Islam und Extremismus : die missbrauchte Irrationalität - E

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Islam und Extremismus : die missbrauchte
Irrationalität
Autor(en):
Abid Al-Gabiri, Muhammad
Objekttyp:
Article
Zeitschrift:
Du : die Zeitschrift der Kultur
Band (Jahr): 54 (1994)
Heft 7-8:
Islam : die Begegnung am Mittelmeer
PDF erstellt am:
23.10.2017
Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-298883
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ISLAM UND EXTREMISMUS.
DIE MISSBRAUCHTE
IRRATIONALITÄT
VON MUHAMMAD ABID AL-GABIRI
Eine Welle extremistischer Strömungen erschüttert unsere
Welt. Militanter, gewalttätiger Extremismus gehört zum politischen
Alltag unserer Zeit. Ziele extremistischer Aktionen sind meist
Staaten, staatliche Einrichtungen oder bestimmte Klassen der
Gesellschaft, die Beweggründe sehr verschieden, ideologisch,
ethnisch oder oft auch religiös. Immer aber sind es letztlich wirt¬
schaftliche, soziale, politische und kulturelle Probleme eines Landes
- Arbeitslosigkeit, soziale Ungerechtigkeit, das Fehlen von Freiheit
und Demokratie, dunkle Zukunftsaussichten -, die den Extremis¬
mus provozieren, welcher Art auch immer.
Die arabische Welt scheint zurzeit besonders stark von Unruhen
extremistischer Art erfasst zu sein, kaum ein arabisches Land, das
nicht mit entsprechenden Nachrichten in die Schlagzeilen gerät.
Und die internationalen Massenmedien sind gerne bereit, Berichte
von Gewalt und Terror hochzuspielen und bei jeder Gelegenheit
im Islam den Ursprung allen Übels zu orten. Dreierlei ist dazu
anzumerken.
1. Die Sprache insbesondere in den europäischen und ameri¬
kanischen Medien ist zu diesem Thema meist sehr tendenziös.
Wenn nämlich über vergleichbare Gewaltakte aus anderen Gebieten
der Welt berichtet wird, scheinen andere Massstäbe zu gelten.
Mit Recht hat kürzlich ein arabischer Schriftsteller festgestellt:
«Wenn die IRA in London Bombenanschläge verübt, wird nicht von
katholischem Terrorismus gesprochen, und als die RAF in Deutsch¬
land einen Mordanschlag verübte, war nicht von protestantischem
Terror die Rede; ebensowenig spricht man von buddhistischem
Terrorismus, wenn die japanische Rote Armee terroristische Ak¬
tionen durchführt. Und wenn die Serben schreckliche Verbrechen
gegen die bosnischen Muslime begehen, wird nicht von ortho¬
doxem Terror geschrieben. Kaum begeht aber ein Muslim oder eine
islamische Organisation einen einzigen Gewaltakt, häufen sich die
Vorwürfe gegen den Islam. Muslime werden pauschal mit gewalt¬
tätigen terroristischen Gruppierungen identifiziert.»
2. Es trifft zwar tatsächlich zu, dass sich die Gruppierungen, die
in arabischen und islamischen Ländern Gewaltakte verüben, dem
Islam zuordnen. Der Begriff «Islam» wird hier aber politisch miss¬
braucht und verengt. Undifferenziert wird die Parole «Islam» als
Mittel zur Mobilisierung der Massen gegen soziale und wirtschaft¬
liche Ungerechtigkeit, gegen politische Unterdrückung und die
Durchdringung der islamischen Kultur durch westliche Vorstellun¬
gen eingesetzt. Der Begriff «Islam» hat seit einigen Jahren den Begriff
«Kommunismus» ersetzt.
3. Der Extremismus, mit dem die islamische Welt heute zu
kämpfen hat, ist kein religiöser Extremismus. Er ist bloss eine Reak¬
tion auf eine vergleichbar extreme Situation im sozialen, wirtschaft¬
lichen und politischen Leben, wie sie die meisten Drittweltländer
kennen. Und für die Entstehung und Ausweitung solcher Krisen
trägt der Westen grosse Verantwortung. Denn er ist der Verfechter
von Imperialismus und Kolonialismus neuen Stils, Verbündeter
auch von Institutionen, die weltweit Ungerechtigkeit und Unter¬
drückung fördern.
Damit ist der Extremismus weder endgültig erklärt, geschweige
denn gerechtfertigt. Auswüchse extremistischer Positionen sind
seit je eine Begleiterscheinung der Geschichte des menschlichen
Denkens und Handelns. Über Sprache, Vorstellungen, aber auch
über das Unbewusste tradieren sich Formen des Extremismus und
sind damit eine historische Tatsache. Extremismus ist insofern
ein natürliches Phänomen der Menschheitsgeschichte und hat im
kulturellen Entwicklungsprozess seinen Platz, solange er darin
nur am Rande wirkt. Wenn sich der Extremismus allerdings ver¬
selbständigt und es ihm gelingt, das politische und soziale Leben
zu beherrschen und die geschichtliche Entwicklung zu steuern, ist
anzunehmen, dass er zu ganz bestimmten rationalen Zwecken von
ganz bestimmten Kreisen als irrationales Medium eingesetzt und
missbraucht wird.
Die Geschichte der Araber und Muslime kannte - wie auch
die Geschichte anderer Kulturen und Religionen - schon einige
extremistische Bewegungen, die als Folge korrupter sozialer und
politischer Verhältnisse entstanden sind. Statt aber die gemeinten
Missstände beim Namen zu nennen und offen gegen soziale
Ungerechtigkeit, wirtschaftliche Ausbeutung und politische Unter¬
drückung anzukämpfen, hissen solche radikalen Bewegungen gerne
die Flagge der Religion. Theologische Begriffe wie etwa der Vorwurf
des Unglaubens, der Sündhaftigkeit oder Unsittlichkeit werden zu
Parolen eines im Kern politischen Kampfes umfunktioniert. Dass
dann der Islam für solchen Extremismus verantwortlich gemacht
wird, ist zwar nicht weiter verwunderlich, aber unberechtigt.
Gruppierungen, die ihren Extremismus religiös begründen,
neigen natürlich dazu, die herbeizitierten religiösen Texte so zu
interpretieren, dass sie ihre politischen Ziele möglichst stützen.
Der historische Kontext wird dabei oft sträflich missachtet. Selbst¬
verständlich kannte der Islam Zeiten, in denen er radikal gegen seine
Feinde und für seine Ausbreitung kämpfen musste. Solche mili¬
tanten Phasen kennen in ihren Anfängen alle Reformen und revolu¬
tionären Bewegungen.
Tatsächlich war der Islam in seinen Anfängen eine revolutionäre
Bewegung. Der Prophet Mohammed und die ersten Anhänger des
Islam waren Repressionen, Anfechtungen und Vertreibungen aus¬
gesetzt. Darauf reagierten sie mit einer heldenhaften Verfechtung
ihrer Prinzipien und kämpften für ihre neue Religion im Sinne
der Selbstverteidigung auch mit Waffen. Was unser Leben im Dies¬
seits anbelangt, formuliert der Koran allerdings keine Drohungen
und Strafen gegen seine Gegner. Drohungen an heidnische Araber
oder Andersgläubige betreffen ausschliesslich deren Schicksal
im Jenseits: die Hölle. Aber auch die Verheissungen des Korans
gegenüber den Muslimen meinen das Jenseits: das Paradies. Fürs
tägliche Leben auf Erden ruft der Koran zur Mässigung und Kom¬
promissbereitschaft auch gegenüber Anhängern anderer Religionen
auf. Nur im Falle der direkten Bedrohung ermutigt der Koran
zum Kampf.
Es gibt unzählige Stellen im Koran, in der Sunna und in den
Werken islamischer Gelehrter, in denen die Muslime aufgefordert
werden, Extremismus und Fanatismus in der Religion zu vermeiden.
Der Koran beschreibt die islamische Welt als eine Gemeinschaft
der Mitte: «Und so haben wir euch (Muslime) zu einer in der Mitte
stehenden Gemeinschaft gemacht, damit ihr Zeugen über die (anderen)
Menschen seiet...» (Sure 2,143). Und im Hadîth heisst es: «Das Beste
ist das, was in der Mitte steht.» Den Fanatismus verurteilt der Koran
sowohl für die religiöse Askese und Weltentsagung als auch in der
Verehrung der Propheten und religiösen Führer. Aber auch vor über-
150
tri ebener Ausübung der religiösen Pflichten wird im Koran gewarnt:
will es
Die drei Offenbarungsreligionen sind demnach gleichzustellen.
Und mögliche Streitpunkte soll man ruhen lassen. Denn Gott
wird darüber am Jüngsten Tag entscheiden. «Diejenigen, die glauben
nicht schwer» (Sure 2, 185). Oder wie
es im Hadîth heisst: «Der Islam ist eine leichte und keine schwere Pflicht.»
Und: «Hütet euch vor Fanatismus in der Religion.» Den Anhängern
des Propheten untersagt der Koran zudem, dauernd nach Dingen zu
fragen, die in den Schriften nicht explizit erklärt werden: «Ihr Gläu¬
bigen. Fragt nicht nach Dingen, die, wenn sie euch kundgetan werden, euch
leid tun» (Sure 5,101). Dieser Vers ist wegen eines Mannes offenbart
worden, der vom Propheten wiederholt wissen wollte: «Ist es eine
Pflicht, jedes Jahr die Pilgerfahrt nach Mekka zu machen?» Moham¬
med schwieg so lange, bis ihm dieser Vers offenbart wurde. Ganz
offensichtlich bezweckt dieser Satz, den Spielraum des Erlaubten so
weit wie möglich zu halten.
Toleranz und Offenheit sind also sowohl für die Beziehung
zum eigenen Gott als auch im Kontakt zu Anhängern anderer
Offenbarungsreligionen Prinzipien der islamischen Lehre. «Und
«Gott
euch leichtmachen,
(das heisst die Muslime), und diejenigen, die dem Judentum angehören,
und die Christen und die Säbier - (aUe) die, die an Gott und den Jüngsten
Tag glauben und tun, was recht ist, denen steht bei ihrem Herrn ihr Lohn
zu, und sie brauchen (wegen des Gerichts) keine Angst zu haben, und
sie werden (nach der Abrechnung am Jüngsten Tag) nicht traurig sein»
(Sure 2, 62).
wenn ihr Nachlass gemährt, entspricht das der Gottesfurcht eher (als
wenn ihr unnachgiebig auf eurem Recht besteht). Und vergesst nicht
In einem sehr offenen Sinne zählt der Koran jeden Glauben an
die Propheten, Gesandten und offenbarten Schriften zum Islam.
Darum, so sind sich die Korankommentatoren einig, steht der
Begriff «Islam» im folgenden Koranvers für alle drei monothei¬
stischen Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und
Mohammeds Lehre, also für alle Religionen, die auf Abraham
zurückgehen: «Wenn sich aber einer eine andere Religion ah den Islam
wünscht, wird es nicht (ah Ersatz für den wahren Glauben) von ihm
angenommen werden. Und im Jenseits gehört er zu denen, die (letzten
untereinander Grossmut walten zu lassen» (Koran, Sure 2, 237).
Endes) den Schaden haben» (Sure 3, 85).
Und auch Verzeihung und Vergebung sind moralische Tugenden,
die der Islam hochhält. Dazu steht im Koran: «Wenn ihr verzeiht,
Nachsicht übt und vergebt (folgt ihr damit dem Beispiel Gottes). Gott
ist barmherzig und bereit zu vergeben» (Sure 64, 14). Oder auch: «Aber
Fragt sich allenfalls, wie sich der Islam gegenüber denjenigen
verhält, die vom Glauben abfallen, den sogenannten Apostaten
gegenüber. Solange ein Abtrünniger nicht aktiv gegen die Muslime
wirkt, sieht der Koran keine Sühne, geschweige denn eine Tötung
vor. Er droht nur mit dem Zorn Gottes und einem unheilvollen
Schicksal am Jüngsten Tag. Der Apostat wird aber zum Feind
des Islam, wenn er diesen als Religion, Gesellschaft und Staat
angreift und den Muslimen Schaden zufügt. Diesen verurteilt
der Koran zum Tode, denn sein Verhalten kommt einem Hoch¬
ihnen nicht an und sei nachsichtig. Gott liebt die Rechtschaffenen»
(Sure 5,13). Mohammed sagte: «Die Religion, die Gott am meisten liebt,
rechne
es
ist die tolerante, wahre Religion (von Abraham).» Damit ist die «ein¬
fache» Religion gemeint, eine Religion, die mit den natürlichen
menschlichen Lebensbedingungen im Einklang steht. In diesem
Sinne versteht sich der Islam als die Religion, die die natürliche
Art, in der Gott die Menschen geschaffen hat, vertritt. Darum warnt
der Koran auch davor, im Streit um Interpretationen der Lehre
zu streng und zu fanatisch zu sein. «Streitet mit den Leuten der
verrat gleich.
Abu Bakr, der Nachfolger Mohammeds, bekämpfte die Ab¬
trünnigen, sobald sie mit dem Ziel gegen den Staat des Islam zu
kämpfen begannen, ihn zu vernichten, und sie sich weigerten, ihm
die obligaten Abgaben zu bezahlen.
Doch zurück zur Frage nach den Wurzeln des Extremismus. Das
Wort Islam leitet sich von as-salâm (Friede) ab. Und der Gruss,
den ein Muslim an jeden richtet, der ihm begegnet, lautet: as-salâmu
alaikum. Doch auch der Islam ist vor den Schwächen menschlichen
Tuns und Handelns nicht gefeit. Und es ist seit je ein Faktum
der Geschichte und hat alle Religionen zu allen Zeiten erfasst,
dass nämlich religiöse Inhalte zum Erreichen von Zielen miss¬
braucht wurden, die mit dem Geist der Lehre nichts zu tun haben.
Die arabische, islamische Geschichte ist davon nicht verschont
Schrift nie anders als auf eine möglichst gute Art (oder: auf eine bessere
Art [als sie das mit euch tun]) - mit Ausnahme derer von ihnen, die Frevler
sind. Und sagt: (Wir glauben an das, was (als Offenbarung) zu uns, und
was zu euch herabgesandt worden ist. Unser und euer Gott ist einer. Ihm
sind wir ergeben)» (Sure 29,46).
Es soll aber auch niemand gezwungen werden zu glauben: «In
der Religion gibt es keinen Zwang (das heisst, man kann niemand zum
[rechten] Glauben zwingen). Der rechte Weg (des Glaubens) ist (durch die
Verkündung des Islam) klar geworden (so dass er sich) vor der Verirrung
(des heidnischen Unglaubens deutlich abhebt)» (Sure 2, 256).
Diese Offenbarung ergeht an einen Mann, der zwei Söhne hatte,
die Christen waren, während er zum Islam übergetreten war. Er hatte
den Propheten gefragt: «Soll ich sie nicht doch zwingen, zum Islam
überzutreten? Sie bestehen nämlich darauf, Christen zu bleiben.»
Der Koran antwortet ganz entschieden. Jeder Mensch ist frei zu
entscheiden, welcher Religion er zugehören will: «Für jeden von
euch (die ihr verschiedenen Bekenntnissen angehört) haben
geblieben.
Die Kharidschiten waren eine der ersten extremistischen Grup¬
pierungen im Islam. Sie rebellierten gegen Ali Ibn Abi Tâlib, als er
das Urteil eines Schiedsgerichts und die Versöhnung mit seinem
Rivalen Muâwîja Ibn Abi Sufjân akzeptierte. «Die Entscheidung
steht Gott allein zu», hielten sie ihm vor. Ali erwiderte mit dem
bekannten Satz: «Der Spruch ist richtig, der Zweck, auf den er
abzielt, aber nichtig.» Hier zeigt sich ein Prinzip des Extremismus.
Er fordert die Wahrheit am falschen Ort.
Viele Kharidschiten waren zweifellos gottesfürchtige Muslime,
die den Koran ad verbum verstanden und gläubig danach lebten.
Ihre Führer aber instrumentalisierten die Inhalte zur Umsetzung
ihrer politischen Ziele. Die meisten von ihnen gehörten zu den
wir ein (eigenes)
Brauchtum und einen (eigenen) Weg bestimmt. Und wenn Gott gewollt
hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber er (teilte
euch in verschiedene Gemeinschaften auf und) wollte euch (so) in dem,
was er euch (das heisst jeder Gruppe von euch) (von der Offenbarung)
aufdie Probe stellen. Wetteifert nun nach den guten Dingen»
gegeben hat,
(Sure 5, 48).
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ostarabischen Stämmen, die zu den Völkern in Westarabien in
tradierter Rivalität standen - den Stämmen im Hidschâs, den
Haschimiden und Omaijaden. Man hatte unterschiedliche Han¬
delsinteressen und war mit je anderen Grossmächten verbündet, mit
den Römern und Persern. Insbesondere befürchteten die Kharid¬
schiten, durch die Versöhnung zwischen Ali Ibn Abi Tâlib und
Muâwîja könnten die Kuraischiten, damals der mächtigste Stamm
auf der westlichen Halbinsel, ein Machtmonopol errichten, unter
dem die ostarabischen Stämme leiden mussten.
Die Kharidschiten trieben den Extremismus zum Exzess, bis sie
selbst daran zugrunde gingen, ohne je wirklich Einfluss aufdie isla¬
mische Geschichte gehabt zu haben. Es waren die Abbasiden, die sie
ihrer Herrschaft beraubten. Letztlich hatten sie sich aber auch an
inneren Meinungsverschiedenheiten aufgerieben. Es gibt von den
Kharidschiten heute nur noch einige wenige, die der Sekte der
Abbaditen angehören. Diese waren weniger fanatisch und schlugen
einen gemässigten Weg ein. Einige Gruppierungen von ihnen leben
bis heute im Sultanat Oman am Persischen Golf und in der Gegend
von Mzab in Südalgerien.
Aber die Kharidschiten waren nicht die einzige radikale Bewe¬
gung in der islamischen Geschichte. Es gab zum Beispiel auch die
Ghulât (Extremisten), die zu Ali Ibn Abi Tâlibs Gefolgschaft gehör¬
ten. Sie garantierten der Familie des Propheten totale Loyalität.
Jedoch statteten sie die schiitischen Imame so sehr mit Macht aus,
dass diesen ein fast gottähnlicher Status zukam. Das ging so weit,
dass sich einige von ihnen für leibhaftige Propheten hielten, die sich
im Besitz der göttlichen Wahrheit wähnten.
Die Kharidschiten pflegten kein sehr komplexes Glaubensleben,
ihr Verständnis der Religion war oberflächlich, wie dies bei Bedui¬
nen allgemein der Fall war. Hingegen war der religiöse Hintergrund
der Ghulât, von denen viele von nichtarabischen Völkern abstamm¬
ten, geprägt von einem gewaltigen kulturellen Erbe. In ihre mytho¬
logische Theorie des Imamats flössen Elemente aus den verschieden¬
sten Kulturen und Denkrichtungen, gnostische, hermetische,
neupythagoräische, aber auch literarische Momente aus dem kab¬
balistischen und manichäistischen Schrifttum. Die Ghulât bildeten
den Grundstock jener batinitischen Sekten, denen es gelang, zuerst
in Tunis und dann in Ägypten den fatimidischen Staat zu begrün¬
den. Sie stellten sich loyal an die Seite des grössten schiitischen
Imams zur Zeit der Abbasiden, Ismail Ibn Dschafar al-Sâdiq. Darum
wurden sie auch Ismailiten genannt.
Die ismailitische Bewegung war in ihrer geheimen (batini) Inter¬
pretation des Korans und der historischen Ereignisse zur Zeit
des Propheten sehr radikal. Zu Lebzeiten des Gelehrten al-Ghasâli,
als die Assassinen in Bagdad, der Hauptstadt der Abbasiden, und
im Herrschaftsbereich der Seldschuken Terror verbreiteten, waren
für sie Mord und Totschlag durchaus Mittel ihres Kampfes. Gleich¬
zeitig zogen sie zum Aufbau ihrer geheimen (batinischen) Lehre
die alten Wissenschaften der Logik und hermetischen Philosophie
bei. Damit wiederum waren die Sunniten nicht einverstanden.
Die kritische Haltung der sunnitischen Gelehrten gegenüber
diesen alten Wissenschaften war eigentlich nur eine Reaktion gegen
die Ghulâts und die Batiniten. Man misstraute ihnen, weil sie diese
Wissenschaften als politisch-ideologische Waffen gegen den sunni¬
tischen Staat richteten. Dies geschah zu einer Zeit, als der Staat
noch kein politisches System im modernen demokratischen Sinne
kannte, das auch einer Opposition legale Möglichkeiten geboten
hätte, sich politisch zu betätigen. Ein Umstand, den wir nicht unter¬
schätzen dürfen, wollen wir die Ereignisse der Vergangenheit nach
ihren konkreten historischen Bedingungen beurteilen. Die extre¬
mistischen Bewegungen im Islam sind typisch für einen Staat und
eine Gesellschaft, wie sie das Mittelalter begründet hat. Der Extre¬
mismus der Kharidschiten, der Fanatismus der batinitischen Ghulât
und der Radikalismus anderer verwandter Bewegungen, welche die
Parolen des Islam ausgaben, waren nichts anderes als die Reaktion
auf den Staat, der die Religion radikal missbrauchte, um seine Macht
und Alleinherrschaft zu rechtfertigen. Muâwîja und seine Nach¬
folger handelten ebenso: Muâwîja rechtfertigte seine gewaltsame
Machtübernahme durch den Willen Gottes.
Muâwîja, seine Gouverneure und Nachfolger festigten deshalb
die Ideologie des Determinismus (indem sie behaupteten, das Kali¬
fat sei der Omaijadenfamilie von Gott verliehen und «bei dem, was
Gott bestimmt, gebe es keine Änderung»). Das rief verschiedene
Reaktionen hervor:
1. Die Kharidschiten reagierten mit der Ideologie des Takfir (sie
behaupteten, der grosse Sünder sei ungläubig).
2. Die Kadariten bekräftigten die Willensfreiheit des Menschen.
Aus dem Gedankengut der Kadariten entwickelten die Mutazi¬
liten später ihre bekannte Lehre. Sie hielten an der Willensfreiheit
des Menschen fest; damit richteten sie sich gegen den Glauben der
Omaijaden. Als Reaktion aufdie fanatischen Kharidschiten begrün¬
deten sie zudem das Prinzip der Zwischenstellung. Denn für die
Kharidschiten gab es nur Glaube oder Unglaube: Gehörte man zu
ihnen, galt man als gläubig; wenn nicht, galt man zwangsläufig als
ungläubig und verdiente deshalb die Todesstrafe. Die mutazilitische
Zwischenstellung besagte, dass es noch eine dritte Stellung gab, in
der man den Menschen weder als absolut gläubig noch als absolut
ungläubig bezeichnen kann. In der mutazilitischen Vorstellung galt
ein Muslim, der seine religiösen Pflichten vernachlässigte und
sündigte, als sündiger Muslim oder als Frevler. Deshalb konnte man
etwa die Omaijaden wegen ihrer Sünden nicht als Ungläubige
bezeichnen und musste keinen bewaffneten Aufstand gegen sie
führen. Die Omaijaden waren für die Mutaziliten in einer Zwischen¬
stellung, also in der Stellung des Sünders oder Frevlers, den man
mahnen und überzeugen musste, sich korrekt und gerecht zu ver¬
halten und wieder den Pfad der gläubigen Muslime zu finden.
Es entstand eine rationale Aufklärungsbewegung, die den Weg
der intellektuellen politischen Opposition einschlug. Sie wandte
sich gegen alle Formen des Extremismus der Omaijadenzeit, zum
Beispiel gegen den Takfir der Kharidschiten, den Determinismus der
Omaijaden, den Fanatismus der Schia und die allzu buchstaben¬
getreue Auslegung des Korans durch die sunnitischen Gelehrten.
Die Aufklärung wirkte bis zur Zeit der Abbasiden, und im Rahmen
dieser Bewegung riefen Philosophen und Logiker zum Studium
des Erbes auf. Laut ihnen müssen die neuen Kulturen von den
alten lernen.
Der arabische Philosoph Abu Ishâq al-Kindi vertrat als erster die
neuen Ideen. Für ihn stand die Philosophie in keiner Weise im
Widerspruch zur Religion. Mancher konservative muslimische Ge¬
lehrte war ein Gegner der alten Wissenschaften, weil die fanatischen
152
Schiiten (al-Ghulât) die Wissenschaften gegen den Staat und dessen
sunnitisches Dogma anwandten. Al-Kindi legte indes fest, dass das
Ziel der Philosophie einzig die Suche nach der Wahrheit der Dinge
sei und damit das gleiche Ziel wie die Religion habe: die Erkenntnis
der Wahrheit. Al-Kindi sagte: «Wenn das sich so verhält, so dürfen wir
die Alten nicht abfällig beurteilen, selbst wenn sie nicht die ganze Wahrheit
erreichen konnten, denn sie waren uns Verwandte und Weggefährten,
indem wir von ihren Wissenschaften profitierten, die uns zu Mitteln und
Instrumenten wurden, vieles zu erreichen, was sie nicht hatten erreichen
können.» Er fügte hinzu: «Wirbrauchen uns nicht zu schämen, die Wahr¬
heit gutzuheissen oder zu erwerben, woher auch immer sie stamme, ob nun
von den entlegensten Völkern oder von den uns verschiedensten Nationen.»
Al-Kindi führte damit das rationale philosophische Denken im
Islam ein, das weit entfernt war vom Extremismus der Ghulât und
jeder feindlichen Einstellung gegenüber der Philosophie.
Seiner Methode folgten Al-Fârâbi, Ibn Sina und andere grosse
Logiker, Scholastiker und Rechtsgelehrte. Nachdem al-Ghasâli in
seiner Polemik gegen die ismailitischen Batiniten, die ihre religiöse
Ideologie gegen das abbasidische Kalifat und seinen sunnitischen
Staat auf den alten Wissenschaften aufbauten, die Philosophen für
ungläubig erklärt hatte, verteidigte Ibn Ruschd (Averroës) die Philo¬
sophie gegen die Angriffe al-Ghasâlis und anderer sunnitischer
Gelehrter. Gegen das Argument, die Philosophie führe zur Abwei¬
chung von der Religion, ja, wie bei den ismailitischen Batiniten, zur
Ketzerei, sagte Ibn Ruschd: «Der Umstand, dass jemand in der Speku¬
lation irrt oder strauchelt, sei es wegen Unzulänglichkeit seiner natürlichen
Anlagen, oder von Seite einer schlechten Anordnung seines Studiums oder
weil seine Leidenschaften übermächtig sind, oder weil er keinen Lehrer
findet, derihnzum Verständnis dieser Dinge leitet, oder weil diese Ursachen
oder mehrere in ihm sich vereinigen, darf keinen, der des Studiums dieser
sophie kommt somit einem Rechtsgutachten eines kompetenten
Gelehrten gleich. Zur Philosophie sagt Ibn Ruschd unter anderem:
«Wennfeststeht, dass die Religion die Betrachtung der existierenden Dinge
durch den Verstand und die Reflexion hierüber für notwendig erklärt
hat...(...), und wenn ein anderer als wir hierüber Forschungen angestellt
hat, so ist es klar, dass es unsere Pflicht ist, für den Gegenstand unseres
Studiums Hilfe zu suchen bei dem, was derjenige, welcher uns hierin voran¬
gegangen ist, gesagt hat, gleichviel ob dieser unser Religionsgenosse ist oder
nicht.» Er fügt hinzu: «Wenn nun dieses sich so verhält, so möchte es
notwendig sein, wenn wir bei einem unserer Vorgänger von den
früheren Völkern eine Spekulation über die existierenden Dinge und eine
Reflexion hierüber, wie es die Bedingungen der Demonstration fordern,
finden, dass wir das, was diese Alten gesagt undin ihren Schriften nieder¬
gelegt haben, studieren. 1st etwas davon mit der Wahrheit überein¬
stimmend, so haben wir es anzunehmen, uns darüber zufreuen und ihnen
dafür zu danken. Wenn etwas mit der Wahrheit nicht übereinstimmt, so
machen wir darauf aufmerksam und warnen davor, halten sie aber für
für uns
Bücher würdig ist, verhindern, sie zu studieren, denn diese Art von
Schaden, der sich diesen Bestrebungen anheftet, trifft sie bloss zufällig (per
accidens), nicht wesentlich. Und etwas, was seiner Natur und Wesenheit
nach nützlich ist, darf nicht wegen eines Schadens, der ihm per accidens
anhaftet, aufgegeben werden.
Ja, wir sagen, ein Mann, der das
Studium der Bücher über Philosophie einem Würdigen verbietet, weil man
von gewissen gemeinen Individuen glaubt, dass sie in Folge des Studiums
dieser Bücher in Irrtum gefallen sind, ist wie einer, der dem Durstigen
verbietet,frisches süsses Wasser zu trinken, so dass erstirbt, weil einige am
Wasser erstickt sind und so den Tod gefunden haben.»
Danach vergleicht Ibn Ruschd den Philosophen mit dem
Rechtsgelehrten: Sollte es wirklich Menschen gegeben haben, die
wegen des Philosophiestudiums geirrt hätten, weil sie dazu weder
fähig noch darauf vorbereitet waren, dann kann man dem ent¬
gegnen: «Wie viele Juristen gibt es nicht, für welche ihre Jurisprudenz
Veranlassungwar, sich im Leben der Enthaltsamkeit zu entschlagen undin
die weltlichen Genüsse sich zu stürzen Ad wir finden, dass die meisten
Juristen sich solches zu Schaden kommen lassen; während ihre Kunst ihrem
entschuldigt.»
Selbstverständlich gilt die rationale Haltung der Mutaziliten
und Philosophen gegenüber den alten Wissenschaften auch für die
Alten und Andersgläubigen. Ibn Ruschds Aufforderung, Anders¬
gläubige und Sünder zu entschuldigen, steckt den äussersten
Rahmen der Toleranz ab, jenseits von allem Fanatismus oder
Extremismus. Tatsächlich beschränkte sich diese tolerante Haltung,
die den Extremismus verwirft, nicht nur aufdie Philosophen. Das
Festhalten an der eigenen Urteilsbildung in rechtstheologischen
Fragen ist ein Prinzip der Rechtswissenschaft und schliesst offen¬
kundig die Anerkennung des Rechts mit ein, eine andere Meinung
zu vertreten. Denn der Idschtihâd beruht auf Meinungsverschie¬
denheit. Daraus lässt sich der bekannte Hadîth erklären: «Die
Verschiedenheit der Denkrichtungen in meiner Gemeinde ist eine vortreff¬
liche Eigenschaft.» Dieser Hadîth bedeutet, dass der Islam die vielfäl¬
tigen Urteile je nach Zeit und Ort billigt, damit die gesetzlichen
Regelungen mit dem Zeitgeist Schritt halten.
Letztlich ist der Islam als Religion, als Gedankengut und Kultur
also eine Sache; sein von einigen internationalen Massenmedien
verbreitetes Bild eine andere, etwas frei Erfundenes. Mit dem
Extremismus, der im Namen und unter dem Motto des Islam immer
schon ausgeübt wurde und immer noch wird, verhält es sich wie mit
dem Extremismus irgendeiner anderen Religion oder Ideologie. Die
Geschichte der Religionen und Kulturen, vor allem die Geschichte
des Islam, beweist, dass der religiöse Extremismus meist eine Reak¬
tion auf eine andere Form von Extremismus in der Gesellschaft ist.
Sie kann sich als soziale oder wirtschaftliche Ungerechtigkeit
äussern oder als kulturelle oder politische Unterdrückung. Genauso
wie der religiöse Extremismus versucht, sich hinter Parolen undo
Ausreden zu verbergen, strebt die andere Form des Extremismus
danach, sich durch religiöse Propaganda oder den Rückgriff auf S
t
Wesen nach praktische Tugend erfordert.»
grosse Ideale selber zu legalisieren.
Die Kunst der Juristen ist in keinem Fall der Grund für ihre
Fehler. Wenn man wegen des verwerflichen Verhaltens mancher
Juristen nicht gegen die Jurisprudenz polemisieren kann, so darf
man, aus demselben Grund, auch nicht die Philosophie angreifen.
Ibn Ruschd war selber einer der grössten Rechtsgelehrten, und
als Richter erteilte er Rechtsgutachten. Seine Aussage über die Philo¬
153
g
Der Extremismus, unter dem die islamische Welt heute leidet, z
hat nichts mit dem Islam zu tun. Auch wenn seine Parolen 5
dem Islam entnommen sind. Dieser Extremismus wendet die <
Religion nur zum Erreichen politischer Ziele an. Deshalb müssen ^
Ursache und Lösung des Extremismus auch in der Politik gesuchtQ
werden.
<
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