil Computer laut ICD-9 eingerichtet wurden...
1911 Eugen BLEULER: statt dementia praecox -> Schizophrenie (= „gespaltener Geist“
=> total falsche Bezeichnung!!!)
=> ABER: neues Konzept
Kraepelin:
Bleuler:
Verlauf ist maßgeblich
Symptome sind maßgeblich
Patient wird nie wieder gesund
1/3 der Patienten wird wieder gesund
SCHNEIDER: * Schizophrenes Stimmenhören = Rede und Gegenrede über einen selbst
* Stimmenhören bei Alkoholmißbrauch = monologische Stimme
Alle Menschen haben Lebensprobleme -> ein Teil davon hat Schizophrenie:
Grenzen zwischen Normalem und psychischer Krankheit = oft fließend
(Schizophrenie wird oft nicht als solche erkannt, da Beginn mit 15-25 Jahren
-> Zeit, in der VIELE Lebensprobleme haben
HEUTE:
Enpowerment im Vordergrund -> Befähigung des Patienten mit seiner
Krankheit so gut wie möglich umzugehen und sein Leben zu bewältigen.
TRIADISCHES SYSTEM und PSYCHIATRISCHE NOSOLOGIE:
1. körperlich begründbare psychische Störungen (am einfachsten!):
a) primäre Hirnkrankheiten: z.B. Zeckenenzephalitis -> kann psychotische Symptome
bewirken; Hirntumor, Hirnatrophie (z.B. bei Alzheimer)
b) hirnbeteiligte Körperkrankheit: z.B. Zuckerkrankheit -> Hypoglykämie
(Patient = verwirrt, Ortientierung = gestört;
Orientierung: zeitlich / örtlich / situativ / persönlich)
merke: bei a) und b) IMMER Orientierung gestört
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Orientierung = auch gestört
z.B. nach Essen von Tollkirschen / Intoxikation:
-> Herzfrequenz steigt, Pupillenerweiterung „Belladonna“, trockene Haut; gleichzeitig
Desorientiertheit
=> Ähnliche Reaktionen auch bei analogen Substanzen,
z.B. bei Psychopharmaka mit trizyklischer Struktur (= klassische Neuroleptika /
klassische Antidepressiva!) = sehr gefährlich! vor allem auch bei Selbstmordversuch
mit Tabletten.
Wirkung auf den Parasympathicus (Entspannung): wird blockiert durch
Acetylcholin aus dem Nervus vagus durch das Medikament.
Folge: Sympathicus dominiert -> Spannung (= ANTICHOLINERGE REAKTION).
Gegenmittel = Physiostigmin (wirkt procholinerg)
Organische Krankheiten müssen IMMER zuerst abgecheckt werden:
-> können lebensgefährlich sein (-> Wirkung auf Herz, etc.)
DAHER: neue Psychopharmaka, die NICHT trizyklisch sind
-> haben obige Nebenwirkungen nicht.
Merke: * Bei Psychosymptomatik IMMER zuerst organische Erkrankung ausschließen
-> Hilfsbefunde einholen (Labor / bildgebende Verfahren / psychologische Tests)
* Ist Patient verwirrt und / oder bewußtseinsgetrübt
-> Arzt muß an körperliche Erkrankung denken
Was könnte diese körperliche Krankheit sein?
a) Demenz
(z.B. Alzheimer: Abnahme der Intelligenzfunktion durch Gehirnatrophie
-> Grund ist nicht genau bekannt.
Mögliche Erklärung: Theodor MEYNERT entdeckte Kern an Hirnbasis
(= Nucleus basalis meynert); von dort Axone in Cortex; Kern schickt mit
Hilfe der Zellen Acetylcholin in Cortex, „schmiert“ die Gehirnrinde.
Bei Alzheimer: Absterben dieser Zellen -> Cortex bekommt zuwenig
Acetylcholin. Mit 70 Jahren -> 5% der Bevölkerung betroffen, dann rapider
Anstieg.
Therapie:
* durch Gabe von Acetylcholin;
* Medikamente, die Abbau von Acetylcholin verhindern (Abbau des
Acetylcholins durch Acetycholinesterase -> wird blockiert durch sogenannte
Acetylcholinesterasehemmer)
b) Alkoholdelir
c) Vergiftung
d) Entzündung
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Pick’sche Demenz: ähnlich wie Alzheimer. Atrophie im Frontallappen
(Frontalhirn = Mastermind des Gehirns, ethisch-moralische Haltung ist
hier lokalisiert) -> Distanzlosigkeit.
Abgetrennt z.B. bei Lobotomie
(Fazit: Fähigkeit für Angst / Leiden geht verloren,
ABER: auch Verlust der Urteilsfähigkeit)
Unterscheide:
=> degenerative Demenzen: kontinuierliche Entwicklung; körperliche Gesundheit
=> vaskuläre Demenzen:
plötzliche Entwicklung; körperliche Krankheit
(z.B. Gefäßinfarkt durch Arteriosklerose ausgelöst)
Ursachen für alle Krankheiten:
1) Atrophie = Abbau
2) Intoxikation = Vergiftung:
* extern durch Substanzeinwirkung
* intern durch Stoffwechselstörung
3) Tumore
4) Entzündungen
5) Durchblutungsstörungen
6) Trauma
Unterscheide:
* exogener Reaktionstyp =
vorübergehende psychische Störung hervorgerufen
durch organische Krankheit, MIT Verwirrtheit
* Durchgangssyndrom = OHNE Verwirrtheit / Bewußtseinstrübung
2. endogene psychische Störungen:
= Psychosen: a) Zyklothymie (manisch-depressiver Formenkreis)
b) Schizophrenie4 (schizophrener Formenkreis)
3. abnorme Spielarten seelischen Lebens:
dabei Problem = Grenze zwischen normal / krank
a) Dauerzustände:
1) geistige Behinderung: Intelligenzmangel ab früh im Leben; intrauterine
Erkrankung; bleibt ganzes Leben lang erhalten
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wodurch entsteht Schizophrenie?
Vererbung, Geburtsschäden, Einfluß der Mutter, Schädel-Hirn-Trauma, sozialer Einfluß, usw => man weiß
bis heute nicht, wudruch Schizophrenie entsteht.
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2) Persönlichkeitsstörung: abnorme Charaktere (z.B. ständig mißtrauisch, ängstlich,
selbstgefällig -> narzißtische Persönlichkeitsstörung)
Person war schon immer so (z.B. auch antisoziale
Persönlichkeitsstörung). In manchen Diagnoseschemata
als eigene Achse geführt.
b) keine Dauerzustände:
1) abnorme Belastungsreaktion („Krise“), z.B. Liebeskummer, Vergewaltigung,
Verlassenwerden, etc. = oft depressive Reaktion +
Suizidwunsch (-> Patient gehört in Kriseninterventionszentrum)
2) abnorme Persönlichkeitsentwicklung (-> Patient ist im Laufe seines Lebens SO
geworden)
zu ICD-10:
F.... Gruppe der psychiatrischen Krankheiten
-> zur Erstellung von Gesundheitsstatistiken so eingeteilt;
Einteilung entspricht dem triadischen System
Wie kommt man zu Diagnose?
a) operationalisierte Diagnosen:
z.B. ICD-10 -> Hypomanie: Stimmung an 3-4 aufeinanderfolgenden Tagen gehoben,
Aktivität gesteigert, usw. Mindestens 3 Merkmale müssen vorhanden sein
Fazit: * einige wenige Fälle können sehr gut diagnostiziert werden,
* der Rest ist nicht zuordenbar.
b) klinische Diagnostik:
= idealtypische Diagnostik, dient in erster Linie der Forschung
Problem = Komorbidität (= 2 Krankheitsbilder treten gemeinsam auf)
z.B. Alkoholmißbrauch + Angst + Depression
=> Angst wird bekämpft mit Alkohol, Mißbrauch entsteht, erzeugt Depression.
Angststörung
affektive Störung
Alkoholprobleme
c) multiaxiale Diagnostik: siehe weiter vorne (ICD)
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d) Schichtenregel:
1) organische Krankheit
2) psychotische Krankheit (weil Gefahr für sich und andere)
3) Persönlichkeitsstörung
4) Neurose / Psychose
müssen in dieser
Reihenfolge
ausgeschlossen
werden
bedeutende Diagnoseschemata:
* DSM-IV (1994) von APA; nur für mental disorders
* ICD-10 (ab 1992); ICD-9 (ab 1977) von WHO; für alle Krankheiten
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