Mechanik

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Mechanik
Dirk–Gunnar Welsch
2
Inhaltsverzeichnis
Einführung
5
1 Kinematik eines Massenpunktes
1.1 Bahnkurve, Geschwindigkeit und Beschleunigung
1.2 Krummlinige Koordinatensysteme . . . . . . . . .
1.3 Grundtypen von Bewegungen . . . . . . . . . . .
1.3.1 Gleichförmig beschleunigte Bewegung . . .
1.3.2 Gleichförmige Kreisbewegung . . . . . . .
1.3.3 Periodische Bewegungen . . . . . . . . . .
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2 Newtonsche Mechanik
2.1 Die Newtonschen Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.1 Das Trägheitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.2 Das Grundgesetz der Dynamik . . . . . . . . . .
2.1.3 Das Wechselwirkungsgesetz . . . . . . . . . . .
2.1.4 Superposition von Kräften . . . . . . . . . . . .
2.1.5 Bewegte Bezugssysteme . . . . . . . . . . . . .
2.2 Dynamik eines Massenpunkts . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1 Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2 Impulsbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.3 Energiebilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.4 Drehimpulsbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.5 Erhaltungssätze und Integration der Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.6 Spezielle Probleme . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Dynamik eines Massenpunktsystems . . . . . . . . . .
2.3.1 Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . .
3
9
9
15
26
27
30
32
47
47
47
49
54
55
56
67
68
70
70
83
88
97
135
135
4
INHALTSVERZEICHNIS
2.3.2
2.3.3
2.3.4
2.3.5
2.3.6
2.3.7
Impulsbilanz (Massenmittelpunktsatz) . . . . .
Energiebilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Virialsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Drehimpulsbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . .
Erhaltungssätze und Integration der Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Spezielle Probleme . . . . . . . . . . . . . . . .
3 Lagrangesche Mechanik
3.1 Das d’Alembertsche Prinzip . . . . . . .
3.1.1 Freie und gebundene Systeme . .
3.1.2 Bedingungsgleichungen . . . . . .
3.1.3 Das d’Alembertsche Prinzip . . .
3.1.4 Bilanzgleichungen . . . . . . . . .
3.1.5 Spezielle Probleme . . . . . . . .
3.2 Lagrangesche Gleichungen . . . . . . . .
3.2.1 Lagrangesche Gleichungen 1. Art
3.2.2 Energiebilanz . . . . . . . . . . .
3.2.3 Generalisierte Koordinaten . . . .
3.2.4 Lagrangesche Gleichungen 2. Art
3.2.5 Erhaltungssätze und Symmetrien
3.2.6 Spezielle Probleme . . . . . . . .
4 Hamiltonsche Mechanik
4.1 Das Hamiltonsche Prinzip . . . . .
4.2 Hamiltonsche Gleichungen . . . . .
4.3 Poisson-Klammern . . . . . . . . .
4.4 Kanonische Transformationen . . .
4.5 Die Hamilton-Jacobi-Gleichung . .
4.6 Verallgemeinerte Integralprinzipien
4.7 Teilchen- und Wellenausbreitung .
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149
151
159
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181
181
183
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218
222
224
226
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287
287
292
296
300
312
318
324
Es ist gut, wenn man sich langsam bewußt
wird, daß man gar nichts versteht.
Maurice Maeterlinck
Einführung
Die Mechanik ist der Teil der Physik, der sich mit den Bewegungsgesetzen materieller Körper befaßt. Sie ist die physikalische Disziplin, in der
es zuerst und in relativ großem Maße gelang, die Zielstellung der theoretischen Physik zu verwirklichen, nämlich durch Verallgemeinerung
von Erfahrungen einige allgemeine Grundsätze (Axiome) aufzustellen,
aus denen die speziellen Gesetze der vielfältigen Einzelerscheinungen
auf mathematischem Wege ableitbar und erklärbar sind.
Die in der Mechanik eingeführten Grundbegriffe (wie Masse, Kraft,
Impuls, Arbeit, Energie usw.) sowie die entwickelten Prinzipien und
Methoden sind auch in anderen Teilgebieten der Physik so bedeutsam
geworden, daß außer historischen Gesichtspunkten viele Gründe dafür
sprechen, das Studium der theoretischen Physik mit der Mechanik zu
beginnen.
Wir werden uns im folgenden mit der klassischen Mechanik
beschäftigen. Ihre eigentliche Grundlegung ist Newton zu verdanken,
der die großen Leistungen von Galilei, Kepler, Descartes, Huygens und
anderen zusammen mit seinen eigenen Erkenntnissen gegen Ende des
17. Jahrhunderts zu einem einheitlichen System zusammenfaßte. Die
klassische Mechanik wird deshalb auch häufig als Newtonsche Mechanik bezeichnet. In der Folgezeit wurde sie in vielfältiger Weise weiterentwickelt und auf einen recht hohen Stand gebracht, so daß man
zeitweise glaubte, das gesamte Naturgeschehen auf die Newtonsche Mechanik zurückführen zu können und in ihrem Rahmen (zumindest prinzipiell) erklären zu können. Im Zuge der sich entwickelnden experimentellen Techniken wurden durch verfeinerte und neue Beobachtungsme5
6
EINFÜHRUNG
thoden etwa mit Beginn des 20. Jahrhunderts die Grenzen der klassischen Mechanik sichtbar, und zwar einmal für hinreichend große Geschwindigkeiten und zum anderen für hinreichend kleine Wirkungen.
Es entstanden die relativistische Mechanik und die Quantenmechnik,
die in ihrer Vereinigung zur relativistischen Quantenmechanik führten.
Klassische Mechanik
Relativistische Mechanik
Quantenmechanik
Relativistische Quantenmechanik
Die Einteilung der Mechanik ist von mehreren Gesichtspunkten aus
möglich. Die Bewegung eines Körpers ist dann vollständig beschrieben,
wenn die Bewegung aller seiner Teile angegeben werden kann, was i.
allg. eine recht verwickelte Aufgabe ist. Der einfachste Fall liegt vor,
wenn die Abmessungen des Körpers (auf einer makroskopischen Skala)
hinreichend klein sind, so daß man sich bei der Beschreibung der Bewegung des Körpers auf die Bewegung eines einzigen Punktes des Körpers
beschränken kann. In diesem Fall wird der Körper durch einen sogenannten Massenpunkt ohne räumliche Ausdehnung idealisiert, den
man sich mit der gesamten Masse des Körpers behaftet denkt. Ob ein
Körper als Massenpunkt angesehen werden kann, hängt natürlich vom
konkreten Fall ab. Der Massenpunkt idealisiert den Körper, er ist ein
Modell, durch das wirkliche Körper in vielen praktischen Fällen ersetzt
werden können. Da ein Massenpunkt definitionsgemäß strukturlos und
ohne Ausdehnung ist, kann er nur eine Translationsbewegung ausführen
(innere Bewegungen und Rotationsbewegungen gibt es nicht). Ausgehend vom einzelnen Massenpunkt kann man sich dann jeden materiellen
Körper bzw. Systeme von solchen Körpern durch viele Massenpunkte zusammengesetzt denken und gelangt zu Massenpunktsystemen,
7
EINFÜHRUNG
deren Mechanik auch als Punktmechanik bezeichnet wird. So kann
insbesondere ein starrer Körper, der in allen seinen Teilen von absolut unveränderlicher Gestalt ist, als ein System von Massenpunkten
angesehen werden, deren gegenseitige Abstände sich nicht ändern. Gegenstand dieser Vorlesung ist die Punktmechanik.
Mechanik
Punktmechanik
Kontinuumsmechanik
Die elastischen Eigenschaften und Formänderungen fester Körper
sowie die Bewegungen von Flüssigkeiten und Gasen gehören zu dem
umfangreichen Gebiet der Mechanik deformierbarer Körper, kurz Kontinuumsmechanik genannt. Es ist klar, daß bei der ungeheuren
Anzahl von zu berücksichtigenden (diskreten) Massenpunkten die
Punktmechanik praktisch nicht durchführbar ist und feldtheoretischen
(Kontinuums-)Zugängen der Vorrang zu geben ist.
Die Mechanik kann natürlich auch von anderen Gesichtspunkten
aus eingeteilt werden. Der Zweig der Mechanik, der Bewegungsabläufe
an sich untersucht, d.h. ohne Rücksicht auf ihre Entstehung, ist die
Kinematik. Im Gegensatz dazu zieht die Dynamik auch die Ursachen
Mechanik
Kinematik
Dynamik
der Bewegung in Betracht. Ein Sonderfall der Dynamik ist die Statik,
die die Bedingungen des Ruhezustands (Gleichgewichts) untersucht. So
kann auf Grund der gegebenen Einteilungen von der Kinematik, Statik,
8
EINFÜHRUNG
Dynamik beispielsweise des Massenpunktes, des starren Körpers oder
deformierbarer Medien gesprochen werden.
Schließlich kann die Mechanik nach den ihr zugrunde liegenden
Prinzipien eingeteilt werden: wobei hier der Begriff Newtonsche MeMechanik
Lagrangesche
Mechanik
Newtonsche
Mechanik
Hamiltonsche
Mechanik
chanik im engeren Sinne der Newtonschen Prinzipien zu verstehen ist.
Vorlesungsschwerpunkte
• Punktmechanik
• Grundbegriffe der Kinematik
• Dynamik
• Newtonsche Mechanik
• Lagrangesche Mechanik
• Hamiltonsche Mechanik
Kapitel 1
Kinematik eines
Massenpunktes
1.1
Bahnkurve, Geschwindigkeit und Beschleunigung
Im Rahmen der Kinematik als der geometrischen oder reinen Bewegungslehre werden Bewegungen an sich untersucht, d.h. ohne Rücksicht
auf ihre Entstehung. Vom Standpunkt der Kinematik aus ist die Bewegung eines Massenpunktes (eines Körpers) bestimmt, wenn die Lage des
Punktes relativ zu einem anderen Körper zu jedem Zeitpunkt angebbar ist. Dieser andere Körper ist als Bezugskörper oder Bezugssystem
unerläßlich, da im leeren Raum die Lage des Punktes nicht definierbar
und damit nicht feststellbar wäre. Um die Lage eines Punktes P zu
bestimmen, wählen wir in dem Bezugskörper (z.B. der Erde, einem
Labor, oder einem beliebigen, als starr angenommenen Körper) einen
Ausgangspunkt O, durch den wir drei aufeinander senkrecht stehende
Geraden legen, die wir als Achsen eines rechtwinkligen (kartesischen)
Koordinatensystems ansehen. Die Lage des Punktes P , die durch Angabe der drei Koordinaten x, y, z vollst−→
ändig bestimmt ist, kann durch
den Ortsvektor oder Radiusvektor OP = r charakterisiert werden,
dessen rechtwinklige Komponenten gerade die drei Koordinaten x, y, z
sind. Oft wird es zweckmäßiger sein, anstelle kartesischer Koordinaten
andere, systemangepaßte Koordinaten zu verwenden (Abschnitt 1.2).
9
10
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
z
P
r
z
ez
ey
O
ex
x
x
y
y
z
r(t)
z(t)
y
x
x(t)
y(t)
Die Bewegung des Massenpunktes ist bekannt, wenn der Ortsvektor
r als Funktion der Zeit t bekannt ist,
r = r(t),
(1.1)
speziell in kartesischen Koordinaten,
r(t) = x(t) ex + y(t) ey + z(t) ez ,
(1.2)
d.h., wenn die Funktionen
x = x(t), y = y(t), z = z(t)
(1.3)
bekannt sind. Wir wollen annehmen, daß diese Funktionen eindeutig
und mindestens zweimal differenzierbar sind. Die Raumkurve, die durch
r(t) beschrieben wird, heißt auch Bahnkurve des Massenpunktes.
1.1. BAHNKURVE, GESCHWINDIGKEIT UND BESCHLEUNIGUNG11
Der Massenpunkt befinde sich zur Zeit t in dem durch den Ortsvektor r gekennzeichneten Punkt P in der folgenden Abbildung, und nach
P, t
∆r
P ′ , t + ∆t
r
r + ∆r
Bahnkurve
O
der Zeitspanne ∆t in dem durch den Ortsvektor r + ∆r bestimmten
Punkt P ′ , d.h., die
Verrückung des Massenpunktes während des Zeit−→
intervalls ∆t ist P P ′= ∆r. Die auf die Zeiteinheit bezogene (mittlere)
Verrückung ist durch den Vektor
∆r r(t + ∆t) − r(t)
=
∆t
∆t
(1.4)
gegeben, der nicht nur eine Funktion der Zeit t ist, sondern auch von der
gewählten Zeitspanne ∆t abhängt. Den von ∆t unabhängigen Vektor
der Geschwindigkeit v(t) findet man dann als Grenzwert von ∆r/∆t
für ∆t → 0:
v ≡ ṙ ≡
dr
r(t + ∆t) − r(t)
= lim
dt ∆t→0
∆t
(1.5)
und speziell in kartesischen Koordinaten:
ṙ = ẋ ex + ẏ ey + ż ez .
(1.6)
Geometrisch ergibt sich der Vektor der Geschwindigkeit als Grenzlage der Sekante durch die Vektoren r(t + ∆t) und r(t) pro Zeitintervall
12
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
∆t in der Grenze ∆t → 0, d.h., die Richtung der Geschwindigkeit zur
Zeit t ist durch die Richtung der Tangente im Punkt P der Bahnkurve
r(t) zur Zeit t gegeben,
v = vT
(1.7)
(T - Tangenteneinheitsvektor, v = |v|). Führen wir die Bogenlänge der
Bahnkurve zwischen dem Punkt P (zum Zeitpunkt t) und einem (zu
einem geeignet gewählten Anfangszeitpunkt t0 bestimmten) Punkt P0
ein, d.h. die zwischen t0 und t zurückgelegte Wegstrecke s,
Z t
Z t
s = s(t) =
ds =
|dr| ; t = t(s),
(1.8)
t0
t0
so finden wir wegen r = r[s(t)]
v=
dr
dr ds
,
=
dt |{z}
ds |{z}
dt
T v
(1.9)
d.h. Gleichung (1.7).
So wie der Vektor der Geschwindigkeit als zeitliche Änderung des
Ortsvektors definiert wird, kann der Vektor der Beschleunigung als
zeitliche Änderung des Geschwindigkeitsvektors definiert werden:
∆v
v
v + ∆v
Hodograph
O
dv
v(t + ∆t) − v(t)
d2 r
a ≡ v̇ ≡ r̈ ≡
≡ 2 = lim
∆t→0
dt
dt
∆t
(1.10)
1.1. BAHNKURVE, GESCHWINDIGKEIT UND BESCHLEUNIGUNG13
und speziell in kartesischen Koordinaten:
r̈ = ẍ ex + ÿ ey + z̈ ez .
(1.11)
Die Beschleunigung a(t) wird aus der Kurve v(t) (Hodograph) in der
gleichen Weise gewonnen wie die Geschwindigkeit v(t) aus der Bahnkurve r(t).
Aus (1.10) mit (1.7) erhalten wir
a=
dv
d
=
(vT) = v̇ T + v Ṫ,
dt
dt
und es gilt
Ṫ =
Ferner folgt aus T · T = 1
d
(T · T) = 0
ds
dT dT ds
dT
=v
=
.
dt
ds |{z}
dt
ds
v
;
T·
dT
=0
ds
;
dT
⊥ T.
ds
Mit (1.13) und dem Hauptnormaleneinheitsvektor
−1
dT dT
1 dT
dT
=
=R
N = ds
ds
κ ds
ds
(1.12)
(1.13)
(1.14)
(1.15)
(κ = |dT/ds| - Krümmung, R = 1/κ - Krümmungsradius) lautet die
Beschleunigung (1.12)
dv
v2
a=
= v̇ T + N.
dt
R
(1.16)
Der Beschleunigungsvektor ist hier zerlegt in einen Anteil, der von der
Betragsänderung der Geschwindigkeit herrührt und einen Anteil, dessen Ursache die Richtungsänderung der Geschwindigkeit ist.
Die durch T und N aufgespannte Ebene heißt auch Schmiegungsebene der Bahnkurve [am Punkt r(t)]. Aus (1.16) ist ersichtlich, daß
der Beschleunigungsvektor immer in der Schmiegungsebene liegt und
nach der konkaven Seite der Bahnkurve zeigt. Der dritte auf T und
N senkrecht stehende Binormaleneinheitsvektor wird in der Mechanik
14
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
i. allg. nicht benötigt, da Beschleunigungen höherer Ordnung“ kaum
”
eine Rolle spielen. Das aus den genannten Einheitsvektoren gebildete Dreibein, das auch begleitendes Dreibein genannt wird, definiert das
sogenannte natürliche Koordinatensystem für Geschwindigkeit und Beschleunigung.
Ergänzung zur Gleichung (1.15)
∆φ
T
∆T
T + ∆T
T
.
.
T + ∆T
∆s
N
R
∆φ
Aus der Abbildung liest man ab, daß (∆t → 0)
dφ =
gilt, d.h.
ds
= |dT|
R
dT = 1 .
ds R
(1.17)
(1.18)
Der Krümmungsradius R kann als Radius des Kreises angesehen werden, durch den die Bahnkurve im betrachteten Punkt am besten approximiert wird.
15
1.2. KRUMMLINIGE KOORDINATENSYSTEME
1.2
Krummlinige Koordinatensysteme
In kartesischen Koordinaten sind die Koordinatenlinien Geraden. Bisweilen sind den Problemen krummlinige Koordinaten besser angepaßt.
In diesem Fall ändern die Koordinatenlinien ihre Richtung, so daß
die Einheitsvektoren ortsabhängig werden. Stehen die Koordinatenlinien senkrecht aufeinander (z.B. Zylinder- und Kugelkoordinaten), so
spricht man von rechtwinkligen (krummlinigen) Koordinaten. Der allgemeinste Fall wären schiefwinklige (krummlinige) Koordinaten. Im
Falle von schiefwinkligen Koordinaten lassen sich zwei Arten von Koordinaten und Basisvektoren definieren.
Koordinatenlinie xi
gi
gi
Fläche xi = const.
Betrachten wir ein Koordinatentripel
xi = xi (x, y, z)
(1.19)
(i = 1, 2, 3) mit der Umkehrtransformation
x = x(x1, x2, x3), y = y(x1, x2, x3), z = z(x1 , x2, x3).
(1.20)
Zum einen können kovariante Basisvektoren
gi =
∂r
∂xi
(1.21)
definiert werden, die sich an die jeweilige Koordinatenlinie xi anschmiegen. Zum anderen können über Gradientenbildung kontravariante
Basisvektoren
gi = ∇xi
(1.22)
16
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
definiert werden, die auf der jeweiligen Fläche xi = const. senkrecht
stehen. Offensichtlich gilt für rechtwinklige Koordinaten gi k gi . Die
Skalarprodukte
gik = gi · gk = gki ,
(1.23)
g ik = gi · gk = g ki
(1.24)
hängen von den gewählten Koordinaten ab, da die Basisvektoren davon abhängen. Invariant sind demgegenüber die Skalarprodukte von
kovarianten und kontravariaten Basisvektoren,
gik
∂xk
∂r
k
= δik
= gi · g = i · ∇x =
i
∂x
∂x
k
(1.25)
(δik - Kronecker-Symbol). Kovariante und kontravariante Basisvektoren
bilden jeweils eine Entwicklungsbasis für einen beliebigen Vektor q,
q = q k gk = qk gk
(1.26)
(q i - kontravariante Komponenten von q, qi - kovariante Komponenten
von q; Summenkonvention: über zwei gleiche ko- und kontravariante
Indizes ist zu summieren). Wir multiplizieren (1.26) skalar mit gi bzw.
gi , verwenden (1.25) und finden
q i = gi · q,
(1.27)
qi = gi · q.
(1.28)
Kovariante und kontravariante Komponenten lassen sich in einfacher
Weise ineinander umrechnen. So erhalten wir aus (1.27), (1.26) und
(1.24)
q i = gi · q = gi · gk qk = g ik qk ,
(1.29)
und analog
qi = gik q k .
(1.30)
gik g il = (gk · gi )(gi · gl ) = gk · gl = δkl .
| {z }
gl
(1.31)
Insbesondere haben wir
1.2. KRUMMLINIGE KOORDINATENSYSTEME
17
Das Skalarprodukt zweier Vektoren q und p lautet
bzw.
q · p = qi pk gi · gk = qi pi = q i pi ,
| {z }
δki
(1.32)
q · p = gik q i pk = g ik qipk .
(1.33)
dr = gi dxi = gi dxi ,
(1.34)
ds2 = dr · dr = gik dxidxk = g ik dxidxk ,
(1.35)
g ≡ det gik > 0.
(1.36)
dV = |g1 · (g2 × g3 )| dx1dx2dx3 ,
(1.37)
Die Größe gik heißt metrischer Fundamentaltensor; er bestimmt
die Länge des Bogenelements in den jeweils gewählten Koordinaten,
und es gilt
Als Volumenelement (im dreidimensionalen Raum) kann das von
den Vektoren dr1 = g1 dx1, dr2 = g2 dx2 und dr3 = g3 dx3 aufgespannte
Parallelepipedon angesehen werden, d.h.
bzw. mit
∂(x, y, z)
(1.38)
∂(xi, xk , xl )
als dem total antisymmetrischen (Levi-Civita-)Tensor dritter Stufe
ǫikl = gi · (gk × gl ) =
dV = |ǫ123|dx1dx2dx3 .
Man kann (durch direktes Ausrechnen) zeigen, daß
p
√
ǫ123 = ± det gik = ± g
und
ǫ123 ǫ123 = 1
(1.39)
(1.40)
(1.41)
gilt, wobei in (1.40) das Pluszeichen (Minuszeichen) zu einem
rechtshändigen (linkshändigen) Koordinatenssytem gehört. Folglich
kann (1.39) in die Form
√
(1.42)
dV = g dx1dx2dx3
18
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
gebracht werden. Um das Volumenelement zu erhalten, muß das (positive) Produkt der Differentiale dx1dx2dx3 also noch mit der Wurzel der
Determinante g das metrischen Fundamentaltensors (Betrag der Funktionaldeterminante) der zugehörigen Koordinaten multipliziert werden.
Entsprechend können die Flächen des das Volumenelement dV bildenden Parallelepipedons als (vektorielle) Flächenelemente angesehen
werden, beispielsweise
dA1 = g2 × g3 dx2 dx3.
(1.43)
Aus (1.38) ist unschwer abzulesen, daß ǫikl die i-te kovariante Komponente des Vektors gk × gl ist, d.h.
gk × gl = ǫikl gi
(1.44)
[vgl. (1.26) und (1.28)], so daß (1.43) als
√
dA1 = g1ǫ123 dx2 dx3 = ±g1 g dx2dx3
(1.45)
geschrieben werden kann. Um den Betrag des Flächenelements zu erhalten,
|dA1| =
p
gg 11 dx2 dx3,
(1.46)
muß also das (positive) Produkt der Differentiale dx2 dx3 noch mit der
Wurzel des Produkts aus der Determinante g des metrischen Fundamentaltensors und des Elements g 11 = g1 ·g1 der zugehörigen Koordinaten multipliziert werden. Die Formeln für dA2 und dA3 sind völlig
analog aufzuschreiben. Im folgenden werden wir ein rechtshändiges Koordinatensystem zugrundelegen, so daß in (1.45) das positive Vorzeichen zu nehmen ist.
19
1.2. KRUMMLINIGE KOORDINATENSYSTEME
Anmerkungen
• Gradient in beliebigen Koordinaten
Aus der Definition das Gradienten einer skalaren Funktion f =
f (x1, x2, x3),
∂f
df = dr · ∇f = i dxi,
(1.47)
∂x
lesen wir unter Berücksichtigung von dr = gi dxi die Beziehung
gi · ∇f =
∂f
∂xi
(1.48)
∇f = gi
∂f
∂xi
(1.49)
ab, d.h.
[vgl. (1.26) und (1.28)] bzw.
∇f = gi g ik
∂f
∂xk
(1.50)
• Divergenz in beliebigen Koordinaten
Die Divergenz einer vektoriellen Funktion f = f(x1 , x2, x3) kann
bekanntlich (über den Gaußschen Satz) als der Grenzwert
Z
1
∇ · f = lim
dA · f
(1.51)
∆V →0 ∆V (∆V )
definiert werden. Wir führen die Integration über ein kleines, in
x2
|∆A1|
x1
∆x2
∆x1
∆x3
x3
20
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
der Abbildung skizziertes Volumenelement aus, und zwar jeweils
über die zwei gegenüberliegenden Flächenelemente,
I∆A1 I∆A2 I∆A3
+
+
∇ · f = lim
.
(1.52)
∆V →0
∆V
∆V
∆V
Mit
∆A1 · f =
√ 1
g f ∆x2∆x3
(1.53)
[siehe (1.45)] erhalten wir für das Integral I∆A1
h p
I∆A1 ≈ − g(x1, x2, x3) f 1(x1, x2, x3)
i
p
1 1
1 2 3
1
1
2
3
+ g(x +∆x , x , x ) f (x +∆x , x , x ) ∆x2∆x3
≈
∂ √ 1
( g f )∆x1∆x2∆x3,
1
∂x
(1.54)
woraus unter Berücksichtigung von (1.42)
1 ∂ √ 1
I∆A1
=√
( gf )
∆V →0 ∆V
g ∂x1
lim
(1.55)
folgt. Mit den analogen Ergebnissen für die übrigen Flächen erhalten wir also
1 ∂ √ i
(1.56)
∇·f = √
( g f ).
g ∂xi
• Laplace-Operator in beliebigen Koordinaten
Aus (1.50) und (1.56) folgt (für eine skalare Funktion f ) sofort,
daß
1 ∂
√ ik ∂f
∆f = ∇ · (∇f ) = √
gg
(1.57)
g ∂xi
∂xk
gilt.
• Rotation in beliebigen Koordinaten
Wir wenden den Stokesschen Satz
Z
Z
dA · (∇ × f) =
A
(A)
dr · f
(1.58)
1.2. KRUMMLINIGE KOORDINATENSYSTEME
21
auf das (kleine) Flächenelement ∆A1 in der vorigen Abbildung
an. Mit (1.45) finden wir
√
g∆x2∆x3 g1 · (∇ × f)
≈ ∆x2 f2(x1, x2, x3) − f2(x1, x2, x3 +∆x3)
+ ∆x3 −f3(x1, x2, x3) + f3(x1, x2 +∆x2, x3)
∂f
∂f
2
3
−
,
(1.59)
≈ ∆x2∆x3
∂x2 ∂x3
d.h.
√
g g1 · (∇ × f) =
∂f3 ∂f2
−
.
∂x2 ∂x3
(1.60)
Multiplikation mit ǫ123 liefert unter Berücksichtigung von (1.40)
und (1.41)
g1 · (∇ × f) = ǫ123
∂f3
132 ∂f2
1kl ∂fl
+
ǫ
=
ǫ
.
∂x2
∂x3
∂xk
(1.61)
Mit den analogen Resultaten für die beiden anderen Komponenten erhalten wir also
∇ × f = gi ǫikl
∂fl
.
∂xk
(1.62)
Wenden wir uns nun der Darstellung von Geschwindigkeit und Beschleunigung eines Massenpunktes in beliebigen Koordinaten zu, wobei
wir von der metrischen Fundamentalgleichung (1.34) ausgehen wollen.
Geschwindigkeit:
ṙ = ẋi gi
(1.63)
r̈ = ẍi gi + ẋi ġi
(1.64)
Beschleunigung:
22
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
Wir wollen die Ergebnisse auf rechtwinklige Koordinaten spezialisieren, für die der metrische Fundamentaltensor diagonal ist,
gik = λ2i δik .
(1.65)
In diesem Fall sind die Basisvektoren gi und gi zueinander parallel,1
gi = λ2i gi k gi ,
(1.66)
und die Vektoren
gi
= λi gi
(1.67)
λi
stellen orthogonale Einheitsvektoren dar. Mit (1.67) lassen sich dann
die Gleichungen (1.63) und (1.64) wie folgt schreiben:
ei =
ṙ =
3
X
ẋi λi ei
(1.68)
i=1
r̈ =
3 X
d
dt
i=1
ẋiλi
ei + ẋiλi ėi
(1.69)
Die (i. allg. etwas umständliche) Berechnung von ėi kann auf der Basis
der Definitionsgleichung
ei =
1 ∂r
gi
=
λi
λi ∂xi
(1.70)
erfolgen.
Beispiel: Zylinderkoordinaten (x1 = ̺, x2 = ϕ, x3 = z)
In Zylinderkoordinaten gilt
x = x(̺, ϕ) = ̺ cos ϕ, y = y(̺, ϕ) = ̺ sin ϕ, z = z,
1
(1.71)
Beachte, daß in den Gleichungen (1.65), 1.66), (1.67) und (1.70) nicht über i summiert wird.
23
1.2. KRUMMLINIGE KOORDINATENSYSTEME
woraus
ds2 = dx2 + dy 2 + dz 2 = d̺2 + ̺2 dϕ2 + dz 2
(1.72)
ableitbar ist, d.h.
λ̺ = 1, λϕ = ̺, λz = 1.
(1.73)
Wir berechnen die Einheitsvektoren und ihre zeitlichen Ableitungen:
z
r
ϕ
̺
y
x
r = ̺ cos ϕ ex + ̺ sin ϕ ey + z ez ,
(1.74)
∂r
= e̺ = cos ϕ ex + sin ϕ ey ,
∂̺
(1.75)
1 ∂r
= eϕ = − sin ϕ ex + cos ϕ ey ,
̺ ∂ϕ
(1.76)
∂r
= ez ,
∂z
(1.77)
ė̺ = −ϕ̇ sin ϕ ex + ϕ̇ cos ϕ ey = ϕ̇ eϕ ,
(1.78)
ėϕ = −ϕ̇ cos ϕ ex − ϕ̇ sin ϕ ey = −ϕ̇ e̺ ,
(1.79)
ėz = 0 .
(1.80)
Gemäß (1.68) finden wir dann für die Geschwindigkeit
ṙ = ̺˙ e̺ + ϕ̺̇ eϕ + ż ez
(1.81)
24
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
und daraus gemäß (1.69) für die Beschleunigung
r̈ = ̺¨ e̺ + (ϕ̺̈ + ϕ̺̇)
˙ eϕ + z̈ ez
+ ̺˙ ė̺ + ϕ̺̇ ėϕ + ż ėz
= ̺¨ e̺ + (ϕ̺̈ + ϕ̺̇)
˙ eϕ + z̈ ez
+ ̺˙ϕ̇ eϕ − ϕ̺̇ϕ̇ e̺ ,
d.h.
(1.82)
r̈ = ̺¨ − ϕ̇2̺ e̺ + (ϕ̺̈ + 2̺˙ ϕ̇) eϕ + z̈ ez .
(1.83)
Beispiel: Kugelkoordinaten (x1 = r, x2 = ϑ, x3 = ϕ)
x = r sin ϑ cos ϕ, y = r sin ϑ sin ϕ, z = r cos ϑ,
(1.84)
ds2 = dr2 + r2dϑ2 + r2 sin2 ϑ dϕ2,
(1.85)
λr = 1, λϑ = r, λϕ = r sin ϑ.
(1.86)
Einheitsvektoren:
z
r
r
ϑ
ϕ
̺
y
x
r = r sin ϑ cos ϕ ex + r sin ϑ sin ϕ ey + r cos ϑ ez ,
∂r
= er = sin ϑ cos ϕ ex + sin ϑ sin ϕ ey + cos ϑ ez ,
∂r
1 ∂r
= eϑ = cos ϑ cos ϕ ex + cos ϑ sin ϕ ey − sin ϑ ez ,
r ∂ϑ
(1.87)
(1.88)
(1.89)
1.2. KRUMMLINIGE KOORDINATENSYSTEME
1 ∂r
= eϕ = − sin ϕ ex + cos ϕ ey ,
r sin ϑ ∂ϕ
25
(1.90)
Zeitliche Änderung der Einheitsvektoren:
ėr = ϑ̇ cos ϑ cos ϕ ex − ϕ̇ sin ϑ sin ϕ ex
+ ϑ̇ cos ϑ sin ϕ ey + ϕ̇ sin ϑ cos ϕ ey
− ϑ̇ sin ϑ ez
= ϑ̇ eϑ + ϕ̇ sin ϑ eϕ ,
(1.91)
ėϑ = − ϑ̇ sin ϑ cos ϕ ex − ϕ̇ cos ϑ sin ϕ ex
− ϑ̇ sin ϑ sin ϕ ey + ϕ̇ cos ϑ cos ϕ ey
− ϑ̇ cos ϑ ez
= − ϑ̇ er + ϕ̇ cos ϑ eϕ ,
(1.92)
ėϕ = − ϕ̇ cos ϕ ex − ϕ̇ sin ϕ ey
(1.93)
Gemäß (1.88) und (1.89) gilt
woraus
1
cos ϑ
er −
ez = cos ϕ ex + sin ϕ ey ,
sin ϑ
sin ϑ
(1.94)
sin ϑ
1
eϑ +
ez = cos ϕ ex + sin ϕ ey ,
cos ϑ
cos ϑ
(1.95)
ez = cos ϑ er − sin ϑ eϑ
(1.96)
cos ϕ ex + sin ϕ ey = sin ϑ er + cos ϑ eϑ ,
(1.97)
folgt. Kombination von (1.94) und (1.96) liefert
und damit wird
ėϕ = −ϕ̇ sin ϑ er − ϕ̇ cos ϑ eϑ .
(1.98)
ṙ = ṙ er + ϑ̇r eϑ + ϕ̇r sin ϑ eϕ
(1.99)
Gemäß (1.68) und (1.69) [zusammen mit (1.91), (1.92) und (1.98)] finden wir dann für die Geschwindigkeit
26
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
und die Beschleunigung
d
d ϑ̇r eϑ + (ϕ̇r sin ϑ) eϕ
r̈ = r̈ er +
dt
dt
+ ṙ ėr + ϑ̇r ėϑ + ϕ̇r sin ϑ ėϕ
d d
= r̈ er +
ϑ̇r eϑ + (ϕ̇r sin ϑ) eϕ
dt
dt
+ ṙ ϑ̇ eϑ + ϕ̇ sin ϑ eϕ + ϑ̇r −ϑ̇ er + ϕ̇ cos ϑ eϕ
+ ϕ̇r sin ϑ (−ϕ̇ sin ϑ er − ϕ̇ cos ϑ eϑ )
(1.100)
d.h.
2
2
2
r̈ = r̈ − ϑ̇ r − ϕ̇ r sin ϑ er
d
ϑ̇r + ṙϑ̇ − ϕ̇2r sin ϑ cos ϑ eϑ
+
dt
d
(ϕ̇r sin ϑ) + ṙϕ̇ sin ϑ + ϑ̇ϕ̇r cos ϑ eϕ ,
+
dt
(1.101)
bzw.
2
2
2
r̈ = r̈ − ϑ̇ r − ϕ̇ r sin ϑ er
1 d 2
2
+
ϑ̇r − ϕ̇ r sin ϑ cos ϑ eϑ
r dt
+
1.3
1
d
ϕ̇r2 sin2 ϑ eϕ .
r sin ϑ dt
(1.102)
Grundtypen von Bewegungen
Typische Fragestellungen der Kinematik sind beispielsweise die folgenden:
– Die Bewegung (d.h. die Bahnkurve) eines Massenpunktes ist bekannt, und es wird seine Geschwindigkeit und seine Beschleunigung gesucht.
1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN
27
– Die Geschwindigkeit eines Massenpunktes als Funktion von Ort
und Zeit sind bekannt, und es wird die Bahnkurve gesucht.
– Die Beschleunigung eines Massenpunktes ist als Funktion des Ortes, der Geschwindigkeit und der Zeit bekannt, und es wird die
Bahnkurve gesucht.
Die letzte Aufgabe, die man aus später ersichtlich werdenden Gründen
auch als eine Aufgabe der Dynamik ansehen kann, ist die häufigste und
wichtigste.
Die einfachste Bewegung eines Massenpunktes (eines Körpers) ist
die gleichförmig geradlinige Bewegung, für die
ṙ = v = const.
(1.103)
gilt und somit die Beschleunigung verschwindet,
r̈ = 0.
(1.104)
Aus (1.103) folgt dann sofort als Bahnkurve eine Gerade entlang der
durch v festgelegten Richtung:
r(t) = v(t − t0 ) + r0 .
1.3.1
(1.105)
Gleichförmig beschleunigte Bewegung
Die gleichförmig beschleunigte Bewegung ist durch
r̈ = a = const.
(1.106)
definiert, woraus für die Geschwindigkeit
ṙ = at + b
(1.107)
28
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
r − r0
v0
a
und damit für die Bahnkurve
r(t) = 21 at2 + bt + c
(1.108)
folgt (b, c - beliebige konstante Vektoren). Speziell für die Anfangsbedingungen
t = t0 , r = r0 , ṙ = v0
(1.109)
folgt
b = v0 − at0 ,
und somit lautet r(t)
r(t) =
c = r0 − 21 at20 − bt0 ,
1
2
2
t − t0 a + v0 t − t0 + r0 .
(1.110)
(1.111)
(1.112)
Die Bahnkurve liegt also in einer durch a und v0 aufgespannten Ebene –
die gleichförmig beschleunigte Bewegung ist also eine ebene Bewegung.
Die Bewegung setzt sich zusammen aus einer gleichförmig geradlinigen
Bewegung und einer gleichförmig beschleunigten, geradlinigen Bewegung.
Wir können ohne Beschränkung der Allgemeinheit die xy-Ebene als
diese Ebene wählen und die y-Achse parallel zur Beschleunigung legen,
a = aey ,
(1.113)
v0 = v0xex + v0y ey ,
(1.114)
x − x0 = v0x(t − t0 ),
(1.115)
y − y0 = 12 a(t − t0 )2 + v0y (t − t0 ).
(1.116)
29
1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN
Elimination der Zeit liefert die Bahngleichung
a
v0y
y − y0 = 2 (x − x0)2 +
(x − x0).
2v0x
v0x
(1.117)
Die Bahn ist also eine Parabel, deren Achse zur y-Achse (Beschleunigungsrichtung) parallel ist. In dem speziellen Fall, wenn die Anfangsgeschwindigkeit verschwindet oder in die Richtung der Beschleunigung
fällt, entartet die Bewegung in eine geradlinige Bewegung.
Die bekanntesten Beispiele einer gleichförmig beschleunigten Bewegung sind der Wurf und der freie Fall (im luftleeren Raum). Seit Galilei
ist bekannt, daß Körper im erdnahen Schwerefeld mit konstanter Beschleunigung g =9.81 ms−2 fallen. Wir legen das Koordinatensystem so,
daß die y-Achse vertikal nach oben gerichtet ist, d.h. a → −g. Mit
y
v0
α
x
v0x = v0 cos α,
(1.118)
v0y = v0 sin α
(1.119)
und t − t0 → t, x − x0 → x, y − y0 → y (siehe Abbildung) lauten die
Gleichungen (1.115) und (1.116)
x = v0t cos α,
(1.120)
y = v0t sin α − 12 gt2 ,
(1.121)
und die Wurfparabel ist
y = x tan α −
g
2v02 cos2 α
x2 .
(1.122)
Der horizontale Wurf ergibt sich für α = 0 und der vertikale Wurf für
α = ±π/2. Speziell für den freien Fall haben wir α = −π/2 und v0 = 0
30
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
zu setzen. Mit den Gleichungen (1.120) – (1.122) können dann alle
relevanten Fragen beantwortet werden.
Steigzeit
ẏ = 0 ; v0 sin α − gts = 0,
(1.123)
v0 sin α
ts =
.
(1.124)
g
Wurfdauer2
y = 0 ; v0td sin α − 12 gt2d = 0,
(1.125)
2v0 sin α
= 2ts .
(1.126)
td =
g
Wurfhöhe
v02 sin2 α
y(ts ) =
.
(1.127)
2g
Wurfweite
v02 sin(2α)
.
(1.128)
x(td) =
g
Aus (1.128) ist beispielsweise ersichtlich, daß bei gegebenem v0 die
Wurfweite für α = 45o den größten Wert annimmt, nämlich v02 /g. Jede
kleinere Wurfweite kann immer unter zwei Winkeln (α und π/2 − α)
erzielt werden (Steilwurf und Flachwurf).
1.3.2
Gleichförmige Kreisbewegung
Ein Massenpunkt führt eine gleichförmige Kreisbewegung aus,
wenn er sich mit konstanter Bahngeschwindigkeit v = |v| = const.
auf einem Kreis mit festem Radius R = const. bewegt. Wir verwenden
ebene Polarkoordinaten (z = 0) und finden gemäß (1.81)
v̺ = ̺˙ = 0,
(1.129)
vϕ = ̺ϕ̇ = Rω = v = const.
(1.130)
mit ω = ϕ̇ als der Winkelgeschwindigkeit um die z-Achse. Wegen v =
const. und R =const. ist also auch die Winkelgeschwindigkeit konstant,
v
ϕ̇ = ω =
= const. ; ϕ = ω(t − t0 ) + ϕ0 .
(1.131)
R
2
Erfolgt der Wurf aus einer Höhe h, dann ist offensichtlich y = −h zu setzen.
1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN
31
(1.81) liefert für die Komponenten der Beschleunigung
y
ϕ = ω(t − t0 ) + ϕ0
r
ϕ
x
v2
a̺ = ̺¨ − ϕ̇ ̺ = −ω R = − ,
R
(1.132)
aϕ = ϕ̺̈ + 2ϕ̺̇˙ = 0,
(1.133)
2
2
d.h., die Beschleunigung zeigt zum Mittelpunkt des Kreises (Radialbeschleunigung) und hat den Betrag ω 2 R,
v2
a = −ω R e̺ = − e̺ .
R
2
(1.134)
Bei einer gleichförmigen Kreisbewegung besteht offenbar zwischen
der Winkelgeschwindigkeit ω, der Umlaufzeit T , d.h. der Zeit ∆t einer
Winkelverschiebung um ∆ϕ = 2π, und der Drehzahl oder Frequenz
ν = 1/T der Zusammenhang
2π = ∆ϕ = ω∆t = ωT,
;
ω=
2π
= 2πν.
T
(1.135)
Die Winkelgeschwindigkeit als das 2π-fache der Frequenz wird auch
Kreisfrequenz genannt.
In kartesischen Koordinaten haben wir
x = ̺ cos ϕ
y = ̺ sin ϕ
;
;
x(t) = R cos(ωt + α),
(1.136)
y(t) = R sin(ωt + α) = R cos(ωt + α − π/2) (1.137)
32
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
(α = ϕ0 − ωt0 ). Die Projektionen der Kreisbewegung auf die x- und yAchse sind harmonische Schwingungen. Genauer ausgedrückt, die
gleichförmige Kreisbewegung kann als Überlagerung zweier zueinander
senkrecht stehender harmonischer Schwingungen angesehen werden, deren Phasendifferenz π/2 ist.
1.3.3
Periodische Bewegungen
1.3.3.1
Harmonischer Oszillator
Wir betrachten die periodische, lineare Bewegung eines Massenpunktes
längs der x-Achse um den Koordinatenursprung,
x(t + T ) = x(t)
(1.138)
mit T als der Perioden- oder Schwingungsdauer. Die periodische
Bewegung ist eine harmonische Schwingung, wenn die von der Ruhelage
(Koordinatenursprung) gerechnete Auslenkung oder Elongation x
eine Kosinus- oder Sinusfunktion der Zeit ist,
x(t) = A cos(ωt + α)
(1.139)
(A > 0, ω = 2π/T = 2πν). A und α heißen Amplitude und Phase
der Schwingung. Häufig wird der Begriff der Phase auch in bezug auf
das komplette Argument φ = ωt + α verwendet, und man spricht dann
von α als der Phasenkonstanten (die durch die Anfangsphase bestimmt
wird). Die Frequenz ν gibt die Anzahl der Schwingungen (Perioden) pro
Zeiteinheit an und die Kreisfrequenz ω die Anzahl der Schwingungen
pro 2π Zeiteinheiten.
x
A
t
T
Aus (1.139) ergibt sich als Geschwindigkeit
ẋ(t) = −ωA sin(ωt + α).
(1.140)
1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN
33
Die Geschwindigkeit nimmt also den betragsmäßig größten Wert ωA in
den Zeitpunkten
ωt + α = (2n + 1)π/2
(1.141)
der Durchgänge durch die Ruhelage an (n - ganz). Sie ist Null in den
Zeitpunkten
ωt + α = nπ
(1.142)
maximaler Auslenkung (Umkehrpunkte).
Wir differenzieren (1.140) und erhalten mit (1.139) für die Beschleunigung
ẍ(t) = −ω 2 A cos(ωt + α) = −ω 2 x(t),
(1.143)
Die Beschleunigung ist also proportional zur Auslenkung und dieser
entgegengesetzt gerichtet. Demzufolge verschwindet sie in den Zeitpunkten der Durchgänge durch die Ruhelage, und sie wird maximal
in den Zeitpunkten maximaler Auslenkung.
Aus (1.143) sehen wir, daß die Auslenkung einer harmonischen
Schwingung der Differentialgleichung
ẍ + ω 2 x = 0
(1.144)
genügt. Die Umkehrung ist ebenfalls richtig: Gilt für eine (eindimensionale) Bewegung eines Massenpunktes die Differentialgleichung (1.144),
dann führt der Massenpunkt eine harmonische Schwingung aus, da
x(t) = A cos(ωt + α) = A1 sin(ωt) + A2 cos(ωt)
(1.145)
die allgemeine Lösung dieser Differentialgleichung ist. Physikalische
Objekte, die harmonische Schwingungen ausführen, werden auch als
harmonische Oszillatoren bezeichnet.
Anstelle mit rellen Größen zu rechnen, ist es oft zweckmäßig, die
komplexe Schreibweise zu bevorzugen,
x(t) = Aeiωt ,
A = |A|eiα ,
(1.146)
wobei der Realteil (bzw. der Imaginarteil) von x(t) oder auch
x(t) + x∗(t) die physikalische (reelle) Schwingung repräsentiert. Der
34
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
Vorteil der komplexen Schreibweise wird insbesondere bei der Behandlung linearer Überlagerungen von harmonischen Schwingungen deutlich. Schwingungen unterschiedlichster Art spielen auf vielen Gebieten
der Physik eine herausragende Rolle, wobei x nicht immer eine mechanische Auslenkung eines Körpers bedeuten muß.
1.3.3.2
Überlagerung harmonischer Schwingungen
Überlagerung harmonischer Schwingungen gleicher Richtung und gleicher Frequenz
Addieren wir die beiden Schwingungen
x1(t) = A1eiωt , A1 = |A1|eiα1
(1.147)
x2(t) = A2eiωt , A2 = |A2|eiα2 ,
(1.148)
so erhalten wir als Resultante
bzw.
x(t) = x1 (t) + x2(t) = A1 + A2 eiωt
(1.149)
x(t) = Aeiωt
(1.150)
A = A1 + A2 .
(1.151)
mit
Die Resultante ist also wieder eine harmonische Schwingung der Kreisfrequenz ω. Ihre Amplitude und Phasenkonstante können nach den
üblichen Regeln der Addition komplexer Zahlen berechnet werden:
A = |A|eiα ,
|A| =
p
|A1 |2 + |A2|2 + 2|A1||A2 | cos(α2 − α1 ) ,
tan α =
|A1 | sin α1 + |A2 | sin α2
|A1 | cos α1 + |A2 | cos α2
(1.152)
(1.153)
(1.154)
Die Amplitude |A| der resultierenden Schwingung hängt bei gegebenen
|A1 | und |A2 | von der Phasendifferenz (Phasenverschiebung) δ = α2 − α1
ab. Speziell für
δ = 2nπ
(1.155)
1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN
35
Im z
A
A1
α2 − α1
α1
α
A2
α2
Re z
(n ganz) nimmt |A| den größten Wert
|A| = |A1 | + |A2 |
(1.156)
δ = (2n + 1)π
(1.157)
|A| = |A1 | − |A2 |
(1.158)
und für
den kleinsten Wert
an. Der Effekt der Phasenabhängigkeit der Amplitude der Überlagerungsschwingung wird auch als Interferenz bezeichnet. Im Falle
(1.156) spricht man auch von konstruktiver Interferenz im Gegensatz
zu destruktiver Interferenz im Falle von (1.158). Insbesondere wenn
|A1 | = |A2 | gilt, löschen sich die beiden Schwingungen gegenseitig völlig
aus.
Überlagerung harmonischer Schwingungen gleicher Richtung und verschiedener Frequenz
In diesem Fall kann die Resultante
x(t) = A1eiω1 t + A2 eiω2t
(1.159)
36
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
offensichtlich nicht in die Form (1.150) gebracht werden. Das Ergebnis
der Überlagerung ist also keine harmonische Schwingung, sondern ein
komplizierterer Vorgang, so daß i. allg. keine näheren Aussagen möglich
sind. Ist ω1 /ω2 eine rationale Zahl,
ω1
m
=
ω2
n
(1.160)
[m, n - teilerfremde ganze (positive) Zahlen], so ist die Resultante ein
periodischer Vorgang, d.h. eine Schwingung, deren Kreisfrequenz ω
durch
ω1 = mω, ω2 = nω
(1.161)
definiert ist,
x(t) = A1eimωt + A2 einωt,
(1.162)
2π
x(t + T ) = x(t), T =
.
(1.163)
ω
Ein wichtiger Spezialfall von (1.159) liegt vor, wenn sich die Frequenzen ω1 und ω2 nur wenig voneinander unterscheiden und die Amplituden übereinstimmen. Mit
A1 = |A1 |eiα1 ,
A2 = |A1|eiα2
(1.164)
folgt aus (1.159)
h
i
i(ω1 t+α1 )
i(ω2 t+α2 )
x(t) = |A1 | e
+e
h
= |A1 | ei[(ω1 −ω2 )t+α1 −α2 ]/2ei[(ω1 +ω2 )t+α1 +α2 ]/2
i
−i[(ω1 −ω2 )t+α1 −α2 ]/2 i[(ω1 +ω2 )t+α1 +α2 ]/2
+e
e
= 2|A1| cos[(ω1 −ω2 )t/2 + (α1 −α2 )/2]
× ei[(ω1 +ω2 )t+α1 +α2 ]/2,
d.h.
mit
(1.165)
x(t) = 2|A1| cos(∆ω t + ∆α)ei(ωt+α)
(1.166)
ω = 12 (ω1 + ω2 ),
(1.167)
α = 12 (α1 + α2 ),
37
1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN
und
∆ω = 12 (ω1 − ω2),
∆α = 21 (α1 − α2 ).
(1.168)
bzw. ∆ω ≪ ω,
(1.169)
Sind ω1 = ω + ∆ω und ω2 = ω − ∆ω annähernd gleich,
|ω1 − ω2| ≪ ω1 + ω2
dann ändert sich der Kosinus der Differenzfrequenz relativ zu dem der
Summenfrequenz nur sehr langsam. Der Kosinus der Differenzfrequenz
kann gewissermaßen der Amplitude zugeordnet werden, und der Vorgang – auch (reine) Schwebung genannt – kann als Schwingung der
Kreisfrequenz ω angesehen werden, deren Amplitude mit der Kreisfrequenz 2∆ω periodisch zwischen den Werten 0 und 2|A1 | schwankt. Die
x/(2|A1|)
1
∆ω/ω = 0.1
α = 1, ∆α/α = 0.5
0.5
−40 −20
20
40
60
ωt
−0.5
−1
ωTs
Frequenz
ωs = 2∆ω = |ω1 − ω2 |
(1.170)
heißt auch Schwebungsfrequenz und die Zeit
Ts =
2π
π
=
ωs
∆ω
(1.171)
Schwebungsdauer. Sind die Amplituden der zwei Einzelschwingungen
nicht gleich, dann ist die Schwebung weniger ausgeprägt in dem Sinn,
daß ihre Amplitude nicht auf Null absinken kann (unreine Schwebung).
38
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
∆ω/ω = 0.1
α = 1, ∆α/α = 0.5
x/(2|A1|)
3
2
|A3|/(2|A1|) = 2
1
−40 −20
−1
20
40
60
80
100 ωt
−2
−3
Wird die Schwebung (1.166) mit einer weiteren harmonischen
Schwingung
x3(t) = |A3|ei(ωt+α)
(1.172)
überlagert, entsteht als Resultante eine harmonisch amplitudenmodulierte Schwingung,
x(t) = [|A3| + 2|A1| cos(∆ω t + ∆α)] ei(ωt+α) .
(1.173)
Harmonische Schwingungsanalyse
Oft hat man es mit periodischen Vorgängen zu tun, die nicht in so
einfacher Form in wenige harmonische Schwingungen zerlegt werden
können. Die Zerlegung einer periodischen Bewegung in eine Summe
von harmonischen Schwingungen wird mathematisch durch das Fouriersche Theorem ermöglicht. Man spricht in diesem Zusammenhang
auch von der Fourier- bzw. Spektralzerlegung. Es sei x(t) eine periodische Funktion mit der Periodendauer T
x(t+T ) = x(t),
T =
2π
.
ω
(1.174)
Wenn x(t) die Dirichletschen Bedingungen erfüllt (die physikalisch fast
immer erfüllt sind), dann kann x(t) eineindeutig durch eine Summe
von Sinus- und Kosinusfunktionen dargestellt werden. Die Dirichletschen Bedingungen besagen, daß sich das Definitionsgebiet von x(t) in
39
1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN
x
t0
t
T
endlich viele Intervalle zerlegen läßt, in denen x(t) stetig und monoton ist, und an jeder Unstetigkeitsstelle müssen die Werte x(t+0) und
x(t−0) definiert sein. Die Fourier-Reihe von x(t) wird üblicherweise in
komplexer Schreibweise angegeben,
∞
X
x(t) =
An einωt
(1.175)
n=−∞
x(t) = x∗ (t)
;
A−n = A∗n .
(1.176)
Die Fourier-Koeffizienten lassen sich aus der Funktion x(t) in einem
(beliebigen) Intervall (t0, t0 + T ) wie folgt bestimmen:
1
T
Z
t0 +T
t0
−imωt
dt x(t)e
∞
X
1
An
=
T
n=−∞
|
Z
t0 +T
t0
dt ei(n−m)ωt ,
{z
}
δnm
(1.177)
d.h.
1
An =
T
Z
T
dt x(t)e−inωt
(1.178)
40
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
Von (1.175) kann leicht zur reellen Schreibweise übergegangen werden:


∞
X


inωt
x(t) = A0 +
+ A−n e−inωt ,
(1.179)
An e
|{z}
n=1
A∗n
An einωt + A∗n e−inωt = 2Re An einωt
= 2Re(An) cos(nωt) − 2Im(An ) sin(nωt). (1.180)
Mit
2
an = 2Re(An) =
T
und
Z
2
bn = −2Im(An) =
T
dt x(t) cos(nωt)
(1.181)
dt x(t) sin(nωt)
(1.182)
T
Z
T
geht (1.179) in
x(t) =
1
2 a0
+
∞
X
[an cos(nωt) + bn sin(nωt)]
(1.183)
n=1
über.
Die Gleichungen (1.175) und (1.183) zeigen, daß eine beliebige periodische Bewegung als Überlagerung von unendlich vielen harmonischen
Schwingungen aufgefaßt werden kann, wobei in der Praxis häufig eine
Beschränkung auf endlich viele vorgenommen werden kann. Die Schwingung ∼ eiωt ist die Grundschwingung, die Schwingungen ∼ einωt ,
n > 1, sind die (zur Grundschwingung harmonischen) Oberschwingungen. In vielen praktischen Fällen nähern die Grundschwingung und
wenige Oberschwingungen die Funktion x(t) bereits gut an.
Für T → ∞, d.h. ω → 0, geht (für quadratisch integrierbare Funktionen) die Fourier-Reihe (1.175) in das Fourier-Integral über:
Z
X
iΩn t
∆Ω qne
= dΩ q(Ω)eiΩt
(1.184)
x(t) = lim
∆Ω→0
Ωn
41
1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN
x
t
(Ωn = n∆Ω, ∆Ω ≡ ω), wobei gemäß (1.178)
An q(Ω) = lim
∆Ω→0 ∆Ω Ω =Ω
n
Z π
Z
∆Ω
1
1
= lim
dt x(t)e−iΩt =
dt x(t)e−iΩt
π
∆Ω→0 2π −
2π
∆Ω
(1.185)
gilt (t0 = −T /2).
Zwei senkrecht zueinander stehende harmonische Schwingungen gleicher Frequenz
Wir wollen annehmen, daß die x- und y-Komponente (eines Vektors
in der Ebene) harmonische Schwingungen der gleichen Kreisfrequnz ω
ausführen,
x(t) = A cos(ωt+α),
(1.186)
y(t) = B cos(ωt+β) = B cos(ωt+α +δ)
(1.187)
(δ = β − α). Wir kombinieren (1.187) mit (1.186) und schreiben
y
= cos(ωt+α) cos δ − sin(ωt+α) sin δ
B
r
x2
x
cos δ − 1 − 2 sin δ,
=
A
A
woraus
2
x
− cos δ =
B A
y
x2
1− 2
A
sin2 δ
(1.188)
(1.189)
42
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
bzw.
x2
y2
2xy
+
−
cos δ = sin2 δ
(1.190)
2
2
A
B
AB
folgt. Die Gleichung (1.190) stellt eine Kurve zweiter Ordnung, nämlich
eine Ellipse dar. Der resultierende Vektor r(t) = x(t)ex + y(t)ey + z(t)ez
beschreibt also eine elliptische Schwingung. Die Ellipse liegt in dem
Rechteck mit den Seitenlängen 2A und 2B, und ihr Zentrum liegt im
Koordinatenursprung.
y
A
B
x
Spezialfall: δ = 0 oder δ = π
In diesem Fall lautet die Gleichung (1.190)
x
A
∓
y 2
= 0.
B
(1.191)
Für δ = 0 geht die Ellipse in die Gerade y = (B/A)x und für δ = π in die
Gerade y =−(B/A)x über, d.h., eine lineare Schwingung der Amplitude
√
A2 +B 2 liegt vor.
Spezialfall: δ = π/2 oder δ = 3π/2
Die Gleichung (1.190) lautet
x2
y2
+
= 1,
A2 B 2
(1.192)
d.h., die Hauptachsen der Ellipse sind parallel zu den Koordinatenachsen, und die halben Hauptachsenlängen sind die Amplituden A und B
der beiden Einzelschwingungen.
43
1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN
Spezialfall: δ = π/2 oder δ = 3π/2 und A = B
In diesem Fall wird aus der Ellipsengleichung (1.192) die Kreisgleichung
x 2 + y 2 = A2 ,
(1.193)
d.h., die elliptische Schwingung geht in eine zirkulare Schwingung
über,
x(t) = A cos(ωt+α),
(1.194)
y(t) = ∓A sin(ωt+α).
(1.195)
Die den beiden Vorzeichen ∓ entsprechenden Schwingungen unterscheiden sich in der Umlaufrichtung.
A
y
A
x
0
1/4 π
5/4 π
3/2 π
1/2 π
3/4 π
7/4 π
π
2π
Schwingung für A = B in Abhängigkeit von δ.
Zwei senkrecht zueinander stehende harmonische Schwingungen verschiedener Frequenz
Wir wollen wieder annehmen, daß sich die Frequenzen der beiden
Schwingungen
x(t) = A cos(ω1t+α)
(1.196)
und
y(t) = B cos(ω2t+β)
(1.197)
44
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
nur wenig voneinander unterscheiden,
|ω1 − ω2 | ≪ ω1 + ω2 .
(1.198)
Schreiben wir y(t) in der Form
wobei
y(t) = B cos ω1t+ α+δ(t) ,
(1.199)
δ(t) = (ω2 −ω1)t+β −α
(1.200)
ist, so können wir unter der Voraussetzung (1.198) die Bewegung in der
xy-Ebene als Schwingung mit der Kreisfrequenz ω1 ≈ ω2 und (im Vergleich dazu) zeitlich langsam veränderlicher Phasendifferenz δ auffassen. Im Ergebnis erhalten wir nunmehr Ellipsen von zeitlich veränderlicher Lage. Die Bewegung ist natürlich nur dann streng periodisch
und die Bahnkurve nur dann geschlossen, wenn das Frequenzverhältnis ω1/ω2 eine rationale Zahl ist. Sind ω1 und ω2 inkommensurabel,
dann wird die Ausgangslage strenggenommen nie wieder erreicht. Die
im Ergebnis der Überlagerung zweier senkrecht aufeinander stehender
harmonischer Schwingungen verschiedener Frequenzen resultierenden
Bahnkurven heißen auch Lissajous-Figuren.3 Die folgende Abbildung
zeigt einige Beispiele.
3
In manchen Lehrbüchern findet man den Begriff Lissajous-Figuren nur auf streng periodische
Bewegungen angewandt.
45
1.3. GRUNDTYPEN VON BEWEGUNGEN
y/A
0.4
0.4
0.2
(a)
–1
–0.5
0
0.5
–0.2
(c)
(e)
(g)
(i)
–1
–1
–1
–1
–0.5
–0.5
0.2
–0.5
–0.4
0.4
0.4
0.2
0.2
0
0.5
1
–1
–0.5
0
–0.2
–0.2
–0.4
–0.4
0.4
0.4
0.2
0.2
0.5
1
–1
–0.5
–0.2
–0.2
–0.4
–0.4
0.4
0.4
0.2
0.2
0
0.5
1
–1
–0.5
0
–0.2
–0.2
–0.4
–0.4
0.4
0.4
0.2
0.2
0
0.5
1
–1
0.5
1
(b)
0.5
1
(d)
0.5
1
(f)
0.5
1
(h)
0.5
1
(j)
–0.2
–0.4
–0.5
–0.5
x
1
A–1
–0.5
–0.2
–0.2
–0.4
–0.4
α = 1, β − α = 0.5, B/A = 0.5;
ω2/ω1 = 1.1 (a), ω2/ω1 = 1.2 (b), ω2 /ω1 = 1.3 (c), ω2 /ω1 = 1.4
(d), ω2 /ω1 = 1.5 (e), ω2 /ω1 = 1.6 (f), ω2 /ω1 = 1.7 (g), ω2/ω1 =
1.8 (h), ω2/ω1 = 1.9 (i), ω2/ω1 = 2 (j).
46
KAPITEL 1. KINEMATIK EINES MASSENPUNKTES
Kapitel 2
Newtonsche Mechanik
2.1
Die Newtonschen Prinzipien
Die Grundgesetze bzw. Grundvoraussetzungen, auf denen alle weiteren Sätze über die Lehre der Bewegung materieller Körper unter der
Einwirkung von Kräften (Dynamik) aufbauen, sind im wesentlichen
in den Newtonschen Prinzipien oder Axiomen enthalten. Diese sind –
dem Wortsinn entsprechend – keine mathematisch beweisbaren Sätze,
sondern resultieren aus der Erfahrung. Sie sind demzufolge als richtig
anzusehen, wenn alle ihre Folgerungen durch die Erfahrung bestätigt
werden.
2.1.1
Das Trägheitsgesetz
Die einfachste Bewegung eines Massenpunkts (eines Körpers) ist die
gleichförmig geradlinige Bewegung, bei der ṙ konstant ist, und die Frage ist, unter welchen Umständen eine solche Bewegung existiert. Eine
mit einer gewissen Geschwindigkeit auf einer horizontalen Unterlage abgestoßene Kugel führt näherungsweise eine geradlinige Bewegung aus.
Die Kugel rollt um so weiter, je glatter die Unterlage ist, d.h., je glatter
die Unterlage, desto mehr ähnelt die Bewegung einer gleichförmig geradlinigen Bewegung. Die Geschwindigkeitsabnahme ist offensichtlich
eine Folge von äußeren Einflüssen (Wechselwirkung der Kugel mit der
Unterlage). Könnten diese beseitigt werden (so wie etwa die horizonale
Unterlage den Einfluß der Erde kompensiert), dann würde die Kugel
47
48
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
ihre Geschwindigkeit unverändert beibehalten. Diese (auch schon vor
Newton gewonnene) Erkenntnis wurde von Newton in einer recht allgemeinen Formulierung an die Spitze seines mechanischen Systems1
gestellt und bildet den Inhalt des ersten Axioms.
Jeder Körper beharrt im Zustand der Ruhe oder gleichförmig
geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte
gezwungen wird diesen Zustand zu ändern.
Der Begriff Kraft steht hier zunächst für äußeren Einfluß“, d.h. die
”
Wirkung anderer Körper auf den betrachteten Körper. Die Eigenschaft
der Körper, ihre Geschwindigkeit bzw. ihren Ruhezustand unverändert
beizubehalten, sofern sie nicht unter dem Einfluß anderer Körper stehen, wird Beharrungsvermögen oder Trägheit genannt und das Axiom
Trägheitsgesetz.
Die gleichförmig geradlinige Bewegung ist also auch vom dynamischen Standpunkt aus die einfachste, nämlich der natürliche Bewegungszustand eines Körpers, zu dessen Aufrechterhaltung keine äußere Einwirkung nötig ist. Das Trägheitsgesetz ist keine Selbstverständlichkeit, sondern stellt eine Extraktion vieler Erfahrungen für einen
idealen Grenzfall dar. Es kann insbesondere nicht Gegenstand einer
unmittelbaren experimentellen Überprüfung sein, da ein Körper nicht
vollständig jeder Einwirkung anderer Körper entzogen werden kann.
Das Trägheitsgesetz hat nur dann einen Sinn, wenn das Bezugssystem, in dem die Bewegung beschrieben wird, angegeben ist. Newton
sprach das Axiom bezüglich des im absoluten Raum“ ruhenden Sy”
stems aus. Ein solches System kann jedoch nicht durch Experimente
festgelegt werden. Der positive Inhalt des Axioms ist also das Postulat,
daß überhaupt ein Bezugssystem existiert, in dem das Trägheitsgesetz
gültig ist. Ein solches Bezugssystem heißt Inertialsystem. So kann
beispielsweise das im Fixsternhimmel befestigte System als ein solches angesehen werden, d.h. ein Koordinatensystem, dessen Ursprung
im Massenmittelpunkt (Abschnitt 2.3.2) des Sonnensystems liegt (also
näherungsweise im Mittelpunkt der Sonne) und dessen Achsen nach
bestimmten Fixsternen weisen. Wir werden später sehen, daß jedes System, das sich relativ zu einem Inertialsystem gleichförmig geradlinig
1
Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, London, 1687
2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN
49
bewegt, ebenfalls ein Inertialsystem ist. In vielen praktischen Fällen ist
es ausreichend, ein in der Erde verankertes Bezugssystem zu verwenden.
Der Inhalt des Trägheitsgesetzes kann also wie folgt zusammengefaßt werden:
• Es existiert ein solches Bezugssystem, in dem sich ein sich völlig
selbst überlassener ( kräftefreier“) Körper im Zustand der Ruhe
”
oder der gleichförmig geradlinigen Bewegung befindet.
• Ein solches Bezugssystem wird Inertialsystem genannt, und alle
weiteren Gesetze der Mechanik werden auf dieses System bezogen.
• Erfahrungsgemäß kann ein im Fixsternhimmel befestigtes Bezugssystem als Inertialsystem angesehen werden.
2.1.2
Das Grundgesetz der Dynamik
Nach dem ersten Newtonschen Axiom muß eine in einem Inertialsystem auftretende Beschleunigung eines Körpers der Einwirkung anderer Körper zugeschrieben werden. Diese üben eine Kraft auf den Körper
aus, oder – wie man auch sagt – am Körper greift eine Kraft an. Als
Veranschaulichung kann die Beschleunigung eines Körpers vermittels
unserer Muskelkraft dienen. Es sollte jedoch hervorgehoben werden,
daß Aussagen wie die Kraft ist Ursache der Beschleunigung“ nur for”
maler Natur sind. Die eigentlichen Ursachen der Beschleunigung eines Körpers sind in den geometrischen und physikalischen Eigenschaften des Körpers und seiner Umgebung einschließlich ihrer Wechselwirkung zu sehen. Diese zu untersuchen ist Gegenstand anderer Teilgebiete der Physik (z.B. Elektrodynamik, Gravitationsphysik, Atom- und
Elementarteilchenphysik). In der Mechanik werden die Kräfte i. allg.
als gegeben betrachtet, und es wird nicht ihr Ursprung, sondern ihre
(mechanische) Wirkung untersucht.
Die Einführung des Begriffs Kraft gestattet es, die vielfältigen wahren Ursachen von Beschleunigungen unter einem einheitlichen Begriff
zusammenzufassen, der es gestattet, die Bewegungsvorgänge von eigentlich sehr verschiedener Herkunft einheitlich zu behandeln, d.h. ei-
50
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
ne einheitliche Dynamik aufzubauen, die in allen Gebieten der Physik
anwendbar ist.
Die Erfahrung besagt, daß eine größere Beschleunigung einer größeren Kraft bedarf. Die einfachste Variante ist, die Kraft proportional zur
Beschleunigung zu setzen, wobei der Proportionalitätsfaktor offensichtlich keine universelle Konstante ist. Dies würde – bereits entgegen unserer Muskelempfindung – bedeuten, daß dieselbe Kraft jedem Körper die
gleiche Beschleunigung erteilt. So bedarf es einer größeren Kraft, einer
Eisenkugel die gleiche Beschleunigung zu erteilen wie einer Holzkugel
vom gleichen Radius. Die Eisenkugel ist (im Sinne des ersten Axioms)
träger als die Holzkugel. Demzufolge muß als Proportionalitätsfaktor in
die Beziehung zwischen Kraft und Beschleunigung eine für den Körper
charakteristische Größe eingehen, nämlich die (träge) Masse.
Es sei m die träge Masse und F die Kraft. Das zweite Axiom als das
Grundgesetz der Dynamik kann dann wie folgt formuliert werden:
Die auf einen Massenpunkt (eines Körpers) wirkende Kraft ist
gleich dem Produkt aus Masse und Beschleunigung des Massenpunkts.
mr̈ = F
(2.1)
Newton selbst formulierte das Axiom in einer etwas anderen Form:
Die Änderung der Bewegung ist der einwirkenden bewegenden
Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen
Linie, in der die Kraft wirkt.
Dabei ist unter Bewegung die Bewegungsgröße, d.h. der Impuls
p = mṙ
(2.2)
zu verstehen, so daß das Grundgesetz die Form der Impulsbilanz
ṗ = F
(2.3)
2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN
51
annimmt.
Die Formulierungen (2.1) und (2.3) sind identisch, wenn die Masse
m während der Bewegung als konstant angesehen werden kann,
ṗ =
d
(mṙ) = mr̈ = F.
dt
(2.4)
Bei sehr großen, mit der Lichtgeschwindigkeit c vergleichbaren Geschwindigkeiten v zeigt sich (relativistische Mechanik), daß die Masse
nicht mehr als konstant angesehen werden kann:
m0
m= p
1 − v 2/c2
(2.5)
(m0 - Ruhemasse, d.h. Masse für v = 0). In diesem Fall wird (2.1)
falsch, während (2.3) [zusammen mit (2.2) und (2.5)] weiterhin gültig
ist. Auch in der nichtrelativistischen Mechanik gibt es bereits Probleme,
bei denen m eine veränderliche Größe ist und (2.3) zur Anwendung
kommt. Ein typisches Beispiel ist die Bewegung einer Rakete, deren
Masse mit anhaltender Verbrennung des Treibstoffs abnimmt.
Dynamische Kraft- und Massenmessung
Das Grundgsetz erlaubt über Beschleunigungsmessung die dynamische Kraft- und -Massenmessung. Wir wollen annehmen, daß zwei
verschiedenen Körpern (Massenpunkten) mit der gleichen Kraft meßbare Beschleunigungen erteilt werden,
m1 r̈1 = m2 r̈2 ,
d.h.
(2.6)
|r̈1 |
m2
=
.
(2.7)
m1
|r̈2 |
Das Massenverhältnis der zwei Körper läßt sich also aus dem Verhältnis der gemessenen (Beträge der) Beschleunigungen bestimmen. Das
Massenverhältnis ist unabhängig von der Kraft und nur für die zwei
Körper charakteristisch. Wählt man die Masse eines beliebigen Körpers
als Vergleichsmasse (der Masseneinheit), so kann jede Masse eindeutig
bestimmt werden. Üblich ist das Kilogramm (kg) als Masse des sogenannten Pariser Ur- oder Normalkilogramms. Mit der Masseneinheit
52
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
wird dann über das Grundgesetz die Krafteinheit festgelegt,
1 N (Newton) = 1 kg m s−2.
(2.8)
1 Newton ist also die Kraft, die einem Körper der Masse 1 kg die Beschleunigung 1 ms−2 erteilt.
Wenn einer bekannten Masse beispielsweise mit einer in verschiedenem Grade zusammengedrückten Feder meßbare Beschleunigungen
erteilt werden, dann können auf Grund des Grundgesetzes die entsprechenden Kräfte bestimmt und auf diese Weise ein in der Krafteinheit
Newton geeichter Kraftmesser (Federwaage) konstruiert werden.
F
m
0
x
Statische Kraft- und Massenmessung
Bekanntlich zieht die Erde jeden materiellen Körper mit einer gewissen
Kraft an, Schwerkraft bzw. Gewicht genannt. Erfahrungsgemäß ist
an einem festen Ort der Erde die Fallbeschleunigung r̈ = g für jeden
Körper die gleiche. Nach dem Grundgesetz der Dynamik ist somit
F = mg
(2.9)
das Gewicht eines Körpers der Masse m.2 Das Gewicht des Normalkilogramms an dem Ort, an dem g = 9.81 ms−2 ist, wird üblicherweise als
praktische Krafteinheit Kilopond (kp) gewählt,
1 kp = 9.81 N.
(2.10)
Die praktische Kraftmessung beruht auf dem Gewicht. Die unbekannte
Kraft wird mit einem bekannten Gewicht in wohlbekannter Weise kompensiert, z.B. mit Hilfe eines über eine feste Rolle geführten Fadens. Die
2
An verschiedenen Orten ist g etwas verschieden. Am Äquator ist g = 9.78 ms−2 , während am
Nordpol g = 9.832 ms−2 gemessen wird (siehe dazu auch Abschnitt 2.2.6.3).
2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN
53
Kraft kann natürlich auch durch Dehnung einer Feder (Federwaage)
gemessen werden, wenn ihre Skala mit bekannten Gewichten geeicht
wurde.
F
mg
m
mg = F
mg
Diese Art der Kraftmessung wird durch die Erfahrung ermöglicht,
daß ein Körper (Massenpunkt) unter der Wirkung zweier gleichgroßer,
aber in entgegengesetzte Richtungen wirkenden Kräfte immer in den
(Gleichgewichts-)Zustand der Ruhe gebracht werden kann (siehe auch
Abschnitt 2.1.4). Die Methode wird deshalb auch statische Kraftmessung genannt. Sie ist für praktische Zwecke wesentlich bequemer
als die dynamische Kraftmessung.
Wenn man (mit Hilfe einer beliebigen Waage) bei einer statischen
Kraftmessung feststellt, daß die Gewichte zweier Körper an einem bestimmten Ort gleich groß sind, dann sind ihre Massen ebenfalls gleich
groß,
m1 g = m2 g ; m1 = m2 .
(2.11)
Dies ermöglicht die statische Massenmessung. Bei dieser Art von
Massenmessung spielt die Trägheit des Körpers offensichtlich keine Rolle (da er sich ja in Ruhe befindet), sondern die Schwere ist entscheidend. Demzufolge kann man zunächst einmal zwischen der durch die
dynamische Messung definierten trägen Masse mt und der durch die
Gewichtsmessung mittels Waage definierten schweren Masse ms unterscheiden. Die Tatsache, daß die beiden verschiedenen Arten der Massenbestimmung dasselbe Resultat ergeben (d.h. im gewählten Maßsystem mt = ms gilt) ist nicht trivial, sondern beruht auf der Erfahrungstatsache, daß die Fallbeschleunigung für jeden Körper die gleiche ist
[die genausten Messungen gehen auf Eötvös (1894) zurück].
54
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Zusammenfassende Wertung
• Das Grundgesetz der Dynamik führt den Kraft- und Massebegriff
ein, verbunden mit entsprechenden Meßverfahren. So können mit
Hilfe der geschilderten dynamischen Methoden Kraft- und Massenmessung auf Beschleunigungsmessungen, d.h. Längen- und
Zeitmessungen, zurückgeführt werden.
• Das Grundgesetz der Dynamik erlaubt die Lösung von zwei Arten
von Aufgaben. Einerseits kann von der beobachteten Bewegung
eines Massenpunkts (gegebener Masse) auf die am Massenpunkt
angreifende Kraft geschlossen werden. So liefert zweimalige Differentiation der Bahnkurve r(t) nach der Zeit die Beschleunigung
r̈, die multipliziert mit der Masse m die wirkende Kraft F = mr̈
ergibt. Auf diese Weise kann (gegebenenfalls unter Zuhilfenahme zusätzlicher Kraft- und Massemessungen) der mathematische
Ausdruck für die Kraft F, das sogenannte Kraftgesetz, für die
unterschiedlichsten Arten von Bewegungen gefunden werden.
• Umgekehrt kann bei gegebenem Kraftgesetz der Bewegungsablauf bestimmt werden, d.h., es kann die Bahnkurve r(t) bestimmt
werden. Dies ist i. allg. die Aufgabe, mit der sich die theoretische (und auch die technische) Mechanik befaßt. Wenn die auf
einen Massenpunkt (gegebener Masse) wirkende Kraft F bekannt
ist, so bestimmt die Gleichung mr̈ = F die Beschleunigung r̈ des
Massenpunkts, womit die Bestimmung der Bahnkurve auf das
mathematische Problem der Lösung von Differentialgleichungen
zurückgeführt ist.
2.1.3
Das Wechselwirkungsgesetz
(actio = reactio)
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die auf einen Massenpunkt
wirkende Kraft nicht aus dem Massenpunkt selbst stammt, sondern es
muß mindestens noch ein zweites Objekt vorhanden sein, mit dem der
Massenpunkt wechselwirkt. Erfahrungsgemäß erfährt ein Massenpunkt
bei der Wechselwirkung mit einem zweiten Massenpunkt nicht nur eine
2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN
55
Kraft, sondern er selbst übt auf den zweiten Massenpunkt ebenfalls eine
Kraft aus. Kraftwirkungen sind immer gegenseitig. Dieser Sachverhalt
ist Gegenstand des dritten Axioms:
Die von einem Massenpunkt (eines Körpers) auf einen zweiten
Massenpunkt (des gleichen oder eines anderen Körpers) ausgeübte Kraft F21 ist gleich groß und entgegengesetzt der Kraft
F12, die der zweite Massenpunkt auf den ersten Massenpunkt
ausübt.
Formelmäßig ausgedrückt, lautet es
F12 = −F21
(2.12)
und in Newtonscher Fassung:
Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung.
Das Axiom wird auch das Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung oder kurz Wechselwirkungsgesetz, auch
Gegenwirkungs- oder Reaktionsprinzip genannt. Seine fundamentale Bedeutung wird nicht so sehr in der Mechanik eines einzelnen Massenpunkts deutlich, als vielmehr bei der Mechanik von Massenpunktsystemen.
2.1.4
Superposition von Kräften
Als weiteres Axiom wird öfters der Sachverhalt genannt, daß sich die
auf einen Massenpunkt wirkenden Kräfte vektoriell addieren. Unterliegt
ein Massenpunkt gleichzeitig der Wirkung mehrerer Kräfte F1, F2, . . .,
so ist ihre Gesamtwirkung völlig gleichwertig der Wirkung ihrer vektoriellen Resultante, d.h., die Kräfte können durch die Einzelkraft
F = F1 + F2 + · · ·
(2.13)
56
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
ersetzt werden. Aus diesem Grund wird das Axiom auch das Unabhängigkeitsprinzip oder Superpositionsprinzip genannt. Für
das Grundgesetz der Dynamik heißt dies
mr̈ = F1 + F2 + · · · .
(2.14)
Der Sachverhalt ist eine Erfahrungstatsache und folgt nicht aus dem
Grundgesetz, wie man auf Grund der Addition der Gleichungen
mr̈1 = F1 , mr̈2 = F2 , . . .
(2.15)
denken könnte. Addition mit r̈ = r̈1 + r̈2 + · · · enthält nämlich die
Annahme, daß jede Kraft ihre eigene Wirkung auch in Gegenwart anderer Kräfte ausübt, die Kräfte also unabhängig voneinander sind und
sich gegenseitig nicht beeinflussen. Wenn z.B. eine ursprünglich vorhandene Kraft F1 durch die Gegenwart einer zweiten Kraft F2 zu F′1
verändert würde, so wäre die Beschleunigung des Massenpunkts nicht
(F1 + F2)/m, sondern (F′1 + F2)/m.
2.1.5
Bewegte Bezugssysteme
Die Grundgleichung der Dynamik
mr̈ = F
(2.16)
ist zunächst als in einem Inertialsystem gültig eingeführt worden. Wir
wollen nun untersuchen, welche Form die Grundgleichung in einem Bezugssystem Σ′ annimmt, das sich relativ zu einem Inertialsystem Σ auf
eine bestimmte Weise bewegt. Das Problem ist unter zwei Gesichtspunkten von Interesse:
(1) Es wird die Rolle des Inertialsystems verdeutlicht.
(2) Oft ist es wünschenswert, die Erscheinungen nicht in einem Inertialsystem, sondern z.B. in einem an die Erde oder an ein bewegtes Fahrzeug auf der Erde angehefteten Koordinatensystem zu
beschreiben.
2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN
r′
r
Σ
57
e′z
ez
Σ′
e′y
r0
O
ey
ex
O′
e′x
Bewegt sich relativ zu einem Inertialsystem Σ ein anderes System
Σ , so wird die Bewegung eines Massenpunkts von den in Σ und Σ′ befindlichen Beobachtern verschieden beschrieben. Wir wollen zwei kartesische Koordinatensysteme betrachten.
In Σ: Ort des bewegten Massenpunkts wird durch den Ortsvektor
r = r(t) festgelegt.
′
In Σ′ : Ort des bewegten Massenpunkts wird durch den Ortsvektor
r′ = r′ (t) festgelegt.
Es gilt
r = r0 + r′ .
(2.17)
Durch zeitliche Differentiation finden wir daraus den Zusammenhang
zwischen den Geschwindigkeiten und Beschleunigungen in den beiden
Systemen. Dabei ist zu beachten, daß r′ auf das Koordinatensystem Σ′
zu beziehen ist,
r′ = x′ e′x + y ′ e′y + z ′ e′z ,
(2.18)
dessen Basisvektoren e′x , e′y , e′z i. allg. zeitlich nicht konstant sind. Wir
finden zunächst
′
′
de′y
dr dr0
′ dex
′
′ dez
ṙ =
=
+x
+y
+z
dt
dt
dt
dt
dt
dy ′ ′ dz ′ ′
dx′ ′
e +
e +
e .
+
dt x
dt y
dt z
(2.19)
Ein Beobachter in Σ′ , für den sich die Achsenrichtungen seines Koordinatensystems nicht ändern, schreibt dem Massenpunkt offensichtlich
58
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
die Geschwindigkeit
ṙ′ ≡
dx′ ′
dy ′ ′ dz ′ ′
d′ r′
≡
ex +
e +
e
dt
dt
dt y
dt z
= ẋ′e′x + ẏ ′ e′y + ż ′ e′z
(2.20)
zu. Die Schreibweise d′ r′ /dt bringt zum Ausdruck, daß die zeitliche Differentiation in Σ′ bei fester Lage der Koordinatenachsen durchzuführen
ist. Man spricht von
v≡
dr
dt
(2.21)
auch als von der Absolutgeschwindigkeit und nennt
v′ ≡
d′ r′
dt
(2.22)
Relativgeschwindigkeit. Die Größe
vtr ≡
dr0
dt
(2.23)
ist die Geschwindigkeit des Koordinatenursprungs O′ von Σ′; sie heißt
auch Translationsgeschwindigkeit.
Die zeitliche Änderung der Basisvektoren e′x , e′y , e′z in (2.19) resultiert aus einer möglichen Drehung des Systems Σ′ um eine Achse durch
seinen Ursprung. Ganz allgemein kann eine Drehung um eine Achse folgendermaßen beschrieben werden. Aus der folgenden Abbildung lesen
wir ab:
−→
−→
d|AB| = CB dϕ = |AB| sin ϑ dϕ,
(2.24)
−→
−→
−→
d|AB|
dϕ
= |AB| sin ϑ
= |AB| sin ϑ ω.
dt
dt
(2.25)
Wir definieren den Vektor der (momentanen) Winkelgeschwindigkeit
~ω als den Vektor, dessen Richtung durch die (momentane) Drehachse
2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN
59
~ω
dϕ
C
−→
B
dAB
−→
ϑ
AB
A
im Sinne einer Rechtsschraube gegeben ist und dessen Betrag durch
|~ω | = |ϕ̇| bestimmt ist. Mit (2.25) folgt dann:
−→
−→
dAB
= ~ω × AB
dt
(2.26)
−→
Identifizieren wir nunmehr AB der Reihe nach mit e′x , e′y und e′z , so
erhalten wir für die gesuchten zeitlichen Ableitungen der Basisvektoren
in Σ′
de′y
de′x
de′z
′
′
= ~ω × ex ,
= ~ω × ey ,
= ~ω × e′z
(2.27)
dt
dt
dt
und folglich gilt
′
de′y
de′x
′
′ dez
x
+y
+z
= ~ω × r′ ,
dt
dt
dt
Mit (2.20) und (2.28) lautet die Gleichung (2.19):
′
dr0
dr d′ r′
=
+
+ ~ω × r′
dt
dt
dt
(2.28)
(2.29)
60
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Die für verschwindende Relativgeschwindigkeit v′ = 0 resultierende Geschwindigkeit
dr0
+ω
~ × r′
dt
(2.30)
wird auch Führungsgeschwindigkeit genannt. Wegen r−r0 =r′ folgt
aus (2.29)
d′ r′
dr′
=
+ω
~ × r′ .
dt
dt
(2.31)
Aus der Art der Herleitung ist sofort ersichtlich, daß die Gleichung
(2.31) nicht nur für den Vektor r′ , sondern für jeden Vektor
b = b′x e′x + b′y e′y + b′z e′z
(2.32)
db d′ b
=
+ ~ω × b.
dt
dt
(2.33)
gilt:
Ist speziell b = ~ω , so haben wir
d~ω
d′ ~ω
=
,
dt
dt
(2.34)
d.h., der Vektor der Winkelgeschwindigkeit spielt eine besondere Rolle;
seine zeitliche Änderung ist in beiden Bezugssystemen die gleiche.
Wir wollen die Beschleunigung berechnen. Aus (2.29) [mit den Bezeichnungsweisen (2.21) – (2.23)] erhalten wir durch zeitliche Differentiation
dr′
d~ω
dv dv′ dvtr
=
+
+ ~ω ×
+
× r′ .
dt
dt
dt
dt
dt
(2.35)
Zur Berechnung von dv′ /dt können wir wieder die Gleichung (2.33)
anwenden:
d′ v′
dv′
=
+ ~ω × v′.
dt
dt
(2.36)
2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN
61
Ferner liefert die Gleichung (2.31)
dr′
= ~ω × v′ + ~ω × (~ω × r′ ).
~ω ×
dt
(2.37)
Wir setzen (2.36) und (2.37) in (2.35) ein und erhalten:
dv d′ v′ dvtr d~ω
=
+
+
× r′
dt
dt
dt
dt
′
+ ~ω × (~ω × r ) + 2~ω × v′
(2.38)
Die Größe dvtr /dt heißt auch Translationsbeschleunigung. Ferner
wird die für verschwindende Relativgeschwindigkeit v′ = 0 (und damit
auch verschwindende Relativbeschleunigung dv′ /dt = 0) resultierende
Beschleunigung
dvtr d~ω
+
× r′ + ~ω × (~ω × r′ )
dt
dt
(2.39)
auch Führungsbeschleunigung genannt, da sie (für v′ = 0) gerade
die zeitliche Ableitung der Führungsgeschwindigkeit (2.30) ist. Als Coriolisbeschleunigung wird in der Regel die Größe
−2~ω × v′
(2.40)
und als Zentrifugalbeschleunigung die Größe
−~ω × (~ω × r′ )
bezeichnet.
(2.41)
62
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Grundgleichung der Dynamik
Setzen wir in der in Σ geltenden Grundgleichung
mr̈ = F
(2.42)
für r̈ = dv/dt die Gleichung (2.38) ein, so erhalten wir als Grundgleichung in Σ′ (r̈′ = d′ v′ /dt):
mr̈′ = F − mr̈0 − m~ω˙ × r′
′
− m~ω ×(~ω ×r )−2m~ω×ṙ
(2.43)
′
Im System Σ′ ist offensichtlich das Grundgesetz der Mechanik in der
Form mr̈′ =F nicht gültig, da auf der rechten Seite der Gleichung (2.43)
außer der (im Inertialsystem Σ auftretenden) Kraft F vier weitere Glieder – die Trägheitskräfte – auftreten. Ein Beobachter im System Σ′ ,
der die Bewegung eines Massenpunkts (in Σ′ ) deuten will, muß also zu
der am Massenpunkt angreifenden Kraft noch die vier Trägheitskräfte
hinzunehmen. Ist speziell F = 0, so wird mittels der Trägheitskräfte gerade der Effekt der Trägheit eines Massenpunkts beschrieben, wonach
sich ein sich selbst überlassener Massenpunkt (im Inertialsystem Σ) beschleunigungsfrei bewegt. Die Gleichung (2.43) kann als Formulierung
des Grundgesetzes der Mechanik in einem beliebigen Bezugssystem angesehen werden:
Die Grundgleichung der Mechanik kann in jedem Bezugssystem
angewendet werden, wenn zu der Kraft, die am Massenpunkt
im Inertialsystem angreift, die Trägheitskräfte addiert werden.
Zwei der Trägheitskräfte haben besondere Namen erhalten, nämlich
die Zentrifugalkraft Fcen = −m~ω × (~ω × r′ ) und die Corioliskraft
Fcor = −2m~ω × v′ .
Wenn man die an einem Massenpunkt angreifende Kraft als eine
durch die Wechselwirkung mit anderen physikalischen Objekten bestimmte objektive Realität ansieht, so kann diese von solchen mathematischen Hilfsmitteln wie der Wahl des Bezugssystems nicht abhängig
2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN
63
~ω
~ω × r′
Fcen = −m~ω × (~ω × r′ )
r′
~ω
Fcor = −2m~ω × v′ )
v′
sein. In diesem Sinne kann Kraft nur die oben mit F bezeichnete Größe
F genannt werden, die den Newtonschen Axiomen entsprechend die
Beschleunigung des Massenpunkts im Inertialsystem bewirkt. Demgegenüber sind die Trägheitskräfte nicht wirkliche Kräfte, sondern eher
fiktive Kräfte. Man nennt sie deshalb auch Scheinkräfte im Gegensatz
zu den als eingeprägte Kräfte bezeichneten wirklichen Kräften. Die
Einführung der Scheinkräfte ist sehr zweckmäßig, da sich damit die mechanischen Erscheinungen in jedem Bezugssystem in bekannter Weise
beschreiben lassen. Die Scheinkräfte äußern sich für einen in Σ′ befindlichen Beobachter mit der gleichen Wirkung wie die eingeprägten Kräfte
in Σ und sind ebenso wie die eingeprägten Kräfte meßbare Kräfte.
64
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Galileisches Relativitätsprinzip
Wir betrachten zwei relativ zueinander bewegte Bezugssysteme Σ und
Σ′, wobei das System Σ nicht notwendigerweise ein Inertialsysteme sein
muß, und bezeichnen mit F̃ die Resultante aus eingeprägten Kräften
und den in Σ wirkenden Trägheitskräften. Von der Herleitung der Gleichung (2.43) ist klar, daß auch im vorliegenden Fall die Grundgleichung
in Σ′ sinngemäß auf (2.43) führt, wenn dort unter F nunmehr die genannte Kraftresultante F̃ verstanden wird. Führt das System Σ′ relativ
zum System Σ nur eine gleichförmig geradlinige Bewegung aus, d.h.
r = r̃0 + r′ ,
r̃˙ 0 = const.,
~ω̃ = 0,
(2.44)
dann treten in der in Σ′ geltenden Grundgleichung (2.43) keine aus der
Bewegung von Σ relativ zu Σ′ resultierenden (zusätzlichen) Trägheitskräfte auf, und die Grundgleichungen in Σ und Σ′ lauten
in Σ :
in Σ′ :
mr̈ = F̃,
mr̈′ = F̃,
(2.45)
(2.46)
wobei die in den beiden Gleichungen auftretende Kraft F̃ als Funktion
der Koordinaten und Geschwindigkeiten in den beiden Systeme i. allg.
nicht die gleiche Form besitzt,
F̃ = F − mr̈0 − m~ω˙ × r − m~ω × (~ω × r) − 2m~ω × ṙ
(in Σ)
= F − mr̈0 − m~ω˙ × r′ − m~ω × (~ω × r′ ) − 2m~ω × ṙ′
− m~ω˙ × r̃0 − m~ω × (~ω × r̃0) − 2m~ω × r̃˙ 0
(in Σ′) .
(2.47)
Wenn speziell das System Σ ein Inertialsystem ist, dann ist die Kraft
in der Grundgleichung (2.45) als eine eingeprägte Kraft, F̃ = F, i. allg.
eine Funktion des Orts, der Geschwindigkeit und der Zeit. Wenn wir ferner davon ausgehen, daß eingeprägte Kräfte ihre Ursache in der Wechselwirkung eines Körpers mit anderen Körpern haben, dann können
eingeprägte Kräfte nur von auf diese Körper bezogenen Lagen und Geschwindigkeiten abhängen. Anders ausgedrückt, sie können nur von irgendwelchen Koordinaten- und Geschwindigkeitsdifferenzen abhängen,
F = F(r−rref , ṙ− ṙref , t),
(2.48)
2.1. DIE NEWTONSCHEN PRINZIPIEN
65
so daß die Grundgleichung (2.45) im Inertialsystem Σ die Form
mr̈ = F(r−rref , ṙ− ṙref , t)
(2.49)
annimmt. Die den Übergang zwischen zwei Bezugssystemen Σ
und Σ′ vermittelnde Transformation (2.44) heißt auch GalileiTransformation. Ist Σ ein Inertialsystem, dann nimmt die Grundgleichung (2.46) im relativ dazu unbeschleunigt bewegten Bezugssystem Σ′
offensichtlich die gleiche Form wie im Inertialsystem Σ an,
mr̈′ = F(r′ −r′ref , ṙ′ − ṙ′ref , t).
(2.50)
Wenn also das System Σ ein Inertialsystem ist, dann ist auch jedes
System Σ′, das relativ zu Σ eine unbeschleunigte Translationsbewegung
ausführt, ein Inertialsystem. Das heißt, wenn es ein Inertialsystem gibt,
dann gibt es unendlich viele Inertialsysteme.
Untersucht ein im Inertialsystem Σ′ befindlicher Beobachter in seinem System irgendeinen mechanischen Vorgang, so findet er Bewegungsgleichungen, die gleich denjenigen sind, die ein im Inertialsystem
Σ befindlicher Beobachter bei der Untersuchung des Vorgangs findet.
Folglich kann von keinem einzigen System Σ, d.h. von keinem einzigen
Punkt des Universums behauptet werden, daß er in absoluter Ruhe
ist, da dies mit demselben Recht von jedem System Σ′, das relativ
zu Σ eine gleichförmig geradlinige Translationsbewegung ausführt, behauptet werden könnte. Mit keinem mechanischem Experiment kann
zwischen Σ und Σ′ unterschieden werden. In diesem Sinne können also keine absolute Ruhe und keine absolute Geschwindigkeit festgestellt
werden. Obiger Sachverhalt wird auch als das Relativitätsprinzip
der klassischen Mechanik bzw. Galileisches Relativitätsprinzip
bezeichnet:
Inertialsysteme, die relativ zueinander eine unbeschleunigte
Translationsbewegung ausführen, sind für die Beschreibung mechanischer Vorgänge vollkommen gleichwertig.
Im Hinblick auf die gleiche Form der Grundgleichungen (2.49) und
(2.50) wird das Galileische Relativitätsprinzip also auch wie folgt formuliert:
66
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Die Grundgleichung der Mechanik ist gegenüber GalileiTransformationen beim Übergang von einem Inertialsystem zu
einem anderen forminvariant.
Umgekehrt kann man sagen, daß die durch die Erfahrung bestätigte
Forminvarianz des Grundgesetzes der Mechanik beim Übergang von einem Inertialsystem zu einem anderen Inertialsystem bezüglich der analytischen Form der an einem Massenpunkt angreifenden (eingeprägten)
Kräfte bedeutet, daß diese nur von relativen Lagen und relativen Geschwindigkeiten abhängen können.
Wir wollen annehmen, daß sich Σ′ relativ zu Σ gleichförmig geradlinig längs der x-Achse bewegt, die mit der x′-Achse zusammenfallen soll.
Nehmen wir ferner an, daß zum (gewählten) Zeitnullpunkt die beiden
Systeme zusammenfallen, dann lautet die Galilei-Transformation
x′ = x − vtrt,
y ′ = y,
z ′ = z,
(2.51)
wobei der Vollständigkeit halber anzumerken ist, daß
t′ = t
(2.52)
gilt, die Zeit also beim Übergang zwischen den beiden Inertialsystemen nicht transformiert wird. Die Forderung (2.52) ist nicht triviz
Σ
z′
y
vtrt
Σ′
y′
x
x′
al und auch nicht universell gültig. Sie ist gültig, solange die betrachteten Geschwindigkeiten klein im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit c = 3 · 108 ms−1 sind. Die Verallgemeinerung des Galileischen
Relativitätsprinzips der Mechanik ist das Einsteinsche spezielle
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
67
Relativitätsprinzip, nach welchem Bezugssysteme, die relativ zueinander eine unbeschleunigte Translationsbewegung ausführen, für
die Beschreibung aller physikalischen Erscheinungen äquivalent sind,
und die Forminvarianz der entsprechenden Gleichungen LorentzTransformationen anstelle von Galilei-Transformationen erfordert.
So ist die spezielle Galilei-Transformation (2.51) und (2.52) durch die
spezielle Lorentz-Transformation
x − vtr t
x′ = p
, y ′ = y, z ′ = z,
(2.53)
2
1 − vtr/c2
t − (vtr/c2 )x
t = p
2 /c2
1 − vtr
′
zu ersetzen. Für
(2.54)
2
vtr
≪1
(2.55)
c2
(nichtrelativistischer Grenzfall) gehen die Gleichungen (2.53) und
(2.54) in die Gleichungen (2.51) und (2.52) über.
2.2
Dynamik eines Massenpunkts
Wie bereits erwähnt, ermöglicht das 2. Newtonsche Axiom die Lösung
von im wesentlichen drei Arten von Problemen.
(1) Berechnung der Kraft F, die auf einen Massenpunkt wirkt, wenn
seine Bahnkurve r(t) bekannt ist.
(2) Berechnung der Bahnkurve r(t) bei bekannter Kraft F.
(3) Kraft und Bahnkurve sind teilweise bekannt. Die vollständige
Bahnkurve und die entsprechende Gesamtkraft sind zu berechnen.
Obwohl durchaus von praktischer Bedeutung, sind Aufgaben der ersten
Art von geringerem theoretischen Interesse, da sie auf reine Differentiationsaufgaben hinauslaufen. Die eigentlichen Aufgaben der theoretischen Mechanik, denen wir uns im folgenden widmen wollen, sind
solche der zweiten und dritten Art.
68
2.2.1
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Bewegungsgleichungen
Das Problem der Bestimmung des Bewegungsablaufs eines im Raum
(frei) beweglichen Massenpunkts stellt sich wie folgt dar. Die Masse m
des Punkts und die auf ihn wirkende resultierende (Gesamt-)Kraft F,
die i. allg. eine Funktion des Orts, der Geschwindigkeit und der Zeit
ist, sind bekannt. Das heißt, das Kraftgesetz
F = F(r, ṙ, t)
(2.56)
ist gegeben. Die gesuchte Bahnkurve r(t) des Massenpunkts genügt der
Grundgleichung der Dynamik
mr̈ = F(r, ṙ, t).
(2.57)
Ihre Bestimmung erfordert die Integration dieser vektoriellen, gewöhnlichen Differentialgleichung 2. Ordnung. In Komponenten zerlegt, beinhaltet die Gleichung (2.57) drei gekoppelte Differentialgleichungen,
auch Bewegungsgleichungen des Massenpunkts genannt. Speziell in
kartesischen Koordinaten lauten sie
mẍ = Fx(x, y, z, ẋ, ẏ, ż, t),
mÿ = Fy (x, y, z, ẋ, ẏ, ż, t),
mz̈ = Fz (x, y, z, ẋ, ẏ, ż, t).
(2.58)
Die allgemeine, sechs willkürliche Integrationskonstanten enthaltende
Lösung der Bewegungsgleichungen umfaßt die Gesamtheit der Bewegungen, die das gegebene Kraftgesetz zuläßt. Eine bestimmte Bewegung wird dann eindeutig dadurch bestimmt, daß die Integrationskonstanten durch gewisse Bedingungen festgelegt werden. Am häufigsten
werden Anfangsbedingungen gestellt, d.h., es werden Ort (r0 ) und Geschwindigkeit (v0) des Massenpunkts zu einer gewissen Anfangszeit (t0 )
vorgegeben,
r0 = r(t0 ), v0 = ṙ(t0).
(2.59)
Die Tatsache, daß bei bekanntem Kraftgesetz und bekanntem Anfangszustand der Ablauf der Bewegung eines Massenpunkts eindeutig bestimmt ist, liefert ein charakteristisches Beispiel für die Determiniertheit des Künftigen durch das Gegenwärtige. Diese Determiniertheit ist
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
69
als gleichbedeutend mit der Kausalität im mechanischen Geschehen
anzusehen.
Die Bewegungsgleichungen stellen Beziehungen zwischen zeitlich
und räumlich unmittelbar benachbarten Bewegungszuständen dar und
beschreiben den Bewegungsablauf im Kleinen. Dieser ist in der Regel
einfacher und kompakter zu formulieren als der Bewegungsablauf im
Großen, der die explizite Angabe aller möglichen Bahnkurven erfordert. Dies ist nicht nur in der Mechanik der Fall und erklärt, warum
viele fundamentale Naturgesetze in Form von Differentialgleichungen
vorliegen.
Die Bestimmung der Bahnkurve eines Massenpunkts erfordert folgende Schritte:
(1) Auffinden bzw. Aufstellen des entsprechenden Kraftgesetzes und
damit der Bewegungsgleichungen.
(2) Integration der Bewegungsgleichungen.
(3) Deutung und Fixierung der auftretenden Integrationskonstanten
sowie physikalische Interpretation der Lösung.
Die (zumindest teilweise) Integration der Bewegungsgleichungen kann
oft mit Hilfe von geeignet einzuführenden Größen (wie Impuls, Drehimpuls, Energie) und den für diese Größen unter bestimmten Bedingungen
geltenden Erhaltungssätzen erheblich erleichtert werden.
So können bei bestimmten Klassen von Kräften auf Grund von Bilanzgleichungen und Erhaltungssätzen ein oder mehrere erste Integrale der Bewegungsgleichungen unmittelbar angegeben werden. Dabei wollen wir unter einem ersten Integral der Bewegungsgleichungen
(d.h. der Differentialgleichungen 2. Ordnung) eine Differentialgleichung
1. Ordnung der Form
f (r, ṙ, t) = 0
(2.60)
verstehen. In vielen Fällen kann man aus solchen Bewegungsintegralen
bereits wichtige Schlüsse über den Bewegungsablauf ziehen, ohne die
Bewegungsgleichungen vollständig integrieren zu müssen.
70
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
2.2.2
Impulsbilanz
Beginnen wir mit der Impulsbilanz. Für einen Massenpunkt ist sie trivial, da sie nichts anderes darstellt als die bereits erwähnte Form
dp
=F
dt
(2.61)
des Grundgesetzes der Mechanik mit
p = mṙ
(2.62)
als Impuls des Massenpunkts [siehe (2.2) und (2.3)]. Als Bilanzgleichung aufgefaßt, besagt die Gleichung (2.61):
Die zeitliche Änderung des Impulses ist gleich der einwirkenden
(Gesamt-)Kraft.
Wenn keine Kraft wirkt, d.h. F = 0, gilt der Impulserhaltungssatz,
dp
=0
dt
;
p = const.
(2.63)
Das triviale Bewegungsintegral beinhaltet das bekannte Ergebnis, daß
sich ein kräftefreier Massenpunkt mit konstanter Geschwindigkeit entlang einer Geraden bewegt oder ruht. Wir werden später sehen, daß im
Falle eines aus mehreren Massenpunkten bestehenden Systems Impulsbilanz und Impulserhaltung nicht derart trivial sind.
2.2.3
Energiebilanz
Eine an einem Massenpunkt m angreifende Kraft F leistet bei der Verschiebung des Massenpunkts längs einer Raumkurve C i. allg. eine Arbeit W . Für eine hinreichend kleine Verschiebung dr ist die geleistete
(infinitesimale oder elementare) Arbeit dW wie folgt definiert:
dW = F·dr = |F||dr| cos ϕ = Fsds
(2.64)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
71
F
ϕ
P2
C
dr
P1
(Fs = |F| cos ϕ - Kraftkomponente in Richtung des Weges, ds = |dr|).
dW ist positiv, negativ oder Null, je nachdem ob die Kraft F mit der
Verschiebung dr einen spitzen, stumpfen oder rechten Winkel bildet.
Negatives dW bedeutet offensichtlich, daß gegen die betrachtete Kraft
Arbeit zu leisten ist, um die Verschiebung zu realisieren. Die gesamte
Arbeit, die von der Kraft F bei der Verschiebung des Massenpunkts
längs der Kurve C vom Punkt P1 bis zum Punkt P2 geleistet wird, ist
dann das Linienintegral der Kraft längs C,
Z
(2.65)
W = F·dr.
C
Die Arbeit hängt i. allg. von der Kraft, vom Anfangs- und Endpunkt
des durchlaufenen Weges und von der Art des Weges zwischen diesen
beiden Punkten ab. Als Leistung P wird die pro Zeiteinheit verrichtete
Arbeit definiert, d.h.
dW
P =
= F· ṙ.
(2.66)
dt
Wir multiplizieren die vektorielle Bewegungsgleichung (2.57) skalar
mit ṙ,
mr̈ = F | · ṙ,
(2.67)
und finden
mr̈· ṙ =
Die Größe
d
dt
1
2 mṙ· ṙ
= F· ṙ.
T = 12 mṙ· ṙ = 21 m|ṙ|2
(2.68)
(2.69)
heißt Bewegungsenergie oder kinetische Energie des Massenpunkts, und die Gleichung (2.68) stellt eine Bilanzgleichung für die
72
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
kinetische Energie dar:
dT
=P
dt
(2.70)
In Worten:
Die zeitliche Änderung der kinetischen Energie ist gleich der
Leistung der einwirkenden (Gesamt-)Kraft.
Die differentielle Formulierung (2.70) entspricht der integralen Formulierung
Z 2
Z 2
Z 2
dT =
P dt =
F·dr,
(2.71)
1
1
1
d.h.
T2 − T1 = W.
(2.72)
Anmerkung
Bei der Bilanz müssen alle Kräfte berücksichtigt werden, da in der
Grundgleichung F die Gesamtkraft bedeutet. Ziehen wir beispielsweise
einen auf einer Unterlage reibenden Körper mit konstanter Geschwindigkeit, so leistet unsere Muskelkraft Arbeit, obwohl sich die kinetische
Energie des Körpers nicht ändert. Letzteres bedeutet, daß die Gesamtkraft verschwinden muß. Diese setzt sich offensichtlich aus der Reibungskraft und der dem Betrag nach gleichen aber entgegengesetzt
gerichteten Muskelkraft zusammen.
Konservative Kraftfelder
Ene Kraft heißt konservativ, wenn
F = F(r)
(2.73)
ist und es eine skalare Funktion U (r) gibt, so daß
F = −∇U (r)
(2.74)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
73
gilt. Mit anderen Worten, das nicht explizit zeitabhängige Vektorfeld
F(r) läßt sich aus einem skalaren Feld U (r) durch Gradientenbildung
herleiten.
In Komponentenschreibweise:
dU = ∇U · dr =
∂U i
dx ,
∂xi
∂U i
g,
∂xi
F = Fi g i ,
∂U
Fi = − i .
∂x
∇U (r) =
(2.75)
(2.76)
(2.77)
(2.78)
Speziell in kartesischen Koordinaten:
Fx = −
∂U
∂U
∂U
, Fy = −
, Fz = −
.
∂x
∂y
∂z
(2.79)
Im Falle eines konservativen Kraftfelds läßt sich also die Gleichung
(2.66) in die Form
∂U dxi
dU
P = F· ṙ = −∇U · ṙ = − i
=−
∂x dt
dt
(2.80)
bringen. Das heißt, die Leistung ist die negative totale zeitliche Ableitung der skalaren Funktion U . Damit wird aus (2.70)
dT
dU
=P =−
dt
dt
(2.81)
d
(T + U ) = 0
dt
(2.82)
bzw.:
Aus der Bilanzgleichung für die kinetische Energie wird der Energieerhaltungssatz
T + U = 21 m|ṙ|2 + U (r) = E = const.
(2.83)
74
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Die Größe U heißt potentielle Energie oder auch einfach Potential, und E ist als Summe aus kinetischer und potentieller Energie
die (mechanische) Gesamtenergie des Massenpunkts. Der Energieerhaltungssatz (2.83) für konservative Systeme stellt offensichtlich ein (nicht
triviales) Bewegungsintegral dar.
Wir wollen die Frage beantworten, wann eine Kraft F(r) ein Potential besitzt. Aus
F = −∇U (r)
(2.84)
folgt wegen
∇ × ∇U = 0,
(2.85)
∇×F=0
(2.86)
daß die Rotation der Kraft verschwinden muß oder, wie man auch sagt,
das Kraftfeld wirbelfrei sein muß,
bzw. in Komponentenschreibweise:
ǫikl
∂Fl
= 0.
∂xk
(2.87)
Man beachte, daß
∂Fl
(2.88)
∂xk
gilt. Die Wirbelfreiheit des Kraftfeldes kann also als notwendige Bedingung dafür angesehen werden, daß das Kraftfeld ein Potential besitzt.
Aus (2.84) folgt ferner, daß das Wegintegral der Kraft, d.h. die
geleistete Arbeit der Kraft längs der Kurve C zwischen den Punkten P1
und P2 , unabhängig von der Art der durchlaufenen Kurve ist und nur
vom Anfangs- und Endpunkt abhängt:
Z P2
Z P2
Z P2
dU = U1 − U2
(2.89)
∇U ·dr = −
F·dr = −
∇ × F = gi ǫikl
P1
P1
P1
[Ui = U (Pi)]. Wird eine geschlossene Kurve (C) durchlaufen, so daß
Anfangs- und Endpunkt zusammenfallen, dann gilt offensichtlich
Z
I
F·dr = F·dr = 0.
(2.90)
C
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
75
F
dr
ϕ
P1 = P2
C
Das Wegintegral der Kraft längs einer beliebigen, geschlossenen Kurve
verschwindet also.
Nun gilt (für einfach zusammenhängende Gebiete) der Stokessche
Satz,
Z
Z
F·dr =
dA·(∇ × F),
(2.91)
C
A
wobei A eine beliebige, von C berandete Fläche bedeutet. Der StokesdA
A
C
sche Satz impliziert, daß Unabhängigkeit des Wegintegrals der Kraft
von der Art der durchlaufenen Kurve äquivalent zur Wirbelfreiheit der
Kraft ist. Damit kann die Wirbelfreiheit der Kraft als notwendige und
hinreichende Bedingung für die Existenz eines Potentials angesehen
werden. Ist (2.86) erfüllt, so folgt aus dem Stokesschen Satz (2.91), daß
(2.90) gilt. Damit kann aber eine (bis auf eine unwesentliche Konstante)
76
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
eindeutige Funktion U (r) definiert werden,
U (r) = U (r0) −
Z
P
F(r′)·dr′,
(2.92)
P0
so daß
∇U (r) = −F(r)
(2.93)
gilt [P0 =
b r0 , P =
b r]. Wegen der Wegunabhängigkeit des Integrals in
(2.92) kann die Integration beispielsweise längs C in der Abbildung
ausgeführt werden.
z
C′
P=
b (x, y, z)
C
P0 =
b (x0, y0, z0)
y
x
U (x, y, z) = U (x0, y0, z0 ) −
−
Z
y
y0
′
′
Z
dy Fy (x, y , z0) −
x
dx′ Fx(x′, y0, z0 )
x0
Z
z
z0
dz ′ Fz (x, y, z ′)
(2.94)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
77
Differentiation nach x ergibt
∂U
= −Fx (x, y0, z0)
∂x
Z z
Z y
′
′
∂F
(x,y
,z
)
)
dz ′ ∂Fz (x,y,z
dy ′ y ∂x 0 −
−
∂x
| {z }
| {z }
z0
y0
∂Fx (x,y ′ ,z0 )
∂y ′
∂Fx (x,y,z ′ )
∂z ′
= −Fx (x, y0, z0) − [Fx (x, y, z0) − Fx(x, y0, z0 )
+ Fx(x, y, z) − Fx(x, y, z0)]
= − Fx(x, y, z),
(2.95)
und analog findet man für die beiden übrigen Ableitungen
∂U
= −Fy (x, y, z),
∂y
∂U
= −Fz (x, y, z),
∂z
(2.96)
womit (2.93) bewiesen ist.
Die Antwort auf die Frage, ob ∇ × F = 0 gilt, beantwortet also
die Frage, ob ein Potential existiert. Ist ∇ × F = 0, dann existiert
ein Potential und kann gemäß (2.92) berechnet werden. Das Potential
ist nur bis auf eine additive Konstante bestimmt. Deswegen kann das
Potential in einem willkürlich gewählten Bezugspunkt P0 Null gesetzt
werden,
U (r0) = 0
(2.97)
und folglich
U (r) = −
Z
P
P0
′
′
F(r )·dr =
Z
P0
F(r′)·dr.
(2.98)
P
Häufig wird P0 mit dem unendlich fernen Punkt identifiziert. Aus (2.98)
erschließt sich folgende physikalische Bedeutung des Potentials U (r) eines Massenpunkts im Kraftfeld F(r). Der Wert des Potentials in einem
Punkt P =
b r ist gleich der Arbeit, die gegen die Kraft F geleistet werden muß, wenn der Massenpunkt vom Bezugspunkt P0 in den Punkt P
verschoben wird. Alternativ ist es die Arbeit, die die Kraft F bei einer
78
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Verschiebung des Massenpunkts vom Punkt P in den Bezugspunkt P0
leistet.
Man spricht von U (r) auch anschaulich als von einem Potentialge”
birge“. Für Flächen gleichen Potentials, die Äquipotentialflächen,
U = const.
;
dU = 0,
(2.99)
∇U ·dr = 0
;
dr ⊥ ∇U.
(2.100)
gilt
Da dr in einer Äquipotentialfläche liegt, steht der Gradient ∇U senkrecht auf der Äquipotentialfläche, so daß es keine Kraftkomponente in
dieser Fläche gibt. Auf Äquipotentialflächen bewegt sich der Massenpunkt also kräftefrei. Der stärkste Anstieg des Potentials ist offensichtlich in Richtung des Gradienten zu verzeichnen,
dr k ∇U
;
dU = |∇U ||dr|,
(2.101)
d.h., die Kraft F steht senkrecht auf der jeweiligen Äquipotentialfläche
und zeigt in Richtung des stärksten Potentialgefälles.
Falls die Kraft F immer senkrecht auf der Geschwindigkeit ṙ steht,
verschwindet die Leistung,
F ⊥ ṙ
;
P = F· ṙ = 0,
(2.102)
und aus der Bilanzgleichung (2.70) für die kinetische Energie wird ein
Erhaltungssatz für die kinetische Energie,
dT
= 0,
dt
(2.103)
T = const.
(2.104)
bzw.
In diesem Fall ist also die potentielle Energie identisch gleich Null, und
das Kraftfeld kann nicht als Gradient eines skalaren (Potential-)Feldes
dargestellt werden. Ein typisches Beispiel ist die Lorentzkraft auf eine
elektrische Ladung q im Magnetfeld B,
F = q ṙ × B
;
F· ṙ = 0.
(2.105)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
79
Nichtkonservative Kräfte
Betrachten wir ein explizit zeitabhängiges Kraftfeld
F = F(r, t).
(2.106)
Ist das Kraftfeld zu jedem Zeitpunkt wirbelfrei,
∇ × F(r, t) = 0.
(2.107)
dann kann ein solches Kraftfeld natürlich auch als Gradient einer skalaren Funktion dargestellt werden, d.h., es kann ein explizit zeitabhängiges Potential U (r, t) eingeführt werden,
F(r, t) = −∇U (r, t).
(2.108)
Ein solches Kraftfeld ist nicht konservativ, und es gilt kein (mechanischer) Energieerhaltungssatz, wie die folgende Rechnung zeigt:
dT
= F· ṙ = −∇U · ṙ
dt
∂U dxi ∂U ∂U
−
,
=− i
+
∂x
dt
∂t
∂t
|
{z
}
dU
− dt
d
∂U
(T + U ) =
dt
∂t
(2.109)
(2.110)
Die zeitliche Änderung der (mechanischen) Energie des betrachteten
Massenpunkts ist bestimmt durch die partielle Zeitableitung der potentiellen Energie. Dieser Sachverhalt bringt zum Ausdruck, daß dem
Massenpunkt durch eine zeitlich kontrollierte (äußere) Krafteinwirkung
in definierter Weise Energie zugeführt bzw. entzogen werden kann. Je
nachdem ob das Potential zeitunabhängig oder zeitabhängig ist, spricht
man auch von einem stationären bzw. nichtstationären Potentialfeld.
Kräfte, die aus einem Potential ableitbar sind, werden auch Potentialkräfte genannt.
80
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Kräfte, die (im Gegensatz zu konservativen Kräften) die Energie eines Massenpunkts nicht erhalten, werden im weitesten Sinne des Worts
auch als dissipative Kräfte bezeichnet. Dazu gehören i. allg. Kräfte,
die explizit von der Zeit und/oder der Geschwindigkeit abhängen oder
rein ortsabhängige Kräfte, die nicht wirbelfrei sind.3 Ein Beispiel für ein
nicht wirbelfreies Kraftfeld wäre ein Kraftfeld, dessen Feldlinien konzentrische Kreise sind. Es ist klar, daß die längs eines solchen Kreises
geleistete Arbeit nicht verschwinden kann, da F·dr längs des Kreises
überall dasselbe Vorzeichen hat. Für nichtkonservative Kräfte gilt keine Erhaltung der mechanischen Energie E = T + U . Bei Bewegungen,
die mit solchen Kräften zusammenhängen, spielen nicht nur rein mechanische Energieformen des betrachteten Systems eine Rolle, sondern
auch andere Energieformen (z.B. Wärme) sowie Wechselwirkungen des
betrachteten Systems mit seiner Umgebung. Im allgemeinen unterliegt
ein Massenpunkt sowohl konservativen als auch dissipativen Kräften,
F = F(cons) (r) + F(diss) (r, ṙ, t),
(2.111)
F(cons) (r) = −∇U (r),
(2.112)
d
(T + U ) = P (diss) = F(diss) · ṙ
dt
(2.113)
und die mechanische Energiebilanz kann in der allgemeinen Form
geschrieben werden. In Worten ausgedrückt, die zeitliche Änderung der
mechanischen Energie ist gleich der Leistung der dissipativen Kräfte.
Sind alle Kräfte konservativ, bleibt die mechanische Energie erhalten.
Insgesamt geht natürlich auch bei Anwesenheit dissipativer Kräfte keine Energie verloren. Die Erfahrung besagt, daß stets ein allgemeiner
Energieerhaltungssatz existiert, der viel umfassender als der mechanische ist, und die Erhaltung der Summe aller Energieformen in einem
abgeschlossenen System ausdrückt.
3
Der Begriff der dissipativen Kraft wird nicht einheitlich verwendet. So werden zeitabhängige
Potentialkräfte oft nicht zu den dissipativen Kräften gezählt, sondern unter dissipativen Kräften
im eigentlichen Sinne des Worts nur solche Nichtpotentialkräfte verstanden, die generell zu einem
Energieverlust führen.
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
81
Einfache Beispiele
Schwerkraft
Die Kraft im oberflächennahen, homogenen Gravitationsfeld der Erde
F = −mg ez
(2.114)
(kartesisches Koordinatensystem mit vertikal nach oben gerichteter zAchse) ist konservativ. Das Potential lautet
Z z
U (x, y, z) =
dz ′ mg = mgz,
(2.115)
0
und folglich gilt für einen Massenpunkt unter dem Einfluß der Schwerkraft der Energieerhaltungssatz
2
1
2 mv
mit
+ mgz = E = const.
v 2 = ẋ2 + ẏ 2 + ż 2 .
(2.116)
(2.117)
Bewegt sich der Massenpunkt in der Luft oder in einem anderen Medium, so wirkt auf ihn außer der Schwerkraft noch eine durch das Medium bedingte Reibungskraft F(diss) , die zum Ausdruck bringt, daß das
Medium der Bewegung des Massenpunkts Widerstand leistet und versucht die Bewegung abzubremsen – die Bewegung also gedämpft ist.
In vielen Fällen kann diese dissipative Kraft proportional zur Geschwindigkeit und entgegengesetzt zu ihr gerichtet angenommen werden,
F(diss) = −α ṙ (α > 0)
(2.118)
(α - Reibungs- oder Dämpfungskoeffizient). In diesem Fall gilt für die
mechanische Energie
E = 21 mv 2 + mgz
(2.119)
des Massenpunkts die Bilanzgleichung
dE
= −αv 2
dt
(2.120)
wie man sich mit Hilfe der allgemeinen Bilanzgleichung (2.113) leicht
überzeugen kann. Die mechanische Energie des Massenpunkts nimmt
82
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
also wegen der Reibung ständig ab. Diese Energie wird von den Teilchen des umgebenden Mediums aufgenommen, so daß insgesamt keine
Energie verlorengeht.
Linearer (harmonischer) Oszillator
Für kleine Auslenkungen hat eine Feder die Eigenschaft, daß die rücktreibende Kraft proportional zur Auslenkung ist. Im Falle einer eindimensionalen Bewegung längs der x-Achse (mit der Gleichgewichtslage
bei x = 0) haben wir also
F = −kx ex ,
(2.121)
(k - Federkonstante, k > 0) und folglich lautet die Bewegungsgleichung
(in x-Richtung) eines mit der Feder verbundenen Massenpunkts
mẍ = −kx
(2.122)
ẍ + ω 2 x = 0
(2.123)
bzw.
(ω 2 = k/m), d.h. die Differentialgleichung einer harmonischen Schwingung (Abschnitt 1.3.3.1). Die Kraft (2.121) ist natürlich konservativ,
m
F
0
Z
x
x
dx′ kx′ = 12 kx2,
(2.124)
+ 21 kx2 = E = const.
(2.125)
U (x) =
0
so daß Energieerhaltung gilt,
2
1
2 mẋ
In der Praxis wird die Bewegung des Massenpunkts (auf Grund von innerer Reibung der Feder) nach einer gewissen Zeit zur Ruhe kommen.
Die Feder nimmt Energie auf und erwärmt sich dabei. Der Effekt der
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
83
Dämpfung kann in vielen Fällen auch hier wieder durch eine dissipative Kraft bechrieben werden, die proportional zur Geschwindigkeit des
Massenpunkts und entgegengesetzt zu ihr gerichtet ist,
F(diss) = −αẋ ex
(α > 0) ,
(2.126)
so daß die Bewegungsgleichung eines gedämpften linearen Oszillators
mẍ = −kx − αẋ
(2.127)
lautet. Entsprechend (2.113) gilt dann für die mechanische Energie des
Massenpunkts,
E = 21 mẋ2 + 12 kx2,
(2.128)
die Bilanzgleichung
dE
= −αẋ2.
(2.129)
dt
Die Ergebnisse können leicht auf einen dreidimensionalen, isotropen Oszillator ausgedehnt werden. Von einem solchen (im Sinne eines
ungedämpften Oszillators) spricht man, wenn ein Massenpunkt (z.B.
ein Atom in einem Kristallgitter) bei einer Auslenkung aus der Ruhelage (bei r = 0) mit einer richtungsunabhängigen (d.h. isotropen), dem
Betrag der Auslenkung proportionalen Kraft zurückgezogen wird,
F = −kr
;
mr̈ = −kr.
(2.130)
Man überzeugt sich leicht, daß die Kraft (2.130) ebenfalls konservativ
ist,
U (r) = 21 k|r|2 = 12 kr2
(2.131)
(r - Kugelkoordinatenradius).
2.2.4
Drehimpulsbilanz
Wir multiplizieren die vektorielle Bewegungsgleichung (2.57) vektoriell
mit r,
r × | mr̈ = F ,
(2.132)
und erhalten
mr × r̈ = r × F.
(2.133)
84
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Wegen
d
(r × ṙ) = ṙ| {z
× ṙ} +r × r̈
dt
0
folgt also die Bilanzgleichung
(2.134)
dL
=M
dt
(2.135)
L = mr × ṙ = r × p,
(2.136)
M=r×F
(2.137)
für den Drehimpuls
wobei die Größe
auf der rechten Seite der Gleichung (2.135) als Drehmonent bezeichnet wird. In Worten:
Die zeitliche Änderung des Drehimpulses ist gleich dem einwirkenden (Gesamt-)Drehmonent.
Ist speziell M = 0, dann gilt Drehimpulserhaltung,
dL
=0
dt
;
L = const.,
(2.138)
und somit stellt
mr × ṙ = const.
(2.139)
ein (vektorielles) Bewegungsintegral dar. M = 0 gilt natürlich immer
für den trivialen Fall F = 0. Dann liefert der Drehimpulserhaltungssatz
offensichtlich keine neuen Erkenntnisse, die über den Impulserhaltungssatz hinausgehen. Für F 6= 0 ist M = 0 erfüllt, falls F und r parallel
bzw. antiparallel gerichtet sind,
M=0 =
b F ↑↑ bzw. ↑↓ r.
(2.140)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
85
Derartige Kräfte heißen Zentralkräfte. Ihre allgemeinste Form ist
r
(2.141)
F = f (r, ṙ, t) .
|r|
Drehimpulserhaltung gilt also genau dann, wenn sich der Massenpunkt
unter dem Einfluß einer Zentralkraft bewegt.
Eine Konsequenz des Drehimpulserhaltungssatzes ist der Flächensatz. Das (vektorielle) Flächenelement dA, das von r und dr aufgedr
dA
r
spannt wird, ist bekanntlich
dA = 12 r × dr
(2.142)
(man beachte die geometrische Bedeutung des Vektorprodukts), und
folglich gilt für die Flächengeschwindigkeit
dA 1
1
= 2 r × ṙ =
L.
dt
2m
(2.143)
In Worten ausgedrückt, die zeitliche Änderung der Flächengeschwindigkeit eines Massenpunkts ist proportional zu seinem Drehimpuls. Konstanter Drehimpuls bedeutet also eine konstante Flächengeschwindigkeit,
dA
L = const. ;
= const.
(2.144)
dt
Dieser Sachverhalt – auch als Flächensatz bezeichnet – kann auch wie
folgt formuliert werden. Unter der Wirkung einer Zentralkraft ist die
Flächengeschwindigkeit eines Massenpunkts konstant, d.h.,
(a) die Bewegung erfolgt in einer Ebene senkrecht zum Drehimpuls,
und
86
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
(b) der Radiusvektor (auch Fahrstrahl genannt) überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen.
Der Drehimpulserhaltungssatz (Flächensatz) ist eine Vektorgleichung und enthält demzufolge drei Integrationskonstanten. Zwei von
diesen bestimmen die Bahnebene, d.h. die Richtung der Normalen, die
dritte legt den Betrag der Flächengeschwindigkeit in der Bahnebene
fest. Wählen wir die xy-Ebene eines kartesischen Koordinatensystems
als die Bahnebene, so lautet wegen
L = m(xẏ − y ẋ)ez
(2.145)
die Gleichung, die den Betrag der Flächengeschwindigkeit festlegt,
xẏ − y ẋ = const.
(2.146)
Verwenden wir in der xy-Ebene Polarkoordinaten,
L
ϕ
r
y
x
r = ̺ e̺ ,
ṙ = ̺˙ e̺ + ̺ϕ̇ eϕ ,
(2.147)
so gilt
L = m̺2 ϕ̇ ez ,
(2.148)
und der Betrag der Flächengeschwindigkeit wird über die Gleichung
̺2 ϕ̇ = const.
festgelegt.
(2.149)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
87
Anmerkungen
– Unter Zentralkräften im engeren Sinne versteht man häufig solche Zentralkräfte, deren Betrag nur vom Abstand r = |r| vom
Zentrum abhängt,
r
F = f (r) .
(2.150)
r
Ein solches Zentralkraftfeld ist konservativ und besitzt das Potential
Z r
dr′ f (r′).
(2.151)
U (r) = −
r0
Speziell für
α
(2.152)
r2
(Gravitationskraft, Coulomb-Kraft) lautet das Potential (r0 =∞)
f (r) = −
α
U (r) = − .
r
(2.153)
Für die Bewegung eines Massenpunkts unter dem Einfluß einer
Zentralkraft im engeren Sinne gilt also neben dem Drehimpulserhaltungssatz auch der Energieerhaltungssatz.
– Wenn die auf einen Massenpunkt wirkende Kraft immer parallel
oder antiparallel zu einer Geraden ist, die durch eine feste Achse
geht, spricht man von einer Axialkraft. In diesem Fall gilt Drehimpulserhaltung bezüglich der Projektion der Bahn auf eine zu
der Achse senkrechten Ebene.
Die Achse sei die z-Achse eines kartesischen Koordinatensystems, und
die Gerade liege immer in der ̺z-Ebene (ebene Polarkoordinaten in der
xy-Ebene). Mit
r = ̺ e̺ + z ez
(2.154)
und
F = F̺ e̺ + Fz ez
(2.155)
M = (zF̺ − ̺Fz ) eϕ .
(2.156)
folgt
88
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
1
0
0
1
0
1
0
1
0
1
0
1
0
1
0
1
F
0 r
1
0
1
0
1
y
0
1
0
1
000000000
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x111111111
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11111111
̺11111111
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111111111
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11111111
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11111111
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111111111
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11111111
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11111111
000000000
111111111
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11111111
00000000
11111111
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111111111
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11111111
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000000000
111111111
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11111111
000000000
111111111
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11111111
000000000
111111111
000000000
111111111
00000000
11111111
z
Das heißt, das Drehmonent besitzt keine z-Komponente,
Mz = 0,
(2.157)
so daß die z-Komponente des Drehimpulses erhalten bleibt,
dLz
=0
dt
;
Lz = const.
(2.158)
Die Gleichung
xẏ − y ẋ = const.
(2.159)
̺2 ϕ̇ = const.
(2.160)
bzw.
stellt also im Falle von Axialkräften ein erstes Integral der Bewegungsgleichungen dar.
2.2.5
Erhaltungssätze und Integration der Bewegungsgleichungen
Wie bereits bemerkt, können Erhaltungssätze vorteilhaft bei der Integration der Bewegungsgleichungen eingesetzt werden. Für den Fall
eines (einzigen) Massenpunkts ist Impulserhaltung von geringem Interesse, da dies bekanntlich bedeutet, daß der Massenpunkt eine geradlinig
gleichförmige Bewegung ausführt (oder ruht). Die interessanten Fälle
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
89
sind naturgemäß diejenigen, bei denen sich der Massenpunkt unter dem
Einfluß von Kräften bewegt,
mr̈ = F 6≡ 0.
(2.161)
Energieerhaltung und Drehimpulserhaltung ermöglichen dann ein allgemeines Integrationsverfahren zur vollständigen Lösung der Bewegungsgleichungen.
Wir wollen zunächst eine eindimensionale Bewegung längs einer definierten Achse, der x-Achse, betrachten. Da Ortsvektor, Geschwindigkeitsvektor und Kraftvektor nur x-Komponenten besitzen sollen, gilt
offensichtlich Drehimpulserhaltung mit L = 0, was gerade Ausdruck
der Tatsache ist, daß es sich um eine geradlinige Bewegung handelt. Ist
die Kraft konservativ,
F = F (x) ex ,
(2.162)
dann gilt Energieerhaltung
2
1
2 mẋ
+ U (x) = E = const.
mit
U (x) = −
Aus (2.163) folgt zunächst
ẋ2 =
Z
x
dx′ F (x′).
(2.163)
(2.164)
x0
2
[E − U (x)]
m
(2.165)
bzw.
r
dx
2
=
[E − U (x)] .
ẋ =
dt
m
Separation der Variablen liefert dann
und nach Integration:
t=
dt = p
Z
p
dx
2 [E − U (x)] /m
dx
+ const.
2 [E − U (x)] /m
(2.166)
(2.167)
(2.168)
90
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Die Energie und die Integrationskonstante in (2.168) spielen die Rolle
der beiden freien Konstanten in der Lösung der Bewegungsgleichung
mẍ = F (x). Die Gleichung (2.168) bestimmt t(x), deren Umkehrung
liefert x(t). Die Bestimmung der Umkehrfunktion kann in der Praxis
manchmal etwas kompliziert sein, so daß man unter Umständen durch
direkte Integration der Bewegungsgleichung schneller zum Ziel kommt.
Wegen ẋ2 ≥ 0 muß gemäß (2.165) E − U (x) ≥ 0 gelten, d.h., die
Bewegung kann nur in solchen Gebieten verlaufen, wo
U (x) ≤ E
(2.169)
gilt. So sind die erlaubten Bereiche in der Abbildung
x1 ≤ x ≤ x2 ,
x3 ≤ x.
(2.170)
Die Punkte, in denen die potentielle Energie gleich der Gesamtenergie
ist,
U (x) = E,
(2.171)
bestimmen die Grenzen der Bewegung. In diesen Umkehrpunkten
kehrt die Geschwindigkeit gerade ihr Vorzeichen um. Wenn das für
die Bewegung zulässige Gebiet auf beiden Seiten durch Umkehrpunkte
begrenzt ist, verläuft die Bewegung in einem endlichen Gebiet – die
Bewegung ist finit. Wenn das Gebiet nicht oder nur auf einer Seite
begrenzt ist, wird die Bewegung infinit und der Massenpunkt läuft ins
U
E
x1
x2
x3
x
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
91
Unendliche. In unserem Beispiel (Abbildung) kann der Massenpunkt
für das gegebene (feste) E zwischen x1 und x2 eine periodische Bewegung (i. allg. natürlich keine harmonische Schwingung) ausführen und
für x ≥ x3 [falls dort immer U (x) < E ist] eine Bewegung, bei der der
Massenpunkt aus dem Unendlichen kommt, bei x = x3 reflektiert wird
(der Potentialwall zwischen x3 und x2 hindert ihn daran, das innere
Gebiet zu erreichen) und ins Unendliche zurückläuft.
Mögliche Ruhelagen des Massenpunkts sind die Stellen, wo keine
Kraft auf ihn wirkt (sofern sie energetisch erreichbar sind). Dies sind
offensichtlich die Punkte mit
dU
= 0,
dx
(2.172)
also die Extrema des Potentials. In einem Maximum liegt der Massenpunkt labil. Bei einer kleinen Abweichung unterliegt er einer Kraft in
Richtung des Potentialabfalls und gleitet den Potentialberg hinab“.
”
Demgegenüber liegt der Massenpunkt in einem Minimum des Potentials stabil. Bei einer Abweichung wird er durch die wirkende Kraft
immer wieder in die Ausgangslage zurückgezogen.
Wenden wir uns nun der dreidimensionalen Bewegung zu. Gelten
in diesem Fall sowohl Drehimpulserhaltung als auch Energieerhaltung,
so ist die Kraft eine konservative Zentralkraft,
r
F = f (r) ,
r
(2.173)
und die (vektorielle) Bewegungsgleichung lautet
r
mr̈ = f (r) .
r
(2.174)
Z
(2.175)
Das Potential kann gemäß
U (r) = −
r
dr′ f (r′)
r0
berechnet werden [siehe (2.150) und (2.151)]. Wie wir wissen, erfolgt
im Falle L=const. die Bewegung in einer Ebene senkrecht zu L, die wir
ohne Beschränkung der Allgemeinheit als xy-Ebene eines kartesischen
92
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
z
L
ϕ
y
r
x
̺
Koordinatensystems wählen können (L parallel bzw. antiparallel zur
z-Achse). In dieser xy-Ebene wählen wir zweckmäßigerweise Polarkoordinaten,
r = ̺ e̺ , ṙ = ̺˙ e̺ + ̺ϕ̇ eϕ ,
(2.176)
und die Erhaltungssätze liefern
m̺2 ϕ̇ = L,
2
2 2
1
+ U (̺) = E
m
̺
˙
+
̺
ϕ̇
2
(2.177)
(2.178)
(Lz ≡ L). Aus (2.177) folgt
ϕ̇ =
L
,
m̺2
(2.179)
so daß ϕ̇ in (2.178) eliminiert werden kann,
2
1
2 m̺˙
+ Ueff (̺) = E,
(2.180)
und das effektive Potential
L2
Ueff (̺) = U (̺) +
2m̺2
(2.181)
lautet. Die Gleichung (2.180) hat die gleiche Form wie die Gleichung
(2.163) für die eindimensionale Bewegung, so daß völlig analog zu
(2.165) – (2.168) vorgegangen werden kann:
̺˙2 =
2
[E − Ueff (̺)] ,
m
(2.182)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
2
[E − Ueff (̺)] ,
m
d̺
,
dt = p
2 [E − Ueff (̺)] /m
(2.184)
d̺
+ const.
2 [E − Ueff (̺)] /m
(2.185)
̺˙ =
t=
Z
r
93
p
d̺
=
dt
(2.183)
Damit ist t(̺) bestimmt. Bildung der Umkehrfunktion liefert dann ̺(t).
Aus ̺(t) kann dann auch ϕ(t) bestimmt werden. Dazu fassen wir ̺
als Funktion ̺[ϕ(t)] auf und bemerken, daß wegen (2.179)
d̺
d̺ dϕ
d̺ L
=
=
dt
dϕ dt
dϕ m̺2
(2.186)
gilt, woraus mit (2.183)
m̺2 d̺ m̺2
d̺
=
=
dϕ
L dt
L
r
2
[E − Ueff (̺)]
m
(2.187)
folgt. Separation der Variablen liefert
dϕ =
d̺
L
p
,
m ̺2 2 [E − Ueff (̺)] /m
(2.188)
woraus sich nach Integration
L
ϕ=
m
Z
̺2
p
d̺
2 [E − Ueff (̺)] /m
+ const.
(2.189)
ergibt. Damit ist ϕ(̺) bestimmt und mit ̺(t) auch ϕ(t).
Die Gleichungen (2.185) und (2.189) lösen die gestellte Aufgabe
– Integration der Bewegungsgleichungen – in allgemeiner Form. Die
Bahngleichung (2.189) bestimmt als Beziehung zwischen ̺ und ϕ die
94
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
geometrische Form der Bahn. Die Gleichung (2.185) bestimmt in impliziter Form die Zeitabhängigkeit des Abstands des Massenpunkts vom
Zentrum. Aus (2.179) ist ersichtlich, daß sich der Winkel ϕ stets monoton mit der Zeit ändert, da ϕ̇ niemals das Vorzeichen wechselt. Falls
L = 0 ist, d.h. ϕ̇ = 0 und somit ϕ = const., liegt der Spezialfall einer
eindimensionalen Bewegung vor.
Die obige Rechnung zeigte, daß der Radialteil der Bewegung immer
als eindimensionale Bewegung in einem Feld mit dem effektiven Potential (2.181) aufgefaßt werden kann. Die zum Potential U (̺) hinzutretende Größe L2 /(2m̺2) wird manchmal auch Zentrifugalenergie
genannt. Die ̺-Werte, bei denen
̺˙ = 0
;
L2
Ueff (̺) = U (̺) +
=E
2m̺2
(2.190)
ist, bestimmen die Grenzen des Bewegungsbereichs. Obwohl an den
durch (2.190) definierten Punkten die radiale Geschwindigkeit ̺˙ gleich
Null wird, bedeutet dies im Gegensatz zu einer echten eindimensionalen Bewegung aber nicht, daß der Massenpunkt anhält, da die Winkelgeschwindigkeit ϕ̇ an diesen Punkten i. allg. nicht verschwindet. Die
Gleichung ̺˙ = 0 bestimmt die Umkehrpunkte der Bahn; in ihnen hat
die Funktion ̺(t) ein Minimum ̺min oder Maximum ̺max .
Wenn der zulässige ̺-Bereich,
Ueff (̺) ≤ E
(2.191)
nur durch die eine Bedingung
̺ ≥ ̺min
(2.192)
eingeschränkt wird, ist die Bewegung des Massenpunkts infinit. Der
Massenpunkt kommt beispielsweise aus dem Unendlichen und verschwindet wieder im Unendlichen. Liegen dagegen die zulässigen ̺Werte zwischen zwei endlichen Grenzen ̺min und ̺max , so ist die Bewegung finit, und die Bahn verläuft vollständig in dem ringförmigen
Gebiet, das durch die Kreise ̺ = ̺min und ̺ = ̺max begrenzt wird.
Die Bahn muß dabei keineswegs periodisch und somit geschlossen sein.
Während sich ̺ von ̺max bis ̺min und wieder bis ̺max ändert, dreht
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
95
̺max
̺min
∆ϕ
sich der Radiusvektor um den Winkel ∆ϕ., für den gemäß (2.189)
Z
L ̺max
d̺
p
∆ϕ = 2
(2.193)
m ̺min ̺2 2 [E − Ueff (̺)] /m
folgt. Die Bahn bildet nur dann eine geschlossene Kurve, wenn dieser
Winkel ein rationaler Teil von 2π ist, d.h.
∆ϕ = 2π
m
n
(2.194)
(m, n ganz, teilerfremd). Nach n-maliger Wiederholung der zugehörigen Zeitperiode fällt der Radiusvektor des Massenpunkts mit seinem
Ausgangswert wieder zusammen, und die Bahnkurve schließt sich. Solche Fälle sind jedoch Ausnahmen, und bei beliebigem Potential U (̺)
wird der Winkel ∆ϕ kein rationaler Teil von 2π sein. Darum ist die
Bahn bei finiter Bewegung i. allg. nicht geschlossen. Sie läuft unendlich oft durch die beiden Umkehrpunkte und überstreicht in unendlich
langer Zeit die gesamte Ringfläche zwischen den beiden begrenzenden
Kreisen. Es existieren nur zwei Typen von Zentralfeldern, in denen alle
Bahnen finiter Bewegung geschlossen sind, nämlich
U (̺) ∼
1
̺
und U (̺) ∼ ̺2 .
(2.195)
In den Umkehrpunkten ̺min und ̺max wechselt die Quadratwurzel
96
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
p
2[E −Ueff (̺)]/m in (2.183) für ̺˙ das Vorzeichen,
r
2
̺˙ = ±
[E − Ueff (̺)] .
m
(2.196)
Positives Vorzeichen: ̺ nimmt mit wachsender Zeit zu; der Massenpunkt bewegt sich in Richtung maximaler Entfernung vom Zentrum.
Negatives Vorzeichen: ̺ nimmt mit wachsender Zeit ab; der Massenpunkt bewegt sich in Richtung minimaler Entfernung vom Zentrum.
Wenn man der Richtung des Radiusvektors eines Umkehrpunkts
mit beispielsweise maximaler Entfernung vom Ursprung den Winkel
ϕ(̺max) zuordnet, so gilt gemäß (2.189)
Z
d̺′
L ̺
p
ϕ − ϕ(̺max) = ∓
.
(2.197)
m ̺max ̺′2 2 [E − Ueff (̺′ )] /m
Die Punkte mit gleichen ̺-Werten auf den in diesem Umkehrpunkt aneinander grenzenden Bahnabschnitten unterscheiden sich nur durch das
Vorzeichen von ϕ − ϕ(̺max). Die Bahn ist also symmetrisch bezüglich
der erwähnten Richtung. Verfolgen wir die Bahn ausgehend von dem
y
|r> | = |r< |
r>
rmax
δϕ
δϕ
r<
x
gewählten Punkt maximaler Entfernung vom Zentrum, so gelangen wir
zum nächsten Umkehrpunkt minimaler Entfernung vom Zentrum und
durchlaufen dann einen symmetrisch zum ersten liegenden Bahnabschnitt bis zum nächsten Umkehrpunkt maximaler Entfernung vom
Zentrum. Das läßt sich in beiden Richtungen beliebig oft wiederholen,
und man sieht, daß die Kenntnis einer Halbschleife (von ̺min bis zum
nächsten ̺max ) genügt, um die ganze Bahn zu konstruieren. Ähnliches
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
97
gilt auch für infinite Bahnen, die aus zwei symmetrischen Ästen bestehen, die vom Umkehrpunkt (minimaler Entfernung vom Zentrum) ins
Unendliche laufen.
Die Zentrifugalenergie L2 /(2m̺2) (L6= 0), die zur potentiellen Energie U (̺) hinzutritt und für ̺ → 0 wie ̺−2 gegen ∞ geht, führt gewöhnlich dazu, daß ein bewegter Massenpunkt niemals zum Zentrum des
Kraftfeldes gelangen kann, auch dann nicht, wenn die Kraft anziehend
ist. Der Massenpunkt kann nur dann in das Zentrum fallen“, wenn die
”
potentielle Energie für ̺ → 0 genügend schnell gegen −∞ geht. Aus der
Ungleichung
L2
E − U (̺) −
≥0
(2.198)
2m̺2
bzw.
L2
2
̺ U (̺) +
≤ E̺2
(2.199)
2m
folgt, daß ̺ nur dann Null werden kann, wenn die Bedingung
L2
̺ U (̺) ̺→0 ≤ −
2m
2
(2.200)
erfüllt ist. Mit anderen Worten, U (̺) muß entweder wie −α/̺2 mit
α ≥ L2 /(2m) oder wie −1/̺n mit n > 2 gegen −∞ streben.
2.2.6
Spezielle Probleme
2.2.6.1
Freier Fall im inhomogenen Schwerefeld der Erde
Wir betrachten zwei Körper (Massenpunkte) der Massen m1 und m2
an den Orten r1 und r2, die gravitativ miteinander wechselwirken. Die
Kraft auf den Körper der Masse m1 lautet
F12 = −
γm1m2 r1 −r2
|r1 −r2 |2 |r1 −r2|
(2.201)
und analog ist
F12 = −F21 .
(2.202)
γ = 6.67 · 10−11 kg−1m3 s−2.
(2.203)
Die Gravitationskonstante γ in (2.201) beträgt
98
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Wir wollen annehmen, daß m2 hinreichend groß ist, m2 ≫ m1 , so daß
von der Bewegung des Körpers mit der großen Masse abgesehen werden
kann. Ein solcher Fall liegt offensichtlich für die Bewegung eines irdischen Körpers der Masse m1 =m im Schwerefeld der Erde, m2 =me , vor.
Legen wir den Koordinatenursprung in den Mittelpunkt der (als Kugel
angenommenen) Erde, r1 = r, r2 = 0, so lautet die Bewegungsgleichung
für den kleinen Körper
γme m r
mr̈ = F = − 2
.
(2.204)
r
r
Für verschwindenden Drehimpuls liefert (2.204) bekanntlich eine geradlinige Bewegung, d.h. den senkrechten Fall bzw. senkrechten Wurf.
Die Bewegung erfolge (gemäß Abbildung) längs der z-Achse, so daß die
Bewegungsgleichung
γme m
mz̈ = − 2
(2.205)
z
verbleibt. Einsetzen von
z=R
z̈(R) = −g
;
(2.206)
in (2.205) liefert den Zusammenhang zwischen Fallbeschleunigung,
Gravitationskonstante, Erdmasse und Erdradius,
γme = gR2 ,
(2.207)
so daß die Bewegungsgleichung (2.205) auch in der Form
gR2
mz̈ = −m 2
z
z
z0
me
R
(2.208)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
99
geschrieben werden kann. Gemäß (2.153) lautet das Potential
U (z) = −m
gR2
,
z
(2.209)
und es gilt Energieerhaltung:
1 2
2 ż
gR2
E
−
=
= const.
z
m
(2.210)
Wir legen die Konstante über die Fallbedingung
z = z0 ,
ż = 0
(2.211)
fest,
1 2
2 ż
gR2
gR2
=−
−
z
z0
(2.212)
bzw.
q
p
ż = − 2gR z −1 − z0−1
(2.213)
(z ≤ z0 ), wobei wegen ż ≤ 0 (Fall) die Wurzel mit dem negativen Vorzeichen zu nehmen ist. Integration mittels Separation der Variablen liefert
dann t als Funktion von z, d.h. für den senkrechten Fall
1
t = −√
2gR
Z
z
z0
dz ′
q
z ′−1 − z0−1
(2.214)
(t = 0, z = z0 ). Ohne das Integral in (2.214) explizit auszurechnen,
können bereits eine Reihe von Aussagen auf der Basis von (2.213) getroffen werden.
100
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Geschwindigkeit, mit der ein aus dem Unendlichen kommenden Körper
auf der Erde auftrifft.
Wir setzen in (2.213)
z = R,
z0 = ∞
(2.215)
und erhalten für die Geschwindigkeit vR an der Erdoberfläche
p
vR = 2gR (= 11.2 km s−1 )
(2.216)
(2. kosmische Geschwindigkeit, siehe auch Abschnitt 2.2.6.6).
Einfluß der Abnahme der Erdbeschleunigung mit wachsender Höhe h
auf die Geschwindigkeit, mit der ein aus h fallender Körper auf der
Erde auftrifft.
Wir setzen in (2.213)
z = R,
z0 = R + h
(2.217)
und erhalten für die Geschwindigkeit vR (h) an der Erdoberfläche in
Abhängigkeit von h
s
p
1
vR (h) = 2gR 1 −
.
(2.218)
1 + h/R
Wir entwickeln für h/R ≪ 1,
s
#)1/2
(
"
2
1
h
h
∓ ···
= 1− 1− +
1−
1 + h/R
R
R
1/2 1/2
h
h
=
± ···
1−
R
R
1/2 h
h
1−
≈
R
2R
und erhalten
p
h
vR (h) ≈ 2gh 1 −
,
2R
(2.219)
(2.220)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
101
wobei der zweite Term in der runden Klammer die erste Korrektur des
für das homogene Schwerefeld bekannten Resultats darstellt.
Für h/R ≪ 1 geht (2.208) mit z = R + z ′ in die Differentialgleichung
gR2
g
z′
′
(2.221)
z̈ = −
=−
≈ −g 1 − 2
(R + z ′ )2
(1 + z ′ /R)2
R
bzw.
g ′
z = −g
(2.222)
R
über, die sich in einfacher Weise direkt integrieren läßt. Mit dem Standardansatz z ′ ∼ eλt für die allgemeine Lösung der homogenen Gleichung
und der Konstanten R/2 als spezieller Lösung der inhomogenen Gleichung erhalten wir
z ′ = Aeλt + Be−λt + 12 R
(2.223)
z̈ ′ − 2
mit
λ=
r
2
g
,
R
(2.224)
woraus mit der Anfangsbedingung
t = 0,
z ′ = h,
ż ′ = 0
(2.225)
für die Konstanten A und B
folgt, d.h.
h = A + B + 12 R
0 = λ(A − B)
(2.226)
(2.227)
1R
h
B=A=−
1−2
.
22
R
(2.228)
Wir setzen (2.228) in (2.223) ein und erhalten
r
g
h
R
2 t2 − 1 .
1−2
cosh
z′ = z − R = −
2
R
R
(2.229)
Wir sehen, daß auf Grund der Inhomogenität des Schwerefelds die
durchfallene Strecke i. allg. schneller als t2 anwächst.
102
2.2.6.2
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Freier Fall mit Reibung im homogenen Schwerefeld
der Erde
Bekanntlich setzt Luft oder ein anderes Gas (bzw. Flüssigkeit) einem bewegten Körper einen gewissen Widerstand entgegen. Diese der
Geschwindigkeit des Körpers entgegengesetzt gerichtete (dissipative)
Kraft hängt erfahrungsgemäß von der Geschwindigkeit und der Form
des Körpers sowie vom Medium ab, in dem die Bewegung erfolgt.
Die (theoretische) Bestimmung der Widerstandskraft ist i. allg. ein
recht kompliziertes Problem der Hydrodynamik (als Teil der Kontinuumsmechanik). Für hinreichend kleine Körper und hinreichend
kleine Geschwindigkeiten (laminare Strömung) ist der Widerstand
betragsmäßig proportional zur Geschwindigkeit. Bei der Bewegung
gewöhnlicher Körper in der Luft (turbulente Strömung) kann in vielen Fällen eine Proportionalität zum Geschwindigkeitsquadrat angenommen werden.
Wir wollen die dissipative Kraft zunächst nicht weiter spezifizieren
und nur annehmen, daß
F(diss) = f (ż) ez
(2.230)
gilt; die Bewegung soll wieder senkrecht zur Erdoberfläche erfolgen (zAchse mit Nullpunkt auf der Erdoberfläche). Ferner wollen wir uns
auf die Bewegung im homogenen Schwerefeld (h/R → 0, siehe Abschnitt 2.2.6.1) beschränken. Der Auftrieb in einem gasförmigen oder
flüssigen Medium führt bekanntlich dazu, daß die an einem Körper
angreifende Schwerkraft um das Gewicht des durch den Körper verdrängten Mediums reduziert wird. Bezeichnen wir mit mm die Masse
des verdrängten Mediums, so lautet die Kraft
F = −(m − mm )g ez = −mg̃ ez
(2.231)
mit
mm g̃ = 1 −
g=
m
ρm
1−
ρ
g
(2.232)
(ρ - Massendichte des Körpers, ρm - Massendichte des Mediums), d.h.,
der Effekt des Auftriebs kann einfach durch eine modifizierte Erdbe-
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
103
schleunigung g̃ erfaßt werden. Die Bewegungsgleichung lautet somit
mz̈ = −mg̃ + f (ż),
(2.233)
dż
= −g̃ + m−1 f (ż).
dt
(2.234)
d.h.
Integration mittels Separation der Variablen liefert t als Funktion von
ż. Speziell für den Fall erhalten wir
Z ż
dż ′
t=
(2.235)
−1
′
0 −g̃ + m f (ż )
(t = 0, ż = 0).
Lineares Widerstandsgesetz
f (ż) = −αż
(2.236)
(α>0). Man spricht in diesem Fall auch vom Stokesschen Widerstandsgesetz. Speziell für eine hinreichend kleine Kugel vom Radius r gilt
α = 6πηr (η - Zähigkeit des Mediums). Mit der Reibungskraft (2.236)
lautet die Gleichung (2.235)
Z ż
dż ′
t=−
(2.237)
′
g̃
+
Γ
ż
0
(Γ = α/m). Eine einfache Rechnung liefert
ż
1
′ t = − ln(g̃ + Γż )
Γ
0
g̃ + Γż
1
,
= − ln
Γ
g̃
(2.238)
d.h.
g̃ + Γż = g̃ e−Γt
(2.239)
g̃m g̃
−Γt
−(α/m)t
=−
ż = − 1 − e
1−e
.
Γ
α
(2.240)
bzw.
104
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Von t=0 an nimmt die Geschwindigkeit also betragsmäßig fortwährend
zu (aber langsamer als ∼ t) und nähert sich für t → ∞ der konstanten
Fallgeschwindigkeit
g̃
g̃m
v∞ = =
.
(2.241)
Γ
α
Es ist klar, daß diese Geschwindigkeit praktisch schon für endliche Zeiten t ≫ Γ−1 angenommen wird und der Körper dann eine gleichförmig
geradlinige Bewegung ausführt. Die Geschwindigkeit (2.241) resultiert
offensichtlich aus der Bedingung, daß die Bewegung kräftefrei erfolgt,
−mg̃ + f (ż) = 0.
(2.242)
Integration von (2.240) liefert schließlich z als Funktion von t,
g̃
g̃
1 −Γt
z−h= 2 −
t+ e
Γ
Γ
Γ
2
g̃m
g̃m
m −(α/m)t = 2 −
t+ e
(2.243)
α
α
α
(t = 0, z = h).
Quadratisches Widerstandsgesetz
f (ż) = −β ż 2
ż
|ż|
(2.244)
(β > 0). Mit der Reibungskraft (2.244) lautet die Gleichung (2.235) für
ż ≤ 0 (Fall)
Z
1 ż
dż ′
t=−
(2.245)
g̃ 0 1 − (κż ′ )2
[κ2 = β/(mg̃)]. Wir führen die Integration aus,
Z ż
1
1
1
′
+
dż
t=−
2g̃ 0
1 + κż ′ 1 − κż ′
ż
1
′
′ [ln(1 + κż ) − ln(1 − κż )] =−
2g̃κ
0
1
1 + κż
=−
ln
,
2g̃κ
1 − κż
(2.246)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
105
d.h.
1 + κż
= e−2g̃κt .
1 − κż
(2.247)
1 e2g̃κt − 1
κ e2g̃κt + 1
(2.248)
Wir stellen nach ż um und erhalten
ż = −
bzw.
ż = −
1
tanh(g̃κt) = −g̃
κ
r
m
tanh
βg̃
r
!
βg̃
t .
m
(2.249)
Erwartungsgemäß nimmt auch in diesem Fall die Geschwindigkeit betragsmäßig mit wachsender Zeit zu (aber langsamer als ∼ t) und wird
für hinreichend große Zeiten, d.h. t ≫ [m/(βg̃)]−1/2, konstant, nämlich
r
m
1
v∞ = = g̃
.
(2.250)
κ
βg̃
Wir integrieren (2.249) und erhalten schließlich die Funktion z(t),
!
r
βg̃
m
z − h = − ln cosh
t .
(2.251)
β
m
Im Falle kleiner Reibung ist es oftmals ausreichend, nur die Korrekturterme niedrigster Ordnung zu den üblichen Formeln des freien
Falls zu betrachten. Berücksichtigen wir, daß für |x| ≪ 1 die TaylorEntwicklung von ln cosh x
ln cosh x ≈ 12 x2 −
1
12
x4
(2.252)
liefert, so folgt für
r
βg̃
t≪1
m
(2.253)
(2.254)
aus (2.251)
z−h≈
− 21 g̃t2
βg̃ 2
1−
t .
6m
106
2.2.6.3
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Bewegung auf der rotierenden Erde
Wenn die Bewegung eines Massenpunkts in einem irdischen Laborsystem, also in einem rotierenden Bezugssystem, genau beschrieben
werden soll, so müssen zu den auf den Massenpunkt wirkenden eingeprägten Kräften noch die Zentrifugalkraft
Fcen = −m~ω × (~ω × r)
(2.255)
Fcor = −2m~ω × ṙ
(2.256)
und die Corioliskraft
hinzugenommen werden (Abschnitt 2.1.5). Hierbei ist der Betrag der
Winkelgeschwindigkeit der Erde gegenüber dem Fixsternhimmel
ω = |~ω | =
2π −1
s = 7.29·10−5 s−1.
86164
(2.257)
Wenden wir uns speziell der Bewegung eines Körpers zu, auf dem im
Inertialsystem nur die Gravitationskraft der Erde wirkt. Die Resultante der Gravitationskraft der Erde und der Zentrifugalkraft ist für einen
irdischen Beobachter offenbar die Schwerkraft (Gewicht des Körpers).
Demzufolge braucht in der Bewegungsgleichung effektiv nur die Corioliskraft berücksichtigt werden,
mr̈ = mg + 2mṙ × ~ω
(2.258)
Wie aus der Abbildung zu ersehen ist, ändert sich g infolge der Zentrifugalkraft mit der geographischen Breite ϑ.
Äquator: |g| = 9.78 ms−2
Pol:
|g| = 9.83 ms−2
Die Form der Erde, das Geoid, weicht von der Kugelform etwas ab, und
g zeigt genaugenommen nicht exakt nach dem Erdzentrum, sondern
steht senkrecht auf der Geoidfläche und hängt auch von der Höhe ab.4
4
Berücksichtigte man die anderen Himmelskörper und deren relative Bewegung zur Erde, so
müßte man auch noch eine Zeitabhängigkeit von g in Rechnung stellen.
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
107
Fcen
~ω
ϑ
Fgra
mg
Wenn sich die Bewegungen in Bereichen abspielen, deren Abmessungen hinreichend klein sind, kann g in diesen Bereichen mit genügender
Genauigkeit als konstant angenommen werden.
Wir wählen als Bezugssystem ein kartesisches Koordinatensystem
am Beobachtungsort der geographischen Breite ϑ. Wie aus der nächsten
Abbildung ersichtlich ist, gilt in diesem Koordinatensystem
g = −g ez ,
(2.259)
ṙ = ẋ ex + ẏ ey + ż ez ,
(2.260)
~ω = −ω cos ϑ ex + ω sin ϑ ez ,
(2.261)
und die komponentenmäßige Darstellung der Bewegungsgleichung
(2.258) lautet
ẍ = 2ω sin ϑ ẏ,
(2.262)
ÿ = −2ω sin ϑ ẋ − 2ω cos ϑ ż,
(2.263)
z̈ = −g + 2ω cos ϑ ẏ.
(2.264)
Freier Fall
Wir wollen die Gleichungen (2.262) – (2.264) unter den Anfangsbedingungen
t = 0, x = y = 0, z = h, ẋ = ẏ = ż = 0
(2.265)
108
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
~ω
π/2 − ϑ
senkrecht zum Geoid
z
~ω
West
y
West-Ost
Ost
ϑ
x
Nord-Süd
lösen. Wegen der Kleinheit von ω genügt es, dies näherungsweise zu tun.
Da ẋ ∼ ω und ẏ ∼ ω, folgt, wenn Glieder ∼ ω 2 vernachlässigt werden,
ẍ = 0,
(2.266)
ÿ = −2ω cos ϑ ż,
(2.267)
z̈ = −g.
(2.268)
Aus (2.266) und (2.268) zusammen mit den Anfangsbedingungen folgt
dann
x(t) = 0,
(2.269)
ż = −gt ; z(t) = h − 21 gt2 ,
(2.270)
und somit geht (2.267) in
ÿ = 2gtω cos ϑ
(2.271)
über, woraus (mit den Anfangsbedingungen)
ẏ = gt2 ω cos ϑ
(2.272)
y(t) = 31 gt3 ω cos ϑ
(2.273)
und weiter
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
109
folgt. Da die y-Achse im gewählten Koordinatensystem nach Osten
zeigt und y(t) gemäß (2.273) für t > 0 nur positive (und mit der Zeit
wachsende) Werte annimmt, erleidet der fallende Körper eine Ostabweichung.
Zur Wirkung der Corioliskraft
Die Wirkung der Corioliskraft überblickt man am einfachsten, wenn
man den Vektor der Winkelgeschwindigkeit am Ort der geographischen
Breite ϑ in die zwei Komponenten der Vertikal- und Horizontalrichtung
zerlegt:
~ω
~ωh
~ωv
ϑ
~ω
~ωv
~ωh
ωv = ω sin ϑ,
ωh = ω cos ϑ.
(2.274)
Bewegt sich sich beispielsweise ein Körper horizontal [Gleichungen
(2.262) und (2.263) mit ż = 0], so gibt ~ωv Anlaß zu einer horizontalen,
senkrecht zur Geschwindigkeit (nach rechts auf der Nordhalbkugel und
nach links auf der Südhalbkugel) gerichteten Kraft. Ein horizontal bewegter Körper weicht infolge der Erdrotation von seiner Bahn (im Vergleich zum Inertialsystem) auf der nördlichen Halbkugel nach rechts,
auf der südlichen Halbkugel nach links ab. Ferner gibt bei einer horizontalen Bewegung ~ωh Anlaß zu einer Kraft, die senkrecht nach oben
oder unten zeigt und somit zu einer Gewichtsänderung des Körpers
führt (Eötvös-Effekt).
110
2.2.6.4
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Gedämpfte Schwingungen
Wenn eine an einer Schraubenfeder oder an einem Gummifaden befestigte Masse aus der Ruhelage um eine kleine Strecke x (oder ein
Fadenpendel um einen kleinen Winkel ϕ aus der Senkrechten) ausgelenkt wird, so wirkt auf die Masse eine der Auslenkung proportionale
und in Richtung der Ruhelage zeigende Kraft
F = −kx ex
(2.275)
(k - Federkonstante). Dieses Kraftgesetz entspricht dem aus der Elastizitätstheorie bekannten Hookesschen Gesetz und läßt sich in vielen
Fällen anwenden. Das Potential lautet
U = 12 kx2,
(2.276)
und die Bewegungsgleichung
mẍ = −kx
(2.277)
ist die eines (ungedämpften) harmonischen Oszillators,
ẍ + ω02x = 0,
(2.278)
wobei die Kreisfrequenz
ω0 =
r
k
m
(2.279)
auch Eigenfrequenz des Oszillators genannt wird [siehe Gleichung
(1.144) mit der Bezeichnung ω0 anstelle von ω]. Für größere Auslenkungen verliert in vielen Fällen das lineare Kraftgesetz (2.275) seine
Gültigkeit und nichtlineare Terme müssen berücksichtigt werden,
F = f (x) ex,
f (x) = c1 x + c2 x2 + · · · .
(2.280)
Für x =0 verschwindet die Kraft; dieser Punkt stellt also eine Ruhelage
dar. Sie ist offensichtlich stabil, wenn c1 < 0 gilt. Im Falle eines solchen
nichtlinearen Kraftgesetzes (und finiter Bewegung) spricht man auch
von einem anharmonischen Oszillator.
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
111
Im Falle eines dreidimensionalen harmonischen Oszillators wird
häufig zwischen isotropem und anisotropem Kraftgesetz unterschieden.
Isotroper Fall:
F = −k r.
(2.281)
Anisotroper Fall:
Fi = −ki xi
(ki 6= kj f ür i 6= j).
(2.282)
Während für einen isotropen harmonischen Oszillator Drehimpulserhaltung gilt [die Kraft (2.281) ist eine Zentralkraft], ist dies für einen
anisotropen harmonischen Oszillator nicht der Fall.
Kehren wir zum eindimensionalen Oszillator zurück. Zu der eine
(harmonische) Schwingung verursachenden Kraft tritt auf Grund der
in der Praxis immer auftretenden Verluste stets eine Reibungskraft hinzu, die dafür verantwortlich ist, daß jede angeregte und sich dann selbst
überlassene Schwingung nach einer gewissen Zeit zur Ruhe kommt. In
vielen Fällen kann die Reibungskraft proportional zur Geschwindigkeit
und entgegengesetzt zur Geschwindigkeit gerichtet angenommen werden,
F (diss) = −αẋ ex ,
(2.283)
so daß an die Stelle der Bewegungsgleichung (2.277) die Gleichung
mẍ = −kx − αẋ
(2.284)
ẍ + 2Γẋ + ω02 x = 0
(2.285)
tritt, d.h.:
(2Γ = α/m). Die Gleichung (2.285) wird üblicherweise als Differentialgleichung einer (eindimensionalen) freien, gedämpften Schwingung bezeichnet (gedämpfter harmonischer Oszillator). Ihre Lösung
kann mittels Standardmethoden erfolgen. Der Ansatz
x ∼ eλt
(2.286)
112
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
liefert die charakteristische Gleichung
λ2 + 2Γλ + ω02 = 0
(2.287)
zur Bestimmung der λ,
q
Γ2 − ω02
q
= −Γ ± i ω02 − Γ2 .
λ1,2 = −Γ ±
(2.288)
Damit lautet die allgemeine Lösung
x = C1 eλ1 t + C2eλ2 t ,
(2.289)
x = e−Γt (C1 + C2 t)
(2.290)
falls λ1 6= λ2 ist, und
im entarteten Fall (λ1 = λ2 = −Γ). Entsprechend den Größenverhältnissen von ω0 und Γ werden üblicherweise drei Fälle unterschieden.
Schwingfall
ω02 > Γ2.
(2.291)
In diesem Fall haben wir
λ1 = Γ + iω,
λ2 = λ∗1
(2.292)
mit reellem (positivem)
q
ω = ω02 − Γ2 ,
und die Lösung (2.289) nimmt für reelles x die Gestalt
x = e−Γt C1eiωt + C1∗e−iωt
(2.293)
(2.294)
bzw.
x = Ce−Γt cos(ωt + φ)
(2.295)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
113
an (C1 =|C1 |eiφ, C = |C1|). Speziell für Γ/ω ≈Γ/ω0 ≪1 kann x(t) als harmonische Schwingung mit der Kreisfrequenz ω aufgefaßt werden, deren
Amplitude Ce−Γt mit wachsender Zeit exponentiell gedämpft ist. Die
Größe Γ wird in diesem Zusammenhang auch Dämpfungskonstante
genannt, ihr Inverses Abklingzeit. Es ist klar, daß eine gedämpfte harmonische Schwingung kein periodischer Vorgang ist. Ferner ist die in
(2.293) definierte Kreisfrequenz ω immer (etwas) kleiner als die Kreisfrequenz ω0 des ungedämpften Oszillators. Dementsprechend ist T =
2π/ω immer (etwas) größer als T0 = 2π/ω0.
ω0 x/v0
1
Γ/ω0 = 0.1
0.5
ω0 T
0
10
20
30
ω0 t
40
−0.5
−1
Im Falle Γ/ω ≈ Γ/ω0 ≪ 1 kann das Verhältnis zweier aufeinander
folgender maximaler Auslenkungen (Amplituden) auf der gleichen Seite immer als das gleiche angesehen werden. Gemäß (2.295) sind die
maximalen Auslenkungen durch
xn = Ce−Γtn (−1)n,
tn = n
π φ
−
ω ω
(2.296)
gegeben, und folglich gilt
xn
= eΓT
xn+2
(2.297)
114
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
(tn+2 − tn = 2π/ω = T ). Das Verhältnis
p=
xn
= eΓT ,
xn+2
(2.298)
auch Dämpfungsverhältnis genannt, kann als ein Maß für die Dämpfung angesehen werden. Das Verhältnis zweier aufeinander folgender
maximaler Auslenkungen auf verschiedenen Seiten ist
√
xn
= −eΓT /2 = − p .
xn+1
(2.299)
Oft wird die Dämpfung nicht durch p direkt, sondern durch das logarithmische Dekrement
Λ = ln p = ΓT
(2.300)
charakterisiert. Aus Messungen der Amplituden kann p und somit Λ
in einfacher Weise bestimmt werden. Wird zusätzlich noch die Schwingungsdauer gemessen, kann die Dämpfungskonstante Γ (und bei bekannter Masse m auch die Reibungskonstante α) ermittelt werden.
Die Konstanten C und φ in der allgemeinen Lösung (2.295) können
durch die Anfangsbedingungen des speziellen Problems festgelegt werden. Man überzeugt sich leicht, daß beispielsweise für die Anfangsbedingungen
t = 0,
x = 0,
ẋ = v
(2.301)
die Lösung (2.295) wie folgt lautet:
v −Γt
e sin(ωt)
ω
q
v
−Γt
e sin
ω02 − Γ2 t
=p 2
2
ω0 − Γ
x=
(2.302)
(siehe Abbildung auf Seite 113).
Kriechfall
ω02 < Γ2.
(2.303)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
115
ω0 x/v0
0.3
Γ/ω0 = 1.1
0.2
0.1
0
2
4
6
8
10
ω0 t
Wie aus (2.288) ersichtlich, sind in diesem Fall λ1 und λ2 in der allgemeinen Lösung (2.289) reell und negativ, und C1 und C2 sind zwei
beliebige reelle Konstanten. Da beide Glieder in (2.289) rein exponentiell abklingende Funktionen sind, hat der durch (2.289) beschriebene
Bewegungsablauf nichts mehr mit einer Schwingung zu tun, sondern ist
rein aperiodisch. Speziell für die Anfangsbedingungen (2.301) erhalten
wir
q
v
Γ2 − ω02 t
(2.304)
e−Γt sinh
x=p
2
2
Γ − ω0
[vgl. mit (2.302)]. Im Gegensatz zu (2.302) kann x nicht mehr das Vorzeichen wechseln. Für v > 0 nimmt x von Null beginnend mit wachsendem t zunächst zu, erreicht einen Maximalwert und nimmt dann wieder
ab und nähert sich asymptotisch Null.
Aperiodischer Grenzfall
ω02 = Γ2 .
(2.305)
λ1 = λ2 = −Γ,
(2.306)
In diesem Fall gilt
116
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
und die allgemeine Lösung ist durch (2.290) gegeben, wobei C1 und C2
wieder zwei beliebige reelle Konstanten sind, die durch die Anfangsbedingungen festlegbar sind. Im Falle der Anfangsbedingungen (2.301)
lautet die Lösung
x = vte−Γt
(2.307)
(die sich auch direkt als Grenzwert von (2.304) für ω02 → Γ2 ergibt).
Die Bewegung ist ebenso wie die im Kriechfall aperiodisch. Verglichen
mit dem Kriechfall, kommt sie jedoch im aperiodischen Grenzfall am
schnellsten zur Ruhe (Meßgerätebau!).
0.5
ω0x/v0
Γ/ω0 = 0.5
0.4
Γ/ω0 = 1
0.3
Γ/ω0 = 1.5
0.2
0.1
0
2
4
6
10
ω0 t
−0.1
2.2.6.5
8
Erzwungene Schwingungen
Wir wollen annehmen, daß auf einen gedämpften harmonischen Oszillator noch eine äußere, anregende Kraft wirkt,
Fext = F (t) ex .
(2.308)
Die Kraft möge periodisch und harmonisch sein,
F (t) = f cos(Ωt + θ).
(2.309)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
117
Eine mögliche Realisierung besteht darin, eine Masse an eine Spiralfeder zu hängen und das obere Ende der Feder mit der Kreisfrequanz
Ω auf- und abzubewegen. Die unter dem Einfluß einer äußeren, periodischen Kraft erzwungene Schwingung genügt der Bewegungsgleichung
mẍ = −kx − αẋ + f cos(Ωt + θ)
(2.310)
ẍ + 2Γẋ + ω02 x = (f /m) cos(Ωt + θ)
(2.311)
bzw.:
Die allgemeine Lösung x(t) der Differentialgleichung (2.311) setzt sich
zusammen aus der allgemeinen Lösung xh (t) der homogenen Gleichung
und einer partikulären Lösung xp (t) der inhomogenen Gleichung,
x(t) = xh(t) + xp (t).
(2.312)
Die allgemeine Lösung der homogenen Gleichung ist in (2.289) bzw.
(2.290) gegeben, und eine partikuläre Lösung der inhomogenen Gleichung kann als harmonische Schwingung der Kreisfrequenz Ω angesetzt
werden,
xp = B cos(Ωt + β).
(2.313)
Um die Amplitude B und die Phase β zu bestimmen, benutzt man
zweckmäßigerweise die komplexe Schreibweise (siehe Abschnitt 1.3.3),
d.h.
xp = B cos(Ωt+β) 7→ xp = BeiΩt,
f cos(Ωt+θ) 7→ f eiΩt ,
(2.314)
(2.315)
wobei nunmehr B und f komplex sind,
B = |B|eiβ ,
f = |f |eiθ .
Mit (2.314) und (2.315) wird aus (2.311)
−Ω2 + 2iΓΩ + ω02 B = f /m
(2.316)
(2.317)
118
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
bzw.
q
2ΓΩ
(ω02 −Ω2)2 +(2ΓΩ)2 exp i arctan 2
ω0 −Ω2
× |B|eiβ = |f |eiθ /m.
(2.318)
Damit finden wir
|B| =
und
|f |
q
m (ω02 −Ω2)2 +(2ΓΩ)2
tan(θ−β) =
2ΓΩ
.
ω02 −Ω2
(2.319)
(2.320)
Da wegen der Dämpfung
lim xh (t) = 0
t→∞
(2.321)
gilt (Abschnitt 2.2.6.4), folgt
lim x(t) = xp (t).
t→∞
(2.322)
Nach Beendigung des durch xh (t) beschriebenen Einschwingvorgangs, d.h. unter stationären Bedingungen, stellt sich also der durch
xp (t) gegebene Bewegungsablauf ein. Der Massenpunkt führt mit der
Kreisfrequenz Ω der treibenden Kraft eine (ungedämpfte) erzwungene,
harmonische Schwingung aus.
Die Amplitude |B| [Gleichung (2.319)] dieser Schwingung und ihre
Phasendifferenz (θ − β) [Gleichung (2.320)] bzgl. der treibenden Kraft
hängen empfindlich von Ω ab. Aus (2.320) ist ersichtlich, daß die Phase
der erzwungenen Schwingung immer hinter der Phase der treibenden
Kraft zurückbleibt (siehe Abbildung). Die Amplitude |B| nimmt gemäß
(2.319) mit wachsender Frequenz Ω zunächst zu, erreicht für Γ/ω0 ≪ 1
(kleine Dämpfung) an der Stelle Ω = Ωr ≈ ω0 ein (scharfes) Maximum
und nimmt im weiteren Verlauf wieder ab. Demnach wird also die Amplitude des Oszillators am größten, wenn die Frequenz der treibenden
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
119
Kraft mit der Eigenfrequenz des Oszillator (näherungsweise) übereinstimmt. Diesen Effekt nennt man auch Resonanz; die Kurve |B(Ω)|
heißt Resonanzkurve. Die Resonanzkurve ist um so schmaler und
höher, d.h., die Resonanz ist um so deutlicher ausgeprägt, je kleiner die
Dämpfung Γ ist. Für hinreichend kleine Dämpfung kann die Amplitude beliebig groß werden (Resonanzkatastrophe). Bei ungedämpften
Systemen wäre die Amplitude an der Resonanzstelle Ω = ω0 unendlich
groß. Da dies unphysikalisch wäre, ist klar, daß Dämpfung immanenter
Bestandteil jeglicher realer Bewegung ist.
Die exakte Lage des Maximums der Amplitude ergibt sich aus der
Lösung der Gleichung
d|B(Ω)|
= 0,
dΩ
(2.323)
3
θ−β
Γ/ω0 = 0.01
2.5
Γ/ω0 = 0.1
Γ/ω0 = 0.5
2
1.5
1
0.5
0
1
2
3
4
5
Ω/ω0
120
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
|B|
mω0
|f |
50
40
Γ/ω0 = 0.01
30
20
Γ/ω0 = 0.1
10
Γ/ω0 = 0.5
0
0.2
0.6
1
1.4
1.8
Ω/ω0
d.h.
i
d h 2
2 2
2 2
0=
ω0 − Ω + 4Γ Ω
dΩ
= −2 ω02 − Ω2 + 4Γ2 2Ω,
woraus als Resonanzfrequenz
q
q
2
2
Ωr = ω0 − 2Γ = ω0 1 − 2Γ2/ω02
(2.324)
(2.325)
folgt. Damit ergibt sich als maximale Amplitude |Bmax | = |B(Ωr)|
|Bmax | =
|f |
|f |
p
p
.
=
2Γmω0 1 − (Γ/ω0)2
2Γm ω02 − Γ2
(2.326)
Die Resonanzbreite ∆Ω ist üblicherweise als Halbwertsbreite
∆Ω = Ω2 − Ω1,
definiert.
|B(Ωi)| = 12 |Bmax |2
(2.327)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
121
Resonanzen spielen eine große Rolle in allen Gebieten der Physik
und Technik.
– Unter der Wirkung der bei laufenden Motoren und Maschinen auftretenden periodischen Erschütterungen können Gebäude
schwer beschädigt werden.
– Marschkolonnen dürfen auf Brücken nicht im Gleichschritt marschieren, da die periodische Bewegung in der Nähe einer Eigenfrequenz der Brücke liegen könnte.
– Der Ton vieler Musikinstrumente wird durch Resonanz verstärkt.
Bei Lautsprechern können Resonanzen zu unerwünschten Verzerrungen führen.
– Elektrische Frequenzmesser nutzen zum großen Teil Resonanzeffekte. Beim Rundfunk- und Fernsehempfang ermöglichen sie die
Trennung der verschiedenen Sender.
Neben dem Amplitudenmaxium (Amplitudenresonanz) kann man
auch nach dem Maximum der Geschwindigkeitsamplitude Ω|B| (Geschwindigkeitsresonanz) fragen. Eine einfache Rechnung zeigt, daß die
durch die Gleichung
d[Ω|B(Ω)|]
=0
dΩ
(2.328)
bestimmbare Lage der Geschwindigkeitsresonanz genau mit der Eigenfrequenz ω0 des Oszillators übereinstimmt.
Ist die treibende Kraft eine beliebige periodische Funktion der Zeit,
so läßt sich diese immer als Fourier-Reihe darstellen,
F (t) =
∞
X
fneinΩt
(2.329)
n=−∞
(siehe Abschnitt 1.3.3.2). An die Stelle der Bewegungsgleichung (2.311)
tritt dann die Gleichung
ẍ + 2Γẋ +
ω02 x
=
∞
X
n=−∞
fn einΩt,
(2.330)
122
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
und die partikuläre Lösung der inhomogenen Gleichung kann ebenfalls
in Form einer Fourier-Reihe
xp =
∞
X
Bn einΩt
(2.331)
n=−∞
dargestellt werden, wobei der Zusammenhang der komplexen Amplituden Bn und fn offensichtlich in genau der gleichen Weise wie in (2.317)
gegeben ist, wenn dort und in den folgenden Gleichungen Ω durch nΩ
und B, f durch Bn , fn ersetzt werden,
−(nΩ)2 + 2iΓ(nΩ) + ω02 Bn = fn/m.
(2.332)
Damit ist das Problem einer beliebigen periodischen Kraft auf das einer harmonischen Kraft zurückgeführt.5 Resonanz tritt auf, wenn die
äußere Kraft Fourier-Komponenten enthält, deren Frequenzen nΩ in
der Nähe von Ωr (≈ ω0) liegen.
2.2.6.6
Kepler-Problem
Wir wollen die Bewegung einer (Punkt-)Masse m1 ≡ m im Gravitationsfeld einer als raumfest angenommenen (Punkt-)Masse m2 ≡ M
bestimmen. Dieses Problem ist nicht nur in der Mechanik von Himmelskörpern von grundlegender Bedeutung, sondern wegen seiner Analogie zur Bewegung einer elektrischen Ladung im Coulomb-Feld einer
zweiten Ladung auch in der Atomphysik. Es sei M die Sonnenmasse und m die Masse eines Planeten des Sonnensystems. Wegen ihrer
im Vergleich zur Masse eines Planeten extrem großen Masse, M ≫ m,
kann die Sonne näherungsweise zunächst als ruhend angesehen und als
Ursprung des Bezugssystems gewählt werden (so beträgt beispielsweise die Sonnenmasse das 3.3 · 105-fache der Erdmasse). Ferner wollen
wir annehmen, daß sich die Planeten nicht zu nahe kommen. Unter
den gemachten Annahmen reduziert sich das Vielkörperproblem auf
ein Einkörperproblem für m mit der Bewegungsgleichung
mr̈ = F
5
(2.333)
Übergang zum Fourier-Integral liefert die Lösung für eine beliebige quadratisch integrierbare
Kraft.
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
123
und F gemäß (2.204),
F=−
γmM r
r2 r
(2.334)
(r, Radiusvektor von M zu m).
Da F konservativ und Zentralkraft ist, gelten Energie- und Drehimpulserhaltung. Letzteres bedeutet bekanntlich, daß die Bewegung
in einer Ebene verläuft. Wir wollen als diese Ebene wieder die xyEbene wählen und dort ebene Polarkoordinaten verwenden. Das (aus
der Drehimpulserhaltung resultierende) effektive Potential (2.181) lautet
L2
Ueff (̺) = U (̺) +
,
(2.335)
2m̺2
wobei
U (̺) = −
γmM
̺
(2.336)
das Gravitationspotential ist [siehe (2.153)]. Der Energieerhaltungssatz
(2.180) liefert dann die Gleichung
2
1
2 m̺˙
+ Ueff (̺) =
2
1
2 m̺˙
γmM
L2
−
+
= E.
̺
2m̺2
(2.337)
Wir bestimmen das Minimum von Ueff (̺). Seine Lage ̺0 folgt aus
dUeff
=0
d̺
;
γmM
L2
−
= 0,
̺2
m̺3
(2.338)
d.h.
L2
,
̺0 ≡ k =
γm2M
womit sich
Ueff (k) = −
γmM
γ 2m3 M 2
=−
2k
2L2
ergibt.
Finite Bewegung (E1 in der Abbildung):
(2.339)
(2.340)
124
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Ueff
k
γmM
0.1
4
12
8
16
20
∼ E2
̺/k
−0.1
∼ E1
−0.3
−0.5
Ueff (k) ≤ E < 0
;
−
γmM
≤E<0
2k
(2.341)
bzw.
−1 ≤
2Ek
< 0.
γmM
(2.342)
Infinite Bewegung (E2 in der Abbildung):
0 ≤ E.
(2.343)
Die Umkehrpunkte bestimmen sich aus der Gleichung
Ueff (̺) − E = 0.
(2.344)
Die Rechnung liefert
L2
γmM
−
− E = 0,
2m̺2
̺
1
γm2M 1 2mE
−2
−
= 0,
̺2
L2 ̺
L2
21
1 2Ek
1
−
−
= 0,
̺2 k ̺ k 2 γmM
(2.345)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
1
1
= ±
̺ k
s
125
1 2Ek
1
+
k 2 k 2 γmM
(2.346)
bzw.
1
1
=
̺ k
1±
s
1+
2Ek
γmM
!
.
(2.347)
Wir setzen
ε=
s
1+
2Ek
.
γmM
(2.348)
Die Bedingung für eine finite Bewegung lautet dann
0≤ε<1
(2.349)
und die für eine infinite Bewegung
1 ≤ ε,
(2.350)
und für die Umkehrpunkte (2.347) (minimales und maximales ̺) gilt
1
̺min
1
̺max
=
=
1−ε
k
1+ε
,
k
(falls ε < 1).
(2.351)
(2.352)
Für ε = 1 folgt ̺max = ∞, d.h., eine finite Bewegung schlägt in eine
infinite um.
Die Bewegungsgleichungen können – wie im Abschnitt 2.2.5 beschrieben – mittels der Erhaltungssätze (oder natürlich auch direkt)
gelöst werden. Wir wollen hier die Bahngleichung etwas genauer untersuchen. Gemäß Gleichung (2.189) gilt
Z
L ̺
d̺′
p
ϕ=
,
(2.353)
m ̺min ̺′2 2 [E − Ueff (̺′ )] /m
126
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
wobei über die Konstante in (2.189) so verfügt wurde, daß ϕ = 0 für ̺
= ̺min ist. Wir drücken zunächst in
2m
2mE 2γm2M
1
′
[E − Ueff (̺ )] =
+
− ′2
2
2
2
′
L
L
L̺
̺
(2.354)
die Parameter L und E durch k [Gleichung (2.339)] und ε [Gleichung
(2.348)] wie folgt aus:
s
2E
ε2 − 1
2mE
2Ek
ε= 1+
=
,
(2.355)
;
=
γmM
k2
γmMk
L2
2m
ε2 − 1 2 1
1
′
[E
−
U
(̺
)]
=
+
−
eff
L2
k2
k ̺′ ̺′2
2
1
1
ε2
−
= 2−
k
̺′ k
(
2)
2
1
k 1
ε
−
.
= 2 1−
k
ε ̺′ k
Damit kann (2.353) in die Form
(
2 )−1/2
Z ̺
′
k
1
d̺
k 1
ϕ=
−
1−
′2
′
ε ̺min ̺
ε ̺
k
(2.356)
(2.357)
gebracht werden. Wir führen zweckmäßigerweise eine Variablensubstitution durch,
k 1
1
−
= z,
(2.358)
ε ̺′ k
k 1
d̺′
ε
dz
= − ′2 ; ′2 = − dz,
′
d̺
ε̺
̺
k
1
1
k
−
̺′ = ̺min ; z =
ε ̺min k
k 1 ε 1
=
+ −
= 1,
ε k k k
(2.359)
(2.360)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
127
und erhalten
ϕ=−
woraus
Z k(1−1)
ε ̺ k
1
dz
k 1 1
√
−
,
= arccos
ε ̺ k
1 − z2
k
ε
1 1
−
̺ k
= cos ϕ
(2.361)
(2.362)
bzw.
1
1
= (1 + ε cos ϕ)
̺ k
(2.363)
folgt. Die Gleichung (2.363) ist die Gleichung für Kegelschnitte in ebenen Polarkoordinaten.
Kreis
γmM
.
2k
(2.364)
γmM
< E < 0.
2k
(2.365)
ε = 0 bzw. E = −
Ellipsen
0 < ε < 1 bzw.
−
Parabel
ε = 1 bzw. E = 0.
(2.366)
ε > 1 bzw. E > 0.
(2.367)
Hyperbeln
Außer der Bahngleichung kann natürlich auch die Zeitabhängigkeit
der Koordinaten ̺ und ϕ bestimmt werden. So kann man aus ̺ = ̺(ϕ)
mittels der Beziehung
L
dϕ
=
dt
m̺2
(2.368)
128
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
[siehe Gleichung (2.177)] zunächst t als Funktion von ϕ bestimmen,
m
t − t0 =
L
Z
ϕ
dϕ′ ̺2 (ϕ′),
(2.369)
ϕ0
woraus durch Bildung der Umkehrfunktion ϕ = ϕ(t) berechnet werden
kann. Damit und mit der Bahngleichung kann dann auch ̺ als Funktion
von t bestimmt werden,
̺ = ̺[ϕ(t)].
(2.370)
Damit ist das Problem im Prinzip gelöst.
Keplersche Gesetze
Im Hinblick auf die Planetenbewegung wollen wir die Ellipsen (einschließlich Kreis) etwas eingehender analysieren. Wir drücken ε (Exzentrizität) und k (Parameter) durch e und a aus (siehe Abbildung).
ε=
e
,
a
e2 = a2 − b2,
(2.371)
b2
k = (1 − ε )a = ,
a
2
v
̺′ = a + εu
b
(2.372)
y
̺′
̺
ϕ
a
e
a
u
x
k
̺ = a − εu
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
129
Große Halbachse
k
2
1| −
{zε}
a=
=−
γmM
,
2E
(2.373)
−2Ek/(γmM)
d.h.
a=
γmM
.
2|E|
(2.374)
Bei gegebenen Massen wird also die große Halbachse nur durch die
Energie festgelegt.
Kleine Halbachse
γmM L2
,
b = ak =
2|E| γm2M
2
(2.375)
d.h.
|L|
b= p
.
2m|E|
(2.376)
Umlaufzeit (Periodendauer)
Aus dem Flächensatz (2.143) folgt
d|A|
|L|
πab
=
=
,
dt
2m
T
(2.377)
d.h.
T =
2πmab
.
|L|
(2.378)
Wir ersetzen a und b gemäß (2.374) und (2.376) und erhalten
T = 2πm
1
γmM
p
2|E| 2m|E|
(2.379)
130
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
und somit
T = πγmM
r
m 1
.
2 |E|3/2
(2.380)
Die Periodendauer wird also (bei gegebenen Massen) nur durch die
Energie bestimmt. Da die große Halbachse ebenfalls nur durch die Energie festgelegt ist, kann die Periodendauer durch die große Halbachse
ausgedrückt werden,
d.h.
T = 2πm p
a
a
= 2πm p
,
2m|E|
γm2M/a
T = 2π
r
1 3/2
a
γM
(2.381)
(2.382)
bzw.
4π 2 3
T =
a.
γM
2
(2.383)
Für zwei Planeten der Massen m1 und m2 auf elliptischen Bahnen um
die Sonne gilt demnach für die Umlaufzeiten T1 und T2 sowie die großen
Halbachsen a1 und a2
2 3
a1
T1
=
.
(2.384)
T2
a2
Die obigen Ergebnisse bilden den Inhalt der Keplerschen Gesetze.
(1) Die Planeten bewegen sich auf Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht.
(2) Der Fahrstrahl von der Sonne zu einem Planeten überstreicht in
gleichen Zeiten gleiche Flächen.
(3) Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich
wie die Kuben der großen Halbachsen.
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
131
Anzumerken ist, daß die historische Reihenfolge die umgekehrte
war. Die empirisch aus astronomischen Beobachtungen abgeleiteten
Keplerschen Gesetze6, durch die u.a. das heliozentrische Weltsystem
von Kopernikus genauer begründet wurde, führten Newton zur Aufstellung des Gravitationsgestzes. Dieses ist trotz seiner einfacheren Form
natürlich viel allgemeiner als die Keplerschen Gesetze und bedeutet
einen höheren Grad der Erkenntnis. Es faßt nicht nur die Keplerschen
Gesetze und die Gravitationskraft zu einer einzigen Aussage zusammen, sondern ist die Grundlage zur Bestimmung der Bewegung aller
Himmelskörper. So können beispielsweise die bei der Planetenbewegung beobachteten kleinen Abweichungen von den Keplerschen Gesetzen quantitativ durch die Gravitationswirkung der anderen Planeten
gedeutet werden. Die Untersuchung dieser Störungen führte sogar zur
Entdeckung neuer Planeten an vorausberechneten Stellen.
Wir wollen den Weg skizzieren, wie aus den Keplerschen Gesetzen
auf das Gravitationsgesetz geschlossen werden kann. Das erste und das
zweite Gesetz bringt die Drehimpulserhaltung zum Ausdruck, woraus
folgt, daß die Kraft eine Zentralkraft ist und nur eine radiale Komponente besitzt, d.h., in dem von uns gewählten Koordinatensystem
gilt
(2.385)
F = F̺ e̺ , F̺ = m ̺¨ − ̺ϕ̇2
und
m̺2 ϕ̇ = L.
(2.386)
[Gleichung (2.177)]. Wir differenzieren die Ellipsengleichung
1
1
= (1 + ε cos ϕ)
̺ k
und finden
d
dt
ε
εL
̺˙
1
sin ϕ,
= − 2 = − ϕ̇ sin ϕ = −
̺
̺
k
km̺2
(2.387)
(2.388)
d.h.
̺˙ =
6
1609 und 1619
εL
sin ϕ,
km
(2.389)
132
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
woraus
̺¨ =
εL
εL2
ϕ̇ cos ϕ =
cos ϕ
km
km2 ̺2
(2.390)
folgt. Wir setzen (2.386) und (2.390) in (2.385) ein:
L2
εL2
cos ϕ − 2 3
F̺ = m
km2 ̺2
m̺
L2 ε
1
L2 1
=
.
cos ϕ −
=−
m̺2 k
̺
km ̺2
|
{z
}
−1/k
(2.391)
Wegen (2.377) und (2.386) folgt
L
πab
= 12 ̺2 ϕ̇ =
,
2m
T
(2.392)
d.h.
π 2 a2 b2 =
L2 2
T
4m2
(2.393)
bzw.
2 2
2
T2
2 m b
2 m k
=
4π
=
4π
a3
L2 a
L2
(2.394)
[b2 = ak, siehe Gleichung(2.372)]. Da nach dem 3. Keplerschen Gesetz
T 2/a3 für alle Planetenbahnen (und somit für alle Ellipsen) die gleiche
Konstante liefert, muß also nach (2.394) auch
2 −1
mk
(2.395)
σ=
L2
eine für alle Bahnen Konstante sein, die nur noch von der Sonnenmasse
abhängen kann, so daß für die Gravitationskraft
F̺ = −
σm
̺2
(2.396)
2.2. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTS
133
gelten muß. Gemäß dem dritten Newtonschen Axiom kann σ nur proportional zu M sein,
σ = γM,
(2.397)
mit einer von M nunmehr unabhängigen Konstante γ, d.h.
F̺ = −γ
mM
.
̺2
(2.398)
Kosmische Geschwindigkeiten
Ein Satellit soll von einem Punkt P im Abstand R vom Mittelpunkt der
(als kugelförmig angenommenen) Erde in eine Umlaufbahn gebracht
werden, deren erdnächster Punkt außerhalb der Entfernung R liegt,
und es ist die Frage zu beantworten, welche Ausgangsgeschwindigkeit
v der Satellit besitzen muß. Unter Berücksichtigung von (2.351) und
vφ
v
P v
R
R
Satellit
Erde
(2.339) ist die Bedingung
R < ̺min =
L2
k
=
1 + ε γm2M(1 + ε)
(2.399)
zu erfüllen, d.h.
L2 > γm2MR(1 + ε),
(2.400)
L2 = m2 R4φ̇2 = m2 R2 vφ2
(2.401)
und wegen
134
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
erhalten wir
vφ2 > (1 + ε)
γM
.
R
(2.402)
Andererseits soll die Bewegung finit sein,
E<0
;
1
m|v|2
2
−
γmM
<0
R
(2.403)
γM
.
R
(2.404)
bzw.
|v|2 = vφ2 + vR2 < 2
Die Abbildung zeigt die mit den Bedingungen (2.402) und (2.404) er
1/2
γM
2
vR
R
γM
R
1/2
vφ
erlaubte Bereiche
laubten Geschwindigkeitsbereiche (beachte, daß für eine finite Bewegung 0 ≤ ε < 1 gilt). Insbesondere lesen wir die erste und zweite kosmische Geschwindigkeit ab (mit R als den Erdradius).
1. kosmische Geschwindigkeit (ε = 0)
r
γM
(= 7.9 km s−1).
vI =
R
(2.405)
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
2. kosmische Geschwindigkeit (ε = 1)
r
γM
vII = 2
(= 11.2 km s−1).
R
2.3
2.3.1
135
(2.406)
Dynamik eines Massenpunktsystems
Bewegungsgleichungen
Die für einen Massenpunkt aufgestellte (vektorielle) Bewegungsgleichung kann natürlich auch auf Probleme angewendet werden, bei denen
N diskrete Körper, die sich als frei bewegliche Massenpunkte auffassen lassen, Kräfte aufeinander ausüben. Ist rν der Ortsvektor des ν-ten
Massenpunkts (im Inertialsystem), mν seine Masse und Fν die Resultante aller an ihm angreifenden Kräfte, dann lauten die Bewegungsgleichungen des Massenpunktsystems:
mν r̈ν = Fν
(ν = 1, 2, . . . , N )
(2.407)
Sind die Kräfte Fν (im allgemeinen Fall) als Funktionen der Orte
und Geschwindigkeiten der Massenpunkte sowie der Zeit bekannt, so
besteht die Bestimmung der Bewegung des Massenpunktsystems in
der Integration des Gleichungssystems (2.407), das 3N (gekoppelte)
gewöhnliche Differentialgleichungen zweiter Ordnung enthält.
Man kann den Grundgleichungen (2.407) der Punktmechanik eine
sehr allgemeine Bedeutung zuschreiben. Sie basiert auf der Auffassung,
nach der jeder materielle Körper als aus einer endlichen (wenn auch
großen) Anzahl von Massenpunkten bestehend angenommen werden
kann (z.B. aus nahezu punktförmigen Atomen, Molekülen oder ähnlichen Aggregaten, die Kräfte aufeinander ausüben). Nach dieser (im 18.
und 19. Jahrhundert verabsolutierten) Auffassung ist jedes materielle
System schlechthin ein Punktsystem, die gesamte Mechanik Newtonsche Punktmechanik. Wir wissen heute, daß die Newtonsche Punktmechanik im atomaren Bereich versagt. Damit die Newtonsche Mechanik
anwendbar ist, müssen die Massenpunkte vom makroskopischen Standpunkt aus hinreichend klein, mikroskopisch jedoch hinreichend groß
136
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
sein, d.h., sie müssen beispielsweise noch eine genügend große Anzahl
von atomaren Bausteinen enthalten.
Die Auffassung, nach der die Mechanik ausgedehnter Körper auf Systeme von Massenpunkten zurückgeführt werden kann, setzt also voraus, daß ein solcher Körper in vom makroskopischen Standpunkt hinreichend kleine Massenelemente ∆mν zerlegt werden kann, die nahezu
als punktförmig angesehen werden können. Das Modell eines Massen-
rν
mν =
b ∆m
punktsystems bewährt sich beim starren Körper und anderen starren
Systemen. In der Mechanik deformierbarer Körper (die Massenelemente ∆mν ändern im Laufe der Zeit ihre Form) erwies sich die Kontinuitätshypothese als geeigneter, d.h. die Einführung einer Massendichte
ρ = dm/dV als stetige (bzw. stückweise stetige) Funktion des Ortes und
der Zeit. Der Umstand, daß es nicht sinnvoll ist, die gesamte Mechanik
auf diskrete Punktsysteme abzubilden, berührt den weiteren Inhalt der
Vorlesung jedoch nicht, da der größte Teil der allgemeinen Prinzipien
und Sätze über Punktsysteme durch entsprechenden Grenzübergang
auch in einer für die Kontinuitätshypothese geeigneten mathematischen
Form ausgedrückt werden können (Kontinuumsmechanik).
Es ist zweckmäßig, die auf einen Massenpunkt eines Massenpunktsystems wirkenden Kräfte in zwei Klassen einzuteilen,
1. in die von Massenpunkten (Körpern) außerhalb des untersuchten
Systems stammenden äußeren Kräfte und
2. die zwischen den zum System gehörenden Massenpunkten wirkenden inneren Kräfte.
Wir wollen die Resultante der auf den ν-ten Massenpunkt des Systems
(ext)
wirkenden äußeren Kräfte mit Fν bezeichnen und die vom µ-ten auf
den ν-ten Massenpunkt des Systems wirkende innere Kraft mit Fνµ :
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
Fν =
F(ext)
ν
+
N
X
Fνµ
137
(2.408)
µ=1
In der Summe über µ muß das Glied mit µ=ν weggelassen bzw. Fνν = 0
gesetzt werden, da ein Massenpunkt auf sich selbst keine Kraft ausüben
soll, und es gilt
Fνµ = −Fµν
(2.409)
(3. Newtonsches Axiom). Damit lauten die Newtonschen Bewegungsgleichungen (2.407):
mν r̈ν =
F(ext)
ν
+
N
X
Fνµ
(2.410)
µ=1
Für Massenpunkte kann man annehmen, daß die inneren Kräfte Zentralkräfte sind, d.h., Fνµ fällt in die Richtung der den ν-ten und den
µ-ten Punkt verbindenden Geraden,
Fνµ
rν −rµ
=±
.
|Fνµ |
|rν −rµ|
(2.411)
Dies ist natürlich eine neue Grundvoraussetzung, die jedoch aus Symmetriegründen naheliegend ist. Es wäre schwer vorstellbar, daß von zwei
mµ
Fνµ
(ext)
Fν
mν
System
Umgebung
138
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
wirklich punktförmigen Körpern der eine auf den anderen eine Kraft
ausübt, die nicht in die Richtung der einzig ausgezeichneten Geraden,
nämlich der sie verbindenden Geraden fällt.
2.3.2
Impulsbilanz (Massenmittelpunktsatz)
Summation der N (vektoriellen) Bewegungsgleichungen (2.410) liefert
N
X
mν r̈ν =
ν=1
N
X
F(ext)
ν
+
ν=1
=
N
X
N X
N
X
Fνµ
ν=1 µ=1
| {z }
= 0 wegen (2.409)
F(ext)
.
ν
(2.412)
ν=1
Mit dem Gesamtimpuls des Systems
p=
N
X
pν =
ν=1
N
X
mν ṙν
(2.413)
ν=1
und der Resultante aller äußeren Kräfte
F
(ext)
=
N
X
F(ext)
ν
(2.414)
ν=1
stellt die Gleichung (2.412) die Impulsbilanz des Massenpunktsystems
dar:
dp
= F(ext)
dt
(2.415)
Die zeitliche Änderung des Gesamtimpulses eines Massenpunktsystems ist gleich der Resultante der auf das System einwirkenden äußeren Kräfte.
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
139
(ext)
Ein System heißt abgeschlossen wenn Fν = 0 und somit F(ext) = 0
gilt. Für ein abgeschlossenes System gilt also Erhaltung des Gesamtimpulses,
F(ext) = 0 ;
dp
= 0 ; p = const.,
dt
(2.416)
was drei (im Gegensatz zum Fall eines einzigen Massenpunkts nichttriviale) erste Bewegungsintegrale bedeutet.
Die Impulsbilanz kann in einer äquivalenten und physikalisch sehr
anschaulichen Form mit Hilfe des Massenmittelpunkts
N
1 X
rc =
mν rν ,
m ν=1
m=
N
X
mν ,
(2.417)
(2.418)
ν=1
ausgedrückt werden. Offensichtlich gilt
p=
N
X
mν ṙν = mṙc ,
(2.419)
ν=1
und gemäß (2.415) genügt der Massenmittelpunkt der Bewegungsgleichung:
mr̈c = F(ext)
(2.420)
Der Massenmittelpunkt eines Massenpunktsystems bewegt sich
so, als ob in ihm die gesamte Masse des Systems vereinigt (konzentriert) wäre und an ihm die Resultante aller äußeren Kräfte
wirkte.
Die Feststellung, daß bei Fehlen äußerer Kräfte der Gesamtimpuls des
Systems erhalten bleibt, ist also äquivalent der Feststellung, daß der
140
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Massenmittelpunkt des Systems eine gleichförmig geradlinige Bewegung ausführt (oder ruht),
Anmerkungen
dp
=0 =
b r̈c = 0 ; ṙc = const.
dt
(2.421)
(1) Die Gleichung (2.420) stellt gewissermaßen die nachträgliche
Rechtfertigung des Modells des Massenpunkts für ein ausgedehntes System (ausgedehnter Körper) dar. In dem Umfang, in dem
ein kompliziertes System durch seinen Massenmittelpunkt ersetzt
werden kann, kann es wie ein Massenpunkt behandelt werden.
Insbesondere kann man die translatorische Bewegung eines ausgedehnten Körpers immer durch die Bewegung seines Massenmittelpunkts beschreiben.
(2) Für die Bewegung des Massenmittelpunkts spielen die inneren
Kräfte keine Rolle. Wenn beispielsweise ein abgefeuertes Geschoß
in der Luft – unter der Wirkung innerer Kräfte – explodiert, dann
setzt der Massenmittelpunkt der auseinanderfliegenden Splitter
seine Parabelbahn auch weiterhin fort (wenn vom Luftwiderstand
abgesehen wird).
(3) Jedes System kann i. allg. durch geeignete Erweiterung zu einem abgeschlossenen System gemacht werden, in dem nur innere
Kräfte wirken. Dabei werden die zunächst außerhalb des System
befindlichen Körper, die auf die Systemteile Kräfte ausüben, zum
System hinzugenommen. Bei der Behandlung physikalischer Probleme ist jedoch häufig gerade der umgekehrte Weg zweckmäßig,
nämlich die Herausnahme einiger Teile eines Systems und Ersetzung ihrer Wirkung durch äußere Kräfte (mit näherungsweise
bekanntem Kraftgesetz). In diesem Sinne kann die Mechanik des
einzelnen Massenpunkts als Grenzfall angesehen werden, bei dem
die Wirkung aller übrigen Massenpunkte in einer einzigen äußeren
Kraft zusammengefaßt wird (und die Rückwirkung des betrachteten Massenpunkts auf die übrigen Massenpunkte vernachlässigt
wird).
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
141
(4) Der Massenmittelpunkt wird oft auch Schwerpunkt genannt.
Befinden sich die Massenpunkte des Systems im homogenen
Schwerefeld des Erde, so gilt
F
(ext)
=
N
X
mν g = mg
(2.422)
ν=1
und aus (2.420) folgt
r̈c = g,
(2.423)
d.h., der Massenmittelpunkt (oder Schwerpunkt) bewegt sich wie
ein Massenpunkt der Masse m under dem Einfluß der Erdbeschleunigung g.
Konstruktion des Massenmittelpunkts
Der Massenmittelpunkt zweier Punktmassen m1 und m2 teilt die Entfernung der Punkte im umgekehrten Verhältnis zu den Massen in zwei
Teile (d.h., er liegt näher zur größeren Masse).
rc − r1
m1
m2
r2 − rc
rc
r2
r1
(m1 + m2 ) rc = m1 r1 + m2 r2 ,
(2.424)
m1 (rc − r1) = m2 (r2 − rc )
(2.425)
|rc − r1 | m2
=
.
|r2 − rc | m1
(2.426)
d.h.
und somit
142
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Die Aufgabe der Bestimmung des Massenmittelpunkts von drei Punktmassen kann auf die für zwei Punktmassen zurückgeführt werden. Der
Massenmittelpunkt kann ermittelt werden, indem zunächst der Massenmittelpunkt der Massen m1 und m2 und dann der Massenmittelpunkt
der Masse m3 und der im Massenmittelpunkt der beiden ersten Massen
gedachten Masse m1 + m2 bestimmt wird,
d.h.
(m1 + m2 + m3 ) r(3)
m1 r1 {z
+ m2 r}2 +m3 r3 ,
c = |
(2)
(m1 + m2 ) rc
(2.427)
(2)
[(m1 + m2 ) + m3 ] r(3)
c = (m1 + m2 )rc + m3 r3 .
(2.428)
Das Verfahren kann fortgesetzt werden, um den Massenmittelpunkt eines Systems aus beliebig vielen Punktmassen zu konstruieren. Dabei
ist die Reihenfolge der Massenpunkte offensichtlich beliebig, da diese völlig symmetrisch in die Formel (2.417) [zusammen mit (2.418)]
eingehen. Der Massenmittelpunkt wird allein durch die Anordnung der
Massenpunkte relativ zueinander bestimmt. Damit ist insbesondere der
Zusammenhang der Koordinaten des Massenmittelpunkts in zwei Bezugssystemen wie folgt gegeben:
rc = r0 + r′c .
rc
O
(2.429)
r′c
r0
O′
Bei einem Körper mit kontinuierlicher Massenverteilung denke man
sich den Körper zunächst wieder in hinreichend kleine Massenelemente
∆mν zerlegt und führt dann die Summationen als Integrationen aus,
Z
1
1 X
rν ∆mν 7→ rc =
r dm,
(2.430)
rc =
m ν
m
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
m=
X
∆mν
7→
ν
m=
Z
dm.
143
(2.431)
Ist ρ die Massendichte des Körpers, so gilt dm = ρ d3 r und die Integrale in (2.430) und (2.431) können als Volumenintegrale (mit i. allg.
ortsabhängigem ρ) ausgeführt werden,
Z
1
rc =
d3 r ρ r,
(2.432)
m
m=
2.3.3
Z
d3 r ρ.
(2.433)
Energiebilanz
Wir multiplizieren die Bewegungsgleichung (2.410) für den ν-ten Massenpunkt skalar mit ṙν und erhalten gemäß Abschnitt 2.2.3 die Bilanzgleichung für die kinetische Energie des ν-ten Massenpunkts als
dTν
= Pν
dt
(2.434)
Tν = 21 mν |ṙν |2
(2.435)
Pν = ṙν ·Fν .
(2.436)
mit
und
Summation über alle Massenpunkte liefert:
dT
=P
dt
(2.437)
wobei
T =
N
X
ν=1
Tν =
N
X
ν=1
2
1
2 mν |ṙν |
(2.438)
144
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
die kinetische Energie des Gesamtsystems und
P =
N
X
Pν =
ν=1
N
X
ν=1
ṙν ·Fν
(2.439)
die von den Kräften am Gesamtsystem erbrachte Leistung ist.
Die zeitliche Änderung der kinetischen Energie eines Massenpunktsystems ist gleich der Gesamtleistung, d.h. der Leistung
aller am System angreifenden Kräfte.
Sind die Kräfte
Fν = Fν (r1, r2, . . . , rN ) ≡ Fν (rµ)
(2.440)
(ν = 1, 2, . . . , N ) konservativ, so daß ein Potential
U = U (r1, r2, . . . , rN ) ≡ U (rµ )
(2.441)
Fν = −∇ν U,
(2.442)
existiert,7
dann ergibt sich für die Gesamtleistung (2.439)
P =
N
X
ν=1
Pν = −
N
X
ν=1
∇ν U · ṙν
N
X
dU
∂U dxiν
=
−
,
=−
i dt
∂x
dt
ν
ν=1
(2.443)
und die Bilanzgleichung (2.437) geht in
d
(T + U ) = 0
dt
7
(2.444)
Die Integrabilitätsbedingungen lauten nunmehr ∂k Fl = ∂l Fk , wobei die lateinischen Indizes die
insgesamt 3N kartesischen Koordinaten der N Teilchen durchnumerieren, k(l) = 1, 2, 3, . . . , 3N .
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
145
über. Für konservative Systeme gilt also Erhaltung der Gesamtenergie,
T + U = E = const.
(2.445)
Wie im Abschnitt 2.2.3 ausgeführt, unterliegt ein Massenpunkt sowohl konservativen als auch dissipativen Kräften,
Fν = F(cons)
(rµ ) + F(diss)
(rµ, ṙµ , t),
ν
ν
(2.446)
F(cons)
= −∇ν U,
ν
(2.447)
so daß die mechanische Energiebilanz (2.437) die Form
d
(T + U ) = P (diss)
dt
(2.448)
annimmt, wobei
P
(diss)
=
N
X
ν=1
· ṙν
F(diss)
ν
(2.449)
die Gesamtleistung der dissipativen Kräfte ist. Die Anwesenheit dissipativer Kräfte bedeutet immer, daß das System nicht abgeschlossen
ist.
Gemäß (2.408) denken wir uns die auf die einzelnen Massenpunkte
wirkenden Kräfte in innere und äußere Kräfte zerlegt. Hinsichtlich der
inneren Kräfte können wir annehmen, daß diese Zentralkräfte sind (siehe die Bemerkungen vor Beginn des Abschnitts 2.3.2). Ferner wollen
wir annehmen, daß sie nur vom gegenseitigen Abstand abhängen,8
Fνµ = fνµ (rνµ )
rνµ = rν − rµ ,
rνµ
,
rνµ
rνµ = |rνµ |.
(2.450)
(2.451)
146
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
mν
rν
rν − rµ
mµ
rµ
Die inneren Kräfte sind offensichtlich konservativ,
Z rνµ
dr fνµ (r) = Uµν (rµν )
Uνµ = Uνµ (rνµ ) = −
(2.452)
∞
[fνµ (r) = fµν (r)],
Fνµ = −∇ν Uνµ (rνµ ) = ∇µ Uνµ (rνµ )
= ∇µ Uµν (rµν ) = −Fµν .
(2.453)
Das Gesamtpotential der inneren Kräfte lautet dann
U
(int)
=
1
2
N
X
Uνµ (rνµ ),
(2.454)
ν,µ=1
denn
−∇ν U
(int)
=
− 12
=−
N
X
µ=1
N
X
∇ν Uνµ (rνµ ) −
∇ν Uνµ (rνµ) =
µ=1
1
2
N
X
∇ν Uµν (rµν )
| {z }
µ=1
Uνµ (rνµ)
N
X
Fνµ
(2.455)
µ=1
Sind die äußeren Kräfte konservativ,
F(ext)
= F(ext)
(rν ),
ν
ν
8
(2.456)
Wenn es sich um identische Massenpunkte handelt (d.h. um Massenpunkte der gleichen Art),
braucht fνµ nicht extra indiziert werden. Das gleiche gilt auch für Uνµ in (2.452).
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
F(ext)
= −∇ν Uν (rν ),
ν
147
(2.457)
so existiert ein Gesamtpotential der äußeren Kräfte,
U
(ext)
=
N
X
Uν (rν ).
(2.458)
ν=1
Das Gesamtpotential U = U (int) + U (ext) des konservativen Systems lautet somit:
U=
1
2
N
X
ν,µ=1
Uνµ (rνµ) +
N
X
Uν (rν )
(2.459)
ν=1
Anmerkungen
(1) Wenn ein mechanisches System abgeschlossen ist, gibt es nur innere Kräfte, die als konservativ angesehen werden können und
ein zeitunabhängiges Potential besitzen, so daß Energieerhaltung
gilt. Generell gilt für abgeschlossene Systeme erfahrungsgemäß
ein Energieerhaltungssatz.
(2) Dissipative Kräfte können demnach als äußere Kräfte angesehen
werden. Äußere Kräfte
F(ext)
= F(ext)
(rν , t),
ν
ν
(2.460)
die explizit zeitabhängig sind, können ebenfalls ein Potential besitzen, das dann natürlich auch explizit zeitabhängig ist,
F(ext)
= −∇ν Uν (rν , t).
ν
(2.461)
In diesem Fall wird U (ext) in (2.458) und damit das Gesamtpotential U in (2.459) zeitabhängig, und die Energie ist keine Erhaltungsgröße. Wie im Falle eines Massenpunkts [Gleichung (2.110)]
gilt nunmehr für das Massenpunktsystem die Energiebilanz
d
∂U
(T + U ) =
.
dt
∂t
(2.462)
148
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
(3) Wir wechseln den Bezugspunkt und setzen
rν = r0 + r′ν .
(2.463)
Die kinetische Energie läßt sich dann wie folgt aufschreiben.
mν
r′ν
rν
r0
O
T =
N
X
2
1
2 mν |ṙν |
N
X
1
2 mν
ν=1
=
O′
(ṙ0 + ṙ′ν )·(ṙ0 + ṙ′ν )
ν=1
=
2
1
2 m|ṙ0 |
+ ṙ0 ·
d.h.
T =
2
1
2 m|ṙ0 |
N
X
mν ṙ′ν
+
|ν=1 {z }
mṙ′c
+
N
X
ν=1
N
X
′ 2
1
2 mν |ṙν | ,
(2.464)
+ mṙ0 · ṙ′c .
(2.465)
ν=1
′ 2
1
2 mν |ṙν |
Wählen wir speziell als Bezugspunkt den Massenmittelpunkt des
Massenpunktsystems, r0 = rc , dann gilt r′c = 0, und die Gleichung
(2.465) geht in
T =
2
1
2 m|ṙc |
+
N
X
ν=1
′ 2
1
2 mν |ṙν |
(2.466)
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
149
über. Die kinetische Energie eines Massenpunktsystems setzt sich
also zusammen aus der kinetischen Energie der Translationsbewegung des im Massenmittelpunkt vereinigt gedachten Systems
und der kinetischen Energie der Teile des Systems relativ zum
Massenmittelpunkt.
2.3.4
Virialsatz
Bei Bewegungsvorgängen von Massenpunkten und Systemen von Massenpunkten findet ständig eine Umwandlung von kinetischer Energie
in potentielle Energie und umgekehrt statt. In diesem Zusammenhang
macht der Virialsatz eine Aussage darüber, wie groß im zeitlichen Mittel die Beiträge von kinetischer und potentieller Energie zur Gesamtenergie des Systems sind. Zur Herleitung gehen wir von der Bewegungsgleichung für den ν-ten Massenpunkt aus, die wir mit rν skalar multiplizieren,
mν rν ·r̈ν = rν ·Fν ,
(2.467)
d
(mν rν · ṙν ) − mν |ṙν |2 = rν ·Fν ,
dt
(2.468)
und summieren über alle Massenpunkte,
N
N
N
X
X
X
d
2
(mν rν · ṙν ) −
mν |ṙν | =
rν ·Fν .
dt
ν=1
ν=1
ν=1
(2.469)
Wir wollen annehmen, daß die Kräfte ein Potential besitzen,
rν ·Fν = −rν ·∇ν U,
(2.470)
so daß (2.469) in der Form
N
N
N
X
X
X
d
2
rν ·∇ν U
mν |ṙν | = −
(mν rν · ṙν ) −
dt
ν=1
ν=1
ν=1
geschrieben werden kann.
(2.471)
150
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Im weiteren interessieren wir uns für den zeitlichen Mittelwert der
Gleichung (2.471). Ist f (t) eine zeitabhängige Größe, so wollen wir unter dem zeitlichen Mittelwert dieser Größe
Z
1 t+T /2 ′
f (t) = lim
dt f (t′ )
(2.472)
T →∞ T t−T /2
verstehen. Wir mitteln die Gleichung (2.471) und erhalten
t+T /2
N
N
X
X
1
d
(mν rν · ṙν ) = lim
mν rν · ṙν T →∞ T
dt
ν=1
ν=1
=
N
X
ν=1
mν |ṙν |2 −
t−T /2
N
X
ν=1
rν ·∇ν U .
(2.473)
Für finite Bewegungen, auf die wir uns beschränken wollen, sind die
Größen mν rν · ṙν für jeden Zeitpunkt endlich. Folglich gilt
t+T /2
N
X
1
lim
mν rν · ṙν = 0,
(2.474)
T →∞ T
ν=1
t−T /2
und wir erhalten
N
X
bzw.:
mν |ṙν |2 =
|ν=1 {z
2T
T =
}
1
2
N
X
rν ·∇ν U
(2.475)
}
|ν=1 {z
Virial
N
X
ν=1
rν ·∇ν U
(2.476)
Der zeitliche Mittelwert der kinetischen Energie ist gleich dem
halben Virial des Massenpunktsystems.
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
151
Das Virial läßt sich in vielen Fällen weiter vereinfachen. Ist beispielsweise die potentielle Energie eine homogene Funktion zweiten Grades,
N
X
ν=1
rν ·∇ν U = 2U,
(2.477)
so folgt (nach dem Eulerschen Theorem über homogene Funktionen)
aus (2.476)
T = U.
(2.478)
In diesem Fall stimmen die Zeitmittel von potentieller und kinetischer
Energie überein. Ein solcher Fall liegt für ein System gekoppelter linearer Schwingungen vor (Abschnitt 2.3.7.2).
2.3.5
Drehimpulsbilanz
Wir multiplizieren die Bewegungsgleichung (2.410) für den ν-ten Massenpunkt (von links) vektoriell mit rν und erhalten gemäß Abschnitt
2.2.4 die Drehimpulsbilanz des ν-ten Massenpunkts als
dLν
= Mν
dt
(2.479)
L ν = rν × p ν
(2.480)
M ν = rν × F ν .
(2.481)
mit
und
Summation der N (vektoriellen) Bilanzgleichungen (2.479) liefert
dL
= M,
dt
(2.482)
wobei
L=
N
X
ν=1
Lν =
N
X
ν=1
rν × p ν
(2.483)
152
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
der Gesamtdrehimpuls und
M=
N
X
Mν =
ν=1
N
X
ν=1
rν × F ν
(2.484)
das Gesamtdrehmoment des Massenpunktsystems ist. Gemäß (2.408)
zerlegen wir in (2.484) Fν in innere und äußere Kräfte,
!
N
N
X
X
M=
rν × F(ext)
+
Fνµ
ν
ν=1
=
N
X
ν=1
µ=1
rν ×
F(ext)
ν
+
N
X
ν,µ=1
rν × Fνµ .
(2.485)
Unter Berücksichtigung des dritten Newtonschen Axioms Fµν = −Fνµ
läßt sich der Doppelsummenterm wie folgt umformen:
N
X
ν,µ=1
rν × Fνµ =
1
2
=
1
2
N
X
(rν × Fνµ + rµ × Fµν )
N
X
(rν × Fνµ − rµ × Fνµ )
N
X
(rν − rµ ) × Fνµ .
ν,µ=1
ν,µ=1
=
1
2
ν,µ=1
(2.486)
Wenn wir nun wieder annehmen (siehe die Bemerkungen vor Beginn
des Abschnitts 2.3.2), daß die inneren Kräfte zwischen punktförmigen
Massen Zentralkräfte sind,
Fµν
rν − rµ
∼
,
|Fµν |
|rν − rµ |
(2.487)
dann gilt offensichtlich
N
X
ν,µ=1
rν × Fνµ = 0,
(2.488)
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
153
und das Gesamtdrehmoment ist die Resultante der Drehmomente der
äußeren Kräfte,
M=
N
X
ν=1
rν × F(ext)
= M(ext) .
ν
(2.489)
Die Drehimpulsbilanz lautet somit:
dL
= M(ext)
dt
(2.490)
Die zeitliche Änderung des Gesamtdrehimpulses eines Massenpunktsystems ist gleich dem Gesamtdrehmoment der äußeren
Kräfte, wenn die inneren Kräfte Zentralkräfte sind.
Die Beschränkung auf Zentralkräfte ist praktisch unbedeutend, da erfahrungsgemäß die Drehimpulsbilanz in der Fassung (2.490) ohne Einschränkung gültig ist.
Verschwindet das Gesamtdrehmoment (der äußeren Kräfte), gilt
Drehimpulserhaltung.
M(ext) = 0 ;
dL
= 0 ; L = const.
dt
(2.491)
Drehimpulserhaltung gilt also insbesondere für abgeschlossene Systeme. Fazit: Wirken auf ein Massenpunktsystem keine äußeren Kräfte,
oder verschwindet die Resultante ihrer Drehmomente, bleibt der Gesamtdrehimpuls des Systems erhalten. Drehimpulserhaltung bedeutet
drei erste Integrale der Bewegungsgleichungen. In kartesischen Koordi-
154
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
naten lauten sie
N
X
ν=1
N
X
ν=1
N
X
ν=1
mν (yν żν − zν ẏν ) = Lx = C1 ,
mν (zν ẋν − xν żν ) = Ly = C2 ,
(2.492)
mν (xν ẏν − yν ẋν ) = Lz = C2 ,
wobei C1, C2, C3 drei beliebige Konstanten sind, die beispielsweise
durch die Anfangsbedingungen spezifizierbar sind. Die zum konstanten Gesamtdrehimpuls senkrecht stehende Ebene wird auch invariable
Ebene genannt.
Drehung um eine feste Achse
Wir betrachten die Drehung eines Systems um eine feste Achse, die wir
als z-Achse eines kartesischen Koordinatensystems auffassen können.
Die Komponente von L in Richtung der Drehachse lautet dann in kartesischen und Zylinderkoordinaten
Lz =
N
X
ν=1
mν (xν ẏν − yν ẋν ) =
N
X
mν ̺2ν ϕ̇ν .
(2.493)
ν=1
Falls die Komponente des Gesamtdrehmoments in Richtung der Drehachse verschwindet, d.h. Mz = 0, ist Lz eine Erhaltungsgröße,
Lz =
N
X
mν ̺2ν ϕ̇ν = const.
(2.494)
ν=1
Dies ist unter irdischen Bedingungen beispielsweise der Fall, wenn die
Drehachse parallel zur Schwerkraft gerichtet ist. Können die Massenpunkte insbesondere als untereinander starr verbunden angesehen werden (Modell des starren Körpers), besitzen alle Massenpunkte offensichtlich die gleiche Winkelgeschwindigkeit,
ϕ̇ν = ϕ̇µ = ϕ̇ ≡ ω,
(2.495)
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
und Lz nimmt die Form
N
X
Lz =
mν ̺2ν
ν=1
an. Mit
Θ=
N
X
!
mν ̺2ν
ω
155
(2.496)
(2.497)
ν=1
als dem auf die (z-Achse als) Drehachse bezogenem Trägheitsmoment des Systems lautet die Gleichung (2.496)
Lz = Θω.
(2.498)
Im Falle eines ausgedehnten Körpers mit kontinuierlicher Massenverteilung kann das Trägheitsmoment analog dem Vorgehen bei der
Bestimmung des Massenmittelpunkts eines solchen Körpers berechnet
werden (Ende von Abschnitt 2.3.2). Der Körper wird in hinreichend
kleine Massen- bzw. Volumenelemente zerlegt, und es wird von der
Summation in der Definitionsgleichung (2.497) zur Integration übergegangen. Mit ρ als der Massendichte des Körpers lautet das Trägheitsmoment
Z
Z
Θ = dm ̺2 = d3r ρ̺2 .
(2.499)
Das Trägheitsmonent ist um so größer, je größer die Massen und
je größer ihre Entfernungen von der Drehachse sind. Bei konstantem
Lz kann also die Winkelgeschwindigkeit vergrößert bzw. verkleinert
werden, wenn das Trägheitsmoment verkleinert bzw. vergrößert wird
(Drehsesselexperimente, Eiskunstläufer). Während es nach dem Massenmittelpunktssatz unmöglich ist, sich auf völlig reibungsfreiem Boden
allein mittels innerer Kräfte (translatorisch) fortzubewegen, können die
inneren Kräfte eine beliebige Winkeländerung bewirken.
Rolle des Bezugspunkts
Der Drehimpuls hängt i. allg. von der Wahl des Bezugspunkts ab. Es
seien O und O′ zwei Bezugspunkte,
rν = r0 + r′ν
(2.500)
156
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
(siehe die Abbildung auf Seite 148). Für den Fall, daß
ṙ0 = 0
(2.501)
ist, hängen L′ und L wie folgt zusammen:
′
L =
N
X
mν r′ν × ṙ′ν
N
X
mν (rν − r0 ) × ṙν
ν=1
=
ν=1
=
N
X
ν=1
mν rν × ṙν − r0 ×
d.h.
N
X
mν ṙν ,
(2.502)
|ν=1 {z }
mṙc = p
L′ = L − r0 × p.
(2.503)
Der Drehimpuls ist also von der Wahl des ruhenden Bezugspunkts O′
dann unabhängig, wenn der Gesamtimpuls des Systems verschwindet
(p = 0) und somit der Massenmittelpunkt ruht.
Betrachten wir nunmehr den Fall, daß sich der Bezugspunkt O′
relativ zu O bewegt: r0 = r0 (t). Wir finden
′
L =
N
X
ν=1
=
N
X
ν=1
−
d.h.
mν (rν − r0) × (ṙν − ṙ0 )
mν rν × ṙν −
N
X
ν=1
N
X
ν=1
mν rν × ṙ0 +
mν r0 × ṙν
N
X
ν=1
mν r0 × ṙ0 ,
L′ = L − r0 × p − m (rc − r0 ) ×ṙ0 ,
| {z }
r′c
(2.504)
(2.505)
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
157
woraus
dL
dp
dL′
=
− ṙ0 × p − r0 ×
dt
dt
dt
d.h.
−m (ṙc − ṙ0 ) × ṙ0 −m (rc − r0 ) × r̈0 ,
|
{z
}
−p × ṙ0
dL
dp
dL′
=
− r0 ×
− m (rc − r0 ) × r̈0
dt
dt
dt
(2.506)
(2.507)
folgt. Für den Zusammenhang der Gesamtdrehmomente gilt
′
M =M
′ (ext)
=
N
X
ν=1
=
N
X
ν=1
r′ν × F(ext)
ν
(rν − r0 ) × F(ext)
ν
= M(ext) − r0 × F(ext) ,
(2.508)
was wegen der Impulsbilanz (2.415) auch in der Form
M′
(ext)
= M(ext) − r0 ×
dp
dt
(2.509)
geschrieben werden kann. Wir fassen die Gleichungen (2.507) und
(2.509) zusammen, berücksichtigen die Drehimpulsbilanz (2.490) und
erhalten
dL′
(ext)
= M′
− m (rc − r0 ) × r̈0 .
dt
(2.510)
Wie erwartet, gilt die Drehimpulsbilanz in der Form
dL′
(ext)
= M′
dt
(2.511)
mit M′(ext) als dem Drehmoment der eingeprägten äußeren Kräfte, wenn
r0 eine gleichförmig geradlinige Bewegung ausführt (oder ruht), d.h.
158
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
r̈0 = 0. Die Gleichung (2.511) mit M′(ext) als dem Drehmoment der eingeprägten äußeren Kräfte gilt aber auch dann, wenn als O′ der Massenmittelpunkt des Systems gewählt wird, d.h.
r0(t) = rc (t).
(2.512)
Erfolgt speziell die Bewegung im homogenen Schwerefeld der Erde,
F(ext)
= −gmν ez
ν
(2.513)
(z-Achse senkrecht zur Erdoberfläche nach oben gerichtet), so gilt für
die Resultante des Drehmoments
N
X
(ext)
mν rν = gm ez ×rc = rc ×F(ext)
(2.514)
M
= g ez ×
ν=1
und wegen (2.508)
M′(ext) = (rc − r0 ) × F(ext) .
(2.515)
Aus (2.515) ist ersichtlich, daß das auf den Massenmittelpunkt (Schwerpunkt) bezogene Drehmoment eines Massenpunktsystems im homogenen Schwerefeld der Erde verschwindet,
M′(ext) = 0 f ür r0 = rc .
(2.516)
Identifizieren wir O′ als den Koordinatenursprung eines Bezugssystems Σ′, das relativ zu einem Inertialsystems Σ (mit Ursprung O) (bei
fester gegenseitiger Achsenlage) eine durch r0 (t) beschriebene Translationsbewegung ausführt, so stellt die Gleichung (2.510) offensichtlich
die Drehimpulsbilanz dar, wie sie ein Beobachter in Σ′ feststellt. Gemäß
Abschnitt 2.1.5 wird er bei der Berechnung des Drehmoments neben
den eingeprägten (äußeren) Kräften noch die Trägheitskräfte hinzunehmen. Im vorliegenden Fall liefert dies [anstelle von (2.508)]
N
X
ν=1
r′ν
(ext)
× Fν − mν r̈0
=
N
X
ν=1
= M′
r′ν × F(ext)
− mr′c × r̈0
ν
(ext)
− m (rc − r0 ) × r̈0
(2.517)
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
159
[mit M′ (ext) aus (2.508)], d.h. gerade die rechte Seite in (2.510). Mit den
Ergebnissen des Abschnitts 2.1.5 ist die Verallgemeinerung auf beliebig
bewegte Bezugssysteme Σ′ offensichtlich. Die Drehimpulsbilanz kann in
jedem Bezugssystem in der Form (2.490) angegeben werden, wenn zu
den eingeprägten äußeren Kräften die jeweiligen Trägheitskräfte (die
ebenfalls als äußere Kräfte auffaßbar sind) hinzugenommen werden.
2.3.6
Erhaltungssätze und Integration der Bewegungsgleichungen
Wie in Abschnitt 2.2.5 gezeigt wurde, können im Falle von Energieund Drehimpulserhaltung die Bewegungsgleichungen für einen Massenpunkt bis auf die Berechnung von Integralen vollständig gelöst werden.
Für ein Massenpunktsystem ist dies i. allg. nicht so einfach möglich.
Für ein abgeschlossenes System können wir davon ausgehen, daß Energieerhaltung, Impulserhaltung und Drehimpulserhaltung gelten. Ein
System aus N Massenpunkten genügt bekanntlich 3N Bewegungsgleichungen, d.h. 3N gewöhnlichen Differentialgleichungen 2. Ordnung. Deren Lösung ist durch 6N Integrationskonstanten bestimmt. Die oben
genannten allgemeinen Erhaltungssätze liefern nur 10 Konstanten: die
Energie, die 6 Orts- und Geschwindigkeitskomponenten des Massenmittelpunkts sowie die 3 Komponenten des Drehimpulses. Während
die für das Zweikörperproblem fehlenden 2 Konstanten noch relativ
einfach bestimmbar sind, ist dies bereits für die fehlenden 8 Konstanten des allgemeinen Dreikörperproblems nicht mehr möglich. Wie wir
später sehen werden, hängen die Erhaltungssätze für ein System eng
mit den Symmetrien des Systems zusammen. So können natürlich spezielle Vielkörpersysteme spezielle Symmetrien aufweisen, so daß neben
den allgemeinen Erhaltungssätzen noch spezielle Erhaltungssätze gelten, die zur Integration der Bewegungsgleichungen ausgenutzt werden
können.
Wir wollen unter Zuhilfenahme der allgemeinen Erhaltungssätze das
Zweikörperproblem etwas genauer untersuchen. Eine wichtige Anwendung ist die Bewegung zweier Massenpunkte im gegenseitigen Gravitationsfeld (Zweikörperproblem im engeren Sinne als ein Modell beispielsweise für die Bewegung von Sonne und Erde). Mit dem Kraftansatz
160
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
m1
r1
r21 = r2 − r1
r2
m2
(2.450) für die inneren Kräfte lauten die (vektoriellen) Bewegungsgleichungen für die zwei Massenpunkte
r21
m1 r̈1 = −f (r21)
,
(2.518)
r21
r21
.
(2.519)
m2 r̈2 = f (r21)
r21
Es ist zweckmäßig, anstelle von r1 und r2 den Massenmittelpunktsvektor rc und den Abstandsvektor r21 zu verwenden. Eine einfache Rechnung zeigt, daß die Gleichungen
m1 r1 + m2 r2 = (m1 + m2 )rc = mrc
(2.520)
r2 − r1 = r21
(2.521)
und
auf
m2
r21 ,
m1 + m2
m1
r21
=
m1 + m2
r′1 = r1 − rc = −
(2.522)
r′2 = r2 − rc
(2.523)
führen.
Die Impulserhaltung impliziert, daß für den Massenmittelpunkt
rc =
m1 r1 + m2 r2
m1 + m2
(2.524)
die Bewegungsgleichung
r̈c = 0
(2.525)
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
r′1
m1
r′2
m
161
m2
r2
rc
r1
gilt, der Massenmittelpunkt sich also gleichförmig geradlinig bewegt
oder in Ruhe bleibt,
rc = c 1 t + c 2 .
(2.526)
In Übereinstimmung mit dem Galileischen Relativitätsprinzip kann
also beispielsweise ein solches Inertialsystem gewählt werden, dessen Ursprung mit dem Massenmittelpunkt zusammenfällt, und somit
r′1 = r1 − rc und r′2 = r2 − rc vom Massenmittelpunkt aus gemessen
werden.
Multiplizieren wir die Bewegungsgleichung (2.518) mit m2 und die
Bewegungsgleichung (2.519) mit m1 , und subtrahieren wir die erste
Gleichung von der zweiten, so erhalten wir die Bewegungsgleichung
für r21,
µ r̈21 = f (r21)
r21
,
r21
(2.527)
wobei
µ=
m1 m2
m1 + m2
(2.528)
die reduzierte Masse ist. Damit ist das Zweikörperproblem auf das
Einkörperproblem zurückgeführt. Die Bewegung der beiden Massen relativ zueinander ist offensichtlich einem Einkörperproblem vom Typ
(2.174) äquivalent, bei dem sich ein Massenpunkt mit der Masse µ in einem konservativen Zentralkraftfeld f (r)r/r bewegt. Ist r21(t) bekannt,
sind gemäß (2.522) und (2.523) auch r1 (t) und r2 (t) bekannt. Mittels
Energie- und Drehimpulserhaltungssatz kann die Bewegungsgleichung
(2.527) in der im Abschnitt 2.2.5 beschriebenen Weise integriert werden. Gemäß (2.466) ist die kinetische Energie die Summe aus der konstanten (und somit unwesentlichen) kinetischen Energie der Massenmittelpunktsbewegung und der kinetischen Energie T ′ der Bewegung
162
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
der beiden Massenpunkte relativ zum Massenmittelpunkt. Man kann
sich leicht überzeugen, daß letztere – in Übereinstimmung mit (2.527) –
gerade durch
T ′ = 21 µ|ṙ21 |2
(2.529)
gegeben ist [siehe auch Gleichung (2.546)]. Gemäß (2.505) ist der auf
den Massenmittelpunkt bezogene Drehimpuls
L′ = L − (m1 + m2 )rc × ṙc .
(2.530)
Wegen ṙc = const. und somit rc × ṙc = const. ist für konstantes L auch
L′ konstant,
L′ = m1 r′1 × ṙ′1 + m2 r′2 × ṙ′2 = const.
(2.531)
[dies kann natürlich auch direkt aus (2.511) gefolgert werden], woraus
wegen r′1 ↑↓ r′2 [Gleichungen (2.522) und (2.523)]
L′ ·r′1 = L′ ·r′2 = 0
(2.532)
folgt. Beide Massenpunkte bewegen sich also dauernd in der zu L′ senkrechten und durch den Massenmittelpunkt gehenden invariablen Ebene.
Dieses Ergebnis kann natürlich auch direkt aus der Bewegungsgleichung
(2.527) gewonnen werden (vektorielle Multiplikation mit r21).
Kepler-Problem als Zweikörperproblem
Wir identifizieren m1 mit der Sonnenmasse M und m2 mit der Planetenmasse m, bezeichnen den Abstandsvektor r2 − r1 von der Sonne
zum Planeten mit r (relativer Radiusvektor), und erhalten aus (2.527)
und (2.528) [zusammen mit (2.334)]
r̈ = −
γ(M +m) r
.
r2
r
(2.533)
Die Gleichung (2.533) hat dieselbe Form wie im Falle des Einkörpermodells [Gleichungen (2.333) und (2.334)], wobei anstelle von M die
Gesamtmasse M + m auftritt. Dieser Unterschied ist beim 1. und 2.
Keplerschen Gesetz unwesentlich, da hier die Masse nur in Verbindung
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
163
mit beliebigen Konstanten auftritt. Der Unterschied wird wesentlich
beim 3. Keplerschen Gesetz. Anstelle von (2.383) gilt nunmehr
T2 =
4π 2
4π 2
3
a =
a3 .
γ(M + m)
γM(1 + m/M)
(2.534)
Die rechte Seite dieser Gleichung ist für verschiedene Planeten des Sonnensystems verschieden, so daß hinsichtlich der Umlaufzeiten zweier
Planeten die Relation (2.384) durch
2 3
a1 1 + m2 /M
T1
=
(2.535)
T2
a2 1 + m1 /M
zu ersetzen ist. Der Einfluß der Sonne äußert sich also in dem Verhältnis
m/M. Dies ist beim Jupiter, dem Planeten mit der größten Masse,
gerade ≈ 10/00.
Die auf den gemeinsamen Massenmittelpunkt bezogene Bewegung
von Sonne und Planet läßt sich mittels (2.522) und (2.523) leicht feststellen. Mit den Bezeichnungen r′M = r1 und r′m = r2 gilt
m
r,
M +m
M
r′m =
r.
m+M
r′M = −
(2.536)
(2.537)
Die auf den Massenmittelpunkt bezogene Bewegung der beiden Körper
ist ebenfalls eine Keplersche Bewegung. So ist im Falle einer elliptischen
Bewegung die Ellipse des Planeten wegen des Faktors M/( M + m) ≈ 1
nahezu vom gleichen Maß wie die Ellipse der relativen Bewegung von
Sonne und Planet. Demgegenüber ist die Ellipse der Sonne eine um das
Verhältnis m/( M + m) ≈ m/M kleinere Ellipse.
2.3.7
Spezielle Probleme
2.3.7.1
Der Stoß
Wir betrachten zwei Körper (Teilchen), die gewissen inneren Kräften
unterworfen sind. Dabei wollen wir annehmen, daß die gegenseitige
Kraftwirkung zwischen den beiden Körpern kurzreichweitig ist, d.h.,
164
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
wenn die Körper hinreichend weit voneinander entfernt sind, kann angenommen werden, daß sie sich kräftefrei bewegen. Unter einem Stoß
zweier (oder auch mehrerer) Körper wollen wir ihr plötzliches (kurzzeitiges) Zusammentreffen verstehen. Eine genaue, von den elastischen
und plastischen Eigenschaften der Stoßpartner ausgehende Theorie der
bei einem Stoß auftretenden Erscheinungen ist i. allg. recht schwierig.
Offensichtlich reicht das Modell zweier Massenpunkte nicht aus, um die
Einzelheiten der Wechselwirkung während eines Stoßes zu beschreiben,
da hier die geometrische Gestalt der beiden Körper und die Art der inneren Kräfte zu berücksichtigen sind. Trotzdem lassen sich Aussagen
über die Bewegung der Körper nach dem Stoß machen, da die inneren
Kräfte die Bahn des Massenmittelpunkts nicht beeinflussen.
u1
m1
m1
v1
Stoßgebiet
v2
m2
m2
u2
Es ist üblich, Stöße unter unterschiedlichen Gesichtspunkten zu
klassifizieren. Vom kinematischen Standpunkt aus ist der Stoß zweier Körper beliebiger Form zentral, wenn die gemeinsame Normale der
beiden Flächen im Berührungspunkt – die Stoßnormale – mit der die
Massenmittelpunkte verbindenden Geraden zusammenfällt. So ist der
Stoß zweier homogener Kugeln immer zentral. Ein Stoß heißt schief
oder gerade, je nachdem ob die beiden Geschwindigkeiten (der Massenmittelpunkte) unmittelbar vor dem Stoß in eine Gerade fallen oder
nicht. So ist in der Abbildung der Stoß für α = 0 zentral und für α 6= 0
nichtzentral. Ferner ist er für β = 0 gerade und für β 6= 0 schief.
Wir betrachten zwei Körper der Massen m1 und m2 ; ihre
(Massenmittelpunkts-)Geschwindigkeiten vor dem Stoß seien v1 und
v2 und nach dem Stoß u1 und u2 . Da die Stoßkräfte innere Kräfte sind,
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
165
Verbindungsgerade
der Massenmittelpunkte
α
v1
v2
Gerade der Flächennormalen
β
gilt Erhaltung des Gesamtimpulses,
m1 v1 + m2 v2 = m1 u1 + m2 u2 .
(2.538)
Wie im Abschnitt 2.3.6 ist es auch hier wieder zweckmäßig, Massenmittelpunktsvektor rc und Abstandsvektor
r = r2 − r1
(2.539)
zu verwenden,
m2
r,
m
m1
r,
r2 = rc +
m
r1 = rc −
(2.540)
(2.541)
m = (m1 + m2 ) [Gleichungen (2.522) und (2.523)]. Aus (2.540) und
(2.541) folgt für die Geschwindigkeiten
m2
ṙ,
m
m1
ṙ.
ṙ2 = ṙc +
m
ṙ1 = ṙc −
(2.542)
(2.543)
Die Gleichungen (2.542) und (2.543) gelten sowohl für die Geschwindigkeiten vor dem Stoß (v1, v2, vc , v) und nach dem Stoß (u1, u2, uc , u),
166
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
und die Impulserhaltung bedeutet:
ṙc = uc = vc
(2.544)
Der Massenmittelpunkt der beiden Stoßpartner führt eine gleichförmig
geradlinige Bewegung aus oder ruht.
Analog gilt auch Drehimpulserhaltung, die im vorliegenden Fall
jedoch keine weiteren Gleichungen ergibt. Um die unbekannten Geschwindigkeiten u1 und u2 zu bestimmen, sind weitere Annahmen notwendig. Wir wollen im folgenden von möglichen Rotationsbewegungen
der Körper absehen.
Elastischer Stoß
Im Idealfall des vollkommen elastischen Stoßes bleibt die kinetische
Energie der Translationsbewegung des Gesamtsystems erhalten,
m1 |v1 |2 + m2 |v2 |2 = m1 |u1 |2 + m2 |u2|2 .
Wir verwenden (2.542) und (2.543) und erhalten
m1 2
m2 2
v + m2 vc +
v
m1 vc −
m
m
m1 m2
= m|vc |2 +
|v|2,
m }
| {z
µ
(2.545)
(2.546)
so daß (2.545) in der Form
m|vc |2 + µ|v|2 = m|uc |2 + µ|u|2
(2.547)
geschrieben werden kann bzw. wegen (2.544)
|v|2 = |u|2.
(2.548)
Während damit der Betrag von u durch den Betrag von v festgelegt
ist, bleibt seine Richtung noch offen,
u = ve
(2.549)
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
167
(v = |v|). In anderen Worten, der Vektor der Relativgeschwindigkeit
wird im Ergebnis des betrachteten elastischen Stoßes i. allg. gedreht.
Der die Richtung von u (d.h. die Richtung, in die die Relativgeschwindigkeit gedreht wird) festlegende Einheitsvektors e hängt offensichtlich
von den konkreten Wechselwirkungen zwischen den stoßenden Körpern
und ihrer relativen Lage zu Zeiten während des Stoßes ab.
Wir wenden (2.542) und (2.543) auf die Geschwindigkeiten nach
dem Stoß an, berücksichtigen (2.544) sowie (2.549) und erhalten
m2
v e,
m
m1
v e,
u2 = vc +
m
u1 = vc −
(2.550)
(2.551)
bzw. ausführlich
m1 v1 +m2 v2 m2
−
v e,
m
m
m1 v1 +m2 v2 m1
u2 =
+
v e.
m
m
u1 =
(2.552)
(2.553)
Wir drücken die Geschwindigkeiten v1 , v2 und u1, u2 durch die entsprechenden Impulse aus,
p1 = m1 v1, p2 = m2 v2 ,
(2.554)
q1 = m1 u1, q2 = m2 u2 ,
(2.555)
und erhalten
m1
(p1 + p2) − µv e,
m
m2
(p1 + p2) + µv e.
q2 =
m
q1 =
(2.556)
(2.557)
Die obigen Resultate können in übersichtlicher Weise graphisch veranschaulicht werden, wie die folgende Abbildung zeigt.
−→
AO =
−→
−→
m2
m1
(p1 +p2), OB =
(p1 +p2), OC = µv e,
m
m
−→
−→
−→
AB = p1 + p2, AC = q2, CB = q1 .
(2.558)
(2.559)
168
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
C
e
A
O
B
Wir wollen annehmen, daß die Stoßnormale bekannt ist und zerlegen
e in zwei Komponenten, nämlich eine in Richtung der Stoßnormalen
(Einheitsvektor eN ) und eine senkrecht dazu in der Tangentialebene
(Einheitsvektor eT ).
u = uT eT + uN eN .
(2.560)
Für den elastischen Stoß gilt offensichtlich
uT = vT ,
uN = vN .
(2.561)
Unelastischer Stoß
Der andere Grenzfall ist der vollkommen unelastische Stoß, bei dem
die beiden Körper in Richtung der Stoßnormalen die gleiche Geschwindigkeit annehmen,
uN = 0 ,
(2.562)
d.h. u1 N = u2 N .
Bei den tatsächlich vorkommenden Stößen ist man in Ermangelung
genauer Kenntnisse auf die Einführung von empirischen Koeffizienten
angewiesen. Zu Beginn des Stoßes werden die Körper so lange zusammengedrückt, bis die ursprüngliche Relativgeschwindigkeit in Richtung
der Stoßnormalen Null wird. Dann folgt der Rückgang der Formänderung. Die Richtung der Relativgeschwindigkeit in Richtung der Stoßnormalen kehrt sich um. Nach Beendigung des Vorgangs ist sie jedoch
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
169
wegen i. allg. unvollständiger Elastizität kleiner als zu Beginn des Stoßvorgangs,
uN
= ǫ,
vN
ǫ ≤ 1.
(2.563)
Die empirische Konstante ǫ wird auch Restitutions- oder Stoßkoeffizient genannt. Im Grenzfall des vollkommen elastischen Stoßes gilt ǫ =
1 und entsprechend ǫ=0 für den vollkommen unelastischen Stoß. In der
Praxis liegt der Wert von ǫ irgendwo dazwischen. So ist beispielsweise
für Stahlkugeln ǫ ≈ 0.6 und für Elfenbein ǫ ≈ 0.9. Die Tangentialkomponenten können i. allg. als unveränderlich angesehen werden,
uT = vT .
(2.564)
Eine graphische Darstellung kann analog zum Fall des vollkommen elastischen Stoßes erfolgen; jedoch gilt nunmehr
u = ṽ e,
ṽ ≤ v,
(2.565)
ṽ 2 = vT2 + ǫ2vN2
v 2 N
= v 2 + (ǫ2 −1)vN2 = v 2 1 + (ǫ2 −1)
,
v
(2.566)
d.h.
ṽ = v
2.3.7.2
r
1+
(ǫ2
− 1)
v 2
N
v
.
(2.567)
Gekoppelte Schwingungen
Wir betrachten zwei (lineare) Federschwinger, die untereinander über
eine dritte Feder gekoppelt sind. Die Bewegungsgleichungen lauten
(ext)
+ F12 ,
(2.568)
(ext)
+ F21 .
(2.569)
m1 ẍ1 = F1
m2 ẍ2 = F2
170
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
x
m2
m1
Mit den linearen Kraftansätzen
(ext)
F1
(ext)
F2
und
F12
(0)
(0)
(0)
x1
,
= −k1 x1 −
(0)
= −k2 x2 − x2
(0)
(0)
= −k x1 − x1 − x2 + x2 = −F21
(2.570)
(2.571)
(2.572)
(x1 , x2 - Ruhelagen) erhalten wir also
m1 x̄¨1 = −k1x̄1 − k(x̄1 − x̄2),
m2 x̄¨2 = −k2x̄2 + k(x̄1 − x̄2),
(2.573)
(2.574)
wobei
x̄1 = x1 − x1 ,
(0)
(2.575)
x̄2 = x2 − x2
(0)
(2.576)
die auf die Gleichgewichtslagen bezogenen Koordinaten sind. Die
Kräfte sind konservativ, und die potentielle Energie ist durch die quadratische Form
(2.577)
U = 12 (k1 + k)x̄21 + (k2 + k)x̄22 − 2kx̄1x̄2
gegeben. Offensichtlich gilt Energieerhaltung. Das Differentialgleichungssystem (2.573) und (2.574) kann gemäß der allgemeinen Theorie
gewöhnlicher, linearer Differentialgleichungssysteme über den Ansatz
x̄1 = A1 eλt ,
x̄2 = A2eλt
(2.578)
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
171
gelöst werden, der, wie eine einfache Rechnung zeigt, auf die Säkulargleichung
k
k2
k
k k
k1
2
2
+
λ +
+
−
=0
(2.579)
λ +
m1 m1
m2 m2
m1 m2
führt, deren Wurzeln unschwer berechnet werden können.
Wir schreiben das Differentialgleichungssystem (2.573) und (2.574)
etwas um, indem wir Massenmittelpunkts- und Relativkoordinaten
einführen,
x̄c =
1
(m1 x̄1 + m2 x̄2),
m
(2.580)
x̄ = x̄2 − x̄1 ,
(2.581)
so daß
m2
x̄,
m
m1
x̄
x̄2 = x̄c +
m
(2.582)
x̄1 = x̄c −
(2.583)
[siehe (2.540) und (2.541)] gilt. Eine kurze Rechnung liefert das folgende
Differentialgleichungssystem für x̄c und x̄:
k1 +k2
µ k1
k2
x̄¨c = −
x̄c +
−
x̄,
(2.584)
m
m m1 m2
x̄¨ =
k1
k2
−
m1 m2
k
x̄c −
+
µ
m2 k1
m1 k2
+
m m1
m m2
x̄
(2.585)
(µ - reduzierte Masse). Offensichtlich gilt keine Impulserhaltung, so daß
natürlich auch Massenmittelpunkts- und Relativbewegung i. allg. nicht
entkoppeln. Sie entkoppeln, falls
k2
k1
=
m1
m2
(2.586)
172
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
ist, d.h., falls die Eigenfrequenzen
r
r
k
k2
1
(0)
(0)
ω1 =
, ω2 =
m1
m2
(2.587)
(0)
der beiden ungestörten harmonischen Oszillatoren gleich sind, ω1 =
(0)
ω2 ≡ ω1 . Die Koordinaten, für die die Bewegungsgleichungen linear
gekoppelter harmonischer Oszillatoren entkoppeln, heißen Normalkoordinaten. Ihre Bestimmung wird auch Normalkoordinatenanalyse genannt. Im Falle zweier linearer harmonischer Oszillatoren gleicher Frequenz sind also Massenmittelpunkts- und Relativkoordinate
die Normalkoordinaten des gekoppelten Systems.
Wir wollen uns der Einfachheit halber zunächst auf diesen Fall konzentrieren. Mit
k1
k2
k1 + k2
m2 k1
m1 k2
=
=
=
+
= ω12 ,
(2.588)
m1
m2
m
m m1
m m2
wird aus (2.584) und (2.585)
x̄¨c + ω12x̄c = 0,
(2.589)
x̄¨ + ω22x̄ = 0,
(2.590)
wobei
ω22
=
ω12
k
+
µ
(2.591)
ist. Die Gleichungen (2.589) und (2.590) sind die Bewegungsgleichungen
harmonischer Oszillatoren, und die allgemeine Lösung lautet
x̄c (t) = Ac cos(ω1t + αc ),
(2.592)
x̄(t) = A cos(ω2t + α),
(2.593)
(Abschnitt 1.3.3). Damit ergeben sich gemäß (2.582) und (2.583) für
die Auslenkungen aus den Gleichgewichtslagen
m2
x̄1(t) = Ac cos(ω1t + αc ) −
A cos(ω2t + α),
(2.594)
m
m1
A cos(ω2t + α).
(2.595)
x̄2(t) = Ac cos(ω1t + αc ) +
m
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
173
Die sich für Ac 6= 0, A = 0 und Ac = 0, A 6= 0 ergebenden zwei Schwingungen der Eigenfrequenzen ω1 und ω2 des gekoppelten Systems werden auch Normalschwingungen bzw. Eigen- oder Fundamentalschwingungen des Systems genannt. Die allgemeine Lösung ergibt
sich dann als beliebige Überlagerung der beiden Normalschwingungen.
Normalschwingungsanalyse als lineares Eigenwertproblem
Die Entkopplung der Bewegungsgleichungen eines linearen, schwingenden Systems durch Einführung geeigneter Linearkombinationen der Systemkoordinaten kann natürlich auch für Systeme mit mehr als zwei
Massenpunkten (Teilchen) durchgeführt werden (z.B. für Moleküle und
Kristallgitter). Eine systematische Methode zum Auffinden der Normalschwingungen basiert auf Diagonalisierungsverfahren für (reelle,
symmetrische) Matrizen. Um dies zu sehen, schreiben wir die obigen
Resultate für unsere zwei gekoppelten Oszillatoren etwas um. Wir beginnen mit den Bewegungsgleichungen (2.573) und (2.574), die in der
Form
X
x̃¨ν = −
Vνµ x̃µ
(2.596)
µ
(ν, µ = 1, 2) geschrieben werden können, wobei die skalierten Koordinaten
√
mν x̄ν = x̃ν
(2.597)
eingeführt wurden. Die symmetrische, reelle Matrix Vνµ hängt mit der
Matrix Uνµ in der potentiellen Energie
X
Uνµ x̄ν x̄µ
(2.598)
U = 21
ν,µ
wie folgt zusammen:
Vνµ = (mν mµ )−1/2Uνµ .
(2.599)
Gemäß (2.594) und (2.595) kann dann die Lösung in der Form
x̃ν (t) =
X
µ
Cνµ qµ (t)
(2.600)
174
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
dargestellt werden, wobei die Normalkoordinaten qν harmonische Oszillatoren repräsentieren:
q̈ν + ων2 qν = 0
Die Matrix Cνµ lautet in unserem speziellen Fall
!
√
√
m
m
−
1
1
2
Cνµ =
b
.
√
√
m
m2
m1
(2.601)
(2.602)
Sie ist orthogonal,
(C −1)νµ = Cµν ,
(2.603)
und diagonalisiert offensichtlich die Matrix Vνµ :
X
(C −1)νν ′ Vν ′ µ′ Cµ′ µ = ων2 δνµ
(2.604)
ν ′ ,µ′
Wendet man C −1 (von links) auf die Gleichung (2.596) an, so ergibt sich
die Gleichung (2.601) genau dann, wenn die Gleichung (2.604) erfüllt
ist.
Die Normalschwingungsanalyse läuft also auf die Lösung des Eigenwertproblems der Matrix Vνµ hinaus. Die Eigenwerte bestimmen
die Quadrate der Eigenfrequenzen, und die Eigenvektoren legen die
Geometrie der Normalschwingungen fest, d.h. die jeweilige Linearkombination der Ausgangskoordinaten. Es ist klar, daß das Verfahren nicht
nur auf die zunächst betrachteten zwei speziellen, sondern ganz allgemein auf N gekoppelte harmonische Oszillatoren anwendbar ist (d.h.
ν, µ = 1, 2, . . . , N in obigen Gleichungen, N beliebig).9 Normalschwingungen zeichnen sich meistens durch eine besonders hohe Symmetrie
9
Dies schließt auch dreidimenionale Bewegungen der beteiligten Massenpunkte ein, da den einzelnen Koordinaten x̄ν natürlich auch unterschiedliche Raumrichtungen entsprechen können.
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
175
der Bewegung der Massenpunkte aus, was die Rechnungen in der Praxis
sehr vereinfachen kann.
Schwebungen
Wir kehren zu unserem Ausgangsproblem zweier gekoppelter harmonischer Oszillatoren zurück und wollen zwei Grenzfälle diskutieren. Ist
(für entsprechende Anfangsbedingungen) über die frei wählbaren Koeffizienten in (2.594) und (2.595) so verfügt, daß Ac = (m2/m)A ist, so
setzt sich x̄1(t) aus zwei Schwingungen gleicher Amplitude zusammen.
Analog ist x̄2(t) für Ac = (m1/m)A eine Überlagerung zweier Schwingungen gleicher Amplitude. Ist m1 = m2 , trifft der Sachverhalt für x1(t)
und x2(t) gleichermaßen zu. Unterscheiden sich die beiden Schwingungen (gleicher Amplitude) nur schwach in ihren Frequenzen,
ω2 − ω1 ≪ ω2 + ω1
(2.605)
so liegen jeweils Schwebungen vor (Abschnitt 1.3.3.2). Dies ist offensichtlich der Fall, wenn die beiden Oszillatoren nur schwach gekoppelt
sind,
k
k1
k2
≪
=
.
µ
m1
m2
(2.606)
Ist m1 = m2 , so führen beide Massenpunkte Schwebungen aus, die für
αc = α offenbar gerade um π/2 verschoben sind. Hat die Amplitude der
einen Schwingung ihren größten Wert erreicht, dann ist die der anderen
Schwingung Null und umgekehrt. Der geschilderte Bewegungszustand
kann erreicht werden, wenn anfangs die beiden Massenpunkte ruhen
und einer von beiden aus der Gleichgewichtslage ausgelenkt ist. Bei der
dann einsetzenden Bewegung wird die Energie des Systems zwischen
den beiden Massenpunkten periodisch ausgetauscht.
Erzwungene Schwingungen
Wir wollen annehmen, daß in den Ausgangsgleichungen (2.573) und
(2.574)
m2 ≫ m1
(2.607)
k
k
≪
m2
m1
(2.608)
und somit
176
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
gilt und die Werte von k1/m1 und k2 /m2 endlich (fest) sind. Dann kann
in (2.574) der zweite Term (näherungsweise) weggelassen werden,
m2 x̄¨2 = −k2 x̄2 ,
(2.609)
und folglich führt der Massenpunkt m2 (näherungsweise) eine ungestörte Schwingung aus,
(0)
x̄2(t) = A2 cos ω2 t + α2 .
(2.610)
Wir setzen (2.610) in (2.573) ein und erhalten
(0)
¨
m1 x̄1 = −(k1 + k) x̄1 + kA2 cos ω2 t + α2 .
(2.611)
Die Gleichung (2.611) ist die Bewegungsgleichung einer erzwungenen
Schwingung eines harmonischen Oszillators der Eigenfrequenz
r
k
k1
ω1 =
+
(2.612)
m1 m1
(0)
unter dem Einfluß einer harmonischen Kraft der Frequenz ω2 (siehe
Abschnitt 2.2.6.5). Wir sehen, eine erzwungene Schwingung kann als
Grenzfall von Koppelschwingungen aufgefaßt werden. Die Erzeugung
eines schwingungsfähigen Systems durch eine äußere Kraft bedeutet
seine Kopplung mit einem zweiten System derart, daß dieses vom ersten
nicht bzw. nur in vernachlässigbar kleinem Maß beeinflußt wird, die
Rückwirkung des ersten auf das zweite System also weggelassen werden
kann.
2.3.7.3
Die Raketengleichung
Als Beispiel der Bewegung eines Körpers mit veränderlicher Masse wollen wir die Bewegung einer Rakete untersuchen, deren Masse sich durch
Ausstoßen von Masse verändert. Fassen wir die Rakete plus ausgestoßene Masse als Massenpunktsystem auf, so gilt offensichtlich Massenerhaltung, und für den Gesamtimpuls gilt die Bilanzgleichung
ṗ = F(ext) .
(2.613)
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
177
t + ∆t
t
m
|∆m|
v
m − |∆m|
v + ∆v + u
v + ∆v
Die zeitliche Änderung des Gesamtimpluses kann wie folgt berechnet
werden (siehe die Abbildung):
Impuls zur Zeit t:
p = mv
(2.614)
Impuls zur Zeit t + ∆t:
p + ∆p = [m − |∆m|][v + ∆v] + |∆m|[v + ∆v + u]
= mv + m∆v + |∆m|u
(2.615)
(u - relative Austrittsgeschwindigkeit der ausströmenden Masse), d.h.
∆p = m∆v + |∆m|u
(2.616)
bzw. in der Grenze ∆t → 0
ṗ = mv̇ − ṁu
(2.617)
(ṁ<0). Wir fassen die Gleichungen (2.613) und (2.617) zusammen und
erhalten die Raketengleichung
mv̇ = F(ext) + ṁu
(2.618)
Die Gleichung (2.618) kann offensichtlich in die Form
d
(mv) = F(ext) + ṁ(v + u)
dt
(2.619)
178
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
gebracht werden, in der sie die Impulsbilanz für die Rakete darstellt.
Die zeitliche Änderung des Impulses einer Rakete ist gleich der äußeren
Kraft und der Schubkraft ṁ(v + u).
Betrachten wir als Beispiel den geradlinigen Aufstieg einer Rakete
(Bewegung in z-Richtung) im homogenen Schwerefeld der Erde,
v = ż ez ,
(2.620)
u = −u ez ,
(2.621)
F(ext) = −mg ez .
(2.622)
In diesem Fall lautet die Raketengleichung (2.618)10
z̈ = −g −
ṁ
u.
m
(2.623)
woraus für die Raketengeschwindigkeit
Z t
ṁ
ż = −g(t − t0 ) −
dt′ u
m
t0
(2.624)
[ż(t0 ) = 0] und die Bahnkurve
z(t) =
− 21 g(t
2
− t0 ) −
Z
t
t0
′
dt
Z
t′
t0
dt′′
ṁ
u
m
(2.625)
[z(t0 ) = 0] folgen. Speziell für konstante Ausströmgeschwindigkeit u =
const. gilt
m(t0 )
ż = −g(t − t0) + u ln
.
(2.626)
m(t)
Ist zum Zeitpunkt t= tf sämtlicher Treibstoff verbraucht, hat die Rakete
die Geschwindigkeit
m(t0 )
vf = −g(tf − t0 ) + u ln
(2.627)
m(tf )
10
Eine genauere Untersuchung erfordert i. allg. auch die Berücksichtigung der Reibungsverluste
durch die Atmosphäre; siehe Abschnitt 2.2.6.2.
2.3. DYNAMIK EINES MASSENPUNKTSYSTEMS
179
erreicht, und für t> tf unterliegt sie dann den Gesetzen des senkrechten
Wurfs,
ż = −g(t − tf ) + vf .
(2.628)
Der zweite Term in (2.627), der die Endgeschwindigkeit ohne äußere
Kraft darstellt, hängt also nur vom Massenverhältnis m(t0 )/m(tf ) ab.
Insgsamt wird also die maximal erreichbare Geschwindigkeit (2.627)
um so größer, je schneller möglichst viel Masse ausströmt.
180
KAPITEL 2. NEWTONSCHE MECHANIK
Kapitel 3
Lagrangesche Mechanik
3.1
3.1.1
Das d’Alembertsche Prinzip
Freie und gebundene Systeme
Vom mechanisch-mikroskopischen Standpunkt aus könnte man die
Welt“ als ein System von Massenpunkten auffassen, zwischen denen
”
Kräfte wirken, die Anlaß für die Bewegung der Massenpunkte entsprechend den Newtonschen Bewegungsgleichungen geben. Abgesehen davon, daß sich die Physik nicht auf die klassische Punktmechanik reduzieren läßt, stößt dieses Konzept bereits in der Mechanik selbst auf
unüberwindbare praktische Hindernisse. Stellen wir uns vor, ein ausgedehnter, makroskopischer Körper würde als ein System von Massenpunkten beschrieben, beispielsweise im Sinne von Atomen oder Molekülen. Wir hätten es dann größenordnungsmäßig mit N = 1023 Teilchen zu tun, d.h. mit 3·1023 gekoppelten, gewöhnlichen Differentialgleichungen zweiter Ordnung, die gelöst werden müßten zur Bestimmung
der Bahnkurven aller Teilchen. Dies ist natürlich praktisch unmöglich.
Ein möglicher Ausweg aus dieser Situation besteht darin zu versuchen, das jeweilige Gesamtsystem in ein (möglichst kleines“) Ob”
jekt, dessen physikalische Eigenschaften primär gesucht sind, und eine
Umgebung, deren Einfluß auf das Objekt durch geeignete Annahmen
(zumindest näherungsweise) erfaßbar sind, ohne auf die mikroskopischen Bewegungsgleichungen der Körper der Umgebung zurückzugreifen, zu unterteilen. Ein solches Vorgehen setzt in der Regel voraus, daß
181
182
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
die Rückwirkung des Objekts auf die Umgebung vernachlässigbar sein
muß.
z
α
x
Betrachten wir beispielsweise einen Körper (im Sinne eines Massenpunkts), der unter dem Einfluß der Schwerkraft auf einer schiefen
Ebene hinabgleitet. Er unterliegt der Gravitationskraft der Erde (die
schiefe Ebene eingeschlossen) und seitens der schiefen Ebene Kräften,
die ihn entlang der schiefen Ebene zwingen und verhindern, daß er in sie
eindringen oder gar hindurchfallen kann. Das setzt insbesondere voraus, daß unter dem Einfluß des Körpers keine merkliche Deformation
der schiefen Ebene eintritt, die Wirkung des Körpers auf die schiefe
Ebene hinreichend schwach und somit vernachlässigbar ist. Unter diesen Bedingungen kann also im Sinne obiger Einteilung der Körper als
Objekt und die schiefe Ebene als Umgebung betrachtet werden, deren
Einfluß auf den Körper durch eine äußere Kraft beschrieben werden
kann, einer Zwangskraft, die ihn zwingt, sich ausschließlich auf der
schiefen Ebene zu bewegen.
Es liegt auf der Hand, daß es sinnlos wäre, die schiefe Ebene in
Massenpunkte zu zerlegen, die sowohl untereinander als auch mit dem
zu untersuchenden Objekt wechselwirken, und zu versuchen, die resultierenden Bewegungsgleichungen zu lösen. Wie bereits erwähnt, ist es
für viele Zwecke ausreichend anzunehmen, daß die schiefe Ebene ein
starrer Körper ist, der durch den abgleitenden Körper nicht beeinflußt
wird. Der Einfluß der schiefen Ebene besteht dann einzig darin, daß
sich der Körper nicht frei bewegen kann, sondern nur eingeschränkt
oder gebunden (nämlich entlang der Oberfläche der schiefen Ebene).
Werden auch die Reibungsverluste in Rechnung gestellt, tritt neben die
Zwangskraft noch eine zusätzliche (im engeren Sinne) dissipative Kraft.
Die Vorstellung, daß sich ein Massenpunkt nur eingeschränkt bewegen kann, bedeutet, daß er in seinem Bewegungsablauf gewissen Ne-
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
183
benbedingungen unterworfen ist, die sich in Form von Bedingungsgleichungen für die Bahnkurve formulieren lassen, d.h., Elemente der
Bahnkurve werden gewissermaßen vorgegeben.1 Im vorliegenden Beispiel ergibt sich die Bedingungsgleichung aus der Forderung, daß der
Massenpunkt auf der schiefen Ebene bleibt, d.h.
x sin α − z cos α = 0.
(3.1)
Es können also nur solche Werte von x(t) und z(t) während einer Bewegung realisiert werden, die der Bedingung (3.1) genügen. Entsprechend
der Begriffsbildungen freie und eingeschränkte Bewegung spricht man
auch von freien und gebundenen Systemen.
Es sollte angemerkt werden, daß die erwähnte Einteilung eines Gesamtsystems in ein System und eine Umgebung (Rest des Gesamtsystems, das das System zwar beeinflußt, jedoch selbst im wesentlichen
unbeeinflußt bleibt) typisch für das Herangehen an physikalische Probleme ist. Es ist klar, daß sich der Einfluß einer Umgebung auf ein System nicht immer durch Bedingungsgleichungen [etwa der Form (3.1)]
und der damit verbundenen Zwangskräfte erfassen läßt. Ein typisches
Beispiel dafür ist die Dämpfung (Reibung) eines Systems auf Grund
seiner Wechselwirkung mit der Umgebung. Hier ist ein grundsätzlich
anderes Vorgehen erforderlich, um die zusätzlichen dissipativen Kräfte
zu finden.
3.1.2
Bedingungsgleichungen
Wir wollen gebundene Systeme etwas genauer untersuchen und dabei
andere Enflüsse wie etwa Reibung vernachlässigen. Ehe wir uns der Aufgabe zuwenden, ein allgemeines Verfahren zu formulieren, das es gestattet, zu praktischen Bewegungsgleichungen zu gelangen und in diesem
Zusammenhang auch die den Bindungen entsprechenden Zwangskräfte
zu bestimmen, wollen wir die üblichen Nebenbedingen klassifizieren.
Dazu betrachten wir wieder ein System aus N Massenpunkten, wobei
wir der Zweckmäßigkeit halber eine etwas andere Numerierung verwenden werden. Wir legen kartesiche Koordinaten zugrunde und numerieren die insgesamt 3N Koordinaten und Kraftkomponenten mit
1
Dies ist bei der Konstruktion von Maschinen mit ihren speziellen Bewegungsabläufen von elementarer Bedeutung.
184
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
lateinischen Indizes von 1 bis 3N . Die Massen numerieren wir ebenfalls
von 1 bis 3N durch mit der Maßgabe, daß die drei Massen, die zu einem Teilchen gehören, jeweils gleich sind. Das System der Newtonschen
Bewegungsgleichungen lautet dann
mi ẍi = Fi
(i = 1, 2, . . . , 3N ).
(3.2)
Die Massenpunkte gebundener Systeme können durch recht verschiedene Arten von Bindungen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. So kann zwischen äußeren und inneren Bindungen
unterschieden werden.
• Bindungen an feste Flächen oder Kurven im Raum: äußere Bindungen.
• Bindungen, die die gegenseitigen Lagen der Massenpunkte einschränken: innere Bindungen.
Wie bereits erwähnt, können derartige, die Bewegungsfreiheit einschränkende Bindungen als Nebenbedingungen formuliert werden. Dabei werden üblicherweise vier Grundtypen von Nebenbedingungen unterschieden.
Holonome Nebenbedingungen
Holonome Nebenbedingungen lassen sich in Form von Gleichungen
der folgenden Art formulieren:
fk (xj , t) = 0 (k = 1, 2, . . . , r)
(3.3)
[fk (xj , t) ≡ fk (x1, x2, . . . , x3N , t)] bzw.
3N
X
∂fk
i=1
∂xi
ẋi +
∂fk
= 0,
∂t
(3.4)
∂fk
dt = 0
∂t
(3.5)
was gleichbedeutend mit
3N
X
∂fk
i=1
∂xi
dxi +
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
185
ist. Die Anzahl r der (voneinander unabhängigen) Nebenbedingungen kann offensichtlich die Anzahl 3N der Bewegungsgleichungen nicht
übersteigen,
r ≤ 3N.
(3.6)
Die Größe
f = 3N − r
(3.7)
bestimmt die Anzahl der Freiheitsgrade des Systems.
Anholonome Nebenbedingungen
Anholonome Nebenbedingungen lassen sich nur in Form von Differentialgleichungen formulieren,
3N
X
fki(xj , t)ẋi + fk0(xj , t) = 0,
(3.8)
i=1
was gleichbedeutend mit
3N
X
fki(xj , t)dxi + fk0(xj , t)dt = 0
(3.9)
i=1
ist. Die Funktionen fki(xj , t) und fk0 (xj , t) sind so beschaffen, daß (für
gegebenes k) keine Funktion fk (xj , t) existiert, für die die Gleichung
3N
dfk X ∂fk
∂fk
=
ẋi +
=0
dt
∂x
∂t
i
i=1
(3.10)
zu (3.8) äquivalent ist. Die Differentialgleichung (3.8) besitzt also keinen integrierenden Faktor, d.h., es gibt kein vollständiges Differential,
das zu (3.9) äquivalent ist.
Ein typisches Beispiel für eine anholonome Bedingung ist die Bedingung für die Bewegung eines Schlittschuhs auf einer ebenen Eisfläche.
Als vereinfachtes Modell eines Schlittschuhs nehmen wir eine (kurze)
Gerade, die wir als Massenpunkt mit einem inneren Freiheitsgrad (Einstellwinkel ϕ der Schneide) ansehen können. Die Bewegung des Schlittschuhs ist offensichtlich dadurch eingeschränkt, daß sie nur in Richtung
der Schneide erfolgen kann und nie senkrecht zu ihr, d.h.
ẏ − tan ϕ ẋ = 0.
(3.11)
186
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Die Bedingung (3.11) ist anholonom. Anderfalls wäre sie äquivalent zu
y
ϕ
x
einer Bedingung in der Form f (x, y, ϕ) = 0, was nicht möglich ist, weil
dann ϕ bei vorgegebenem Ort festgelegt wäre. Dies kann natürlich auch
direkt verfiziert werden, wenn die Bedingung (3.11) in differentieller
Form aufgeschrieben wird,
dy − tan ϕ dx + 0 dϕ = 0.
(3.12)
Da der Term mit dϕ verschwindet, kann es keinen integrierenden Faktor
geben.
Zu den anholonomen Bedingungen werden auch solche gezählt, die
nur in Form von Ungleichungen formulierbar sind. Solche einseitigen
Bindungen werden auch unilateral genannt im Gegensatz zu Bindungen, die in Form von Gleichungen formulierbar sind und auch als
bilateral bezeichnet werden. Eine unilaterale Bindung ist beispielsweise die Forderung, daß ein Massenpunkt ein bestimmtes Volumen nicht
verlassen darf.
Ein typisches Beispiel ist der Fall, daß ein Massenpunkt eine Fläche
nach einer Seite nicht verlassen kann, während er sich im Raum über
der anderen Seite der Fläche frei bewegen kann. So kann beispielsweise
ein Massenpunkt an einem Faden der Länge l im Schwerefeld der Erde
alle Punkte innerhalb der Kugel r = l erreichen, aber nicht Punkte außerhalb. Es ist klar, daß der Massenpunkt die Kugelfläche tatsächlich
verlassen kann und dann innerhalb der Kugel ein Stück einer Wurfparabel durchläuft. Ein anderes Beispiel ist ein Skispringer, der am
Schanzentisch abhebt.
Im allgemeinsten Fall wird man es mit Systemen zu tun haben,
deren Bewegungsfreiheit sowohl durch holonome als auch anholonome
187
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
Bindungen eingeschränkt ist. Wir wollen Systeme mit gemischten Bindungen generell als anholonome Systeme bezeichnen und nur solche als
holonome Systeme, für die ausschließlich Bedingungsgleichungen der
Form (3.3) [bzw. (3.4) oder (3.5)] vorliegen.
Skleronome Nebenbedingungen
Nebenbedingungen (holonom oder anholonom) heißen skleronom,
wenn sie nicht explizit von der Zeit abhängen. Im Falle von holonomen Bedingungen muß also
∂fk
=0
∂t
(3.13)
gelten und im Falle von anholonomen Bedingungen
∂fki
= 0 (i = 1, 2, . . . , 3N ),
∂t
fk0 = 0.
(3.14)
188
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Rheonome Nebenbedingungen
Rheonome Nebenbedingungen sind explizit zeitabhängige Nebenbedingungen.
Es ist klar, daß im Falle eines Systems, das r Nebenbedingungen
unterliegt, diese unterschiedlicher Art sein können. Neben holonomen
können anholonome Bedingungen vorkommen, und die Bedingungen
können teils skleronom und teils rheonom sein.
3.1.3
Das d’Alembertsche Prinzip
Entsprechend dem zweiten Newtonschen Axiom genügen die Massenpunkte eines Massenpunktsystems den Bewegungsgleichen (3.2). Im
Falle von gebundenen Systemen setzen sich die Kräfte aus eingeprägten
Kräften und Zwangskräften zusammen. Eingeprägte Kräfte sind solche
Kräfte, die auch im Falle des freien Systems (im Inertialsystem) wirksam sind. Wie bereits erwähnt, sind Zwangskräfte diejenigen Kräfte,
die entsprechend den vorliegenden Bindungen die Bewegungsfreiheit
der Massenpunkte einschränken. Wir wollen dies in den Bewegungsgleichungen (3.2) zum Ausdruck bringen, indem wir Fi + F̃i anstelle von
Fi schreiben und unter Fi nunmehr nur noch die eingeprägten Kräfte
verstehen und unter F̃i die Zwangskräfte,
mi ẍi = Fi + F̃i
(i = 1, 2, . . . , 3N ).
(3.15)
Zu diesen 3N Bewegungsgleichungen sind die entsprechenden r Nebenbedingungen hinzuzunehmen, d.h. beispielsweise im Falle von holonomen Nebenbedingen
3N
X
∂fk
i=1
∂xi
dxi +
∂fk
dt = 0 (k = 1, 2, . . . , r).
∂t
(3.16)
Um die Lösung der Bewegungsgleichungen zu finden, die den gestellten Nebenbedingungen genügt, muß offensichtlich noch ein Zusammenhang zwischen den (bisher noch unbekannten) Zwangskräften und den
Nebenbedingungen hergestellt werden mit dem Ziel, die Zwangskräfte
in geeigneter Weise durch die Nebenbedingungen auszudrücken. Dieser
Zusammenhang wird durch das d’Alembertsche Prinzip hergestellt.
189
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
Dazu ist es zunächst nötig, den Begriff der virtuellen Verrückung
einzuführen.
Virtuelle Verrückungen
Virtuelle Verrückungen δxi (i = 1, 2, . . . , 3N ) sind mit den Nebenbedingungen vereinbare, infinitesimal kleine Auslenkungen des Systems,
die momentan geschehen sollen, d.h. δt = 0, und damit nur gedacht
(virtuell) sind. Sie stimmen daher i. allg. nicht mit den tatsächlichen
Verrückungen des Systems für δt 6= 0 überein. Im Falle von holonomen
Bedingungen sind also virtuelle Verrückungen solche, die den Gleichungen (3.5) mit dt = 0 genügen,
3N
X
∂fk
i=1
∂xi
δxi = 0.
(3.17)
Analog gilt gemäß (3.9) für den Fall anholonomer Bedingungen
3N
X
fkiδxi = 0.
(3.18)
i=1
Das d’Alembertsche Prinzip
Betrachten wir zunächst bilaterale Bindungen. Das d’Alembertsches
Prinzip lautet:
3N
X
F̃i δxi = 0
(3.19)
i=1
Zwangskräfte leisten bei virtuellen Verrückungen keine Arbeit.
Das d’Alembertsche Prinzip sichert, daß bei Bewegungen von Massenpunkten entlang vorgegebenen Raumkurven oder in vorgegebenen
Flächen die Zwangskräfte (wie intuitiv zu erwarten ist) immer senkrecht
zu diesen stehen. Bei anderen (inneren) Nebenbedingungen ist eine anschauliche Interpretation schwieriger. Das d’Alembertsche Prinzip kann
190
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
nicht bewiesen werden; es ist wie jedes physikalische Grundgesetz eine
Erfahrungstatsache.
Aus den Newtonschen Bewegungsgleichungen (3.15) folgt
F̃i = mi ẍi − Fi,
(3.20)
und somit kann die Gleichung (3.19) auch in der Form
3N
X
i=1
(mi ẍi − Fi) δxi = 0
(3.21)
geschrieben werden, in der die Zwangskräfte eliminiert sind. Die Gleichung (3.21) und die r Nebenbedingungen stellen die Ausgangsgleichungen zur Bestimmung des Bewegungsablaufs eines gebundenen (und
natürlich als Spezialfall auch des freien) Massenpunktsystems dar.
Den im Zusammenhang mit unilateralen Bindungen angegebenen
Beispielen ist gemeinsam, daß die virtuelle Verrückung in der jeweiligen Fläche liegt oder an einer Seite der Fläche von dieser wegzeigen
kann, während die Zwangskraft offensichtlich nach eben dieser Seite
der Fläche gerichtet ist. In diesem Fall ist die Gleichung (3.19) durch
die entsprechende Ungleichung zu ersetzen, so daß im allgemeinen Fall
3N
X
F̃i δxi ≥ 0
(3.22)
(mi ẍi − Fi) δxi ≥ 0
(3.23)
i=1
bzw.
3N
X
i=1
gilt.
Mechanisches Gleichgewicht
Im mechanischen Gleichgewicht, wenn jeder Massenpunkt eines (in einem bestimmten Augenblick ruhenden) Systems ständig in Ruhe bleibt,
ẍi = 0 (i = 1, 2, . . . , 3N )
(3.24)
191
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
geht (3.23) in
3N
X
i=1
(3.25)
Fi δxi ≤ 0
über, und es gilt das Prinzip der virtuellen Arbeit:
Ein Massenpunktsystem ist dann und nur dann im Gleichgewicht, wenn die gesamte virtuelle Arbeit der am System angreifenden eingeprägten Kräfte verschwindet bzw. nicht positiv ist.
Das Prinzip der virtuellen Arbeit ist das allgemeinste Gleichgewichtsprinzip der Mechanik (d.h. das allgemeinste Prinzip der Statik). Es
geht bis auf Archimedes zurück und stammt in der angegebenen Formulierung von Bernoulli.
Für komplizierte Systeme sind die den Bindungen entsprechenden
Bedingungen in der Regel nicht in analytischer Form vorgegeben, und
ihr Auffinden ist i. allg. eine nichttriviale Aufgabe. Bei einer Maschine können die virtuellen Verrückungen oft direkt aus der Arbeitsweise
der Maschine erkannt werden. Sollen die Bedingungen für das Gleichgewicht eines Systems in einer gegebenen Lage bestimmt werden, so
ist das System in Gedanken probeweise“ ein wenig aus dieser Lage zu
”
verschieben, die Gesamtarbeit der eingeprägten Kräfte zu berechnen
und Null zu setzen.
Ein sehr einfaches Beispiel ist der Hebel (im Schwerefeld der Erde).
Die einzig mögliche virtuelle Verrückung ist eine kleine Drehung um
die Achse senkrecht zur Papierebene durch den Punkt O (siehe die
Abbildung). Die virtuelle Arbeit ist folglich
a O
δϕ
b
F (b)
F (a)
F (a) aδϕ − F (b) bδϕ = 0,
(3.26)
192
bzw.
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
(a)
(b)
F a−F b
(3.27)
δϕ = 0,
|{z}
beliebig
und wir erhalten als Gleichgewichtsbedingung das bekannte Hebelgesetz
F (a) a = F (b) b.
(3.28)
Die auf die Achse bezogenen Drehmomente sind einander gleich.
3.1.4
Bilanzgleichungen
Die in den Abschnitten 2.3.2, 2.3.3 und 2.3.5 diskutierten Bilanzgleichungen für Impuls, Energie und Drehimpuls bleiben natürlich weiterhin gültig, wenn unter den wirkenden Kräften – wie dies grundsätzlich sein muß – alle wirkenden Kräfte verstanden werden, d.h. für gebundene Systeme eingeprägte Kräfte und Zwangskräfte. Entsprechend
der Einteilung der auf einen Massenpunkt wirkenden Kräfte in innere
und äußere Kräfte, können auch die Zwangskräfte in innere und äußere
Zwangskräfte eingeteilt werden,
F̃ν =
F̃(ext)
ν
+
N
X
F̃νµ ,
(3.29)
µ=1
wobei wir für die inneren Zwangskräfte die gleichen Annahmen machen wollen wie für die inneren eingeprägten Kräfte.2 Die Impulsbilanz
(2.415) lautet nunmehr
dp
= F(ext) + F̃(ext)
dt
(3.30)
und die Drehimpulsbilanz (2.490)
dL
= M(ext) + M̃(ext) .
dt
(3.31)
Die zeitliche Änderung des Gesamtimpulses eines Massenpunktssystems ist gleich der Resultante der äußeren eingeprägten Kräfte und der
2
Man beachte, daß innere Zwangskräfte ihre physikalische Ursache in der Wechselwirkung von
Systemfreiheitsgraden mit Umgebungsfreiheitsgraden haben können.
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
193
äußeren Zwangskräfte. Analog ist die zeitliche Änderung des Gesamtdrehimpulses eines Massenpunktssystems gleich dem Gesamtdrehmoment der äußeren eingeprägten Kräfte und der äußeren Zwangskräfte.
Für die kinetische Energie gilt gemäß (2.437)
dT
= P + P̃ .
dt
(3.32)
Die zeitliche Änderung der kinetischen Energie eines Massenpunktsystems ist gleich der Leistung aller am System angreifenden eingeprägten Kräfte und Zwangskräfte. Wir werden auf die Energiebilanz
noch zurückkommen (Abschnitt 3.2.2). Hier wollen wir uns auf den
Fall skleronomer Bedingungen beschränken, d.h. Bedingungen der Art
3N
X
fki dxi = 0
(3.33)
i=1
[vgl (3.14)]. Da es in diesem Fall keinen Unterschied zwischen virtuellen
und realen Verrückungen gibt,
dxi = δxi ,
(3.34)
liefert das d’Alembertsche Prinzip (3.19)
3N
X
F̃i δxi =
i=1
und folglich gilt
3N
X
F̃i dxi = 0,
(3.35)
i=1
P̃ =
3N
X
F̃i ẋi = 0.
(3.36)
i=1
Damit geht die Bilanzgleichung (3.32) in die Bilanzgleichung für freie
Systeme über,
dT
= P.
(3.37)
dt
Mit anderen Worten, in der mechanischen Energiebilanz solcher Systeme spielen nur die eingeprägten Kräfte eine Rolle. Besitzen diese ein
Potential,
∂U
Fi = −
,
(3.38)
∂xi
194
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
z
Fk
s
m
α
F
F⊥
x
so gilt also wie im Falle freier Systeme
∂U
d
(T + U ) =
dt
∂t
(3.39)
[siehe Gleichung (2.462)] .
3.1.5
Spezielle Probleme
Es ist klar, daß das d’Alembertsche Prinzip den Fall freier Systeme
enthält. In diesem Fall werden die δxi in der Grundgleichung (3.21)
durch keinerlei Nebenbedingungen eingeschränkt. Da also jedes δxi frei,
d.h. unabhängig von den restlichen δxi′ (i′ 6= i), wählbar ist, kann die
Gleichung (3.21) offensichtlich nur dann erfüllt sein, wenn für jedes δxi
der Klammerausdruck bei δxi für sich verschwindet, d.h.
mi ẍi = Fi
(i = 1, 2, . . . , 3N ),
(3.40)
und somit die Newtonschen Gleichungen für freie Systeme gelten.
3.1.5.1
Massenpunkt auf schiefer Ebene
Wir betrachten einen Massenpunkt, der sich unter dem Einfluß der
Schwerkraft reibungsfrei auf einer schiefen Ebene bewegt.
Eingeprägte Kraft:
F = −mg ez .
(3.41)
Nebenbedingung:
z = x tan α
(3.42)
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
195
bzw.
δz = δx tan α
(3.43)
(1 Teilchen, 1 Nebenbedingung ; 3 − 1 = 2 Freiheitsgrade). Mit (3.43)
lautet das d’Alembertsche Prinzip
ẍδx + ÿδy + (z̈ + g)δz
= [ẍ + (z̈ + g) tan α] δx + ÿδy = 0.
(3.44)
Da δx und δy beliebig wählbar sind, liefert das d’Alembertsche Prinzip
die zwei Gleichungen
ẍ + (z̈ + g) tan α = 0,
(3.45)
ÿ = 0,
(3.46)
die zusammen mit der Nebenbedingung (3.42) zu lösen sind.
Die Gleichung (3.46) besagt weiter nichts, als daß die Bewegung
auf der schiefen Ebene in y-Richtung eine gleichförmig geradlinige ist.
Zweimalige Differentiation der Nebenbedingung (3.42) liefert
z̈ = ẍ tan α,
(3.47)
so daß nach Elimination von z̈ die Gleichung (3.45) in die Gleichung
bzw.
ẍ (1 + tan2 α) +g tan α = 0
|
{z
}
2
1/ cos α
(3.48)
ẍ = −g sin α cos α
(3.49)
übergeht. Erwartungsgemäß ist die Bewegung in x-Richtung eine
gleichförmig beschleunigte. Führen wir anstelle der x-Koordinate die
Koordinate
x
(3.50)
s=
cos α
(längs der schiefen Ebene) ein, so wird aus (3.49)
s̈ = −g sin α = −|Fk |/m
(3.51)
196
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
(siehe die Abbildung). Die Bewegung längs der s-Achse erfolgt unter
dem Einfluß der Projektion der Schwerkraft auf diese Achse.
Für die Komponenten der Zwangskraft
F̃ = mr̈ − F
(3.52)
F̃x = mẍ = −mg sin α cos α = −|F⊥| sin α
(3.53)
F̃y = mÿ = 0,
(3.54)
ergibt die Rechnung
F̃z = mz̈ + mg = m(ẍ tan α + g)
= −mg(sin2 α − 1) = mg cos2 α = |F⊥| cos α.
(3.55)
Erwartungsgemäß ist die Zwangskraft entgegengesetzt gleich der Komponente der Schwerkraft senkrecht zur schiefen Ebene,
F̃ = −F⊥ .
3.1.5.2
(3.56)
Kreispendel
Wir betrachten die Bewegung eines Körpers (Massenpunkts), der am
Ende einer masselosen“ Stange befestigt ist, die im Schwerefeld der
”
Erde an einer festen Achse drehbar aufgehängt ist (ebenes mathematisches Pendel).
Eingeprägte Kraft:
F = mg ex = mg cos ϕ e̺ − mg sin ϕ eϕ .
(3.57)
Nebenbedingungen:
z = 0,
̺ = l,
(3.58)
δ̺ = 0,
(3.59)
bzw.
δz = 0,
(1 Teilchen, 2 Nebenbedingungen ; 3−2=1 Freiheitsgrad). Mit (3.59)
ergibt sich für die virtuelle Verrückung
δr = δ̺ e̺ + ̺δϕ eϕ + δz ez = ̺δϕ eϕ ,
(3.60)
197
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
ϕ
l
m
F
̺
x
und das d’Alembertsche Prinzip lautet
(mr̈ − F)·δr = (mr̈·eϕ − F·eϕ ) ̺δϕ
= m (̺ϕ̈ + 2̺˙ ϕ̇ + g sin ϕ) ̺δϕ = 0,
(3.61)
woraus wegen dem frei wählbaren δϕ die Gleichung
̺ϕ̈ + 2̺˙ ϕ̇ = −g sin ϕ
(3.62)
folgt, die zusammen mit den Nebenbedingungen (3.59) zu lösen ist.
Die Nebenbedingung z = 0 bringt zum Ausdruck, daß die Bewegung in
der xy-Ebene erfolgt. Die Bedingung fester Pendellänge ̺ = l bedeutet
eine Kreisbewegung, und aus (3.62) ergibt sich für die Winkelbewegung
(̺˙ = 0):
g
ϕ̈ = − sin ϕ
l
(3.63)
Kleine Auslenkungen
Für hinreichend kleine Auslenkungen ϕ ≪ 1 gilt
sin ϕ ≈ ϕ,
(3.64)
198
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
so daß die Bewegungsgleichung (3.63) in die für eine harmonische
Schwingung übergeht (Abschnitt 1.3.3.1),
ϕ̈ + ω 2 ϕ = 0
mit
ω=
r
g
l
;
T =
2π
= 2π
ω
(3.65)
s
l
.
g
(3.66)
Eine bekannte Anwendung der Gleichung (3.66) ist die Eichung von
Pendeluhren durch die Pendellänge.
Beliebige Auslenkungen
Im Falle beliebiger Auslenkungen kann die Lösung der Bewegungsgleichung (3.63) nach dem bekannten Rezept für eindimensionale Bewegungen konservativer Systeme erfolgen (Abschnitt 2.2.5). So gilt (im
vorliegenden Fall skleronomer Bedingungen)
T + U = E = const.,
T = 21 m|ṙ|2 = 21 m ̺˙ 2 + ̺2 ϕ̇2 + ż 2 = 12 ml2 ϕ̇2,
U = −mg̺ cos ϕ = −mgl cos ϕ,
(3.67)
(3.68)
(3.69)
und folglich lautet der Energieerhaltungssatz
1
ml2ϕ̇2
2
− mgl cos ϕ = E
(3.70)
bzw.
1 2
2 ϕ̇
+ u(ϕ) = ǫ
(3.71)
mit ǫ = E/(ml2) und
u(ϕ) = −ω 2 cos ϕ.
(3.72)
Anwenden von (2.168) liefert dann t als Funktion von ϕ [m → 1, E →
ǫ und U (x) → u(ϕ)]:
Z
dϕ
p
t=
+ const.
(3.73)
2(ǫ + ω 2 cos ϕ)
Für
199
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
u
ω2
ǫ
ϕ
−ω 2
ϕ0
−ϕ0
ω 2 > ǫ > −ω 2
(3.74)
ist die Bewegung offensichtlich finit (die Winkelauslenkung liegt innerhalb eines 2π-Intervalls). Die Umkehrpunkte ±ϕ0 folgen aus (3.71) für
ϕ̇ = 0,
u(ϕ0) = −ω 2 cos ϕ0 = ǫ.
(3.75)
Im Falle einer finiten Bewegung mit der Anfangsbedingung
t = 0,
wird aus (3.73)
ωt =
Z
ϕ
0
p
ϕ=0
dϕ′
2(cos ϕ′ − cos ϕ0)
(3.76)
.
(3.77)
Der maximalen Auslenkung ϕ0 entspricht dabei die Anfangsgeschwindigkeit
p
(3.78)
ϕ̇|t=0 = ω 2(1 − cos ϕ0) .
Die rechte Seite von (3.77) stellt ein elliptisches Integral dar. Da
ϕ periodisch anwächst and abfällt, t aber immer zunimmt, muß die
Quadratwurzel abwechselnd mit positivem und negativem Vorzeichen
genommen werden. Wir wollen uns auf die erste Viertelschwingung beschränken, während der sowohl ϕ und die Wurzel positiv sind. Mit
(3.79)
sin 21 ϕ′ = k sin ψ ′ , k = sin 12 ϕ0
200
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
und unter Verwendung der Relation cos ϕ′ =1−2 sin2(ϕ′/2) läßt sich das
elliptische Integral auf die Legendresche Normalform eines elliptischen
Integrals erster Gattung bringen,
ωt =
Z
ψ
0
dψ ′
p
≡ F (k, ψ).
1 − k 2 sin2 ψ ′
(3.80)
F (k, ψ) ist als Funktion des Moduls k und der Amplitude ψ tabelliert.
Die folgende Abbildung zeigt eine halbe Schwingung für ϕ0 = π/2 und
zum Vergleich die entsprechende harmonische Schwingung (rote Kurve).
1.6
ϕ0 = π/2
ϕ
1.2
ϕ0 sin(ωt)
0.8
0.4
0
0.5
1.5
2.5
ωt
3.5
Wir wollen die Schwingungsdauer der anharmonischen Schwingung
berechnen. Dazu haben wir t = T /4 und ϕ = ϕ0 bzw. ψ = π/2 in (3.80)
zu setzen,
ω 14 T = F (k, 21 π),
(3.81)
d.h.
T =4
s
l
F (k, 12 π).
g
(3.82)
Wegen F (k, 12 π) hängt die Schwingungsdauer i. allg. auch von der Amplitude ϕ0 ab [siehe die zweite Gleichung in (3.79)]. Eine Taylorent-
201
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
wicklung von F (k, 21 π) nach k liefert
T = 2π
s
lh
1+
g
+
1 2
sin2
2
1·3 2
sin4
2·4
1
2 ϕ0
1
ϕ
2 0
i
+ ··· .
(3.83)
Wie erwartet, geht T für ϕ0 → 0 in den bekannten Ausdruck für die
Schwingungsdauer einer harmonischen Pendelschwingung über [zweite
Gleichung in (3.66)]. Bis einschließlich der Korrektur ∼ ϕ20 gilt
s l
ϕ20
T = 2π
1+
.
g
16
(3.84)
Dieses Ergebnis ist noch bei Amplituden von 70o bis auf 1% richtig
(siehe blaue Kurve in der Abbildung).
7.4
ωT
7
6.6
2π[1 + sin2 (ϕ0/2)/4]
2π
6.2
0
0.4
0.8
1.2
ϕ0
Zwangskraft
F̺̃ = m ̺¨ − ̺ϕ̇2 − F̺
= −mlϕ̇2 − mg cos ϕ
(3.85)
202
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
F̃ϕ = m (̺ϕ̈ + 2̺˙ ϕ̇) − Fϕ
= mlϕ̈ + mg sin ϕ = 0
{z
}
|
Bewegungsgleichung
Fz = 0.
F̃z = m |{z}
z̈ − |{z}
0
0
Die Zwangskraft besitzt also nur eine ̺-Komponente,
F̃ = −ml ϕ̇2 + ω 2 cos ϕ e̺ .
(3.86)
(3.87)
(3.88)
Wir eliminieren ϕ̇ mittels des Energieerhaltungssatzes (3.71) und erhalten
F̃ = −ml 2ǫ + 3ω 2 cos ϕ e̺ ,
(3.89)
woraus für eine finite Bewegung unter Berücksichtigung von (3.75)
F̃ = −mg (3 cos ϕ − 2 cos ϕ0) e̺
(3.90)
folgt. Die Zwangskraft, die durch den Pendelstab aufgebracht werden
muß, muß die ̺-Komponente der Schwerkraft kompensieren und die
Radialkraft realisieren, die die Kreisbewegung erzwingt. In den Umkehrpunkten, wenn das Pendel ruht, ist die Zwangskraft erwartungsgemäß entgegengesetzt gleich der ̺-Komponente der Schwerkraft.
3.1.5.3
Bewegungsgleichungen des starren Körpers
Wie bereits erwähnt, wollen wir einen starren Körper als ein System
von Massenpunkten mν ansehen, deren gegenseitige Abstände sich nicht
ändern sollen, d.h. bei allen Bewegungen des Systems als fest vorgegeben angesehen werden können. Ein solches System kann also insgesamt
nur 6 Freiheitsgrade besitzen, nämlich 3 Translations- und 3 Rotationsfreiheitsgrade. Im Falle von N Massenpunkten (N ≥ 3) mit festen
gegenseitigen Abstaänden muss es also r = 3N − 6 Nebenbedingungen
geben, die die Abstände zwischen den Massenpunkten fixieren.
203
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
mν
rν
r′ν
ϕν
r1
O
m1
D’Alembertsches Prinzip:
N
X
ν=1
(mν r̈ν − Fν ) · δrν = 0.
(3.91)
Nebenbedingungen:
rν = r1 + r′ν ,
(3.92)
δrν = δr1 + δr′ν ,
(3.93)
δ|r′ν | = 0,
(3.94)
wobei m1 ein willkürlich herausgegriffener Massenpunkt ist. Für festen
Abstand, δ|r′ν | = 0, kann der Massenpunkt mν nur eine Drehung um
eine Achse durch den Massenpunkt m1 ausführen,
δr′ν = δ ϕ
~ ν × r′ν
(3.95)
(vgl. Abschnitt 2.1.5), und somit gilt
δrν = δr1 + δ ϕ
~ ν × r′ν .
(3.96)
Obige Gleichung gilt natürlich für alle Massenpunkte. Da jedoch alle
gegenseitigen Abstände fest bleiben, muß für alle Massenpunkte
δϕ
~ ν = δϕ
~ ν′
(ν 6= ν ′)
(3.97)
204
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
gelten, und somit sind die mit den Nebenbedingen verträglichen virtuellen Verrückungen durch
δrν = δr1 + δ ϕ
~ × r′ν
(3.98)
ṙν = ṙ1 + ω
~ × r′ν .
(3.99)
gegeben, und es gilt
Die beliebig wählbaren δr1 und δ ϕ
~ repräsentieren offensichtlich die 6
Freiheitsgrade des starren Körpers (3 Translations- und 3 Rotationsfreiheitsgrade).
Wir setzen (3.98) in (3.91) ein und erhalten
δr1 ·
N
X
ν=1
(mν r̈ν − Fν )
+ δϕ
~×
δr1 ·
N
X
ν=1
bzw. wegen r′ν = rν − r1
δr1 ·
ν=1
·
N
X
ν=1
(mν r̈ν − Fν ) = 0,
(3.100)
(mν r̈ν − Fν )
+ δϕ
~·
N
X
r′ν
N
X
ν=1
(mν r̈ν − Fν ) + δ ϕ
~·
(mν r′ν × r̈ν − r′ν × Fν ) = 0
N
X
ν=1
(3.101)
[mν rν × r̈ν − rν × Fν
−r1 × (mν r̈ν − Fν )] = 0. (3.102)
Da δr1 und δ ϕ
~ frei wählbar sind, folgt also
N
X
ν=1
mν r̈ν =
N
X
ν=1
Fν ,
(3.103)
205
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
N
X
ν=1
mν rν × r̈ν =
Das heißt, die Impulsbilanz
N
X
ν=1
rν × F ν ,
dp
= F = F(ext)
dt
(3.104)
(3.105)
(Abschnitt 2.3.2) und die Drehimpulsbilanz
dL
= M = M(ext)
dt
(3.106)
(Abschnitt 2.3.5) für das Massenpunktsystem sind gerade die Bewegungsgleichungen eines frei beweglichen starren Körpers. Die Gesamtkraft und das Gesamtdrehmoment sind nur durch die eingeprägten
äußeren Kräfte bestimmt, da die Zwangskräfte als innere Kräfte keinen
Beitrag leisten.
Ist der starre Körper nicht frei beweglich, d.h., ist seine Bewegung
durch bestimmte Nebenbedingungen eingeschränkt,3 so treten neben
den eingeprägten äußeren Kräften natürlich auch äußere Zwangskräfte
F̃(ext) und Zwangsdrehmomente M̃(ext) auf, und anstelle von (3.105)
und (3.106) gilt
3.1.5.4
dp
= F(ext) + F̃(ext) ,
dt
(3.107)
dL
= M(ext) + M̃(ext) .
dt
(3.108)
Um eine feste Achse drehbarer starrer Körper
Ein typisches Beispiel ist ein starrer Körper, der nur um eine feste Achse
drehbar ist.4 Es sei die z-Achse die Drehachse und r1 fixiere einen Punkt
3
4
Diese Nebenbedingungen schränken δr1 und δ ϕ
~ ein.
Eine Translationsbewegung entlang der Achse sei ausgeschlossen.
206
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
auf der Achse. Die Einschränkung der Bewegung des starren Körpers
auf eine Drehung um diese Achse bedeutet
δr1 = 0,
δϕ
~ = δϕ ez ,
(3.109)
und aus (3.101) folgt erwartungsgemäß die Drehimpulsbilanz für die
z-Komponente:5
dLz
= Mz = Mz(ext)
dt
(3.110)
Die Zwangskräfte geben offensichtlich keinen Anlaß zu einem Zwangsdrehmonent in Richtung der Drehachse.
Bekanntlich kann Lz in der Form
Lz = Θ ϕ̇
geschrieben werden [Gleichung (2.498)], wobei
Z
N
X
Θ=
mν ̺2ν = dm ̺2
(3.111)
(3.112)
ν=1
das auf die (z-Achse als) Drehachse bezogenem Trägheitsmoment des
starren Körpers ist [Gleichungen (2.497) und (2.499)]. Das Trägheitsmoment ist für einen gegebenen starren Körper und fixierter Drehachse
ein systemspezifischer (zeitunabhängiger) Parameter (der senkrechte
Abstand ̺ des jeweiligen Massenelements von der Drehachse ändert
sich nicht). Damit lautet die Bewegungsgleichung (3.110)
Θ ϕ̈ = M
(3.113)
(M ≡Mz ). Da beim Vorliegen skleronomer Bedingungen in die Energiebilanz nur eingeprägte Kräfte eingehen, gilt im Falle von eingeprägten
Kräften, die ein Potential besitzen,
∂U
d
(T + U ) =
dt
∂t
5
Bezugspunkt ist ein Punkt der Drehachse.
(3.114)
207
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
Hier ist U = U (ϕ, t), und die kinetische Energie lautet
T =
N
X
2
1
2 mν |ṙν |
N
X
1
2 mν
N
X
2 2
1
2 mν ̺ν ϕ̇
ν=1
=
ν=1
=
=
N
X
ν=1
1
ω
2 mν |~
× rν |2
̺˙ 2ν + ̺2ν ϕ̇2ν + żν2
| {z } |{z}
|{z}
0
0
̺2ν ϕ̇2
=
1
2
Θ ϕ̇2.
(3.115)
ν=1
Somit nimmt (3.114) die Form
∂
d 1
2
= U (ϕ, t)
Θ
ϕ̇
+
U
(ϕ,
t)
2
dt
∂t
(3.116)
an. Differentiation nach der Zeit liefert
dU ∂U
∂U
dT
= Θ ϕ̇ϕ̈ = −
+
=−
ϕ̇,
dt
dt
∂t
∂ϕ
(3.117)
d.h.
∂U
∂ϕ
(3.118)
∂U
∂ϕ
(3.119)
Θ ϕ̈ = −
woraus durch Vergleich mit (3.113)
M =−
folgt. Die Drehung eines starren Körpers um eine feste Achse ist also
völlig analog zu einer eindimensionalen Translationsbewegung (x =
b ϕ,
m=
b Θ, F =
b M). Gilt Energieerhaltung, d.h. ∂U/∂t = 0, kann die Bewegungsgleichung (3.113) gemäß der für eindimensionale konservative
Systeme gültigen Regel (2.168) integriert werden,
Z
dϕ
p
t=
+ const.
(3.120)
2 [E − U (ϕ)] /Θ
208
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Steinerscher Satz
Der Steinersche Satz stellt den Zusammenhang zwischen den Trägheitsmomenten eines Körpers bezüglich der Drehachse und der parallel zur
Drehachse verschobenen und durch den Massenmittelpunkt verlaufenden Achse her. Aus der Abbildung lesen wir ab:
mν
̺ν
Drehachse
x
̺′ν
̺c
ϑν
xν
Achse durch den Massenmittelpunkt parallel zur Drehachse
Θ=
N
X
mν ̺2ν
=
ν=1
=
d.h.:
N
X
N
X
ν=1
mν ̺′ν 2
|ν=1 {z
Θc
}
mν ̺′ν 2 + ̺2c − 2̺c ̺′ν cos ϑν
+ m ̺2c
− 2̺c
N
X
|ν=1
Θ = Θc + m ̺2c
mν ̺′ν cos ϑν ,
{z
xc = 0
(3.121)
}
(3.122)
Ist das Trägheitsmoment eines Körpers bezüglich einer durch den Massenmittelpunkt gehenden Achse bekannt, so ist es (bei bekannter Gesamtmasse und bekannter Massenmittelpunktslage) bezüglich jeder dazu parallel verschobenen Achse bekannt. Der praktische Vorteil liegt auf
der Hand: Das Trägheitsmoment muß nur einmal berechnet werden.
Zwangskräfte und Zwangsdrehmomente
Gemäß (3.107) und (3.108) gilt für die (äußeren) Zwangskräfte und
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
209
Zwangsdrehmomente
F̃(ext) =
dp
− F(ext) ,
dt
(3.123)
M̃(ext) =
dL
− M(ext) .
dt
(3.124)
Eine wichtige Rolle spielen die F̃(ext) und M̃(ext) für die Fixierung der
Drehachse, die seitens der Achsenlager i. allg. durch Kräfte und Drehmomente gestützt werden muß, bzw. müssen die Achsenlager die entgegengesetzt gleichen Kräfte und Drehmomente aufnehmen können.
Es liegt auf der Hand, daß die Bestimmung der Zwangskräfte und
Zwangsdrehmomente für die Konstruktion technischer Anlagen von
allergrößter Bedeutung ist.
Betrachten wir die gleichförmige Drehbewegung eines Körpers um
eine feste Achse im homogenen Schwerefeld der Erde, wobei wir annehmen wollen, daß die Drehachse die senkrecht zur Erdoberfläche
nach oben gerichtete z-Achse ist. In diesem Fall liefern die Gleichungen
(3.123) und (3.124)
F̃(ext) = mr̈c + mgez
= −m̺c ϕ̇2 e̺ + mgez
(3.125)
[vergleiche (1.83) für ̺˙ = 0 und ϕ̈ = 0] und
M̃(ext) = L̇ + mgrc × ez
= L̇x + mgyc ex + L̇y − mgxc ey
(3.126)
[vergleiche (2.515)]. Die Zwangskraft (3.125) ist gerade die Kraft, die
den Massenmittelpunkt auf eine Kreisbahn vom Radius ̺c in fester
Höhe über der Erdoberfläche zwingt.
Erwartungsgemäß hat das Zwangsdrehmoment keine z-Komponente (nach Voraussetzung soll die Drehung um die z-Achse frei sein).
Wir wollen die Komponenten des zur Achsenfixierung notwendigen
Zwangsdrehmoments, das aus der Drehbewegung selbst resultiert (d.h.
210
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
nicht durch das äußere Drehmoment bedingt ist), noch etwas genauer
untersuchen und die entsprechenden Drehimpulskomponenten berechnen. Wir finden zunächst6
N
N
X
d X
L̇x =
mν (yν żν − zν ẏν ) = −
mν zν ÿν
dt ν=1
ν=1
=
N
X
mν zν ϕ̇2yν ,
(3.127)
ν=1
N
N
X
d X
L̇y =
mν (zν ẋν − xν żν ) =
mν zν ẍν
dt ν=1
ν=1
=−
bzw.
N
X
mν zν ϕ̇2xν
(3.128)
ν=1
L̇x = ϕ̇2Θyz ,
(3.129)
L̇y = −ϕ̇2 Θxz .
(3.130)
Die Größen
Θij =
N
X
mν xνi xνj
ν=1
(i 6= j)
(3.131)
heißen auch Deviationsmomente. Anstelle zeitabhängige Deviationsmomente im raumfesten Koordinationsystem zu benutzen, ist es oft
zweckmäßiger, in ein körperfestes Koordinatensystem überzugehen,
xν = x′ν cos ϕ − yν′ sin ϕ,
6
(3.132)
yν = x′ν sin ϕ + yν′ cos ϕ,
(3.133)
zν = zν′ .
(3.134)
Man beachte, daß für eine Kreisbewegung aus xν = ̺ν cos ϕ und yν = ̺ν sin ϕ die Beziehungen
ẋν = −ϕ̇yν und ẏν = ϕ̇xν folgen, woraus im Falle einer gleichförmigen Kreisbewegung nach einer
weiteren Differentiation die verwendeten Ausdrücke für ẍν und ÿν folgen.
211
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
y′
y
x′, y ′ körperfest
x′
ϕ
x
Drehachse
Damit finden wir
Θxz = Θx′ z ′ cos ϕ − Θy′ z ′ sin ϕ,
(3.135)
Θyz = Θx′ z ′ sin ϕ + Θy′ z ′ cos ϕ,
(3.136)
wobei die (körper- und achsenspezifischen) Deviationsmomente Θx′ z ′
und Θy′ z ′ nunmehr zeitunabhängig sind.
Fazit: Verschwinden für eine gewählte, durch den Massenmittelpunkt
eines (nicht unter dem Einfluß eingeprägter Kräfte stehenden) Körpers
gehende Drehachse die Deviationsmomente, so ist sowohl keine Zwangskraft als auch kein Zwangsdrehmoment notwendig, um die Drehachse
zu stützen und ein Kippen zu verhindern. Ein um eine solche Achse
nach einem Anstoß in Drehung versetzter Körper kann um diese Achse
frei weiterrotieren, da die Achse ihre Lage beibehält. Eine solche Achse
wird auch freie Achse genannt (Abschnitt 3.2.6.6).
3.1.5.5
Atwoodsche Fallmaschine
Wir betrachten zwei Körper (Massenpunkte) m1 und m2 , die an einem
Seil über eine Rolle der Masse m(R) geführt werden, wobei wir annehmen wollen, daß die Haftreibung zwischen Seil und Rolle ein Gleiten
des Seiles verhindert. Von der Bewegung des Seiles selbst wollen wir
absehen (seine Masse soll klein im Vergleich zu den Massen m1 , m2
und m(R) sein). Ferner soll die Bewegung der beiden Punktmassen nur
212
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
längs der y-Achse erfolgen und die Achse der Rolle (Radius R) durch
ihren (festen) Massenmittelpunkt gehen (siehe Abbildung).
y
R
ϕ
z
mR
x
Drehachse
m1
m2
Eingeprägte Kräfte:
F(R) = −m(R) g ey ,
F1 = −m1 g ey ,
F2 = −m2 g ey .
(3.137)
(3.138)
Nebenbedingungen:
x(R)
= yc(R) = zc(R) = 0,
c
(3.139)
ω
~ = ϕ̇ ez ,
(3.140)
x1 = const., x2 = const., z1 = z2 = 0,
(3.141)
y1 − Rϕ = const. (Rollbedingung),
(3.142)
y1 + y2 = const.
(3.143)
(12 Koordinaten, 11 Nebenbedingungen ; 12 − 11 = 1 Freiheitsgrad). Die Nebenbedingungen (3.139) und (3.141) reduzieren das
d’Alembertsche Prinzip zunächst auf
Θϕ̈ δϕ + m1 (ÿ1 + g) δy1 + m2 (ÿ2 + g) δy2 = 0,
(3.144)
213
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
woraus wegen Rδϕ = δy1 [Nebenbedingung (3.142)] und δy1 = −δy2
[Nebenbedingung (3.143)]
Θ
ϕ̈ + m1 (ÿ1 + g) − m2 (ÿ2 + g) δy1 = 0
(3.145)
R
folgt. Da δy1 beliebig ist (d.h. durch keinerlei Bedingung eingeschränkt
ist), muß also der Klammerausdruck verschwinden,
Θ
ϕ̈ + m1 ÿ1 − m2 ÿ2 − (m2 − m1 ) g = 0.
R
(3.146)
Die Gleichung (3.146) zusammen mit den Nebenbedingungen
(3.142) und (3.143) bestimmen die Bewegung der Rolle und der beiden
Massenpunkte. Die Nebenbedingungen (3.139) und (3.141) sind offensichtlich trivial, da sie die Bewegung des Massenmittelpunkts der Rolle und die Bewegung der Massenpunkte in x- und z-Richtung bereits
vollständig festlegen, und die Nebenbedingung (3.140) ist bereits in
(3.146) berücksichtigt. Um die Lösung der Gleichungen (3.142), (3.143)
und (3.146) zu finden, differenzieren wir die Nebenbedingungen (3.142)
und (3.143) zweimal,
ÿ1 − Rϕ̈ = 0,
(3.147)
ÿ1 + ÿ2 = 0,
(3.148)
und können damit in (3.146) z.B. ϕ̈ und ÿ2 durch ÿ1 ausdrücken,
ÿ1 =
m2 − m1
g.
Θ/R2 + m1 + m2
(3.149)
Die Rolle führt also eine gleichförmig beschleunigte Rotation und die
Massenpunkte m1 und m2 gleichförmig beschleunigte Translationen
aus. Mit
Θ
Θ
M1 = m1 +
,
M
=
m
+
(3.150)
2
2
2R2
2R2
lautet (3.149)
M2 − M1
ÿ1 =
g.
(3.151)
M1 + M2
Die Massen m1 , m2 und M1 , M2 unterscheiden sich durch die halbe der
auf den Umfang der Rolle reduzierten Masse Θ/R2. Ist die Rolle
214
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
unbeweglich und gleitet das Seil (reibungsfrei) über die Rolle, ist in den
Ergebnissen diese Zusatzmasse einfach Null zu setzen.
Wir berechnen die Zwangskräfte. Es ist klar, daß wegen der Nebenbedingungen (3.139) und (3.141) die Zwangskräfte
(R)
,
F̃(R) = m(R) r̈(R)
c −F
F̃1 = m1 r̈1 − F1 ,
F̃2 = m2 r̈2 − F2
(3.152)
(3.153)
nur y- Komponenten besitzen können,
F̃(R) = m(R) g ey ,
F̃1 = F̃1y ey ,
F̃2 = F̃2y ey ,
(3.154)
(3.155)
F̃1y = m1 ÿ1 + m1 g
= m1
=2
M2 − M1
g + m1 g
M1 + M2
m1 M1 M2
g
M1 M1 + M2
bzw.
F̃1y = 2
(3.156)
m1
µg
M1
(3.157)
m2
µg.
M2
(3.158)
[µ = M1 M2 /(M1 +M2 )], und analog
F̃2y = 2
Eingeprägte und Zwangskräfte sind äußere Kräfte. Für die Bewegung des Massenmittelpunkts muß also nach dem Massenmittelpunktssatz die Resultante aus eingeprägten Kräften und Zwangskräften ausschlaggebend sein. Dies läßt sich durch direktes Ausrechnen schnell
215
3.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP
verifizieren:
(R)
m + m1 + m2 ÿc = m(R) ÿ (R) + m1 ÿ1 + m2 ÿ2
= m1 ÿ1 − m2 ÿ1 = −
(m1 − m2 )(M1 − M2 )
g
M1 + M2
(m1 + m2 )(M1 + M2 ) − 2m1M2 − 2m2 M1
g
M1 + M2
m1
m2
= −(m1 + m2 )g + 2
µg + 2
µg
M1
M2
(R)
= − m + m1 + m2 g + F̃y(R) + F̃1y + F̃2y .
{z
}
|
{z
} |
F̃y
Fy
=−
(3.159)
Wir wollen an dieser Stelle auf die Berechnung des Zwangsdrehmoments verzichten. Handelt es sich um einen homogenen Zylinder, stellt
die (durch den Massenmittelpunkt gehende) Drehachse eine freie Achse
dar, zu deren Richtungsfixierung es keines Drehmoments bedarf.
3.1.5.6
Physisches Pendel
y
O
Drehachse
ϕ
̺c
Massenmittelpunkt
Schwingungsmittelpunkt
O′
x
OO′ = l
F = mgex
Wir betrachten einen starren Körper, der um eine Achse parallel
zur Erdoberfläche frei beweglich ist. Gemäß (3.113) [mit (2.515)] lautet
216
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
die Bewegungsgleichung
Θ ϕ̈ = Mz = −yc Fx = −̺c mg sin ϕ
(3.160)
bzw.
ϕ̈ = −
̺c mg
sin ϕ
Θ
(3.161)
Die Gleichung (3.161) entspricht genau der eines mathematischen Pendels [Gleichung (3.63)] der Pendellänge
l=
Θ
,
̺c m
(3.162)
so daß alle Ergebnisse des Abschnitts 3.1.5.2 übernommen werden
können.
Wir verwenden den Steinerschen Satz [Gleichung (3.122)] und setzen die reduzierte Pendellänge l in Beziehung zum Trägheitsmoment
bezüglich der parallel verschobenen, durch den Massenmittelpunkt gehenden Achse,
Θc
.
(3.163)
l = ̺c 1 + 2
̺c m
Für gegebenes l gibt es offensichtlich zwei Werte von ̺c , d.h., die möglichen Aufhängepunkte können i. allg. auf zwei verschiedenen Kreisen um
y
(1)
̺c
(1)
(2)
̺c + ̺c = l
(1) (2)
̺c ̺c = Θc /m
(2)
̺c
x
217
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
den Massenmittelpunkt gewählt werden. Wird also speziell der Schwingungsmittelpunkt zum neuen Aufhängepunkt gemacht, ergibt sich die
gleiche Pendelbewegung (und im Falle einer Schwingung natürlich auch
die gleiche Schwingungsdauer). Die Schwingungsdauer ist gegen Änderungen von ̺c am unempfindlichsten, wenn ̺c so gewählt wird, daß
dl
=0
(3.164)
d̺c
gilt, d.h.
(2)
̺c = ̺(1)
c = ̺c =
r
Θc
.
m
(3.165)
Die entsprechende reduzierte Pendellänge
r
Θc
.
(3.166)
l=2
m
ist die kleinstmögliche (Minimumpendel) und gibt damit auch für
die kleinstmögliche Schwingungsdauer Anlaß.
l
l0
5
4
3
l0 =
2
(1)
̺c
l0
3.2
1
2
(2)
̺c
l0
r
Θ0
m
3
4 ̺c
l0
Lagrangesche Gleichungen
Das d’Alembertsche Prinzip liefert die Bewegungsgleichungen nicht explizit. Es müssen zunächst über die r Nebenbedingungen die virtuellen
218
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Verrückungen bestimmt werden, d.h., es müssen r Verrückungen δxi
(i = 1, 2, . . . , r) eliminiert werden, um zu 3N − r = f frei verfügbaren Verrückungen zu gelangen. Erst dann können die Bewegungsgleichungen abgelesen werden. Das d’Alembertsche Prinzip kann jedoch
auch ganz allgemein ausgewertet werden, und es können explizite Bewegungsgleichungen in allgemeiner Form angegeben werden.
3.2.1
Lagrangesche Gleichungen 1. Art
Wir beginnen mit dem d’Alembertschen Prinzip
3N
X
i=1
(mi ẍi − Fi) δxi = 0
(3.167)
[Gleichung (3.21)] und nehmen (bilaterale) anholonome Bedingungen7
3N
X
fki dxi + fk0 dt = 0 (k = 1, 2, . . . , r)
(3.168)
i=1
[Gleichungen (3.9)] an. Wir multiplizieren die k-te Gleichung (3.168)
für dt = 0 mit einem Lagrangeschen Multiplikator λk , summieren über
alle k,
3N
r X
X
λk fki δxi = 0,
(3.169)
k=1 i=1
und subtrahieren das Ergebnis von (3.167). Wir finden
!
3N
r
X
X
λk fki δxi = 0.
mi ẍi − Fi −
i=1
(3.170)
k=1
Von den 3N virtuellen Verrückungen δxi sind 3N − r =f Verrückungen
frei wählbar, während die restlichen r Verrückungen über die Nebenbedingungen (d.h. durch die frei wählbaren Verrückungen) festgelegt
7
Im Falle holonomer Nebenbedingungen sind die fki bekanntlich durch Ableitungen ∂fk /∂xi und
fk0 durch ∂fk /∂t zu ersetzen.
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
219
sind. Wir wählen die r Lagrangeschen Multiplikatoren λk nun so, daß
für die nicht frei wählbaren r virtuellen Verrückungen die Vorfaktoren
in (3.170) verschwinden. Da die restlichen f virtuellen Verrückungen
frei wählbar sind, müssen deren Vorfaktoren in (3.170) ebenfalls verschwinden. Damit erhalten wir als Bewegungsgleichungen die Lagrangeschen Gleichungen 1. Art:
mi ẍi = Fi +
r
X
λk fki
(i = 1, 2, . . . , 3N )
(3.171)
k=1
Die 3N Lagrangeschen Gleichungen 1. Art zusammen mit den r Nebenbedingungen
3N
X
fki ẋi + fk0 = 0 (k = 1, 2, . . . , r)
(3.172)
i=1
[siehe (3.8)] bilden ein System von 3N + r Gleichungen zur Bestimmung der 3N Koordinaten xi und der r Lagrangeschen Multiplikatoren
λk . Der Preis, der für die allgemeine Auswertung des d’Alembertschen
Prinzips in obiger Form zu zahlen ist, besteht offensichtlich in der
zusätzlichen Bestimmung der Lagrangeschen Multiplikatoren, d.h., es
sind nicht 3N sondern 3N + r Gleichungen zu lösen. Aus (3.171) lesen
wir ab, daß die Zwangskräfte F̃i durch die Nebenbedingungen und die
Lagrangeschen Multiplikatoren wie folgt dargestellt werden können:
F̃i =
r
X
λk fki
(3.173)
k=1
Speziell im Fall von holonomen Bedingungen gilt
F̃i =
r
X
k=1
λk
∂fk
.
∂xi
(3.174)
220
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Die Lagrangeschen Gleichungen 1. Art bedeuten offenbar nichts anderes als den analytischen Ausdruck des d’Alembertschen Prinzips in
rechtwinkligen Koordinaten. Sie liefern im Sonderfall, wenn die Beschleunigungen aller Massenpunkte verschwinden, zusammen mit den
Nebenbedingungen eine explizite Form des für das mechanische Gleichgewicht geltenden Prizips der virtuellen Arbeit: Die expliziten Gleichgewichtsbedingungen eines Massenpunktsystems ergeben sich aus den
Lagrangeschen Gleichungen 1. Art und den Nebenbedingungen, wenn
dort ẍi = 0 (i = 1, 2, . . . , 3N ) gesetzt wird.
Lösungsstrategie
• Die 3N Beschleunigungen ẍi aus den Lagrangeschen Gleichungen
1. Art sind in die durch Differentiation der Nebenbedingungen zu
gewinnenden r Gleichungen einzusetzen.
• Diese r Gleichungen sind als Bestimmungsgleichungen für die r
Lagrangeschen Multiplikatoren λk anzusehen und zu lösen ; λk
= λk (xj , ẋj , t).
• Die so erhaltenen λk = λk (xj , ẋj , t) sind in die Lagrangeschen
Gleichungen einzusetzen. Damit sind die Lagrangeschen Multiplikatoren eliminiert (d.h., es werden in den Newtonschen Bewegungsgleichungen analytische Ausdrücke für die Zwangskräfte
eingesetzt, und damit ist das Kraftgestz insgesamt bekannt).
• Die resultierenden 3N Gleichungen, die dann Bewegungsgleichungen im üblichen Sinn der Newtonschen Mechanik darstellen, sind
zu lösen und liefern xi = xi(t).
Beispiel: Massenpunkt auf schiefer Ebene
Wir erinnern an den Abschnitt 3.1.5.1 und die Abbildung auf Seite 194,
aus der wir die eingeprägte Kraft und die Nebenbedingung wie folgt
entnehmen.
Eingeprägte Kraft:
F = −mg ez .
(3.175)
221
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
Nebenbedingung:
f (x, y, z) = z − x tan α = 0
(3.176)
bzw.
∂f
= − tan α,
∂x
∂f
= 1.
∂z
(3.177)
Lagrangesche Gleichungen 1. Art:
mẍ = −λ tan α,
(3.178)
mÿ = 0,
(3.179)
mz̈ = −mg + λ.
(3.180)
Wir folgen der angegebenen Lösungsstrategie und differenzieren die
Nebenbedingung (3.176) zweimal nach der Zeit,
z̈ − ẍ tan α = 0,
(3.181)
und eliminieren mittels der Bewegungsgleichungen (3.178) und (3.180)
ẍ und z̈,
−g +
λ
λ
+
tan2 α = 0,
m m
(3.182)
λ = mg cos2 α.
(3.183)
d.h.
Nunmehr können wir λ in den Bewegungsgleichungen eliminieren,
ẍ = −g sin α cos α,
(3.184)
ÿ = 0,
(3.185)
z̈ = −g sin2 α,
(3.186)
bzw.
z̈
ẍ
=
= s̈,
cos α sin α
(3.187)
222
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
d.h., wir erhalten das bekannte Resultat (3.51),
s̈ = −g sin α.
(3.188)
Für die Zwangskraft gilt gemäß (3.174)
F̃ = λ∇f = mg cos2 α∇(z − x tan α)
(3.189)
bzw. komponentenweise
F̃x = −mg sin α cos α,
(3.190)
F̃y = 0,
(3.191)
F̃z = mg cos2 α,
(3.192)
d.h. exakt das Resultat (3.53) – (3.55). Die Gradientenbildung in
(3.189) bringt unmittelbar zum Ausdruck, daß die Zwangskraft senkrecht auf der für die Bewegung relevanten Fläche der schiefen Ebene
steht.
3.2.2
Energiebilanz
Wir kehren zur Energiebilanz (3.32) zurück,
dT
= P + P̃ .
dt
(3.193)
Mit (3.173) können wir die Leistung der Zwangskräfte
P̃ =
3N
X
F̃i ẋi
(3.194)
i=1
durch die Nebenbedingungen und die Lagrangeschen Multiplikatoren
ausdrücken,
!
3N
r
X
X
λk
P̃ =
fki ẋi ,
(3.195)
k=1
i=1
223
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
wobei
3N
X
fki(xj , t)ẋi + fk0(xj , t) = 0
(3.196)
i=1
gilt [Gleichung (3.8)]. Folglich kann (3.195) als
P̃ = −
r
X
λk fk0
(3.197)
k=1
geschrieben werden, und die Energiebilanz lautet:
r
X
dT
λk fk0
=P−
dt
(3.198)
Ensprechend gilt für holonome Bindungen
r
X
∂fk
dT
λk
=P−
.
dt
∂t
(3.199)
k=1
k=1
Während im Falle skleronomer Bindungen die Änderung der kinetischen Energie eines Massenpunktsystems allein durch die Leistung der
eingeprägten Kräfte bestimmt wird, tragen die aus rheonomen Bindungen resultierenden Zwangskräfte i. allg. zur Leistung bei; sie können
sowohl zu einer Zunahme der Energie des Systems als auch einer Abnahme Anlaß geben. Besitzen die eingeprägten Kräfte ein Potential, so
gilt [vgl. (2.462)]
r
d
∂U X
λk fk0
(T + U ) =
−
dt
∂t
(3.200)
und speziell im Falle von holonomen Bindungen
r
d
∂U X ∂fk
λk
(T + U ) =
−
.
dt
∂t
∂t
(3.201)
k=1
k=1
Ist das System konservativ und skleronom, gilt Energieerhaltung.
224
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
3.2.3
Generalisierte Koordinaten
Wenn ein aus einer hinreichend großen Anzahl von Massenpunkten bestehendes System einer Vielzahl von Bindungen unterliegt, kann die
bisherige Auswertung des d’Alembertschen Prinzips recht aufwendig
werden. So muß unter Umständen eine große Anzahl von Ausgangsgleichungen betrachtet werden, obwohl die Bewegung des Systems relativ
einfach sein kann, da es nur über eine relativ geringe Anzahl von Freiheitsgraden verfügt. Auch bei Systemen, die nur aus wenigen Massenpunkten bestehen, kann eine Verbesserung der Auswertung angebracht
sein. So enthalten die bei der direkten Auswertung des d’Alembertschen
Prinzips nach Elimination der abhängigen virtuellen Verrückungen resultierenden f = 3N − r Bewegungsgleichungen noch alle 3N Koordinaten. Zusammen mit den r Nebenbedingungen bilden sie ein System von 3N Gleichungen, das zu lösen ist. Erst nach Elimination von
r Variablen in den Bewegungsgleichungen mittels der r Nebenbedingungen resultieren die eigentlichen Bewegungsgleichungen für die den
f Freiheitsgraden entsprechenden Variablen. Bei Verwendung der 3N
Lagrangeschen Gleichungen 1. Art entsteht zunächst ein aus 3N + r
Gleichungen bestehendes Gleichungssystem. Elimination der r Lagrangeschen Multiplikatoren mittels der r Nebenbedingungen reduziert dieses auf 3N Bewegungsgleichungen für 3N Variablen, die gelöst werden
müssen – ein Verfahren, was recht mühevoll sein kann. Es macht deshalb Sinn nach einem Lösungsverfahren zu fragen, bei dem die Nebenbedingungen einmal elimiert werden und im Ergebnis dessen genau f
Bewegungsgleichungen für exakt f Variable entstehen, d.h. Bewegungsgleichungen, die nach Art und Anzahl genau den Freiheitsgraden des
Systems entsprechen. Ein solches Verfahren ist für holonome Systeme
möglich und führt auf die Lagrangeschen Gleichungen 2. Art.
Wir betrachten ein aus N Massenpunkten bestehendes System, das
in seiner Bewegungsfreiheit durch r Nebenbedingungen der Form
fk (xj , t) ≡ fk (x1, x2, . . . , x3N , t) = 0 (k = 1, 2, . . . , r)
(3.202)
[Gleichung (3.3)] eingeschränkt ist. Fassen wir das Gleichungssystem
(3.202) als Gleichungssystem zur Bestimmung der xi auf, so sehen wir,
daß f = 3N − r Koordinaten unbestimmt bleiben. Bezeichnen wir diese
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
225
mit xj1 , xj2 , . . . , xjf , so können wir die Lösung von (3.202) als
xi = xi(xj1 , xj2 , . . . , xjf , t) (i = 1, 2, . . . , 3N )
(3.203)
darstellen. Die Koordinaten xj1 , xj2 , . . . , xjf sind offensichtlich durch
keinerlei Nebenbedingungen weiter eingeschränkt. Anstelle der (beliebig wählbaren) f Koordinaten xj1 , xj2 , . . . , xjf können natürlich auch f
beliebige Kombinationen dieser Koordinaten verwendet werden,
qα = qα (xj1 , xj2 , . . . , xjf , t) (α = 1, 2, f ),
(3.204)
die unter Umständen dem System besser angepaßt sind. Wir werden
also ganz allgemein
xi = xi(qα , t) ≡ xi(q1, q2, . . . , qf , t)
(i = 1, 2, . . . , 3N )
(3.205)
schreiben und die keinerlei Nebenbedingungen unterworfenen Koordinaten qα (α=1, 2, . . . , f ) als generalisierte Koordinaten bezeichnen.
Entsprechend heißen die q̇α generalisierte Geschwindigkeiten. Aus
(3.205) folgt durch Differentiation nach der Zeit
ẋi =
f
X
∂xi
α=1
∂qα
q̇α +
∂xi
,
∂t
(3.206)
so daß also
∂xi
∂ ẋi
=
∂ q̇α
∂qα
(3.207)
gilt (man beachte, daß ∂xi/∂qα nicht von den generalisierten Geschwindigkeiten abhängt).
Ohne sie so zu benennen, haben wir schon bei vielen Beispielen generalisierte Koordinaten verwendet. So kann die Winkelkoordinate ϕ
bei der Drehung eines starren Körpers um eine feste Achse (Abschnitt
3.1.5.4) natürlich als generalisierte Koordinate aufgefaßt werden. Im
Falle eines auf einer schiefen Ebene abgleitenden Massenpunkts (Abschnitt 3.1.5.1) stellen s, y generalisierte Koordinaten dar.
226
3.2.4
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Lagrangesche Gleichungen 2. Art
Wir verwenden (3.205) und drücken die virtuellen Verrückungen δxi
durch die virtuellen Verrückungen δqα aus,
δxi =
f
X
∂xi
α=1
∂qα
δqα ,
(3.208)
und setzen das Egebnis in (3.167) ein:
3N
X
i=1
(mi ẍi − Fi )
f
X
∂xi
α=1
δqα = 0
(3.209)
#
(3.210)
∂qα
bzw.
" 3N
f
X
X
α=1
i=1
∂xi
δqα = 0.
∂qα
(mi ẍi − Fi)
Da die f virtuellen Verrückungen δqα frei wählbar sind, liefert das
d’Alembertsche Prinzip zunächst die f Bewegungsgleichungen
3N
X
i=1
(mi ẍi − Fi)
∂xi
= 0 (α = 1, 2, . . . , f ).
∂qα
(3.211)
Wir wollen diese Gleichungen noch etwas umschreiben und beginnen
mit dem ersten Term auf der linken Seite:
3N
X
i=1
3N
d X
∂xi
=
mi ẋi
mi ẍi
∂qα
dt i=1
3N
3N
X
∂xi
∂ ẋi
−
mi ẋi
∂qα
∂qα
i=1
|{z}
∂ ẋi/∂ q̇α
3N
∂ ẋi
∂ ẋi X
d X
−
mi ẋi
mi ẋi
=
dt i=1
∂ q̇α i=1
∂qα
3N
3N
∂ X1
d ∂ X1
2
=
mi ẋi −
mi ẋ2i ,
2
2
dt ∂ q̇α i=1
∂qα i=1
| {z }
| {z }
T
T
(3.212)
227
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
d.h.
3N
X
i=1
mi ẍi
d ∂T
∂T
∂xi
=
−
,
∂qα
dt ∂ q̇α ∂qα
(3.213)
wobei die kinetische Energie als Funktion der generalisierten Koordinaten und Geschwindigkeiten sowie der Zeit angesehen werden kann,
T = T (qα , q̇α , t).
(3.214)
Der zweite Term in (3.211) definiert die generalisierten Kräfte
Φα = Φα (qα , q̇α , t) =
3N
X
i=1
Fi
∂xi
.
∂qα
(3.215)
Somit lauten die Bewegungsgleichungen (3.211):
∂T
d ∂T
−
= Φα
dt ∂ q̇α ∂qα
(α = 1, 2, . . . , f )
(3.216)
Besitzen die (eingeprägten) Kräfte Fi ein Potential U = U (xi, t),
Fi = −
∂U
,
∂xi
(3.217)
dann kann Φα in (3.215) als
3N
X
∂U
∂U ∂xi
=−
Φα = −
∂xi ∂qα
∂qα
i=1
(3.218)
geschrieben werden. Die potentielle Energie kann als Funktion der generalisierten Koordinaten und der Zeit angesehen werden,
U = U (qα , t),
(3.219)
∂U
=0
∂ q̇α
(3.220)
und folglich gilt
228
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
und somit auch
Φα = −
d ∂U
∂U
+
.
∂qα dt ∂ q̇α
(3.221)
Wir setzen Φα aus (3.221) in (3.216) ein und erhalten
d ∂L
∂L
−
= 0 (α = 1, 2, . . . , f )
dt ∂ q̇α ∂qα
(3.222)
mit
L = L(qα , q̇α , t) = T − U
(3.223)
als der Lagrange-Funktion des Systems.8 Die Gleichungen (3.223)
für holonome Systeme, die ein Potential besitzen, bzw. die Gleichungen (3.216) für holonome Systeme, die kein Potential besitzen, stellen f gewöhnliche Differentialgleichungen 2. Ordnung zur Bestimmung
der qα (t) dar. Sie heißen Lagrangesche Gleichungen 2. Art oder
auch kurz nur Lagrangesche Gleichungen. Wie gewünscht, entspricht
die Anzahl der Gleichungen genau der Anzahl der Freiheitsgrade, und
die Nebenbedingungen treten nicht mehr explizit auf.
Vorgehensweise:
• Es sind in der kinetischen Energie und der potentiellen Energie
(bzw. im Kraftgesetz) des Systems die 3N Koordinaten xi und zugehörigen Geschwindigkeiten ẋi des freien Systems entsprechend
den r holonomen Nebenbedingungen durch f generalisierte Koordinaten qα und zugehörigen generalisierte Geschwindigkeiten q̇α
auszudrücken.
• Es ist die Lagrange-Funktion L = T − U aufzustellen (bzw. das
Kraftgesetz für die generalisierten Kräfte zu formulieren).
8
Jedes System kann durch Vergrößerung“ zu einem System gemacht werden, für das eine
”
Lagrange-Funktion existiert.
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
229
• Die f Lagrangeschen Gleichungen (3.222) [bzw. (3.216)] sind aufzustellen und zu lösen.
• Falls notwendig, können aus den erhaltenen qα =qα (t) die xi =xi(t)
= xi[qα (t), t] bestimmt werden und über die ẍi(t) gemäß (3.20)
dann die Zwangskräfte.
Es ist klar, daß sich die Lagrangeschen Gleichungen sowohl auf holonom gebundene als auch freie Systeme anwenden lassen. Für die Lagrangeschen Gleichungen in der Form (3.222) ist nur wichtig, daß die
eingeprägten Kräfte ein Potential besitzen, was natürlich auch explizit
zeitabhängig sein kann. Die formale Gestalt der Lagrangeschen Gleichungen ist völlig unabhängig von der Wahl der generalisierten Koordinaten. Die Größen
pα =
∂L
∂T
=
∂ q̇α
∂ q̇α
(3.224)
heißen auch generalisierte Impulse, und es gilt
ṗα =
∂T
∂L
=
+ Φα ,
∂qα
∂qα
(3.225)
d.h., die zeitliche Änderung der generalisierten Impulse ist durch die
jeweilige generalisierte Kraft und die Ableitung der kinetischen Energie
nach der jeweiligen generalisierten Koordinate gegeben.
Für ein freies System mit Potentialkräften kann die LagrangeFunktion in der Form
L=
3N
X
i=1
1
2
2 mi ẋi
− U (x1, x2, . . . , x3N , t)
(3.226)
angegeben werden. Hier stimmen die generalisierten Impulse mit den
gewöhnlichen Impulsen überein,
∂L
= mi ẋi = pi ,
∂ ẋi
(3.227)
und die generalisierten Kräfte mit den gewöhnlichen Kräften,
∂L
∂U
=−
= Fi .
∂xi
∂xi
(3.228)
230
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Erwartungsgemäß liefern die Lagrangeschen Gleichungen (3.222) die
Newtonschen Bewegungsgleichungen des freien Systems,
d ∂L
∂L
−
= ṗi − Fi = 0.
dt ∂ ẋi ∂xi
(3.229)
Anholonome Systeme
Wir betrachten ein anholonomes System mit gemischten (bilateralen)
Bindungen. Nehmen wir an, es liegen r holonome Bedingungsgleichungen und r′ anholonome Bedingungsgleichungen vor. Die holonomen Bedingungsgleichungen können wie oben angegeben verarbeitet werden.
Es verbleibt das d’Alembertsche Prinzip in einer der Gleichung (3.210)
entsprechenden Form, d.h.
f X
d ∂T
∂T
−
− Φα δqα = 0
dt
∂
q̇
∂q
α
α
α=1
(3.230)
f X
∂L
d ∂L
−
δqα = 0
dt
∂
q̇
∂q
α
α
α=1
(3.231)
bzw.
zusammen mit r′ (r′ ≤ f ) anholonomen Bedingungsgleichungen
f
X
′
flα
dqα + fl0′ dt = 0 (l = 1, 2, . . . , r′)
(3.232)
α=1
′
und fl0′ sind i. allg. Funktionen der gene[siehe (3.9)]. Die Größen flα
ralisierten Koordinaten und der Zeit derart, daß keine integrierenden
Faktoren gefunden werden können, die aus den Gleichungen (3.232)
vollständige Differentiale machen. Auf Grund der r′ Nebenbedingungen sind also nur f ′ = f − r′ virtuelle Verrückungen δqα unabhängig
voneinander. Allerdings kann die Anzahl der notwendigen Koordinaten
qα selbst nicht kleiner als f gemacht werden, da sich die Differentialgleichungen der r′ verbliebenen Nebenbedingungen nicht in endliche
Gleichungen überführen lassen, aus denen dann weitere r′ Koordinaten eliminiert werden könnten. Diese Tatsache wird verbal dadurch
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
231
zum Ausdruck gebracht, daß man sagt, daß das anholonome System
im Endlichen f und im Infinitesimalen nur f ′ = f − r′ Freiheitsgrade
besitzt.
Die weitere Auswertung der Gleichungen (3.230) bzw. (3.231) und
(3.232) kann wie in den Beispielen im Abschnitt 3.1.5 erfolgen. Sie
kann natürlich auch im Sinne der Lagrangeschen Gleichungen 1. Art
(Abschnitt 3.2.1) erfolgen:
r′
X
d ∂T
∂T
λl flα
−
= Φα +
dt ∂ q̇α ∂qα
(3.233)
l=1
bzw.
r′
X
∂L
d ∂L
λl flα .
−
=
dt ∂ q̇α ∂qα
(3.234)
l=1
Diese Gleichungen zusammen mit den Nebenbedingungen liefern die erforderliche Anzahl von Gleichungen zur Bestimmung der Koordinaten
qα und der Lagrangeschen Multiplikatoren λl . Langrangesche Gleichungen vom gemischten Typ können natürlich auch für holonome Systeme
aufgestellt werden, wenn es wünschenswert ist, mit mehr Koordinaten
als Freiheitsgraden zu arbeiten.
Mehrdeutig bestimmte Lagrange-Funktion
Wir betrachten zwei Lagrange-Funktionen L(qα, q̇α , t) und L′ (qα , q̇α, t)
mit
L′ = L +
d
R(qα , t)
dt
(3.235)
[R(qα , t) - beliebige Funktion der generalisierten Koordinaten und der
Zeit]. Dann gilt
f
∂R
dR X ∂R
=
q̇α +
,
dt
∂q
∂t
α
α=1
(3.236)
∂L
∂R
∂L′
=
+
,
∂ q̇α
∂ q̇α ∂qα
(3.237)
232
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
d ∂L′
d ∂L
∂ dR
=
+
,
dt ∂ q̇α
dt ∂ q̇α ∂qα dt
(3.238)
∂L′
∂L
∂ dR
=
+
,
∂qα
∂qα ∂qα dt
(3.239)
d ∂L′ ∂L′
d ∂L
∂L
−
=
−
.
dt ∂ q̇α ∂qα
dt ∂ q̇α ∂qα
(3.240)
und folglich finden wir
Die Lagrange-Funktionen L und L′ führen also auf die gleichen Bewegungsgleichungen (Eichtransformation). Mit anderen Worten, die
Lagrange-Funktion eines Systems ist bis auf die totale zeitliche Ableitung einer beliebigen Funktion der Koordinaten und der Zeit bestimmt.
3.2.5
Erhaltungssätze und Symmetrien
Erhaltungssätze für physikalische Größen können als Ausdruck von
Symmetrien angesehen werden: Die Lagrange-Funktion des Systems ist
invariant gegenüber den entsprechenden Symmetrietransformationen.
Erhaltungssatz, der aus der Homogenität der Zeit folgt.
Im Falle eines abgeschlossenen Systems hängt die Lagrange-Funktion
nicht explizit von der Zeit ab.9 Dieser Sachverhalt bringt die Tatsache zum Ausdruck, daß die Lagrange-Funktion eines abgeschlossenen
Systems invariant gegenüber einer zeitlichen Translation
t → t + δt
(3.241)
ist. Ist L = L(qα , q̇α , t) die Lagrange-Funktion eines Systems, so gilt für
eine zeitliche Translation
L(qα, q̇α , t+δt) = L(qα , q̇α , t) + δL,
δL =
9
∂L
δt.
∂t
Ein abgeschlossenes Systems besitzt in der Regel eine Lagrange-Funktion.
(3.242)
(3.243)
233
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
D.h., δL verschwindet dann und nur dann, wenn die partielle Ableitung der Lagrange-Funktion nach der Zeit verschwindet – die LagrangeFunktion also nicht explizit von der Zeit abhängt,
∂L
= 0.
(3.244)
∂t
Die Invarianz der Lagrange-Funktion gegenüber einer zeitlichen Translationen ist Ausdruck der Homogenität der Zeit.
Wir wollen die Frage beantworten, was diese Symmetrie physikalisch
bedeutet:
f dL X ∂L
∂L
∂L
=
q̇α +
q̈α +
dt
∂qα
∂ q̇α
∂t
α=1
δL = 0
←→
f
∂L
d X ∂L
q̇α +
=
dt α=1 ∂ q̇α
∂t
bzw.
f
X
∂L
q̇α − L
∂
q̇
α
α=1
d
dt
d.h.
∂L
=0
∂t
;
!
=−
(3.245)
∂L
,
∂t
f
X
∂L
q̇α − L = const.
∂
q̇
α
α=1
(3.246)
(3.247)
Invarianz der Lagrange-Funktion gegenüber einer zeitlichen Translationen führt also auf den Erhaltungssatz (3.247).
Da nur die kinetische Energie von den Geschwindigkeiten abhängt,
folgt sofort, daß
f
f
X
X
∂T
∂L
q̇α =
q̇α
∂
q̇
∂
q̇
α
α
α=1
α=1
(3.248)
T (qα , λq̇α ) = λ2 T (qα , q̇α ),
(3.249)
gilt. Ganz allgemein ist bei Vorliegen skleronomer Bindungen die kinetische Energie eine homogene Funktion 2. Grades in den q̇α ,10
10
Dies kann insbesondere für ein abgeschlossenes System angenommen werden.
234
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
so daß (nach dem Eulerschen Theorem über homogene Funktionen)
f
X
∂T
q̇α = 2T
∂
q̇
α
α=1
(3.250)
f
X
∂L
q̇α − L = 2T − (T − U ) = T + U = E.
∂
q̇
α
α=1
(3.251)
ist. Damit erhalten wir
Energieerhaltung ist also Ausdruck der Invarianz der LagrangeFunktion eines abgeschlossenen Systems gegenüber einer zeitlichen
Translation, d.h. Ausdruck der Homogenität der Zeit,
∂L
=0
∂t
;
dE
=0
dt
;
E = const.
(3.252)
Es ist klar, daß Energieerhaltung nicht nur für abgeschlossene Systeme gilt, sondern auch für Systeme gelten kann, die sich in äußeren Kraftfeldern befinden. Bedingung ist, daß die äußeren eingeprägten
Kräfte konservativ sind und nur skleronome Bindungen auftreten. Handelt es sich um zeitabhängige Potentialkräfte, so nimmt die Bilanzgleichung (3.246) im Falle skleronomer Bindungen die Form der Energiebilanz an:
∂L
dE
=−
dt
∂t
(3.253)
Erhaltungssatz, der aus der Homogenität des Raumes folgt.
Im Falle eines abgeschlossenen Systems kann die Lagrange-Funktion
nicht von den absoluten Koordinaten der Massenpunkte, sondern
nur von ihren gegenseitigen Abständen abhängen. Die LagrangeFunktionen muß also bei einer beliebigen räumlichen Translation δr
invariant sein,
rν → rν + δr
;
L → L + δL,
(3.254)
235
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
δL =
N
X
ν=1
δL = 0
δr · ∇rν L,
N
X
;
(3.255)
∇rν L = 0.
(3.256)
ν=1
Die Invarianz der Lagrange-Funktion gegenüber einer räumlichen
Translation ist Ausdruck der Homogenität des Raumes. Führen
wir die Translationsvariable r als eine generalisierte Koordinate ein, so
hängt die Lagrange-Funktion offensichtlich nicht von dieser Koordinate
ab,
∂L
= ∇r L = 0,
(3.257)
∂r
und es muß folglich
d
d ∂L
= ∇ṙ L = 0
dt ∂ ṙ
dt
;
∂L
= const.
∂ ṙ
(3.258)
N
X
dṙ · ∇ṙν L + · · ·
(3.259)
gelten. Da in
dL =
N
X
ν=1
dr · ∇rν L +
ν=1
die Ableitungen von L nach ṙν die Ableitungen von T nach ṙν sind,
finden wir
N
N
N
X
X
∂L X
pν = p.
mν ṙν =
∇ṙν T =
=
∂ ṙ
ν=1
ν=1
ν=1
(3.260)
Invarianz der Lagrange-Funktionen gegenüber einer räumlichen Translation bedeutet also Erhaltung des Gesamtimpulses des Systems:
p = const.
(3.261)
236
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Erhaltungssatz, der aus der Isotropie des Raumes folgt.
Isotropie des Raumes bedeutet, daß sich die Physik eines abgeschlossenen Systems bei einer Drehung des Systems nicht ändert. Mit anderen
Worten, bei einer Transformation
rν → rν + δrν ,
δrν = δ ϕ
~ × rν ,
L → L + δL
(3.262)
(3.263)
soll die Lagrange-Funktion ungeändert bleiben,
δL = 0,
(3.264)
d.h.
δL =
N
X
ν=1
~·
δrν · ∇rν L = δ ϕ
N
X
ν=1
rν × ∇rν L = 0
(3.265)
Fassen wir für eine gewählte (momentan als fest gedachte) Achse
den Drehwinkel ϕ als generalisierte Koordinate auf, so gilt
∂L
= 0,
∂ϕ
(3.266)
und wir finden
d ∂L
=0
dt ∂ ϕ̇
;
∂L
= const.
∂ ϕ̇
(3.267)
Da dies für die Drehung um eine beliebige Achse gilt, ist die Größe, die
erhalten bleibt, der Drehimpuls des Systems, wie unschwer zu sehen
ist,
N h
i
X
˙
dL =
(d~
ϕ × rν ) · ∇rν L + (dϕ
~ × rν ) · ∇ṙν L + · · ·
(3.268)
ν=1
= d~
ϕ·
N
X
ν=1
rν × ∇rν L + dϕ
~˙ ·
N
X
ν=1
rν × p ν + · · · ,
(3.269)
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
237
d.h.,
N
N
X
X
∂L
Lν = eω · L
rν × pν = eω ·
= eω ·
∂ ϕ̇
ν=1
ν=1
(3.270)
(eω - Einheitsvektor in Richtung der Drehachse). Invarianz der
Lagrange-Funktionen gegenüber einer räumlichen Drehung um eine beliebige Achse bedeutet also Erhaltung des Gesamtdrehimpulses des Systems:
L = const.
(3.271)
Zyklische Koordinaten
Wir wollen wieder annehmen, daß ausgehend von den kartesischen Koordinaten und unter Berücksichtigung möglicher Nebenbedingungen geeignete (systemangepaßte) generalisierte Koordinaten eingeführt wurden. Ändert sich bei einer Transformation
qα → qα + δqα ,
L → L + δL = L +
∂L
δqα ,
∂qα
(3.272)
(3.273)
die Lagrange-Funktion nicht, dann hängt sie offensichtlich nicht von qα
ab,
δL = 0
←→
∂L
= 0,
∂qα
(3.274)
so daß wegen
d ∂L
=0
dt ∂ q̇α
(3.275)
∂L
= const.
∂ q̇α
(3.276)
der Erhaltungssatz
238
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
gilt. Generalisierte Koordinaten, von denen die Lagrange-Funktion
nicht abhängt, heißen zyklische Koordinaten. Sie stellen Symmetriekoordinaten des Systems dar und geben Anlaß zu Erhaltungssätzen.
Beispiel: Bewegung im homogenen Kraftfeld
Wir betrachten die Bewegung eines Massenpunktsystems in einem homogenen Kraftfeld längs der z-Achse,
Fν = cν ez ,
(3.277)
und schreiben die Lagrange-Funktion in Zylinderkoordinaten auf,
L = T − U,
T =
1
2
N
X
ν=1
U=
1
2
N
X
ν,µ=1
(3.278)
mν ̺˙2ν + ̺2ν ϕ̇2ν + żν2 ,
Uνµ (|rν −rµ |) −
N
X
cν zν
(3.279)
(3.280)
ν=1
[vgl. (2.454)], wobei
|rν − rµ |2 =|rν |2 + |rµ |2 − 2rν · rµ
= ̺2ν + ̺2µ + zν2 + zµ2 − 2zν zµ
− 2̺ν ̺µ cos(ϕν −ϕµ )
(3.281)
gilt. Wir führen neue Koordinaten ψν ein:
ϕ1 =
N
X
ψν ,
(3.282)
ν=1
ϕν = ψ1 − ψν
(ν = 2, 3, . . . , N ).
(3.283)
Offensichtlich hängen die Differenzwinkel ϕν − ϕµ nicht von ψ1 ab, und
wegen (3.280) und (3.281) hängt also auch die potentielle Energie nicht
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
239
von ψ1 ab. Da ferner die kinetische Energie nicht von den ϕν und damit
auch nicht von den ψν abhängt, ist ψ1 zyklische Variable, und es gilt
der Erhaltungssatz
∂L
= const.
∂ ψ̇1
(3.284)
Wir finden
N
N
X ∂L ∂ ϕ̇ν X ∂L
∂L
=
=
∂
ϕ̇
∂ ϕ̇ν
∂ ψ̇1
∂
ψ̇
ν
1
ν=1
ν=1
=
N
X
mν ̺2ν ϕ̇ν = Lz = const.
(3.285)
ν=1
Die Erhaltungsgröße ist die z-Komponente des Drehimpulses.
Beispiel: Zwei-Körper-Problem
Wir betrachten zwei Massenpunkte, die über eine abstandsabhängige
Zentralkraft miteinander wechselwirken (z.B. Planet und Zentralgestirn
vermittels der Gravitationskraft). Wie wir wissen, gilt in diesem Fall
der Impulserhaltungssatz. Die Massenmittelpunktskoordinaten müssen
folglich zyklische Koordinaten und das Zwei-Körper-Problem auf ein
Einköperproblem zurückführbar sein. Die Lagrange-Funktion lautet
zunächst
L = 21 m1 |ṙ1 |2 + 12 m2 |ṙ2 |2 − U (|r2 −r1|).
(3.286)
Wir führen Relativ- und Massenmittelpunktkoordinaten ein (siehe Abschnitt 2.3.7),
r2 − r1 = r,
(3.287)
m1 r1 + m2 r2 = mrc
(3.288)
(m = m1 + m2 ), woraus
m2
r,
m
m1
r
r2 = rc +
m
r1 = rc −
(3.289)
(3.290)
240
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
folgt. Damit ergibt sich
m22 2
m2
ṙc · ṙ,
|ṙ|
−
2
m2
m
(3.291)
m1
m21 2
ṙc · ṙ,
|ṙ2 | = |ṙc | + 2 |ṙ| + 2
m
m
(3.292)
|ṙ1 |2 = |ṙc |2 +
2
2
1
2 m1 |ṙ1 |
2
+ 12 m2 |ṙ2 |2 =
2
1
2 m|ṙc |
+ 12 µ|ṙ|2
(3.293)
(µ - reduzierte Masse), und die Lagrange-Funktion (3.286) nimmt die
Gestalt
L = 12 m|ṙc |2 + 12 µ|ṙ|2 − U (|r|)
(3.294)
an. Sie setzt sich additiv aus der Lagrange-Funktion für die Massenmittelpunktsbewegung und der Lagrange-Funktion für die Relativbewegung zusammen, wobei, wie erwartet, die Massenmittelpunktskoordinaten zyklische Koordinaten sind.
3.2.6
Spezielle Probleme
Die Lagrangeschen Gleichungen 2. Art bzw. die vom gemischten Typ
bedeuten in bezug auf Anwendungen eine der weitreichendsten und
brauchbarsten Methoden, die in der Mechanik bekannt sind. Die
Stärke des Formalismus wird insbesondere bei schwierigen technischmechanischen Problemen deutlich, bei denen Bindungen und Zwangskräfte der verschiedensten Art vorkommen, aber auch bei relativ einfachen Problemstellungen kann die Verwendung der Lagrangeschen Gleichungen von beträchtlichem Vorteil sein.
3.2.6.1
Beschleunigung in beliebigen Koordinaten
Unabhängig davon, ob es sich um gebundene oder freie Systeme handelt, können die für ein Problem gewählten (von kartesischen Koordinaten abweichenden) Koordinaten immer auch als generalisierte Koordinaten angesehen werden. Ein Beispiel ist die Beschreibung der Bewegung eines Massenpunktes in beliebigen Koordinaten xi (siehe Ab-
241
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
schnitt 1.2). Es sei L = L(xi, ẋi) die Lagrange-Funktion in diesen generaliserten Koordinaten und dazugehörigen generalisierten Geschwindigkeiten. Mit der Geschwindigkeit
ṙ = ẋi gi
(3.295)
ergibt sich für die kinetische Energie
T = 21 m gik ẋiẋk .
(3.296)
Die Lagrangeschen Gleichungen lauten
d ∂L
∂L
d ∂T
∂T
∂U
−
=
−
+
=0
dt ∂ ẋi ∂xi
dt ∂ ẋi ∂xi ∂xi
(3.297)
bzw.
∂T
d ∂T
−
dt ∂ ẋi ∂xi
= −gi ·∇U = gi ·F,
(3.298)
(3.299)
woraus r̈ = gi (gi ·r̈) mit
1
gi ·r̈ =
m
∂T
d ∂T
− i
i
dt ∂ ẋ
∂x
folgt. Speziell für den Fall orthogonaler Koordinaten gilt
gi = λi ei ,
(3.300)
und (3.301) lautet
1
ei ·r̈ =
mλi
d ∂T
∂T
−
dt ∂ ẋi ∂xi
(3.301)
Verglichen mit den Gleichungen (1.64) und (1.69), sind die Gleichungen
(3.299) und (3.301) wesentlich einfacher auszuwerten, da die explizite
Differentiation der Basisvektoren entfällt.
242
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Beispiel: Zylinderkoordinaten (x1 = ̺, x2 = ϕ, x3 = z)
ds2 = d̺2 + ̺2 dϕ2 + dz 2 ,
(3.302)
λ̺ = 1, λϕ = ̺, λz = 1,
(3.303)
T = 21 m ̺˙2 + ̺2 ϕ̇2 + ż 2 .
̺-Komponente:
∂T
= m̺,
˙
∂ ̺˙
d ∂T
= m¨
̺,
dt ∂ ̺˙
1
m
∂T
d ∂T
−
dt ∂ ̺˙
∂̺
∂T
= m̺ϕ̇2 ,
∂̺
= ̺¨ − ̺ϕ̇2 = e̺ ·r̈.
(3.304)
(3.305)
(3.306)
ϕ-Komponente:
d ∂T
∂T
∂T
= m̺2 ϕ̇,
= m̺2 ϕ̈ + 2m̺̺˙ ϕ̇,
= 0,
∂ ϕ̇
dt ∂ ϕ̇
∂ϕ
1
̺m
3.2.6.2
∂T
d ∂T
−
dt ∂ ϕ̇
∂̺
= ̺¨
̺ + 2̺˙ ϕ̇ = eϕ ·r̈.
(3.307)
(3.308)
Massenpunkt im beschleunigten Bezugssystem
Es seien x, y, z und ẋ, ẏ, ż die kartesischen Koordinaten und Geschwindigkeiten eines Massenpunkts im Inertialsystem sowie x′ , y ′ , z ′ und
ẋ′, ẏ ′ , ż ′ die Koordinaten und Geschwindigkeiten in einem beliebig beschleunigten Bezugssystem (siehe Abschnitt 2.1.5 und die dort verwendeten Bezeichnungen). Die Größen x′ , y ′, z ′ und ẋ′, ẏ ′ , ż ′ können
natürlich auch als generalisierte Koordinaten und Geschwindigkeiten
aufgefaßt werden. Um die Lagrange-Funktion in diesen Variablen aufzustellen, gehen wir in einem ersten Schritt vom Inertialsystem in ein
rein translatorisch beschleunigtes Bezugssystem über. Mit
ṙ = ṙ0 + ṙ′
= ṙ0 + ẋ′ ex + ẏ ′ ey + ż ′ ez
(3.309)
243
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
finden wir für die kinetische Energie
T = 12 m|ṙ0 + ṙ′ |2
= 21 m|ṙ0 |2 + mṙ0 · ṙ′ + 12 m|ṙ′ |2
d
(3.310)
ṙ0 ·r′ − mr̈0 ·r′ + 12 m|ṙ′ |2 .
dt
Da die Lagrange-Funktion nur bis auf die totale zeitliche Ableitung
einer beliebigen Funktion der Koordinaten bestimmt ist, finden wir:
= 21 m|ṙ0 |2 + m
L = 12 m|ṙ′ |2 − mr̈0 ·r′ − U
(3.311)
Nunmehr lassen wir auch eine Drehung des bewegten Bezugssystems
zu. Dazu haben wir gemäß (2.29) in (3.311) die Ersetzung11
ṙ′ 7→ ṙ′ + ~ω × r′ .
(3.312)
vorzunehmen:
L = 12 m|ṙ′ |2 − mr̈0 ·r′ + mṙ′ ·(~ω × r′ )
(3.313)
+ 12 m|~ω × r′ |2 − U
Wir wollen uns überzeugen, daß die Lagrange-Funktion (3.313) auf
die Bewegungsgleichung (2.43) führt. Die Rechnung wird am übersichtlichsten, wenn wir zunächst das Differential von L für dt = 0 aufschreiben:
dL = mṙ′ ·dṙ′ − mr̈0 ·dr′ + mṙ′ ·(~ω × dr′ )
+ m(~ω × r′ )·dṙ′ + m(~ω × r′)·(~ω × dr′ ) − (∇U )·dr′
= − [mr̈0 + m ~ω × ṙ′ + m~ω × (~ω × r′ ) + ∇U ]·dr′
+ (mṙ′ + m ~ω × r′ )·dṙ′ .
11
(3.314)
Beachte, daß nach der Ersetzung zeitliche Ableitungen gestrichener Größen im Sinne eines Beobachters im bewegten Koordinatensystem zu bilden sind.
244
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Aus dieser Gleichung lesen wir ab:
d ∂L
d
d
= ∇ṙ′ L =
(mṙ′ + m ω
~ × r′ )
′
dt ∂ ṙ
dt
dt
= mr̈′ + m ω
~˙ × r′ + m ~ω × ṙ′ ,
−
(3.315)
∂L
= −∇r′ L
∂r′
= mr̈0 + m ω
~ × ṙ′ + m~ω × (~ω × r′ ) + ∇U.
(3.316)
Damit lautet die (vektorielle) Lagrangesche Gleichung
d ∂L ∂L
− ′ = mr̈′ + m ω
~˙ × r′ + m ω
~ × ṙ′
′
dt ∂ ṙ
∂r
+ mr̈0 + m ~ω × ṙ′ + m~ω × (~ω × r′ ) + ∇U = 0. (3.317)
Mit F = −∇U ist dies genau die im Abschnitt 2.1.5 hergeleitete Gleichung (2.43).
3.2.6.3
Kugelpendel
Wir betrachten die Bewegung eines Körpers (Massenpunkts), der am
Ende einer masselosen“ Stange befestigt ist, die im Schwerefeld der
”
Erde an einem festen Punkt drehbar aufgehängt ist.
z
l
Drehpunkt
ϑ
ϕ
x
m
F
̺
y
245
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
Kinetische Energie:
T = 21 m ẋ2 + ẏ 2 + ż 2
2
2 2
2
2
2
1
= 2 m ṙ + r ϑ̇ + r sin ϑ ϕ̇ .
(3.318)
Potentielle Energie:
U = mgz = mgr cos ϑ.
(3.319)
r = l = const.
(3.320)
Nebenbedingung:
Lagrange-Funktion:
L=T −U =
2
1
2 ml
Lagrangesche Gleichungen:
2
2
ϑ̇ + sin ϑ ϕ̇
2
− mgl cos ϑ.
(3.321)
d 2 d ∂L
=
ml ϑ̇ = ml2 ϑ̈,
dt ∂ ϑ̇
dt
(3.322)
∂L
= ml2 sin ϑ cos ϑ ϕ̇2 + mgl sin ϑ,
∂ϑ
(3.323)
d ∂L ∂L
= ml2ϑ̈ − ml2 sin ϑ cos ϑ ϕ̇2 − mgl sin ϑ = 0,
−
dt ∂ ϑ̇ ∂ϑ
(3.324)
d.h.:12
l
g
ϑ̈ − sin ϑ 1 + cos ϑ ϕ̇2 = 0
l
g
12
(3.325)
Für ϕ̇ = 0 geht die Gleichung (3.325) in die Bewegungsgleichung (3.63) des Kreispendels über
(ϑ → 2π − ϑ).
246
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
d
d ∂L
ml2 sin2 ϑ ϕ̇
=
dt ∂ ϕ̇ dt
= 2ml2 sin ϑ cos ϑ ϑ̇ϕ̇ + ml2 sin2 ϑ ϕ̈,
∂L
= 0,
∂ϕ
(3.326)
(3.327)
d ∂L ∂L
−
= 2ml2 sin ϑ cos ϑ ϑ̇ϕ̇ + ml2 sin2 ϑ ϕ̈ = 0,
dt ∂ ϕ̇ ∂ϕ
(3.328)
d.h.:
sin ϑ ϕ̈ + 2 cos ϑ ϑ̇ϕ̇ = 0
(3.329)
Die Integration der Bewegungsgleichungen (3.325) und (3.329) kann
mit Hilfe des Energieerhaltungssatzes und des Erhaltungssatzes für
die z-Komponente des Drehimpulses13 erfolgen (siehe Abschnitt 2.2.5).
Ausdruck letzteren ist die Tatsache, daß ϕ zyklische Variable ist und
somit
∂L
= ml2 sin2 ϑ ϕ̇ = const.
{z
}
∂ ϕ̇ |
Lz
(3.330)
gilt. Energieerhaltung bedeutet
E =T +U
2
2
2
2
1
= 2 ml ϑ̇ + sin ϑ ϕ̇ + mgl cos ϑ = const.
(3.331)
Aus (3.330) ergibt sich dann für ϕ̇
Lz
ϕ̇ =
ml2 sin2 ϑ
13
;
L2z
ϕ̇ = 2 4 4 ,
m l sin ϑ
2
Das homogene Schwerefeld der Erde liefert keine z-Komponente des Drehmoments.
(3.332)
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
247
und dies in (3.331) eingesetzt liefert eine Differentialgleichung nur für ϑ,
2 2
1
2 ml ϑ̇
L2z
+ mgl cos ϑ = E.
+
2ml2 sin2 ϑ
(3.333)
Wir setzen
z = l cos ϑ
;
ż = −l sin ϑ ϑ̇,
(3.334)
d.h.
ż 2
ż 2
ϑ̇ = 2 2 = 2
.
l sin ϑ l − z 2
2
(3.335)
Mit (3.334) und (3.335) geht (3.333) in eine Differentialgleichung für z
über,
L2z
ml2ż 2
+
+ mgz = E
2(l2 − z 2 ) 2m(l2 − z 2 )
(3.336)
bzw.
ż 2 =
2
V (z)
m
(3.337)
mit
1
L2z
2
2
V (z) = 2 (l − z )(E − mgz) −
.
l
2m
Separation der Variablen liefert t = t(z) in integraler Form,
Z
dz
p
t=
+ const.
2V (z)/m
(3.338)
(3.339)
Ist t = t(z) bekannt, kann über die Umkehrfunktion z = z(t) bestimmt
werden [und daraus dann auch ϑ = ϑ(t)]. Aus (3.332) und (3.334) folgt
ϕ̇ =
Lz
,
m(l2 − z 2 )
(3.340)
248
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
und es gilt
dϕ dϕ dz
=
,
dt
dz dt
(3.341)
Lz
dϕ
=
dz
m(l2 − z 2 )ż
(3.342)
ϕ̇ =
d.h.
bzw. mit (3.337)
dϕ
Lz
p
=
.
dz
m(l2 −z 2 ) 2V (z)/m
Separation der Variablen liefert dann ϕ = ϕ(z),
Z
Lz dz
p
ϕ=
+ const.
m(l2 −z 2 ) 2V (z)/m
(3.343)
(3.344)
Mit z = z(t) kann dann ϕ als Funktion von t berechnet werden. Damit ist die gestellte Aufgabe prinzipiell gelöst. Die Integrale in (3.339)
und (3.344) sind elliptische Integrale und können auf Tabellenwerte
zurückgeführt werden.
Wichtige Eigenschaften der Bewegung können auch hier wieder aus
den Erhaltungssätzen abgeleitet werden, ohne die verbliebenen Integrale explizit auszuwerten. Dazu untersuchen wir die (in der Wurzel
in den Integralnennern auftretende) Funktion V (z) [Gleichung (3.338)]
etwas näher. Da ż 2 ≥ 0 ist und entsprechend (3.334)
−l ≤ z ≤ l
(3.345)
gilt, muß V (z) als Polynom dritten Grades in z in einem gewissen,
zwischen −l und l liegenden Intervall positiv sein.14 Dieses Intervall
wird durch die zwei kleinsten Wurzeln z1 und z2 der Gleichung V (z) = 0
festgelegt (siehe die Abbildung). Die dritte Wurzel liegt offensichtlich
außerhalb l, da
V (l) = −L2z /(2ml2) < 0 und V (∞) > 0
14
(3.346)
Die in V (z) auftretenden Konstanten E und Lz können immer so gewählt werden, daß diese
Forderung erfüllt ist.
249
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
0.8
0.6
V
mgl
0.4
(1)
0.2
−1
−0.5
0
−0.2
0.5
1
1.5
(2)
−0.4
z
l
(3)
−0.6
−0.8
E/(mgl) = 0.5; L2z /(2m2gl3 ) = 0 (1), 0.5 (2), 0.6 (3)
.
ist. Nur die zwischen z1 und z2 liegenden Punkte sind physikalisch sinnvoll, d.h., die z-Koordinate des Massenpunkts kann sich nur zwischen z1
und z2 und die Winkelkoordinate ϑ nur zwischen den entsprechenden
Werten ϑ1 und ϑ2 ändern. Der Massenpunkt muß sich also stets inz
l
m
z2
z1
nerhalb zweier Breitenkreise bewegen. Diese Breitenkreise werden auch
tatsächlich am Ende jedes Aufstiegs bzw. Abstiegs erreicht. Für den
Augenblick der Umkehr gilt ż = 0 und folglich V (z) = 0, d.h., z = z1 , z2.
250
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Ferner gilt wegen (3.340) und (3.345)
ϕ̇ > 0
(3.347)
(Lz > 0), d.h., der Winkel ϕ kann nicht abnehmen und ändert sich
folglich nur in einer Richtung.15
Die Zeit, die der Massenpunkt benötigt, um von seiner höchsten
Lage z2 zu seiner tiefsten Lage z1 zu gelangen, kann völlig analog zum
Kreispendel als das Viertel der vollen Schwingungsdauer T (bzgl. der
Bewegung der z-Koordinate) aufgefaßt werden (vgl. Abschnitt 3.1.5.2).
Aus (3.339) folgt
Z z2
dz
p
T = 4l
.
(3.348)
2V
(z)/m
z1
Die Bewegung insgesamt ist i. allg. nicht periodisch. Zwar wird ein
gegebener Winkel ϑ nach der Zeit T wieder angenommen, doch ändert
sich der Winkel ϕ in dieser Zeit nicht um 2π, so daß der Ausgangspunkt
der Bewegung nicht wieder erreicht wird. Gemäß (3.344) ergibt sich für
die Änderung von ϕ während der Zeit T
Z
dz
4lLz z2
p
(3.349)
∆ϕ = 2π + δϕ =
m z1 (l2 −z 2 ) 2V (z)/m
(δϕ - Abweichung von der periodischen Bewegung). Die Bewegung ist
also i. allg. nur bedingt periodisch; sie wird dann periodisch, wenn
δϕ/(2π) eine rationale Zahl ist (siehe Abschnitt 1.3.3.2, LissajousFiguren).
Kleine Auslenkungen
Im Falle kleiner Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage,
y x
≪ 1, ≪ 1,
l
l
(3.350)
gilt
15
2
2
p
x
+y
z = − l2 − (x2 +y 2 ) ≈ −l 1 − 21
,
l2
ϕ̇ = 0 ist nur für Lz = 0 möglich.
(3.351)
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
251
und die Lagrange-Funktion lautet (näherungsweise)
L≈
1
m
2
h
i
g 2
2
.
x +y
ẋ + ẏ −
l
2
2
(3.352)
Es ist leicht zu sehen, daß in diesem Fall die Lagrangeschen Gleichungen
die Bewegungsgleichungen zweier harmonischer Oszillatoren sind:
d ∂L ∂L
−
= 0 ; ẍ + ω 2 x = 0,
dt ∂ ẋ ∂x
d ∂L ∂L
−
= 0 ; ÿ + ω 2 y = 0,
dt ∂ ẏ
∂y
ω2 =
g
.
l
(3.353)
(3.354)
(3.355)
Die Bewegung ist also eine Überlagerung zweier zueiander senkrecht
stehender harmonischer Schwingungen gleicher Frequenz (Abschnitt
1.3.3.2). Im Falle kleiner Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage und
beliebiger Phasendifferenz beider Schwingungen bewegt sich der Endpunkt des Kugelpendels (näherungsweise) mit der Periodendauer T =
2π/ω auf einer horizontalen Ellipse, deren Form und Lage durch die
Anfangsbedingungen festgelegt sind.
3.2.6.4
Sympathisches Pendel
Wir betrachten die Bewegung eines Doppelpendels in der Ebene (siehe Abbildung), wobei wir die Pendelstäbe wieder als (im Vergleich zu
den Pendelkörpern nahezu) masselos ansehen wollen. Als generalisierte
Koordinaten wählen wir die Winkel ϕ1 und ϕ2. Es gilt
252
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
x
l1
ϕ1
Achsen
senkrecht zur Papierebene
m1
ϕ2
l2
m2
y
x1 = l1 sin ϕ1 ,
y1 = l1 cos ϕ1 ,
(3.356)
(3.357)
x2 = l1 sin ϕ1 + l2 sin ϕ2 ,
y2 = l1 cos ϕ1 + l2 cos ϕ2 ,
(3.358)
(3.359)
ẋ1 = l1 ϕ̇1 cos ϕ1 ,
ẏ1 = −l1ϕ̇1 sin ϕ1 ,
(3.360)
(3.361)
ẋ2 = l1 ϕ̇1 cos ϕ1 + l2 ϕ̇2 cos ϕ2 ,
ẏ2 = −l1ϕ̇1 sin ϕ1 − l2ϕ̇2 sin ϕ2 .
(3.362)
(3.363)
Damit lautet die potentielle Energie
U = −m1 gy1 − m2 gy2
= −(m1 + m2 )gl1 cos ϕ1 − m2 gl2 cos ϕ2 ,
(3.364)
und für die kinetische Energie ergibt sich
T = 12 m1 ẋ21 + ẏ12 + 12 m2 ẋ22 + ẏ22
= 21 (m1 + m2 ) l12 ϕ̇21 + 12 m2 l22ϕ̇22
+ m2 l1l2 ϕ̇1ϕ̇2 cos(ϕ1 − ϕ2).
(3.365)
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
253
Mit L = T − U folgt dann
∂L
= −m2 l1 l2ϕ̇1 ϕ̇2 sin(ϕ1 − ϕ2)
∂ϕ1
− (m1 + m2 )gl1 sin ϕ1
∂L
= m2 l1 l2ϕ̇1 ϕ̇2 sin(ϕ1 − ϕ2)
∂ϕ2
− m2 gl2 sin ϕ2
∂L
= (m1 + m2 )l12ϕ̇1
∂ ϕ̇1
+ m2 l1l2 ϕ̇2 cos(ϕ1 − ϕ2)
∂L
= m2 l22 ϕ̇2 + m2 l1 l2ϕ̇1 cos(ϕ1 − ϕ2 ).
∂ ϕ̇2
(3.366)
(3.367)
(3.368)
(3.369)
Die Lagrangeschen Gleichungen
∂L
d ∂L
−
= 0,
dt ∂ ϕ̇1 ∂ϕ1
(3.370)
d ∂L
∂L
−
=0
dt ∂ ϕ̇2 ∂ϕ2
(3.371)
führen somit auf die Bewegungsgleichungen:
(m1 + m2 ) l12 ϕ̈1 + + m2 l1 l2ϕ̈2 cos(ϕ1 − ϕ2 )
+ m2 l1 l2ϕ̇22 sin(ϕ1 − ϕ2 ) + (m1 + m2 ) gl1 sin ϕ1 = 0
m2 l22ϕ̈2 + m2 l1 l2ϕ̈1 cos(ϕ1 − ϕ2 )
− m2 l1l2 ϕ̇21 sin(ϕ1 − ϕ2) + m2 gl2 sin ϕ2 = 0
(3.372)
254
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
(3.373)
Speziell in Linearisierungsnäherung (kleine Auslenkungen und kleine Geschwindigkeiten) vereinfachen sich die Gleichungen (3.372) und
(3.373) zu
(m1 + m2 ) l12ϕ̈1 + m2 l1 l2ϕ̈2 + (m1 + m2 ) gl1 ϕ1 = 0,
m2 l22ϕ̈2 + m2 l1l2 ϕ̈1 + m2 gl2 ϕ2 = 0
(3.374)
(3.375)
bzw.
ϕ̈1 +
g
m2 l2
ϕ1 = −
ϕ̈2 ,
l1
m1 + m2 l1
(3.376)
l1
g
ϕ2 = − ϕ̈1 .
l2
l2
(3.377)
ϕ̈2 +
Die Gleichungen beschreiben die Bewegung zweier über die Beschleunigung (linear) gekoppelter harmonischer Oszillatoren. Sie können über
den Standardansatz
ϕ1 = Aeiωt ,
ϕ2 = Beiωt
(3.378)
gelöst werden. Die Bewegung beider Pendel entspricht dann der Summe
zweier harmonischer Schwingungen i. allg. verschiedener Frequenzen,
Phasen und Amplituden.
3.2.6.5
Auf einer schiefen Ebene abrollender Zylinder
Wir wollen die Bewegung eines auf einer schiefen Ebene abrollenden
zylinderförmigen Körpers untersuchen und zunachst den allgemeinen
Fall betrachten, daß der Massenmittelpunkt nicht auf der Zylinderachse
liegt. Gemäß (2.465) lautet die kinetische Energie
T =
2
1
2 m|ṙ0 |
+
N
X
ν=1
′ 2
1
2 mν |ṙν |
+ mṙ0 · ṙ′c,
(3.379)
255
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
y
eϕ
e̺
̺c
ϕ
h
R
r0
es
s
α
x
wobei für die Rotationsbewegung gemäß (3.99)
ṙ′ν = ~ω × r′ν
(3.380)
mit
~ω = ϕ̇ ez
ṙ0 = ṡ es
(3.381)
gilt und die Rollbedingung
ṡ + Rϕ̇ = 0 ; ϕ̇ = −
ṡ
s
; ϕ = − + const.
R
R
(3.382)
bzw. für ϕ(s = 0) = 0
ϕ=−
s
R
(3.383)
zu beachten ist. Damit sowie (3.115) und
ṙ0 · ṙ′c = ṙ0 ·(~ω × r′c ) = (ṡ es )·(ϕ̇ ez × ̺c e̺ )
= (ṡ es )·(̺cϕ̇ eϕ ) = −̺c ṡϕ̇ sin ϕ
(3.384)
ergibt sich die kinetische Energie als
T = 12 mṡ2 + 21 Θϕ̇2 − m̺c ṡϕ̇ sin ϕ
s
ṡ2
ṡ2
2
1
1
sin
.
= 2 mṡ + 2 Θ 2 − m̺c
R
R
R
(3.385)
256
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Die potentielle Energie lautet
U = mgyc = mg [h − s sin α − ̺c sin(α − ϕ)]
h
s i
= mg h − s sin α − ̺c sin α +
,
R
(3.386)
und somit stellt
s ̺c
Θ
sin
ṡ2
L = m + 2 − 2m
R
R
R
h
s i
+ mg s sin α + ̺c sin α +
R
1
2
(3.387)
die Lagrange-Funktion des Systems dar.
Aus (3.387) folgt
s
̺c
∂L
= − m 2 cos
ṡ2
∂s
R
R
h
s i
̺c
,
cos α +
+ mg sin α +
R
R
s ∂L
̺c
Θ
= m + 2 − 2m
sin
ṡ,
∂ ṡ
R
R
R
(3.388)
(3.389)
und die Bewegungsgleichung
d ∂L ∂L
−
=0
dt ∂ ṡ
∂s
(3.390)
nimmt die Form
s ̺c
Θ
sin
s̈
m + 2 − 2m
R
R
R
h
s
̺c
s i
̺c
2
ṡ − mg sin α +
=0
cos α+
− m 2 cos
R
R
R
R
(3.391)
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
257
an.16 Wir wollen die Bewegungsgleichung für den einfachen Fall eines
homogenen Zylinders auswerten. In diesem Fall ist offensichtlich ̺c = 0,
und die Bewegungsgleichung lautet
Θ
m + 2 s̈ = mg sin α.
(3.392)
R
Mit dem Trägheitsmoment
Z
Θ = ρ dV ̺2
Z R
= ρl2π
d̺ ̺3 = ρl2πR4/4 = 21 R2 m
(3.393)
0
finden wir dann
s̈ = 23 g sin α.
(3.394)
Die Beschleunigung eines auf einer schiefen Ebene abrollenden homogenen Zylinders beträgt also nur zwei Drittel der Beschleunigung des
Körpers, wenn er auf der schiefen Ebene reibungsfrei abgleitet.
Anmerkungen
(1) Wahl der Drehachse
Wir schreiben (3.392) als
1
1
2
s̈
=
Θ
+
mR
ΘP s̈ = mg sin α
{z
}
R2 |
R2
ΘP
(3.395)
bzw. (ṡ = −Rϕ̇)
ΘP ϕ̈ = −mgR sin α.
(3.396)
Gemäß dem Steinerschen Satz [Gleichung (3.122)] ist ΘP offensichtlich
das Trägheitsmoment bezüglich der Achse P entlang der Berührungslinie zwischen Zylinder und schiefer Ebene.
16
Die Differentialgleichung (3.391) ersetzt gewissermaßen die einfache Differentialgleichung (3.51)
für den punktförmigen Körper im Sinne eines reibungsfrei abgleitenden Körpers.
258
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
FR
Achse durch den
Berührungspunkt
Achse durch den
Massenmittelpunkt
P
F
(2) Haftreibung
Wir schreiben (3.392) noch etwas anders um,
mR2
ms̈ =
mg sin α
Θ + mR2
= mg sin α − mg sin α +
mR2
mg sin α
Θ + mR2
Θ
mg sin α
Θ + mR2
Θ
mg sin α.
= mg sin α −
ΘP
= mg sin α −
(3.397)
Hier ist
F = mg sin α es
(3.398)
die Komponente der Schwerkraft in der schiefen Ebene, die ein reines
Abgleiten des Zylinders bewirken würde, und
F′ = FR = −
Θ
mg sin α es
ΘP
(3.399)
ist offenbar eine von der schiefen Ebene (d.h. der Unterlage des Zylinders) aufzubringende Zwangskraft, die notwendig ist, damit der Zylinder rollt und nicht einfach abgleitet. Diese Zwangskraft heißt auch
Haftreibung (oder Haftreibungskraft).
Wir bezeichnen mit |FR |max den größten Betrag der Haftreibung, die
die Unterlage aufbringen kann. Wie die Erfahrung besagt, ist |FR |max
von der Berührungsebene unabhängig und proportional zum Betrag der
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
259
Normalkraft |FN |, mit der die beiden Berührungsflächen gegeneinander
gedrückt werden,
|FR |max = µ0 |FN |
(3.400)
(µ0 - Haftreibungskoeffizient). Der Zylinder kann also nur dann rollen, wenn die Bedingung
|FR | ≤ |FR |max
(3.401)
erfüllt ist. Mit
|FN | = mg cos α
;
|FR |max = µ0 mg cos α
(3.402)
sowie (3.399) lautet die Bedingung (3.401)
Θ
mg sin α ≤ µ0 mg cos α,
ΘP
(3.403)
ΘP
Θ/m + R2
tan α ≤ µ0
= µ0
Θ
Θ/m
(3.404)
d.h.
p
( Θ/m - Trägheitsradius um die Massenmittelpunktsachse). Gilt
anfangs anstatt der Rollbedingung |ṡ| = R|ϕ̇|)
|ṡ| > R|ϕ̇|,
(3.405)
so wird die Abwärtsbewegung des Zylinders zunächst mit einer Gleitbewegung verbunden sein, und diese Art der Bewegung wird (wegen
der durch Reibung verusachten Abbremsung) nach einer gewissen Zeit
in eine reine Rollbewegung umschlagen oder nicht, je nachdem ob die
Bedingung (3.404) erfüllt ist oder nicht. Ist umgekehrt zu Beginn
|ṡ| < R|ϕ̇|,
(3.406)
so wird zunächst eine mit Gleiten verbundene Aufwärtsbewegung zu
beobachten sein, die nach einer gewissen Zeit mit Sicherheit aufhören
und in eine Abwärtsbewegung übergehen wird. Diese ist dann eine reine
260
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Rollbewegung, wenn die Bedingung (3.404) erfüllt ist. Andernfalls setzt
eine Bewegung vom zuerst genannten Typ ein.
(3) Gleitreibung
Wir wollen einen Körper betrachten, der (beispielsweise wegen seiner
Geometrie) nicht rollen, sondern nur gleiten kann. Im Falle eines reibungsfreien Abgleitens wäre dann
s̈ = g sin α
(3.407)
[Gleichung (3.51)]. Damit der Körper tatsächlich gleiten kann, muß
zunächst die Haftreibung überwunden werden. Dazu muß die Bedingung
mg sin α ≥ |FR |max = µ0 mg cos α
(3.408)
tan α ≥ µ0 .
(3.409)
tan α0 = µ0
(3.410)
erfüllt sein, d.h.
Das durch
definierte α0 bestimmt den Neigungswinkel der schiefen Ebene, bei dem
das Gleiten gerade einsetzt.
Wenn der Körper dann gleitet, übt der Untergrund reibungsbedingt
eine bremsende Wirkung auf den Körper aus. Die der Gleitreibung
zuzuschreibende Kraft ist der Geschwindigkeit des Körpers entgegengerichtet, und ihr Betrag kann typischerweise proportional dem Betrag
der zur Fläche senkrechten Druckkraft angesetzt werden,
FS = −µ |FN |
ṙ
|ṙ|
(3.411)
(µ - Gleitreibungskoeffizient). Anstelle von (3.407) gilt also für die
gleitende Bewegung17
s̈ = g (sin α − µ cos α) .
17
(3.412)
Bei einer Aufwärtsbewegung ist in den folgenden Gleichungen µ durch −µ zu ersetzen.
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
261
Aus dieser Gleichung ist ersichtlich, daß sich der (in Bewegung gesetzte
Körper) im weiteren unbeschleuningt bewegt, wenn für den Neigungswinkel der schiefen Ebene
tan β = µ.
(3.413)
gilt. Diese als Reibungswinkel bezeichnete, recht anschauliche Größe
wird oft anstelle von µ zur Kennzeichnung der Gleitreibung verwendet,
und die Bewegungsgleichung (3.412) wird in der Form
s̈ = g
sin(α−β)
cos β
(3.414)
geschrieben.
(4) Rollreibung
Kehren wir wieder zu unserem rollenden Zylinder zurück. Auch hier übt
der Untergrund eine bremsende Wirkung auf die Bewegung des Körpers
aus, die Rollreibung. Zylinder und Unterlage berühren sich gegenseitig infolge ihrer Deformation längs einer Fläche, und daraus läßt sich ein
bremsendes Drehmoment MR ableiten, dessen Betrag erfahrungsgemäß
proportional dem Betrag der Normalkraft gesetzt werden kann,18
MR = −µR |FN |
~ω
|~ω |
(3.415)
(µR - Rollreibungskoeffizient). Der Rollreibungskoeffizient als eine
Länge heißt auch Radius der Rollreibung. Die dadurch modifizierte
Bewegungsgleichung erhalten wir am einfachsten aus (3.396), indem wir
dort das Drehmoment der Schwerkraft durch das Reibungsdrehmoment
ergänzen,
ΘP ϕ̈ = −mg (R sin α − µR cos α) .
(3.416)
Insbesondere erfordert gleichförmiges Abrollen (ϕ̈=0) eine schiefe Ebene mit dem Winkel
µR
tan γ =
(3.417)
R
(große Räder rollen leichter“ als kleine).
”
18
Der Vollständigkeit wegen sei neben Gleit- und Rollreibung auch noch die Bohrreibung
erwähnt, die zu einem Drehmoment senkrecht zur Berührungsebene Anlaß gibt, dessen Betrag ebenfalls als proportional zum Betrag der Normalkraft angenommen werden kann.
262
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
3.2.6.6
Grundlagen der Kreiseltheorie
Aus Abschnitt 3.1.5.3 wissen wir, daß die Bewegungsgleichungen eines (frei beweglichen) starren Körpers durch die Impulsbilanz und die
Drehimpulsbilanz gegeben sind,
dp
= F = F(ext) ,
dt
dL
= M = M(ext)
dt
(3.418)
(3.419)
[Gleichungen (3.105) und (3.106)]. Ehe wir uns mit diesen Gleichungen
etwas näher beschäftigen, ist es zweckmäßig, zunächst einige Vorbetrachtungen anzustellen.
Trägheitstensor
Gemäß (2.466) kann die kinetische Energie eines Massenpunktsystems
mν
z
rν
Rν
Z
x
Y
X
y
Rc
raumfestes
Koordinatensystem
Koordinatensystem
im Massenmittelpunkt
des Körpers
in der Form
T =
2
1
2 m|Ṙc |
+
N
X
ν=1
2
1
2 mν |ṙν |
(3.420)
geschrieben werden, wenn der Bezugspunkt der Massenmittelpunkt des
Systems ist. Wie dazu bereits im Abschnitt 2.3.3 festgestellt, setzt sich
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
263
die kinetische Energie aus der kinetischen Energie der Translationsbewegung des im Massenmittelpunkt vereinigt gedachten Systems und
der kinetischen Energie der Massenpunkte relativ zum Massenmittelpunkt zusammen. Für einen starren Körper bedeutet dies, daß sich die
kinetische Energie aus der kinetischen Energie der Translationsbewegung und der kinetischen Energie der Rotation zusammensetzt. Gemäß
(3.99) gilt
ṙν = ~ω × rν ,
(3.421)
T = Ttr + Tr ,
(3.422)
Ttr = 21 m|Ṙc |2 ,
(3.423)
und wir finden:
Tr =
N
X
1
ω
2 mν |~
N
X
1
2 mν
ν=1
=
ν=1
× rν |2
|~ω |2 |rν |2 − (~ω ·rν )2 .
(3.424)
Wir wollen den Ausdruck für die Rotationsenergie noch etwas umformen. Wir schreiben
|~ω |2 |rν |2 = (~ω ·~ω )(rν ·rν )
= ωi ω i (xν )j (xν )j = gik (xν )j (xν )j ω i ω k ,
(~ω ·rν )2 = ω i (xν )i ω k (xν )k ,
|~ω |2 |rν |2 − (~ω ·rν )2
= gik (xν )j (xν )j − (xν )i(xν )k ω i ω k ,
(3.425)
(3.426)
(3.427)
264
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
definieren den Trägheitstensor
Θik =
N
X
ν=1
mν gik (xν )j (xν )j − (xν )i(xν )k
(3.428)
und können damit die Rotationsenergie in die Form
Tr = 12 Θik ω i ω k
(3.429)
bringen. In kartesischen Koordinaten stellen die Diagonalelemente die
bereits eingeführten Trägheitsmomente bezüglich der Koordinatenachsen dar, und die Nichtdiagonalelemente sind die ebenfalls bereits bekannten Deviationsmomente (Abschnitt 3.1.5.4). In den Gleichungen
(3.420) – (3.429) ist das dem starren Körper zugeordnete Koordinatensystem nur insoweit spezifiziert, daß der Ursprung mit dem Massenmittelpunkt des starren Körpers zusammenfällt. Die Achsen können
sowohl mit dem starren Körper fest verbundenen als auch raumfest
orientiert sein. Es ist klar, daß nur im ersten Fall der Trägheitstensor
zeitunabhängig und damit eine rein körperspezifische Größe ist. Aus
der Definition ist ersichtlich, daß der Trägheitstensor symmetrisch ist,
Θik = Θki .
(3.430)
Der Trägheitstensor kann mittels einer Fläche zweiter Ordnung veranschaulicht werden, und zwar durch das Trägheitsellipsoid. Ist Θ
das Trägheitsmoment bezüglich der Achse, um die (momentan) die
Drehung erfolgt, so kann die kinetische Energie der Rotation als
Tr = 12 Θ ω 2
(3.431)
geschrieben werden [Gleichung (3.115)], und der Vergleich mit (3.429)
liefert
Θik ω i ω k = Θ ω 2
(3.432)
265
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
bzw.
ωk
ωi
√
= Θik y i y k = 1
Θik √
Θ|~ω | Θ|~ω |
(3.433)
A ξ 2 + B η 2 + C ζ 2 = 1.
(3.435)
√
[y i = ω i /( Θ|~ω |)]. Dies ist aber gerade die Gleichung eines Ellipsoids. Bekanntlich kann sie durch eine Hauptachsentransformation vereinfacht werden, indem das Koordinatensystem so gelegt wird, daß seine
(ξ, η, ζ)-Achsen mit den Achsen des Ellipsoids zusammenfallen,


A 0 0
(3.434)
Θik =
b  0 B 0 ,
0 0 C
Die Größen A, B, C heißen Hauptträgheitsmomente des Körpers.
z
√
1/ C
~
1 ω
√
Θ |~ω |
y
√
1/ B
x
√
1/ A
Sie sind die Trägheitsmomente bezüglich der Hauptträgheitsachsen
des Körpers. Im Hauptachsensystem nimmt die kinetische Energie der
Rotation die einfache Form
Tr = 12 A p2 + B q 2 + C r2
(3.436)
266
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
an, wobei p ≡ ωξ , q ≡ ωη und r ≡ ωζ die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit im Hauptachsensystem bezeichnen,
ω
~ = p eξ + q eη + r eζ .
(3.437)
Hinsichtlich ihres Trägheitstensors werden starre Körper üblicherweise in drei Klassen eingeteilt. Bei einem unsymmetrischen Kreisel
sind alle drei Hauptträgheitsmonente verschieden voneinander (A 6= B
6= C). Stimmen zwei Hauptträgheitsmomente überein (z.B. A = B 6=
C), liegt ein symmetrischer Kreisel vor, dessen Trägheitsellipsoid
ein Rotationsellipsoid ist. Stimmen alle drei Hauptträgheitsmomente
überein (A = B = C), handelt es sich um einen Kugelkreisel.
Eulersche Gleichungen
Als nächstes wollen wir die Drehimpulsbilanz (d.h. die drei für die Rotation zuständigen Bewegungsgleichungen des starren Körpers) unter
Verwendung des Trägheitstensors in eine etwas andere Form bringen.
Wir gehen von der Definition des Drehimpulses aus,
L=
N
X
ν=1
mν rν × ṙν ,
(3.438)
legen den Bezugspunkt wieder in den Massenmittelpunkt des Körpers
und finden mit (3.421):
L=
N
X
mν rν × (~ω × rν )
N
X
mν ~ω |rν |2 − rν (rν ·~ω ) ,
ν=1
=
ν=1
bzw. komponentenweise
Li =
N
X
ν=1
=
N
X
ν=1
(3.439)
mν ωi (xν )j (xν )j − (xν )i (xν )k ω k
mν gik (xν )j (xν )j − (xν )i (xν )k ω k ,
(3.440)
267
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
d.h.
Li = Θik ω k
(3.441)
Die Komponenten des Drehimpulses sind also lineare Funktionen der
Komponenten der Winkelgeschwindigkeit, wobei dieser Zusammenhang
durch den Trägheitstensor vermittelt wird. Speziell im Hauptachsensystem gilt [mit der Bezeichnung (3.437)]
L = A p eξ + B q eη + C r eζ .
(3.442)
Wir wollen uns den Zusammenhang zwischen Drehimpuls und Winkelgeschwindigkeit mit Hilfe des Trägheitsellipsoids veranschaulichen.
Mit
f (y j ) = Θik y i y k − 1
(3.443)
lautet die Gleichung des Trägheitsellipsoids
f (y j ) = 0,
(3.444)
∼ ~ω
∼L
ζ
η
ξ
268
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
woraus mit (3.441)
2
∂f
k
√
=
2Θ
y
=
Li
ik
∂y i
Θ|~ω |
(3.445)
folgt. Der Gradient an das Trägheitsellipsoid ist also proportional zum
Drehimpuls.
Mit (3.441) liefert die Drehimpulsbilanz (3.419) die Bewegungsgleichungen für die Rotation in der Form
d
Θik ω k = Mi .
dt
(3.446)
Diese Gleichungen gelten [im Gegensatz zu (3.441)] natürlich nur in
dem (im Massenmittelpunkt des Körpers verankerten) Koordinatensystem, dessen Achsen raumfest orientiert sind (zur Rolle des Bezugspunkts für die Drehimpulsbilanz siehe Abschnitt 2.3.6). Wie bereits
bemerkt, besteht der Nachteil raumfest orientierter Achsen des im
Massenmittelpunkt des Körpers verankerten Koordinatensystems darin, daß der Trägheitstensor zeitabhängig ist und die zeitliche Differentiation in (3.446) sowohl die Winkelgeschwindigkeit als auch den
Trägheitstensor erfaßt. Einfacher wird die Situation, wenn die Drehimpulsbilanz im körperfesten Koordinatensystem (mit Ursprung im
Massenmittelpunkt) aufgeschrieben wird und als körperfestes Koordinatensystem das Hauptachsensystem gewählt wird. Gemäß (2.33) gilt
für den Zusammenhang der zeitlichen Ableitungen in beiden Koordinatensystemen
dL d′ L
=
+ ~ω × L,
dt
dt
(3.447)
so daß die Drehimpulsbilanz für einen Beobachter im körperfesten Koordinatensystem
d′ L
+ ~ω × L = M
dt
(3.448)
lautet. In Komponenten lautet (3.448)
L̇i + ǫikl ω k Ll = Mi
(3.449)
269
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
bzw. unter Berücksichtigung des Zusammenhangs (3.441) von Drehimpuls und Winkelgeschwindigkeit
Θik ω̇ k + ǫikl ω k Θln ωn = Mi .
(3.450)
Die zunächst immer noch recht kompliziert aussehenden drei Gleichungen (3.450) nehmen im Hauptachsensystem [mit den Bezeichnungen
(3.437) und (3.442)] eine recht einfache Gestalt an:
A ṗ + (C − B) q r = Mξ
(3.451)
B q̇ + (A − C) r p = Mη
C ṙ + (B − A) p q = Mζ
Dies sind die Eulerschen Gleichungen. Sie stellen die Bilanzgleichungen für die Komponenten des Drehimpulses im mitrotierenden Hauptachsensystem des starren Körpers dar.
Die Orientierung des mitrotierenden Bezugssystems relativ zum
raumfesten Bezugssystem kann durch die Eulerschen Winkel ϑ, ψ, ϕ
beschrieben werden. In der Abbildung sind x, y, z die kartesischen Koz
η
ζ
ξ
ϑ
ψ
ϕ
Knotenlinie
x
y
270
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
ordinaten des Koordinatensystems fester Achsenorientierung bzgl. des
Inertialsystems und ξ, η, ζ die kartesischen Koordinaten des körperfesten (d.h. mit dem Körper mitrotierenden) Koordinatensystems.
(1) Drehung um die Knotenlinie K (ϕ, ψ fest; ϑ variabel):
~ωK = ϑ̇ eK = ϑ̇ (cos ψ eξ − sin ψ eη ) .
(3.452)
(2) Drehung um die z-Achse (ϑ, ψ fest; ϕ variabel):
~ωz = ϕ̇ ez
= ϕ̇ (sin ϑ sin ψ eξ + sin ϑ cos ψ eη + cos ϑ eζ ) .
(3.453)
(3) Drehung um die ζ-Achse (ϑ, ϕ fest; ψ variabel):
~ωζ = ψ̇ eζ .
(3.454)
ω
~ = ~ωK + ~ωz + ~ωζ
(3.455)
Wir setzen in
die Ausdrücke (3.452) – (3.454) ein, vergleichen mit (3.437) und finden:
p = ϕ̇ sin ϑ sin ψ + ϑ̇ cos ψ
q = ϕ̇ sin ϑ cos ψ − ϑ̇ sin ψ
r = ϕ̇ cos ϑ + ψ̇
(3.456)
Kombination von (3.456) und (3.451) liefert dann die Bewegungsgleichungen für die Rotationsbewegung in der Form eines Differentialgleichungssystems zweiter Ordnung zur Bestimmung der Eulerschen Winkel ϑ, ϕ, ψ als Funktionen der Zeit. In gewissen einfachen Fällen (wie
beispielsweise für Mξ = Mη = Mζ = 0) lassen sich die Eulerschen Gleichungen direkt integrieren und die Winkelgeschwindigkeitskomponenten q, p, r als Funktionen der Zeit bestimmen. Diese Funktionen können
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
271
dann in (3.456) eingesetzt werden, und es bleibt, die drei Differentialgleichungen erster Ordnung für die Eulerschen Winkel ϑ, ϕ, ψ zu lösen,
um das Problem der Rotationsbewegung insgesamt zu lösen.
Anmerkung
Um den Zusammenhang zwischen den Komponenten eines Vektors in
den beiden Koordinatensystemen herzustellen, ist es nützlich, die Richtungskosinusse der Achsen des einen Systems in bezug auf die Achsen des anderen Systems zu kennen. Ausgedrückt durch die Eulerschen
Winkel, sind sie in der folgenden Tabelle zusammengestellt.
ξ
η
ζ
x cos ψ cos ϕ − sin ψ sin ϕ cos ϑ − sin ψ cos ϕ − cos ψ sin ϕ cos ϑ
sin ϕ sin ϑ
y cos ψ sin ϕ + sin ψ cos ϕ cos ϑ − sin ψ sin ϕ + cos ψ cos ϕ cos ϑ − cos ϕ sin ϑ
sin ψ sin ϑ
cos ψ sin ϑ
cos ϑ
z
Lagrangesche Gleichungen
Die Bewegungsgleichungen (3.418) und (3.419) – letztere in Form
der Eulerschen Gleichungen (3.451) zusammen mit den Gleichungen
(3.456) – können natürlich auch als Lagrangesche Gleichungen geschrieben werden. Die für die Rotationsbewegung zuständigen generalisierten Koordinaten sind dann gerade die Eulerschen Winkel ϑ, ϕ, ψ. Mit
(3.422), (3.423) und (3.429) lautet die Lagrange-Funktion zunächst
L = T − U = 21 m|Ṙc |2 + 21 Θik ω i ω k − U.
(3.457)
Schreiben wir die kinetische Energie der Rotation im (körperfesten)
Hauptachsensystem auf [Gleichung (3.436)] und drücken gemäß (3.456)
die Winkelgeschwindigkeiten p, q, r durch die Eulerschen Winkel und
deren zeitliche Ableitungen aus, so erhalten wir für die LagrangeFunktion (3.457)
L = 12 m|Ṙc |2
2
1
+ 2 A ϕ̇ sin ϑ sin ψ + ϑ̇ cos ψ
2
1
+ 2 B ϕ̇ sin ϑ cos ψ − ϑ̇ sin ψ
2
1
+ 2 C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ − U (Rc , ϑ, ϕ, ψ),
(3.458)
272
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
wobei das Potential natürlich auch noch explizit von der Zeit abhängen
kann. Die Bewegungsgleichungen des starren Körpers lauten dann
d ∂L
∂L
−
= 0,
dt ∂ Ṙc ∂Rc
d ∂L ∂L
d ∂L ∂L
d ∂L ∂L
= 0,
−
= 0,
= 0.
−
−
dt ∂ ϑ̇ ∂ϑ
dt ∂ ϕ̇ ∂ϕ
dt ∂ ψ̇ ∂ψ
(3.459)
(3.460)
Stimmt der Koordinatenursprung des körperfesten Bezugssystems nicht
mit dem Massenmittelpunkt überein, so ist in (3.458)
Rc = R0 + rc
(3.461)
zu setzen,19 und es tritt gemäß (2.465) noch der Term mṘ0 · ṙc in der
kinetischen Energie auf,
2
1
2 m|Ṙc |
→ 12 m|Ṙ0 |2 + mṘ0 · ṙc ,
(3.462)
wobei nunmehr R0 den Koordinatenursprung des körperfesten Bezugssystems definiert und rc den darauf bezogenen Massenmittelpunkt festlegt. Befindet sich der Körper im homogenen Schwerefeld der Erde, so
lautet das Potential (wenn die Z-Achse senkrecht nach oben gerichtet
ist)
U = mg (Z0 + rc cos ϑ) ,
(3.463)
wobei rc der (feste) Abstand des Massenmittelpunkts vom Koordinatenursprung des körperfesten Bezugssystems ist.
Ein starrer Körper werde in einem Punkt festgehalten (Kreisel im
engeren Sinn), und es sei R0 der Unterstützungspunkt. Befindet sich
der Kreisel im homogenen Schwerefeld der Erde, lautet die LagrangeFunktion
2
1
L = 2 A ϕ̇ sin ϑ sin ψ + ϑ̇ cos ψ
2
1
+ 2 B ϕ̇ sin ϑ cos ψ − ϑ̇ sin ψ
2
1
+ 2 C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ − mgrc cos ϑ
(3.464)
19
Beachte, daß rc als Funktion der Eulerschen Winkel auszudrücken ist.
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
273
[siehe die Gleichungen (3.458) und (3.461) – (3.463) mit Ṙ0 = 0]. Ein
symmetrischer Kreisel liegt bekanntlich vor, wenn zwei Hauptträgheitsmomente gleich sind. Die in die Richtung des dritten Hauptträgheitsmoments fallende Symmetrieachse heißt auch Figurenachse. Wir wollen die ζ-Achse als Figurenachse annehmen, d.h. A = B. Die LagrangeFunktion (3.464) nimmt dann die Form
2
2
2
1
L = 2 A ϕ̇ sin ϑ + ϑ̇
2
1
(3.465)
+ 2 C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ − mgrc cos ϑ
an. Ein symmetrischer Kreisel ist kräftefrei, wenn auf ihn kein Drehmoment wirkt. Unter irdischen Bedingungen läßt sich dies bekanntlich dadurch erreichen, daß der Massenmittelpunkt als Unterstützungspunkt
gewählt wird. Wie aus (3.465) ersichtlich, verschwindet für rc = 0 der
durch die Schwerkraft bedingte Potentialterm.
Rotation um freie Achsen
Rotiert ein Körper bei Abwesenheit von Drehmomenten um eine Achse,
deren Lage sich im körperfesten Bezugssystem nicht ändert, so spricht
man – wie bereits kurz erwähnt – von einer freien Achse. Für verschwindendes Drehmoment lauten die Eulerschen Gleichungen (3.451)
A ṗ + (C − B) q r = 0,
(3.466)
B q̇ + (A − C) r p = 0,
(3.467)
C ṙ + (B − A) p q = 0.
(3.468)
Da sich die Drehachse im körperfesten Bezugssystem nicht ändern soll,
muß ferner
ṗ = q̇ = ṙ = 0
(3.469)
(C − B) q r = (A − C) r p = (B − A) p q = 0
(3.470)
und somit
gelten. Wir wollen den allgemeinen Fall
A 6= B 6= C
(3.471)
274
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
betrachten. Aus (3.470) ist dann ersichtlich, daß mindestens zwei der
p, q, r identisch verschwinden müssen. Dieses Ergebnis besagt, daß nur
die Hauptträgheitsachsen freie Achsen sind. Nun gilt in einem solchen
Fall
L k ~ω ,
(3.472)
so daß wegen L = const. sich die Drehachse auch im raumfesten Koordinatensystem nicht ändert.
Man sollte einen starren Körper, der um eine freie Achse rotiert,
also daran erkennen, daß er nicht torkelt“. Wir wollen diesen Punkt
”
etwas genauer untersuchen und nehmen an, daß der Körper, der um die
ξ-Achse rotieren möge, etwas gestört und die Drehachse dabei etwas aus
der ξ-Richtung gebracht wird,
p = p0 + δp,
q = δq,
r = δr.
(3.473)
Mit (3.473) lauten die Eulerschen Gleichungen (3.466) – (3.468)
A δ ṗ + (C − B) δq δr = 0,
(3.474)
B δ q̇ + (A − C) δr (p0 + δp) = 0,
(3.475)
C δ ṙ + (B − A) (p0 + δp) δq = 0.
(3.476)
Für hinreichend kleine Störungen gehen die letzten zwei Gleichungen
näherungsweise in
B δ q̇ + (A − C) p0 δr ≈ 0,
(3.477)
C δ ṙ + (B − A) p0 δq ≈ 0
(3.478)
über, die über den Ansatz
δq = beλt ,
δr = ceλt
(3.479)
gelöst werden können. Wir erhalten das algebraische Gleichungssystem
B λ b + (A − C) p0 c = 0,
(3.480)
(B − A) p0 b + C λ c = 0,
(3.481)
275
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
woraus die Bestimmungsgleichung
Bλ
(A − C) p0
(B − A) p0
Cλ
folgt und somit
λ2 = −
=0
(A−C)(A−B) 2
p0
BC
gilt. Damit die Achse stabil ist, muß offensichtlich
p
λ2 < 0 ; λ = ±i |λ2 |
(3.482)
(3.483)
(3.484)
sein, d.h., es muß entweder
A>C
und A > B
(3.485)
A<C
und A < B
(3.486)
oder
gelten. In diesem Fall führen δq und δr harmonische Schwingungen um
die Nulllage aus. Sind δq und δr anfangs klein, so bleiben sie also immer
klein, und die Achse kann als stabil angesehen werden. Ist
C>A>B
oder C < A < B,
(3.487)
p
λ = ± |λ2 | ,
(3.488)
dann gilt
λ2 > 0
;
und die Achse kann offensichtlich nicht als stabil angesehen werden.
Drehungen um die Achsen des größten (A > C, A > B) und des kleinsten (A < C, A < B) Hauptträgheitsmoments sind also stabil, während
eine Drehung um die Achse des mittleren Hauptträgheitsmoments labil
ist. Die Stabilität der Rotation um die Achse des größten Trägheitsmoments nutzt beispielsweise jeder Diskuswerfer aus. Der rotierende Diskus behält seine Lage im Raum während des Wurfs bei, steht damit im
absteigenden Teil der Bahn schräg zur Bahnkurve und erhält so einen
zusätzlichen Auftrieb.
276
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Kräftefreier symmetrischer Kreisel
Wir wollen wieder die ζ-Achse als Figurenachse annehmen, d.h. A = B.
Anstelle die Lagrangeschen Gleichungen direkt zu lösen, wollen wir
unter Verwendung der Eulerschen Gleichungen in zwei Schritten vorgehen. Für den symmetrischen Kreisel lauten die Eulerschen Gleichungen
(3.466) – (3.468)
A ṗ + (C − A) q r = 0,
(3.489)
A q̇ + (A − C) r p = 0,
(3.490)
C ṙ = 0.
(3.491)
Aus (3.491) folgt zunächst
r = r0 = const..
(3.492)
Die verbleibenden Gleichungen (3.489) und (3.490) können über den
Standardansatz
p = aeλt ,
q = beλt
(3.493)
gelöst werden, der das algebraische Gleichungssystem
A λ a + (C − A) r0 b = 0,
(3.494)
(A − C) r0 a + A λ b = 0
(3.495)
liefert. Die Bestimmungsgleichung für λ,
Aλ
(C − A) r0
(A − C) r0
Aλ
liefert
λ2 = −
= 0,
(A−C)2 2
r0 ,
A2
(3.496)
(3.497)
d.h.
λ = ± iΩ,
Ω=
A−C
r0 .
A
(3.498)
277
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
Aus (3.494) folgt dann (für λ = iΩ)
b=
Aλ
a = ia.
(A − C)r0
(3.499)
Mit a = |a|eiα ergibt sich dann für b = |b|eiβ
|b| = |a|,
β = α + 12 π.
(3.500)
Die Lösung von (3.489) und (3.490) lautet somit
p(t) = |a| cos(Ωt + α) = |a| sin(Ωt + β),
(3.501)
q(t) = |a| cos(Ωt + β),
(3.502)
p2 + q 2 = |a|2 = const.
(3.503)
und es gilt
bzw. unter Berücksichtigung von (3.492)
ω 2 = p2 + q 2 + r2 = |a|2 + r02 = const.
(3.504)
Die Winkelgeschwindigkeit ~ω besitzt also eine konstante ζ-Komponente
ζ
Figurenachse
|a|
r0
Polkegel
~ω
α
η
ξ
und ihr Betrag ist ebenfalls konstant. Ferner führt die Projektion der
278
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Winkelgeschwindigkeit auf die ξη-Ebene eine gleichförmige Kreisbewegung aus. Die Winkelgeschwindigkeit wandert also auf einem Kreiskegel, dem Polkegel, gleichförmig um die Figurenachse. Figurenachse
und momentane Drehachse fallen also i. allg. nicht zusammen; für den
Winkel α gilt
tan α =
|a|
,
r0
(3.505)
wobei (durch entsprechende Wahl der Orientierung der ζ-Achse)
o.B.d.A. angenommen werden kann, daß r0 positiv ist. So bewirkt beispielsweise die Bewegung der momentanen Drehachse der Erde, daß der
Nordpol auf einem Kreis von etwa 10 m Radius in 433 Tagen einmal
um den geometrischen“ Nordpol wandert.
”
Um die Bewegung des Kreisels im raumfesten Koordinatensystem
(Inertialsystem) zu erhalten, müssen noch die Eulerschen Winkel als
Funktionen der Zeit berechnet werden. Dazu ist gemäß (3.456) das
Gleichungssystem
p = |a| sin(Ωt+β) = ϕ̇ sin ϑ sin ψ + ϑ̇ cos ψ,
(3.506)
r = r0 = ϕ̇ cos ϑ + ψ̇
(3.508)
q = |a| cos(Ωt+β) = ϕ̇ sin ϑ cos ψ − ϑ̇ sin ψ,
(3.507)
zu lösen. Dazu schauen wir uns zunächst die aus der Drehimpulserhaltung folgenden Bewegungsintegrale an. Wir legen die z-Achse des
raumfesten Koordinatensystems so, daß sie mit der Richtung des (konstanten) Drehimpulses zusammenfällt,
L = L ez ,
(3.509)
so daß bezüglich des körperfesten Koordinatensystems
L = L (sin ϑ sin ψ eξ + sin ϑ cos ψ eη + cos ϑ eζ ) ,
(3.510)
und folglich [unter Berücksichtigung von (3.442)]
Lξ = L sin ϑ sin ψ = Ap,
(3.511)
Lη = L sin ϑ cos ψ = Aq,
(3.512)
Lζ = L cos ϑ = Cr
(3.513)
279
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
gilt. Mit den Gleichungen (3.506) und (3.507) erhalten wir dann
L
sin ϑ sin ψ = ϕ̇ sin ϑ sin ψ + ϑ̇ cos ψ,
A
L
sin ϑ cos ψ = ϕ̇ sin ϑ cos ψ − ϑ̇ sin ψ,
A
L
cos ϑ = r0 = ϕ̇ cos ϑ + ψ̇.
C
(3.514)
(3.515)
(3.516)
Aus den Gleichungen (3.514) – (3.516) lesen wir ab, daß
ϑ̇ = 0,
cos ϑ = r0
C
L
(3.517)
und
L
L
; ϕ(t) = t + ϕ0
(3.518)
A
A
gelten muß. Damit folgt aus (3.516) [zusammen mit (3.498)] für ψ̇
ϕ̇ =
ψ̇ =
A−C
r0 = Ω,
A
(3.519)
d.h.
ψ = Ω t + ψ0 .
(3.520)
Somit sind die drei Eulerschen Winkel als Funktionen der Zeit
bestimmt. Sie enthalten insgesamt noch vier Konstanten, nämlich
r0 , L, ψ0, ϕ0. Von den ursprünglich sechs Konstanten sind bereits zwei
durch die Fixierung der z-Achse als Drehimpulsachse festgelegt. Die
Konstante L kann zugunsten von |a| wie folgt eliminiert werden. Mit
ϑ̇ = 0 sowie (3.520) liefert die Gleichung (3.507)
ϕ̇ =
|a| cos(Ωt+β)
.
sin ϑ cos(Ωt+ψ0)
(3.521)
Da wegen (3.518) ϕ̇ konstant (und ϕ̇ ≥ 0) ist, können die Konstanten
ψ0 und β als einander gleich angenommen werden, ψ0 = β. Aus (3.521)
und durch Vergleich mit (3.518) folgt somit
ϕ̇ =
|a|
sin ϑ
;
L=
|a|
A,
sin ϑ
(3.522)
280
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
so daß (3.517) auf
tan ϑ =
|a|A
r0 C
(3.523)
führt.
Die Figurenachse (als Symmetrieachse des Kreisels) schließt mit der
Drehimpulsachse einen festen Winkel ϑ ein und jeder ihrer in die xyEbene projizierten Punkte vollführt eine gleichförmige Kreisbewegung
(ϕ̇ = const.). Die Figurenachse bewegt sich also gleichförmig auf einem
Kreiskegel mit dem Öffnungswinkel ϑ um die Drehimpulsachse. Dieser Kegel wird auch Nutationskegel genannt. Dabei dreht sich der
Körper (repräsentiert durch die körperfesten ξ, η-Achsen) gleichzeitig
um die Figurenachse mit der Winkelgeschwindigkeit ψ̇. Die Winkelgeschwindigkeit ~ω ergibt sich dann aus den Winkelgeschwindigkeiten der
Drehungen um die Drehimpulsachse und die Figurenachse gemäß
~ω = ~ωz + ~ωζ = ϕ̇ ez + ψ̇ eζ ,
(3.524)
woraus ersichtlich ist, daß ~ω immer in der z, ζ-Ebene liegt. Die momentane Drahachse rotiert also zusammen mit der Figurenachse um
die Drehimpulsachse. Die momentane Drehachse bewegt sich also
gleichförmig auf einem Kreiskegel, dem Spurkegel, mit dem Öffnungswinkel |ϑ − α| um die Drehimpulsachse. Gleichzeitig bewegt sie sich auf
Drehimpulsachse
z
Figurenachse
ζ
A>C
(ψ̇ > 0)
Nutationskegel
~ωz
Spurkegel
~ω
Polkegel
~ωζ
281
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
dem Polkegel um die Figurenachse. Die gegenseitige Bewegung der Achsen kann als Abrollen von Kegeln veranschaulicht werden. Wir wollen
Drehimpulsachse
z
Figurenachse
ζ
A<C
(ψ̇ < 0)
Spurkegel
Nutationskegel
~ω
~ωz
~ωζ
Polkegel
wieder o.B.d.A. annehmen, daß die ζ-Achse so orientiert ist, daß r0 positiv ist. Während für A > C die momentane Drehachse zwischen der
Drehimpulsachse und der Figurenachse liegt, liegt für A < C die Drehimpulsachse zwischen der momentanen Drehachse und der Figurenachse [siehe die Gleichungen (3.505), (3.523) und (3.519)]. Der Polkegel
rollt für A > C mit seiner Außenfläche und für A < C mit seiner Innenfläche auf dem Spurkegel ab und führt dabei die Figurenachse auf dem
Nutationskegel.
Schwerer symmetrischer Kreisel
Die Lagrange-Funktion eines symmetrischen Kreisels im Schwerefeld
z
ζ
Unterstützungspunkt
mg
282
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
der Erde, der nicht im Massenmittelpunkt unterstützt wird, lautet
2
2
2
1
L = T − U = 2 A ϕ̇ sin ϑ + ϑ̇
2
1
(3.525)
+ 2 C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ − mgrc cos ϑ
[Gleichung (3.465)]. Die Lösung der daraus folgenden Bewegungsgleichungen kann mit Hilfe der Erhaltungssätze erfolgen. Da L nicht explizit von der Zeit abhängt, gilt Energieerhaltung,
2
2
2
2
1
1
T + U = 2 A ϕ̇ sin ϑ + ϑ̇ + 2 C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇
+ mgrc cos ϑ = E = A ǫ = const.
(3.526)
Ferner sind ϕ und ψ zyklische Koordinaten, so daß die Erhaltungssätze
∂L
2
= Aϕ̇ sin ϑ + C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ cos ϑ = A a = const.
(3.527)
∂ ϕ̇
und
∂L
= C ϕ̇ cos ϑ + ψ̇ = A b = const.
∂ ψ̇
(3.528)
gelten. Mittels dieser beiden Gleichungen können ϕ̇ und ψ̇ in (3.526)
eliminiert werden, und wir erhalten
1 2
2 ϑ̇
+ u(ϑ) = ǫ
(3.529)
mit
(a − b cos ϑ)2 Ab2 mgrc cos ϑ
+
.
+
u(ϑ) =
2C
A
2 sin2 ϑ
Aus (3.529) folgt dann t = t(ϑ) in der Form
Z
dϑ
p
t=
+ const.
2[ǫ − u(ϑ)]
(3.530)
(3.531)
Ist die Umkehrfunktion ϑ = ϑ(t) bestimmt, kann diese in die Gleichungen (3.527) und (3.528) eingesetzt werden, und aus den resultierenden
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
283
Gleichungen können dann ϕ(t) und ψ(t) in Form von Integralen bestimmt werden. Damit ist das Problem des schweren symmetrischen
Kreisels im Prinzip gelöst. Ist speziell rc = 0, liegt der Fall des kräftefreien Kreisels vor.
Wir wollen annehmen, daß die Figurenachse des Kreisels parallel zur
Erdoberfläche gerichtet ist und der Kreisel in eine schnelle Drehung um
diese Achse versetzt wird. Diese Situation entspricht den Anfangsbedingungen (für t = 0)
ϑ = 21 π, ϕ = 0, ψ = 0,
(3.532)
ϑ̇ = 0,
(3.533)
ϕ̇ = 0, ψ̇ = ψ̇0 .
Die Gleichungen (3.527) und (3.528) liefern dann für die Konstanten a
und b
C
ψ̇0 ,
A
(3.534)
C 2
A 2
ψ̇0 =
b .
2A
2C
(3.535)
a = 0,
b=
und aus (3.526) ergibt sich für ǫ
ǫ=
Wir setzen die Konstanten aus (3.534) und (3.535) in (3.529) [zusammen mit (3.530)] ein und erhalten
1 2
2 ϑ̇
+ 12 b2 cot2 ϑ +
mgrc
cos ϑ = 0
A
(3.536)
bzw.
1 2
2 δ̇
mit
mgrc
sin δ = 0
+ 12 b2 tan2 δ −
A
|
{z
}
ũ(δ)
ϑ = 21 π + δ.
(3.537)
(3.538)
Der Bewegungsbereich ist offensichtlich auf solche Werte von δ einge-
284
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
0.01
0.005
−0.1
ũ/b2
(1)
0.1
0.2
0.3
δ
−0.005
(2)
(3)
−0.01
mgrc /(Ab2) = 0.05 (1), 0.1 (2), 0.15 (2).
schränkt, für die ũ ≤ 0 gilt. Je größer |b| (d.h. je größer |ψ̇0 |), desto kleiner wird der erlaubte δ-Bereich. Für einen in eine hinreichend schnelle
Umdrehung um die Figurenachse versetzten Kreisel können also die trigonometrischen Funktionen entwickelt werden, und es reicht, die Glieder in jeweils niedrigster Ordnung zu berücksichtigen. Demgemäß geht
(3.537) näherungsweise in
mgrc
1 2
1 2 2
δ̇
+
b
δ
−
δ=0
(3.539)
2
2
A
über. Die Gleichung (3.539) entspricht offensichtlich der Energie eines harmonischen Oszillators, der unter dem Einfluß der konstanten
Kraft“ mgrc /A aus seiner ungestörten Ruhelage (δ = 0, δ̇ = 0 für t = 0)
”
ausgelenkt wird,
mgrc
δ̈ + b2 δ =
,
(3.540)
A
woraus unschwer die Lösung
mgrc
δ = 2 [1 − cos(bt)]
bA
mgrc A
C
ψ̇0 t
(3.541)
= 2
1 − cos
A
ψ̇0 C 2
285
3.2. LAGRANGESCHE GLEICHUNGEN
z
ζ
zu erhalten ist. Die Figurenachse führt also unter dem Einfluß der
Schwerkraft in vertikaler Richtung eine Schwingung zwischen δ = 0
und δ = 2mgrc A/(ψ̇02C 2) mit hoher Frequenz und kleiner Amplitude
aus. Diese Bewegung wird auch Nutation genannt. In der gleichen
Näherung lautet die Gleichung (3.527)
Aϕ̇ − C ψ̇0δ = 0,
(3.542)
mgrc
C
ψ̇0 t ,
ϕ̇ =
1 − cos
A
C ψ̇0
(3.543)
mgrc
A
C
ψ̇0 t
ϕ=
t−
sin
A
C ψ̇0
C ψ̇0
(3.544)
d.h.
woraus
folgt. Die Figurenachse bewegt sich also mit der mittleren Winkelgeschwindigkeit mgrc /(C ψ̇0) zusätzlich um die z-Achse. Diese Bewegung
wird auch Präzession genannt. Schließlich folgt aus (3.528) näherungsweise
ψ̇ = ψ̇0 ,
(3.545)
d.h., der Kreisel dreht sich mit der ihm anfangs gegebenen Winkelgeschwindigkeit um die Figurenachse.
286
KAPITEL 3. LAGRANGESCHE MECHANIK
Kapitel 4
Hamiltonsche Mechanik
Ausgehend von den Newtonschen Bewegungsgleichungen haben wir die
Grundgleichungen der Dynamik in Form der Lagrangeschen Gleichungen (2. Art) formuliert. Als zusätzliches Axiom haben wir dabei das
d’Alembertsche Prinzip verwendet, das es uns ermöglichte, (holonom)
gebundene Systeme in die Behandlung einzubeziehen. Es hat sich gezeigt, daß den Lagrangeschen Gleichungen ein fundamentales Variationsprinzip – das Hamiltonsche Prinzip – zugrunde liegt, das weit
über die Mechanik hinaus von zentraler Bedeutung für die theoretische
Physik ist.
4.1
Das Hamiltonsche Prinzip
Wir bleiben bei der Mechanik und wollen die Frage beantworten, wodurch sich die tatsächliche Bewegung eines Massenpunktsystems von
einer davon etwas abweichend gedachten Bewegung unterscheidet. Die
Bewegung eines Massenpunktsystems mit f Freiheitsgraden kann durch
eine Bahnkurve“ in einem abstrakten f -dimensionalen Konfigurati”
onsraum der generalisierten Koordinaten qα charakterisiert werden.
Wir wollen die Bahnkurve etwas variieren, wobei wir die zugelassenen Vergleichsbahnen dadurch einschränken, daß wir jedem Punkt P
der wirklichen Bahnkurve einen (infinitesimal) benachbarten Punkt P ′
derart zuordnen, daß P und P ′ jeweils zum gleichen Zeitpunkt gehören,
die Zeit also nicht variiert wird,
qα = qα (t) → qα′ = qα′ (t),
287
(4.1)
288
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
bzw.
δqα (t) = qα′ (t) − qα (t),
δt = 0.
(4.2)
Die Variationen der generalisierten Koordinaten δqα (t) stellen also get
P2
t2
Vergleichsbahnkurve
P′
P
δqα
tatsächliche Bahnkurve
t1
P1
qα
rade virtuelle Verrückungen dar. Gemäß (4.2) können sie als differenzierbare Funktionen der Zeit angesehen werden,
d
δqα (t) = q̇α′ (t) − q̇α (t) = δ q̇α (t),
dt
(4.3)
wobei die δ q̇α (t) die Variationen der generalisierten Geschwindigkeiten sind. Bei der gewählten Variationsart dürfen also die Operationen
d/dt und δ vertauscht werden. Nunmehr betrachten wir eine Funktion Φ(qα , q̇α , t). Die Variation dieser Funktion, d.h. die Differenz der
Funktion auf der wirklichen Bahn und einer variierten Bahn, ist
δΦ = Φ(qα′ , q̇α′ , t) − Φ(qα , q̇α , t)
= Φ(qα + δqα , q̇α + δ q̇α , t) − Φ(qα , q̇α , t).
(4.4)
Für hinreichend kleine Variationen δqα , δ q̇α folgt dann
δΦ =
f X
∂Φ
α=1
∂Φ
δqα +
δ q̇α .
∂qα
∂ q̇α
(4.5)
4.1. DAS HAMILTONSCHE PRINZIP
289
Um die Frage zu beantworten, wodurch sich die wirkliche Bahnkurve des Systems von den zugelassenen Vergleichsbahnen unterscheidet,
erinnern wir zunächst daran, daß nach dem d’Alembertschen Prinzip
f 3N
X
X
∂L
d ∂L
−
(mi ẍi − Fi) δxi =
δqα = 0
(4.6)
dt
∂
q̇
∂q
α
α
α=1
i=1
gilt, woraus bekanntlich die Lagrangeschen Gleichungen folgen, da die
δqα frei wählbar sind. Wie bereits erwähnt, entsprechen die virtuellen
Verrückungen δqα in (4.6) genau den oben definierten Bahnvariationen.
Wir formen (die zweite Gleichung in) (4.6) etwas um, indem wir
d ∂L
d ∂L
∂L d
δqα =
δqα −
δqα
dt ∂ q̇α
dt ∂ q̇α
∂ q̇α dt
∂L
d ∂L
δqα −
δ q̇α
(4.7)
=
dt ∂ q̇α
∂ q̇α
schreiben, und folglich
X
f
f X
d ∂L
∂L
∂L
δqα +
δ q̇α =
δqα
∂q
∂
q̇
dt
∂
q̇
α
α
α
{z
} α=1
|α=1
δL
(4.8)
gilt, d.h., die einer Variation der Bahnkurve entsprechende Variation
der Lagrange-Funktion ist
f
X
d ∂L
δL =
δqα .
(4.9)
dt
∂
q̇
α
α=1
Zeitliche Integration dieser Gleichung in den Grenzen t1 , t2 liefert
t2
Z t2
f
X
∂L
(4.10)
δqα .
dt δL =
∂
q̇
α
t1
t1
α=1
Die rechte Seite dieser Gleichung verschwindet, wenn die Vergleichsbahnen so gewählt werden, daß ihre Anfangs- und Endpunkte mit denen
der wirklichen Bahnkurve übereinstimmen:
δqα (t1 ) = δqα (t2) = 0.
(4.11)
290
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
Wir finden also
Z
t2
dt δL = δ
Z
t2
dt L = 0.
(4.12)
t1
t1
Mit der Definition der Wirkung
S=
Z
t2
dt L
(4.13)
t1
lautet das Ergebnis:
δS = 0
(4.14)
Die von einem Massenpunktsystem (im Konfigurationsraum)
tatsächlich durchlaufene Bahnkurve zeichnet sich gegenüber den
zugelassenen Vergleichsbahnen dadurch aus, daß für sie die Wirkung einen Extremwert1 – meistens ein Minimum – annimmt.
Dieser Sachverhalt bildet den Inhalt des Hamiltonschen Prinzips,
auch Prinzip der kleinsten Wirkung genannt. Aus dem Prinzip ist
sofort ablesbar, daß mit L auch
L′ = L +
d
R(qα , t)
dt
(4.15)
eine zulässige Lagrange-Funktion ist, wobei R(qα , t) eine beliebige
Funktion der generalisierten Koordinaten und der Zeit ist [Eichtransformation, siehe (3.235) und folgende Gleichungen].
Umgekehrt kann das Hamiltonsche Prinzip an die Spitze gestellt werden, und es können aus ihm die Lagrangeschen Gleichungen hergeleitet
1
Bei der Anwendung des Hamilton-Prinzips ist es belanglos, ob es sich um einen Extremwert
(Minimum bzw. Maximum) oder um einen Sattelpunkt handelt. Man spricht deshalb auch besser
von einem stationären Wert anstatt von einem Extremwert.
291
4.1. DAS HAMILTONSCHE PRINZIP
werden:
Z
δS = δ
=
Z
t2
dt L =
t1
t2
dt
t1
Z
t2
"
Z
t2
dt δL
t1
f X
∂L
α=1
∂L
δqα +
δ q̇α
∂qα
∂ q̇α
( f X ∂L
#
)
∂L
d ∂L
δqα −
δqα
∂q
∂
q̇
dt
∂
q̇
α
α
α
t1
α=1
"
#
t2
Z t2
f f
X
X
∂L
d ∂L
∂L
−
δqα +
δqα = 0, (4.16)
=
dt
∂qα dt ∂ q̇α
∂ q̇α
t1
t1
α=1
}
|α=1 {z
0
=
dt
δqα +
d
dt
und da die δqα frei wählbar sind,
d ∂L
∂L
−
= 0 (α = 1, 2, . . . , f ).
∂qα dt ∂ q̇α
(4.17)
Mathematisch stellen die Lagrangeschen Gleichungen die Lösung der
sogenannten Euler-Lagrangeschen Variationsaufgabe dar.2
Das Hamiltonsche Prinzip in der Form (4.12) bzw. (4.14) setzt nur
die Existenz einer Lagrange-Funktion voraus, d.h., kinetische und potentielle Energie müssen i. allg. definierbar sein (siehe auch Abschnitt
4.6). Sowohl holonome als auch (bilaterale) anholonome Nebenbedingungen sind möglich. Im Falle von anholonomen Nebenbedingungen
ergeben sich natürlich nicht die Lagrangeschen Gleichungen 2. Art, sondern je nach der Art der Auswertung Bewegungsgleichungen beispielsweise vom Typ der Lagrangeschen Gleichungen 1. Art oder Gleichungen
vom gemischten Typ. Legen wir die ursprünglichen 3N Koordinaten des
Systems zugrunde, so folgt anstelle von (4.16)
#
Z t2 " X
3N ∂L
d ∂L
dt
−
δxi = 0
(4.18)
∂x
dt
∂
ẋ
i
i
t1
i=1
2
In diesem Zusammenhang werden sie auch als Eulersche Gleichungen bezeichnet.
292
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
bzw.
Z
t2
t1
dt
" 3N
X
i=1
#
(Fi − mi ẍi) δxi = 0,
(4.19)
wobei nunmehr die δxi nicht mehr frei wählbar sind, sondern gemäß
3N
X
fki δxi = 0
(k = 1, 2, . . . , r)
(4.20)
i=1
mit den (im allgemeinen Fall anholonomen) Nebenbedingungen verträglich sein müssen [siehe (3.18)]. Aus (4.19) kann also zunächst nur
auf
3N
X
(Fi − mi ẍi) δxi = 0
(4.21)
i=1
geschlossen werden, d.h. auf das d’Alembertsche Prinzip.
4.2
Hamiltonsche Gleichungen
Die Bewegung eines (holonom gebundenen) Massenpunktsystems wird
durch die Lagrange-Funktion des Systems beherrscht. Aus der Kenntnis
der Lagrange-Funktion, die eine Funktion der generalisierten Koordinaten und Geschwindigkeiten und (im Falle einer expliziten Zeitabhängigkeit) der Zeit ist, können über die Lagrangeschen Gleichungen die Bewegungsgleichungen des Systems in Form von f gekoppelten, gewöhnlichen Differentialgleichungen 2. Ordnung für die generalisierten Koordinaten aufgestellt werden. Die Bewegung erfolgt insbesondere so, daß
die Wirkung extremal (in der Regel minimal) ist.
Für bestimmte Aufgaben kann es zweckmäßig sein, neben den generalisierten Koordinaten nicht die generalisierten Geschwindigkeiten,
sondern die generalisierten Impulse zu verwenden. In diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage, wie und in welcher Form bei einer solchen Formulierung der Mechanik die Bewegungsgleichungen gewonnen
werden können. Der Übergang von einer Gesamtheit unabhängiger Variablen zu einer anderen kann durch eine Legendre-Transformation rea-
293
4.2. HAMILTONSCHE GLEICHUNGEN
lisiert werden. Aus L = L(qα , q̇α , t) folgen die generalisierten Impulse
pβ =
∂L
∂ q̇β
(β = 1, 2, . . . , f )
(4.22)
als Funktionen von qα , q̇α und gegebenenfalls t, woraus die generalisierten Geschwindigkeiten q̇α als Funktionen von qβ , pβ und gegebenenfalls
t bestimmbar sind,
pβ = pβ (qα , q̇α , t)
;
q̇α = q̇α (qβ , pβ , t) .
(4.23)
Das totale Differential der Lagrange-Funktion lautet
dL =
f X
∂L
∂L
∂L
dqα +
dq̇α +
dt
∂qα
∂ q̇α
∂t
α=1
=
f
X
(ṗα dqα + pα dq̇α ) +
f
X
[ṗα dqα + d (pα q̇α ) − q̇α dpα ] +
∂L
dt,
∂t
(4.24)
!
∂L
dt.
∂t
(4.25)
α=1
=
α=1
∂L
dt
∂t
d.h.
d
|
f
X
α=1
Die Funktion
pα q̇α − L
{z
H
}
=
f
X
α=1
(−ṗα dqα + q̇α dpα ) −
H = H(qα , pα, t) =
f
X
α=1
pα q̇α − L
(4.26)
ist die Hamilton-Funktion des Systems. Aus Abschnitt 3.2.5 wissen
wir, daß im Falle skleronomer Bindungen H gerade die Energie des Systems darstellt [siehe Gleichung (3.251)]. Das vollständige Differential
294
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
der Hamilton-Funktion lautet
f X
∂H
∂H
∂H
dH =
dqα +
dpα +
dt,
∂q
∂p
∂t
α
α
α=1
(4.27)
und der Vergleich mit (4.25) liefert
ṗα = −
∂H
,
∂qα
q̇α =
∂H
∂pα
(4.28)
(α = 1, 2, . . . , f ) und
∂H
∂L
=−
.
(4.29)
∂t
∂t
Die Gleichungen (4.28) stellen gerade die gesuchten Bewegungsgleichungen für die qα und pα dar. Sie heißen Hamiltonsche Gleichungen oder auch kanonische Gleichungen und bilden ein System von
2f gekoppelten, gewöhnlichen Differentialgleichungen erster Ordnung
für die 2f unbekannten Funktionen qα (t) und pα (t). Sie ersetzen die
f Lagrangeschen Gleichungen (f gekoppelte, gewöhnliche Differentialgleichungen 2. Ordnung).
Gemäß Abschnitt 3.2.5 ist die totale zeitliche Ableitung der
Hamilton-Funktion die negative partielle Zeitableitung der LagrangeFunktion, d.h.
dH
∂L
=−
(4.30)
dt
∂t
[siehe Gleichung (3.253)]. Mit (4.29) erhalten wir also
dH
∂H
∂L
=
=−
.
dt
∂t
∂t
Dieses Ergebnis ist natürlich auch direkt verifizierbar,
f dH X ∂H
∂H
∂H
=
q̇α +
ṗα +
dt
∂qα
∂pα
∂t
|{z}
α=1
|{z}
|{z}
−ṗα
q̇α
− ∂L
∂t
=
∂L
∂H
=−
.
∂t
∂t
(4.31)
(4.32)
295
4.2. HAMILTONSCHE GLEICHUNGEN
Hängt die Hamilton-Funktion nicht explizit von der Zeit ab, ist sie
Erhaltungsgröße,
∂H
dH
=0 ;
= 0 ; H = const.
∂t
dt
(4.33)
Da dies skleronome Bindungen impliziert, ist diese Erhaltungsgröße gerade die Energie des Systems. Wenn die Lagrange-Funktion von einer
Koordinate qβ nicht abhängt – die Koordinate also zyklische Koordinate ist – tritt sie wegen (4.26) offensichtlich auch nicht in der HamiltonFunktion auf, d.h., pβ ist Erhaltungsgröße,
ṗβ = −
∂H
=0
∂qβ
;
pβ = const.
(4.34)
Die kanonischen Gleichungen können auch direkt, d.h. ohne über die
Lagrangeschen Gleichungen zu gehen, aus dem Hamiltonschen Prinzip
hergeleitet werden. Zu diesem Zweck ersetzen wir in der LagrangeFunktion L(qα , q̇α , t) die generalisierten Geschwindigkeiten q̇α durch
Variablen kα , betrachten die 2f Variablen qα und kα als zu variierende
Variablen und lösen die Euler-Lagrangesche Variationsaufgabe
Z t2
dt L(qα, kα , t) = 0
(4.35)
δ
t1
mit den f Nebenbedingungen
q̇α − kα = 0
(α = 1, 2, . . . , f ).
(4.36)
Mittels Lagrangescher Multiplikatoren λα führt dies auf die Variationsaufgabe
Z
t2
δ
dt Φ(qα , kα , q̇α , t) = 0
(4.37)
t1
mit3
Φ(qα , kα , q̇α , t) = L(qα , kα , t) +
f
X
α=1
3
λα (q̇α − kα ),
(4.38)
Da die Funktion Φ(qα , kα , q̇α , k̇α , t) im vorliegenden Fall nicht von den k̇α abhängt, unterdrücken
wir die Angabe dieser Variablen in den Argumenten von Φ.
296
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
wobei die qα und kα als unabhängig zu variierende Funktionen angesehen werden können. Aus den dann folgenden Eulerschen Gleichung
d ∂Φ
∂L
∂Φ
= λα −
=0
−
dt ∂ k̇α ∂kα
∂kα
(4.39)
ergeben sich die Lagrangeschen Multiplikatoren als
λα =
∂L
.
∂kα
(4.40)
Einsetzen von (4.40) in (4.38) liefert
f
X
∂L
(q̇α − kα ),
Φ(qα , kα , q̇α , t) = L(qα , kα , t) +
∂k
α
α=1
(4.41)
so daß (4.37) mit Φ(qα, kα , q̇α , t) aus (4.41) auf die Variationsaufgabe
mit 2f unbekannten Funktionen qα (t) und kα (t) ohne Nebenbedingungen führt. Definieren wir die Funktionen
∂L(qα, kα , t)
∂L(qα, q̇α , t)
pα =
=
,
(4.42)
∂kα
∂ q̇α
so können die kα (und damit auch L) als Funktionen von qα , pα und t
ausgedrückt werden,
kα = kα (qβ , pβ , t),
(4.43)
und somit die qα und pα (anstelle der qα und kα ) als unabhängig zu
variierende Funktionen aufgefaßt werden. Führen wir die HamiltonFunktion
H(qα , pα ) =
f
X
α=1
pα kα (qβ , pβ , t) − L[qα , kα (qβ , pβ , t)]
(4.44)
ein, so geht (4.41) in
Φ[qα, kα (qβ , pβ , t), q̇α, t] 7→ Φ(qα , pα, q̇α , t) =
|
{z
}
L(qα , pα , q̇α , t)
f
X
α=1
pα q̇α − H(qα , pα, t)
(4.45)
297
4.2. HAMILTONSCHE GLEICHUNGEN
über, und die 2f Eulerschen Gleichungen liefern gerade die kanonischen
Gleichungen (4.28):
d ∂Φ
∂Φ
∂H
−
= ṗα +
= 0,
dt ∂ q̇α ∂qα
∂qα
(4.46)
d ∂Φ
∂Φ
∂H
−
= −q̇α +
= 0.
dt ∂ ṗα ∂pα
∂pα
(4.47)
Die Herleitung zeigt, daß die kanonischen Gleichungen unmittelbar aus dem Hamilton-Prinzip (4.12) folgen, wenn gemäß (4.45) die
Lagrange-Funktion als Funktion der qα , pα und q̇α angesehen wird,
L = L(qα , pα, q̇α , t) =
f
X
α=1
pα q̇α − H(qα , pα, t),
(4.48)
und die qα und pα unabhängig voneinander variiert werden. Anwendung
des Hamilton-Prinzips heißt dann
δ
Z
t2
dt L = δ
t1
=
=
Z
Z
Z
t2
dt
t1
t2
dt
t1
f
X
α=1
f X
α=1
t2
t1
+
"
Z
pα q̇α − H(qα , pα , t)
#
∂H
∂H
δqα −
δpα
δpα q̇α + pα δ q̇α −
∂qα
∂pα
f
d X
dt
pα δqα
dt α=1
t2
t1
dt
f X
α=1
∂H
∂H
δpα q̇α − ṗα δqα −
δqα −
δpα
∂qα
∂pα
= 0,
(4.49)
298
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
und folglich gilt
δ
Z
t2
t1
t2
dt L =
pα δqα α=1
{z t}1
|
0
Z t2 X
f ∂H
∂H
+
dt
q̇α −
δpα − ṗα +
δqα = 0,
∂p
∂q
α
α
t1
α=1
(4.50)
f
X
woraus (da die δqα und δpα unabhängig voneinander beliebig wählbar
sind) sofort die kanonischen Gleichungen (4.28) folgen.
4.3
Poisson-Klammern
Obwohl die kanonischen Gleichungen ihrer Form nach auf den ersten
Blick recht ähnlich sind, unterscheiden sie sich durch das Vorzeichen
und müssen deshalb separat aufgeschrieben werden. Wir wollen versuchen, die Bewegungsgleichungen physikalischer Größen in einer einheitlichen Weise zu formulieren. Es sei A eine physikalische Größe als
Funktion der generalisierten Koordinaten und Impulse und gegebenenfalls der Zeit,
A = A(qα, pα , t).
(4.51)
Unter Berücksichtigung der kanonischen Gleichungen (4.28) gilt für die
zeitliche Änderung der Größe A
f dA X ∂A
∂A
∂A
=
q̇α +
ṗα +
dt
∂qα
∂pα
∂t
α=1
f X
∂A ∂H
∂A
∂A ∂H
−
+
.
=
∂q
∂p
∂p
∂q
∂t
α
α
α
α
α=1
(4.52)
299
4.3. POISSON-KLAMMERN
Mit der Definition der Poisson-Klammer {A, B} zweier Größen A
und B,
f X
∂A ∂B
∂A ∂B
{A, B} =
−
(4.53)
∂q
∂p
∂p
∂q
α
α
α
α
α=1
lautet die Bewegungsgleichung (4.53) für die Größe A:
dA
∂A
= {A, H} +
dt
∂t
(4.54)
Speziell für A = qα bzw. A = pα ergeben sich aus (4.54) die kanonischen
Gleichungen in der (symmetrischen) Form:
ṗα = {pα , H},
q̇α = {qα , H}
(4.55)
Wie man sich durch direktes Ausrechnen überzeugen kann, gelten
für Poisson-Klammern folgende Regeln:
{A, B} = −{B, A},
(4.56)
{(A + B), C} = {A, C} + {B, C},
(4.57)
{AB, C} = A{B, C} + {A, C}B,
∂A
{A, pα} =
,
∂qα
∂A
{A, qα } = −
,
∂pα
{A, {B, C}} + {B, {C, A}} + {C, {A, B}} = 0.
(4.58)
(4.59)
(4.60)
(4.61)
Die Gleichung (4.61) wird auch als Jakobi-Identität bezeichnet. Insbesondere folgt aus (4.59) [oder (4.60)] für die Poisson-Klammern der
generalisierten Koordinaten und Impulse
{qα , pβ } = δαβ ,
(4.62)
300
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
{qα , qβ } = {pα , pβ } = 0.
(4.63)
Ferner liefert die Anwendung der Regeln (4.59) und (4.60) auf (4.55)
die kanonischen Gleichungen in ihrer ursprünglichen Form (4.28).
Funktionen der dynamischen Variablen, die bei der Bewegung eines
Massenpunktsystems konstant bleiben, stellen bekanntlich Bewegungsintegrale des Systems dar. Wie aus (4.54) ersichtlich, ist in der Sprache
der Hamiltonschen Mechanik eine Größe A Bewegungsintegral, falls
dA
∂A
= {A, H} +
=0
dt
∂t
(4.64)
gilt. Wenn also insbesondere die Größe A nicht explizit von der Zeit
abhängt, lautet die Bedingung dafür, daß A Erhaltungsgröße ist,
{A, H} = 0.
(4.65)
Die Poisson-Klammer der Größe A mit der Hamilton-Funktion des Systems muß verschwinden.
Wir betrachten die Bewegungsgleichung einer in Form einer
Poisson-Klammer gegebenen physikalischen Größe {A, B}. Gemäß
(4.54) gilt
∂
d
{A, B} = {A, B}, H + {A, B}.
dt
∂t
(4.66)
Wir verwenden die Jacobi-Indentität (4.61), so daß für die doppelte
Poisson-Klammer auf der rechten Seite der Gleichung (4.66)
{A, B}, H = A, {B, H} + B, {H, A}
= A, {B, H} + {A, H}, B
(4.67)
geschrieben werden kann. Berücksichtigen wir ferner, daß
∂
{A, B} =
∂t
∂A
,B
∂t
∂B
+ A,
∂t
(4.68)
301
4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN
ist, so kann (4.66) wie folgt umgeschrieben werden:
d
{A, B} = A, {B, H} + {A, H}, B
dt
∂B
∂A
+
, B + A,
∂t
∂t
∂A
=
{A, H} +
,B
∂t
∂B
+ A, {B, H} +
∂t
d.h.
d
{A, B} =
dt
dA
,B
dt
dB
+ A,
dt
.
(4.69)
(4.70)
Der durch diese Gleichung ausgedrückte Sachverhalt wird auch
Poisson-Theorem genannt. Falls insbesondere A und B Erhaltungsgrößen sind, d.h.
dA dB
=
=0
(4.71)
dt
dt
gilt, ist also die Poisson-Klammer von A und B auch eine Erhaltungsgröße,
d
{A, B} = 0 ; {A, B} = const.
(4.72)
dt
Die Anwendung des Poisson-Theorems liefert selbstverständlich nicht
immer neue Bewegungsintegrale. Dies ist der Fall, wenn die PoissonKlammer zweier Größen A und B eine Funktion dieser Größen ist oder
trivialerweise auf eine Konstante führt. Trifft weder das eine noch das
andere zu, ist ein neues Bewegungsintegral gefunden.
4.4
Kanonische Transformationen
Kanonische Transformationen sind Transformationen des 2f dimensionalen Phasenraums der Variablen qα und pα , die diesen
302
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
Variablen in eindeutiger Weise neue Variable
qα′ = qα′ (qβ , pβ , t),
(4.73)
p′α = p′α (qβ , pβ , t)
(4.74)
zuordnen, wobei zu jeder Hamilton-Funktion H(qα , pα , t) eine neue
Hamilton-Funktion H ′ (qα′ , p′α , t) existiert mit der Eigenschaft, daß auch
in den neuen Variablen die Bewegungsgleichungen in Form von kanonischen Gleichungen
ṗ′α
∂H ′
=− ′ ,
∂qα
q̇α′
∂H ′
=
∂p′α
(4.75)
angegeben werden können, wenn bezüglich der Ausgangsvariablen die
kanonischen Gleichungen
ṗα = −
∂H
,
∂qα
q̇α =
∂H
∂pα
(4.76)
erfüllt sind. Mit anderen Worten, kanonische Transformationen lassen lassen die kanonischen Gleichungen forminvariant. Die Frage, ob
es derartige Transformationen gibt, läßt sich durch die Angabe eines
Konstruktionsverfahrens bejahen.
Wie wir wissen, sind die kanonischen Gleichungen aus dem Hamiltonschen Prinzip herleitbar, d.h., es muß mit
!
Z t2
f
X
dt
pα q̇α − H = 0
(4.77)
δ
t1
α=1
auch
δ
Z
t2
t1
dt
f
X
α=1
p′α q̇α′ − H ′
!
=0
(4.78)
gelten. Die Variationsprobleme (4.77) und (4.78) müssen dabei auf die
gleiche Lösungsmannigfaltigkeit führen, d.h., sie müssen einander äquivalent sein. Diese Äquivalenz ist vorhanden, wenn sich die beiden Integranden in (4.77) und (4.78) höchstens um die (totale) Zeitableitung
4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN
303
einer beliebigen Funktion R1 (qα , qα′ , t) unterscheiden (siehe auch Abschnitt 3.2.4),
f
X
pα q̇α − H =
|α=1 {z
L
Wegen
}
f
X
|α=1
p′α q̇α′ − H ′ +
{z
L′
d
R1 (qα , qα′ , t).
dt
(4.79)
}
δqα (t1 ) = δqα′ (t1) = δqα (t2) = δqα′ (t2 ) = 0
(4.80)
gilt offensichtlich
δ
Z
t2
dt
t1
d
R1 (qα , qα′ , t)
dt
= δR1 [qα (t2 ), qα′ (t2 ), t2] − δR1 [qα (t1 ), qα′ (t1 ), t1] = 0. (4.81)
Aus (4.79) folgt
f ∂R1
∂R1 ′
dR1 X ∂R1
=
q̇α + ′ q̇α +
dt
∂qα
∂qα
∂t
α=1
=
f
X
α=1
(pα q̇α − p′α q̇α′ ) + H ′ − H,
(4.82)
d.h., es müssen die Relationen
pα =
∂R1
,
∂qα
p′α = −
∂R1
∂qα′
(4.83)
(α = 1, 2, . . . , f ) und
H′ = H +
∂R1
∂t
(4.84)
304
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
gelten. Die 2f Gleichungen (4.83) stellen gerade die gesuchten Transformationsgleichungen für den Übergang von den qα , pα zu den qα′ , p′α
dar. Die (beliebige) Funktion R1 (qα , qα′ , t) heißt die Erzeugende der
Transformation. Auflösen der Gleichungen (4.83) nach den qβ , pβ liefert
qβ = qβ (qα′ , p′α, t),
pβ = pβ (qα′ , p′α , t)
(4.85)
und Einsetzen in H und R1 in (4.84) liefert dann die transformierte
Hamilton-Funktion4
H ′ (qα′ , p′α , t) = H[qβ (qα′ , p′α, t), pβ (qα′ , p′α , t), t]
+
∂
R1 [qβ (qα′ , p′α, t), qα′ , t]
∂t
(4.86)
Es kann zweckmäßig sein, als Erzeugende nicht eine Funktion der
Variablen qα , qα′ , sondern anderer alter und neuer Variablen zu wählen.
Wir wollen zwischen folgenden Typen von Erzeugenden unterscheiden:5 R1 (qα , qα′ , t), R2 (qα , p′α , t), R3(pα , qα′ , t), R4 (pα , p′α , t). Der Übergang von einer Erzeugenden zu einer anderen kann mittels LegendreTransformationen realisiert werden.
Gemäß (4.83) können die gestrichenen Koordinaten qβ′ als Funktionen der ungestrichenen Koordinaten qα und der gestrichenen Impulse
p′α aufgefaßt werden,
p′α = −
∂R1
∂qα′
;
qβ′ = qβ′ (qα , p′α , t).
(4.87)
Aus (4.82) folgt dann
f
dR1 X
=
(pα q̇α − p′α q̇α′ ) + H ′ − H
dt
α=1
f X
d ′ ′
=
pα q̇α − (pα qα ) + ṗ′α qα′ + H ′ − H
dt
α=1
4
(4.88)
Unter der partiellen Ableitung der Erzeugenden in der Gleichung (4.86) ist
∂R1 (qβ , qα′ , t)/∂t|qβ =qβ (qα′ ,p′α ,t) zu verstehen.
5
Die Erzeugende kann natürlich auch als Funktion der qα und pα (bzw. der qα′ und p′α ) aufgefaßt
werden. In diesem Fall folgen i. allg. keine (einfachen) algebraischen Transformationgleichungen,
sondern Differentialgleichungen.
4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN
305
bzw.
d
dt
R1 +
f
X
p′α qα′
α=1
Mit
!
=
f
X
α=1
(pα q̇α + qα′ ṗ′α ) + H ′ − H.
(4.89)
R2 (qα , p′α , t) = R1 qα , qβ′ (qα , p′α , t), t
+
f
X
p′α qα′ (qβ , p′β , t)
(4.90)
α=1
liefert (4.89)
f ∂R2 ′
∂R2
dR2 X ∂R2
q̇α + ′ ṗα +
=
dt
∂qα
∂pα
∂t
α=1
=
f
X
α=1
(pα q̇α + qα′ ṗ′α ) + H ′ − H,
(4.91)
d.h., es müssen anstelle von (4.83) und (4.84) nunmehr die Relationen
pα =
∂R2
,
∂qα
qα′ =
∂R2
∂p′α
(4.92)
(α = 1, 2, . . . , f ) und
∂R2
∂t
gelten. Die zwei übrigen Fälle lassen sich analog behandeln:
f dR1 X d
′ ′
=
(pα qα ) − qα ṗα − pα q̇α + H ′ − H,
dt
dt
α=1
H′ = H +
d
dt
R1 −
|
f
X
α=1
p α qα
{z
R3(pα , qα′ )
!
}
=
=
(4.93)
(4.94)
dR3
dt
f
X
α=1
(−qα ṗα − p′α q̇α′ ) + H ′ − H,
(4.95)
306
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
qα = −
∂R3
,
∂pα
p′α = −
∂R3
,
∂qα′
∂R3
,
∂t
f dR2 X d
′ ′
=
(pα qα ) − qα ṗα + qα ṗα + H ′ − H,
dt
dt
α=1
H′ = H +
d
dt
R2 −
|
f
X
α=1
p α qα
{z
R4 (pα , p′α)
!
}
=
dR4
dt
=
f
X
α=1
qα = −
(4.96)
(4.97)
(4.98)
(−qα ṗα + qα′ ṗ′α ) + H ′ − H,
(4.99)
∂R4
,
∂p′α
(4.100)
∂R4
,
∂pα
qα′ =
∂R4
.
(4.101)
∂t
In den bisher betrachteten Fällen, in denen die Erzeugende von jeweils einer Sorte alter und einer Sorte neuer Variablen abhing, ergaben
sich algebraische Gleichungen zur Bestimmung der Transformation. Die
Erzeugende kann natürlich auch als Funktion der alten Koordinaten
und Impulse bzw. der neuen Koordinaten und Impulse gegeben werden. Drücken wir beispielsweise die qα′ in R1 (qα , qα′ ) als Funktion der
alten Koordinaten und Impulse aus,
H′ = H +
qα′ = qα′ (qβ , pβ , t),
(4.102)
so können wir die Erzeugende als Funktion der alten Koordinaten und
Impulse auffassen,
R = R(qα , pα , t) ≡ R1[qα , qβ′ (qα , pα , t), t],
(4.103)
f dR X ∂R
∂R
∂R
q̇α +
ṗα +
=
.
dt
∂q
∂p
∂t
α
α
α=1
(4.104)
und es gilt
4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN
307
Aus (4.102) folgt
q̇α′
=
f X
∂q ′
β=1
∂qα′
α
q̇β +
ṗβ
∂qβ
∂pβ
∂qα′
.
+
∂t
(4.105)
Wir setzen dies auf der rechten Seite (der erste Zeilen) von (4.88) ein
und erhalten


f f
f
X ∂q ′
X
dR X
∂q ′
∂q ′
α
p′α 
pα q̇α −
=
q̇β + α ṗβ + α  + H ′ − H
dt
∂qβ
∂pβ
∂t
α=1
α=1
β=1


 

f
f
f
′
′
X ∂qβ
X
X ∂qβ
 q̇α − 
 ṗα 
pα −
p′β
p′β
=
∂qα
∂pα
α=1
β=1
β=1
−
f
X
p′α
α=1
∂qα′
+ H ′ − H. (4.106)
∂t
Der Vergleich mit (4.104) liefert
f
X
∂qβ′
∂R
′
pβ
= pα −
,
∂qα
∂qα
β=1
f
X
∂qβ′
∂R
′
pβ
=−
,
∂pα
∂pα
(4.107)
β=1
f
X ∂q ′
∂R
′
=H −H −
p′α α .
∂t
∂t
α=1
(4.108)
Ist also die Erzeugende als Funktion der alten kanonisch konjugierten
Variablen gegeben, erfordert die Bestimmung der Transformation die
Lösung der partiellen Differentialgleichungen (4.107). Es ist unschwer
zu sehen, daß analoge partielle Differentialgleichungen zu lösen sind,
wenn die Erzeugende als Funktion der neuen kanonisch konjugierten
Variablen gegeben ist.
Die sehr große Freiheit in der Wahl der kanonischen Transformationen bringt es mit sich, daß der Koordinaten- und Impulscharakter der
kanonischen Variablen ganz verloren gehen kann. Da die Bedeutung der
Benennung sehr unscharf werden kann, werden die Variablen qα und pα
häufig einfach als kanonisch konjugierte Variable bezeichnet.
308
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
Beispiel 1:
Wählen wir als Erzeugende die Funktion
R=
f
X
qα qα′ ,
(4.109)
α=1
so liefern die Relationen (4.83)
pα =
∂R
= qα′ ,
∂qα
p′α = −
∂R
= −qα .
∂qα′
(4.110)
Bei dieser Transformation werden also Koordinaten“ und Impulse“
”
”
(bis auf ein Vorzeichen) vertauscht, so daß es wenig Sinn macht, die
einen als Koordinaten und die anderen als Impulse zu bezeichnen.
Beispiel 2: Kanonische Transformation und Störungsrechnung
Wir wollen der Einfachheit halber ein eindimensionales Problem mit
der Hamilton-Funktion
H(x, p) = H0(x, p) + HI (x, p)
(4.111)
betrachten und annehmen, daß die Lösung der zu H0 gehörenden Bewegungsgleichungen bekannt ist:
ṗ = −
∂H0
,
∂x
ẋ =
∂H0
∂p
;
p = p0(t),
x = x0(t).
(4.112)
Falls die Lösung des durch die Hamilton-Funktion H(x, p) definierten
Problems nicht in geschlossener Form möglich ist und die durch HI gegebene Störung klein ist, kann eine störungstheoretische Entwicklung
versucht werden. Zu diesem Zweck machen wir den Ansatz
x = x0(t) + x′ ,
p = p0(t) + p′ ,
(4.113)
der als kanonische Transformation von den Variablen x, p zu den Variablen x′ , p′ aufgefaßt werden kann und auf eine explizit zeitabhängige
Hamilton-Funktion führt. Offensichtlich ist
R(x, p′, t) = [x − x0 (t)] [p′ + p0(t)]
(4.114)
4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN
309
die Erzeugende:
∂R
= p′ + p0(t) = p,
(4.115)
∂x
∂R
= x − x0(t) = x′ .
(4.116)
′
∂p
Die zu den kanonische konjugierten Variablen x′, p′ gehörende
Hamilton-Funktion H ′ lautet folglich
H′ = H +
∂R
,
∂t
(4.117)
wobei
∂R
= − [p′ + p0(t)] ẋ0(t) + [x − x0(t)] ṗ0(t)
∂t
= − [p′ + p0(t)] ẋ0(t) + x′ṗ0(t)
(4.118)
gilt. Ausführlich geschrieben, lautet also die Hamilton-Funktion H ′
H ′ (x′, p′, t) = H[x0(t) + x′ , p0(t) + p′ ]
+ x′ṗ0 (t) − [p′ + p0(t)] ẋ0(t).
(4.119)
Die Differentialgleichungen zur Bestimmung von x′ (t) und p′ (t) sind die
kanonischen Gleichungen
∂H
∂H ′
ṗ = − ′ = − ′ − p˙0(t) = f (x′, p′, t),
∂x
∂x
′
∂H
∂H ′
=
− x˙0(t) = g(x′, p′ , t),
ẋ =
′
′
∂p
∂p
wobei wir o.B.d.A. als Anfangsbedingungen
′
x′ (t0) = 0,
p′ (t0) = 0
(4.120)
(4.121)
(4.122)
annehmen können [x(t0) = x0(t0), p(t0) = p0(t0 )]. Die formale Lösung
von (4.120) und (4.121) lautet
Z t
dτ g[x′(τ ), p′(τ ), τ ],
(4.123)
x′(t) =
t0
310
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
′
p (t) =
Z
t
dτ f [x′(τ ), p′(τ ), τ ],
(4.124)
dτ g[x′(n) (τ ), p′(n)(τ ), τ ],
(4.125)
dτ f [x′(n)(τ ), p′(n)(τ ), τ ],
(4.126)
t0
und sukzessive Iteration liefert
x′(n+1)(t)
p′(n+1)(t)
=
Z
t
Z
t
t0
=
t0
x′(0) (t) = p′(0) (t) = 0.
(4.127)
Poisson-Klammern
Kanonische Transformationen sind gerade solche Transformationen, die
die Poisson-Klammern zweier (beliebiger) Größen A und B invariant
lassen,
{A, B}p,q = {A, B}p′,q′
(4.128)
wobei die Bezeichnungsweise {A, B}p,q ({A, B}p′,q′ ) angibt, daß die
Größen A und B als Funktionen der qα , pα (qα′ , p′α) aufzufassen sind.
Die Gleichung (4.128) läßt sich durch direktes Ausrechnen beweisen,
f X
∂A ∂B
∂A ∂B
{A, B}p,q =
−
∂q
∂p
∂pα ∂qα
α
α
α=1
"
!
f
′
′
X
∂A ∂qβ
∂A ∂pβ
∂B ∂p′γ
∂B ∂qγ′
=
+
+
∂qβ′ ∂qα ∂p′β ∂qα
∂qγ′ ∂pα ∂p′γ ∂pα
α,β,γ=1
!
#
′
′
′
′
∂B ∂qγ
∂A ∂pβ
∂B ∂pγ
∂A ∂qβ
(4.129)
−
+
+
∂qβ′ ∂pα ∂p′β ∂pα
∂qγ′ ∂qα ∂p′γ ∂qα
311
4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN
bzw.
{A, B}p,q =
f
X
α,β,γ=1
"
∂A ∂B
∂qβ′ ∂qγ′
∂A ∂B
+ ′
∂pβ ∂p′γ
∂qβ′ ∂qγ′
∂qβ′ ∂qγ′
−
∂qα ∂pα ∂pα ∂qα
∂p′β ∂p′γ ∂p′β ∂p′γ
−
∂qα ∂pα ∂pα ∂qα
∂qβ′ ∂p′γ
∂qβ′ ∂p′γ
−
∂qα ∂pα ∂pα ∂qα
#
′ ′
′ ∂p′ ∂p
∂q
∂q
∂A ∂B
γ
γ
β
β
− ′ ′
,
−
∂pβ ∂qγ ∂qα ∂pα ∂pα ∂qα
∂A ∂B
+ ′ ′
∂qβ ∂pγ
(4.130)
woraus zunächst
{A, B}p,q =
f
X
"
∂A ∂B ′ ′
∂A ∂B
{qβ , qγ }p,q + ′ ′ {p′β , p′γ }p,q
′
′
∂qβ ∂qγ
∂pβ ∂pγ
β,γ=1
!
#
∂A ∂B
∂A ∂B
+
− ′ ′ {qβ′ , p′γ }p,q
(4.131)
′
′
∂qβ ∂pγ ∂pγ ∂qβ
folgt. Das Problem reduziert sich also auf die Berechnung der PoissonKlammern der transformierten Koordinaten und Impulse als Funktionen der ursprünglichen Koordinaten und Impulse. Der Zusammenhang
zwischen beiden Arten von Variablen wird durch eine kanonische Transformation vermittelt, so daß wegen
pα =
∂R1
,
∂qα
p′β = −
∂R1
∂qβ′
(4.132)
[Gleichungen (4.83)]
∂p′β
∂pα
∂ 2R1
=
=
−
∂qα ∂qβ′
∂qα
∂qβ′
(4.133)
gelten muß. Analog folgt wegen
pα =
∂R2
,
∂qα
qβ′ =
∂R2
∂p′β
(4.134)
312
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
[Gleichungen (4.92)]
∂qβ′
∂ 2R2
∂pα
=
.
=
∂qα ∂p′β
∂qα
∂p′β
(4.135)
Mit (4.133) und (4.135) erhalten wir
{qβ′ , p′γ }p,q =
=
f X
∂qβ′
α=1
∂qβ′
∂p′γ
∂p′γ
−
∂pα ∂pα
∂pα
∂qα
|{z}
|{z}
∂qα /∂qγ′
−∂pα /∂qγ′
f X
∂qβ′ ∂qα
α=1
∂qβ′ ∂pα
+
∂qα ∂qγ′
∂pα ∂qγ′
∂qβ′
= ′ = δβ,γ ,
∂qγ
(4.136)
d.h.
{qβ′ , p′γ }p,q = {qβ′ , p′γ }p′ ,q′ = δβ,γ .
(4.137)
Ferner finden wir
{qβ′ , qγ′ }p,q
=
f X
∂qβ′
∂qβ′
∂qγ′
∂qγ′
−
∂qα
∂pα
∂pα ∂qα
|{z}
|{z}
′
−∂qα /∂pγ
∂pα/∂p′γ
α=1
=−
f X
∂qβ′ ∂qα
α=1
∂qβ′ ∂pα
+
∂qα ∂p′γ ∂pα ∂p′γ
∂qβ′
= − ′ = 0,
∂qγ
(4.138)
d.h.
{qβ′ , qγ′ }p,q = {qβ′ , qγ′ }p′,q′ = 0,
(4.139)
{p′β , p′γ }p,q = {p′β , p′γ }p′ ,q′ = 0.
(4.140)
und analog
Die Gleichungen (4.137), (4.139) und (4.140) bringen die Invarianz der
Poisson-Klammern der kanonischen Variablen bei kanonischen Transformationen zum Ausdruck. Setzen wir (4.137), (4.139) und (4.140) in
(4.131) ein, so folgt die aufgestellte Behauptung (4.128).
4.4. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN
313
Infinitesimale kanonische Transformationen
Eine Transformation
qα′ = qα + ǫgα (qα , pα , t),
(4.141)
p′α = pα + ǫhα (qα , pα , t),
(4.142)
heißt infinitesimal, wenn ǫ so klein ist, daß Glieder proportional zu ǫ2
und höheren Potenzen von ǫ vernachlässigt werden dürfen. Mit (4.141)
und (4.142) folgt
" f
#
f
X
X
L − L′ =
pα q̇α − H −
p′α q̇α′ − H ′
α=1
= −ǫ
α=1
f
X
α=1
(ġα pα + hα q̇α ) + H ′ − H
f
f
X
d X
(gα ṗα − hα q̇α ) + H ′ − H.
gα pα + ǫ
= −ǫ
dt α=1
α=1
(4.143)
Damit die Transformation kanonisch ist, muß die rechte Seite dieser
Gleichung gleich der totalen zeitlichen Ableitung einer Funktion (Erzeugenden) R von 2f unabhängigen Variablen und der Zeit sein, d.h.
ǫ
f
X
α=1
(gα ṗα − hα q̇α ) + H ′ − H
=ǫ
f X
∂R
α=1
woraus
gα =
∂R
∂R
q˙α +
p˙α + ǫ
,
∂qα
∂pα
∂t
(4.144)
∂R
,
∂pα
(4.145)
hα = −
H′ = H + ǫ
∂R
∂t
∂R
,
∂qα
(4.146)
314
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
folgt, und die Gleichungen (4.141) und (4.142) lauten:
qα′ = qα +
∂R
ǫ
∂pα
(4.147)
p′α = pα −
∂R
ǫ
∂qα
(4.148)
Entsprechend den kanonischen Gleichungen gilt für die zeitliche
Entwicklung der qα und pα
qα (t + dt) = qα (t) + q̇α dt = qα (t) +
∂H
dt,
∂pα
(4.149)
∂H
dt.
(4.150)
∂qα
Wir vergleichen mit (4.147) und (4.148) und finden, daß die kanonischen Gleichungen im Sinne einer infinitesimalen kanonischen Transformation mit H als der Erzeugenden interpretiert werden können
[qα′ 7→ qα (t + dt), p′α 7→ pα (t + dt), ǫ 7→ dt]. Gilt insbesondere Energieerhaltung, bleibt die Hamilton-Funktion bei dieser Transformation
unverändert.
pα (t + dt) = pα (t) + ṗα dt = pα (t) −
4.5
Die Hamilton-Jacobi-Gleichung
Die kanonischen Gleichungen als 2f gewöhnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung sind einer (2f + 1)-dimensionalen partiellen Differentialgleichung 1. Ordnung, der Hamilton-Jacobi-Gleichung, äquivalent. Dazu betrachten wir eine kanonische Transformation, die auf
H′ = 0
(4.151)
führt. In diesem Fall werden alle transformierten kanonischen Variablen
qα′ , p′α zu zyklischen Variablen, d.h., es gilt
qα′ = aα = const.,
p′α = bα = const.
(4.152)
4.5. DIE HAMILTON-JACOBI-GLEICHUNG
315
(α =1, 2, . . . , f ). Ist die Transformation von den qα , pα zu den qα′ , p′α bekannt, ist das dynamische Problem gelöst. Die (gesuchten) kanonischen
Variablen qα , pα können dann durch die transformierten kanonischen
Variablen qα′ , p′α – und zwar in Form der Konstanten aα , bα – und der
Zeit ausgedrückt werden,
qα = qα (qα′ , p′α, t) = qα (aα , bα , t),
(4.153)
pα = pα (qα′ , p′α , t) = pα (aα , bα , t).
(4.154)
Die kanonischen Variablen qα , pα sind damit als Zeitfunktionen gegeben. Da sie noch von 2f (Integrations-)Konstanten aα , bα abhängen, die
z.B. entsprechend den jeweiligen konkreten Anfangsbedingungen spezifiziert werden können, stellen sie offensichtlich die allgemeine Lösung
des Problems dar.
Das eigentliche Problem besteht natürlich darin, die kanonische
Transformation zu bestimmen. Wir betrachten dazu die Erzeugende
R = R(qα , p′α, t) = R(qα , bα , t),
(4.155)
so daß nach (4.92)
pα =
∂R
,
∂qα
aα =
∂R
∂bα
(4.156)
(α = 1, 2, . . . , f ) gilt. Da ferner nach (4.93)
H′ = H +
∂R
∂t
(4.157)
gelten muß, folgt wegen der Forderung H ′ = 0
H+
∂R
= 0,
∂t
(4.158)
d.h. unter Berücksichtigung von (4.156)
∂R
∂R
,t +
=0
H qα ,
∂qα
∂t
(4.159)
316
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
bzw. ausführlich
∂R ∂R
∂R
∂R
H q1 , q2 , . . . , qf ,
,
,...,
,t +
= 0.
∂q1 ∂q2
∂qf
∂t
(4.160)
Diese als Hamilton-Jacobi-Gleichung bezeichnete Gleichung ist die partielle Differentialgleichung für die gesuchte Erzeugende R.
Jede partielle Differentialgleichung erster Ordnung hat eine Lösung,
die von einer beliebigen Funktion abhängt. Eine solche Lösung heißt
allgemeine Lösung. Im vorliegenden Fall ist jedoch nicht die allgemeine Lösung, sondern die vollständige Lösung gefragt. Die vollständige
Lösung ist eine Lösung, die gerade so viele (frei wählbare) Konstanten
enthält, wie unabhängige Variable vorhanden sind. In der HamiltonJacobi-Gleichung treten die Zeit und die f Variablen qα als unabhängige Variablen auf. Folglich muß die vollständige Lösung dieser Gleichung
gerade f + 1 freie Konstanten enthalten. Da von der Funktion R in der
Hamilton-Jacobi-Gleichung nur Ableitungen vorkommen, ist eine der
Konstanten additiv, und somit hat die vollständige Lösung die Form
R = f (q1, q2, . . . , qf , b1, b2, . . . , bf , t) + A
(4.161)
und die gesuchte Erzeugende ist bestimmt. Mit Hilfe der Gleichungen
(4.156) können dann die gesuchten kanonischen Variablen qα , pα als
Funktionen der Zeit berechnet werden.
Wir wollen uns die physikalische Bedeutung der Erzeugenden R in
der Hamilton-Jacobi-Gleichung klarmachen. Es gilt
f
dR X ∂R
∂R
=
q̇α +
dt
∂qα
∂t
α=1
(4.162)
und wegen (4.156) und (4.159)
f
dR X
pα q̇α − H = L,
=
dt
α=1
d.h.
R=
Z
dt L = S.
(4.163)
(4.164)
317
4.5. DIE HAMILTON-JACOBI-GLEICHUNG
Die Erzeugende R in der Hamilton-Jacobi-Gleichung ist also (bis auf
eine unwesentliche Konstante) gleich der Wirkung S. Folglich ist die
Hamilton-Jacobi-Gleichung die Gleichung, der die Wirkung S genügen
muß:
∂S
∂S
H qα ,
,t +
=0
∂qα
∂t
(4.165)
Unter Berücksichtigung des Hamilton-Prinzips folgt diese Gleichung
natürlich auch direkt aus der Definition der Wirkung als Funktion der
Zeit
Z
t
dτ L,
S=
(4.166)
t0
wobei t0 ein beliebig gewählter Anfangszeitpunkt ist. Gemäß (4.16) gilt
(für festes t)
δS =
Z
t
t0
dτ
"
f X
∂L
d ∂L
−
δqα
∂q
dt
∂
q̇
α
α
α=1 |
{z
}
0
#
t
f
X
∂L
δqα +
∂ q̇α
α=1 |{z}
t0
pα
(4.167)
und wegen der Gültigkeit der Lagrange-Gleichungen
f X
(0) (0)
pα δqα − pα δqα
δS =
(4.168)
α=1
(0)
(0)
[qα = qα (t0), pα = pα (t0)]. Die Wirkung kann also als Funktion der
(0)
qα = qα (t) und qα aufgefaßt werden, wobei gegebenenfalls noch eine
explizite Zeitabhängigkeit zu berücksichtigen ist,
S = S(qα , qα(0) , t),
(4.169)
und es gilt
pα =
∂S
,
∂qα
p(0)
α = −
∂S
(0)
∂qα
.
(4.170)
318
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
(0)
Für festgehaltene Konstanten qα haben wir also
f
f
dS X ∂S
∂S X
∂S
=
q̇α +
=
,
pα q̇α +
dt
∂q
∂t
∂t
α
α=1
α=1
(4.171)
und der Vergleich mit
dS
=L
dt
[siehe (4.166)] liefert unter Berücksichtigung von (4.170)
f
X
∂S
∂S
∂S
= H qα ,
,t +
= 0,
pα q̇α − L +
∂t
∂q
∂t
α
}
|α=1 {z
H
(4.172)
(4.173)
d.h. die Hamilton-Jacobi-Gleichung (4.165).
Hängt die Hamilton-Funktion nicht explizit von der Zeit ab, gilt
(skleronome Bedingungen vorausgesetzt) Energieerhaltung. In diesem
Fall ist aus (4.165) zu ersehen, daß
S = −Et + S0,
(4.174)
wobei die charakteristische Funktion oder auch verkürzte Wirkungsfunktion genannte Funktion S0 nur von den qα abhängt und
der verkürzten Hamilton-Jacobi-Gleichung genügt:
∂S0
H qα ,
∂qα
=E
(4.175)
Für das totale Differential der charakteristischen Funktion gilt offensichtlich
f
f
X
X
∂S0
dqα =
pα dqα .
(4.176)
dS0 =
∂q
α
α=1
α=1
Andererseits ist
dS = Ldt = dS0 − E dt,
(4.177)
319
4.5. DIE HAMILTON-JACOBI-GLEICHUNG
d.h.
dS0 = (L + E) dt,
(4.178)
woraus mit L = T − U und E = T + U
dS0 = 2T dt
(4.179)
folgt. Die charakteristische Funktion eines konservativen, skleronomen
Systems zwischen zwei Zeiten t1 und t2 ist also durch das Zeitintegral
der doppelten kinetischen Energie gegeben:
Z t2
S0 =
dt 2T
(4.180)
t1
(hinsichtlich der Äquivalenz der Gleichungen (4.176) und (4.179) siehe
auch (3.250).
Beispiel: Wurf
Für die Bewegung eines Massenpunkts im homogenen Schwerefeld der
Erde lautet die Hamilton-Funktion
1 2
1 2
1 2
H=
px +
py +
p + mgz,
(4.181)
2m
2m
2m z
und folglich lautet die verkürzte Hamilton-Jacobi-Gleichung
2
2
2
1 ∂S0
1
1
∂S0
∂S0
+
+
+ mgz = E.
2m ∂x
2m ∂y
2m ∂z
(4.182)
Wir versuchen, die Gleichung durch einen Separationsansatz
(1)
(2)
(3)
S0(x, y, z) = S0 (x) + S0 (y) + S0 (z)
(4.183)
zu lösen:
1
2m
(1)
dS0
dx
!2
1
+
2m
(2)
dS0
dy
!2
1
+
2m
(3)
dS0
dz
!2
+ mgz = E.
(4.184)
Diese Gleichung ist erfüllt für
1
2m
(1)
dS0
dx
!2
= const.,
(4.185)
320
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
(2)
dS0
1
2m
1
2m
dy
!2
!2
= const.,
(4.186)
+ mgz = const..
(4.187)
(3)
dS0
dz
Die Gleichungen (4.185) und (4.186) liefern
(1)
dS0
= c1
dx
(4.188)
(2)
(4.189)
S0 (x) = c1 x,
;
S0 (y) = c2 y,
(2)
dS0
= c2
dy
(1)
;
und aus (4.187) folgt
(3)
dS0
=
dz
d.h.
(3)
S0 = −
Offensichtlich gilt
q
c23 − 2m2 gz ,
3/2
2
2
2
c
−
2m
gz
.
6m2g 3
1
c21 + c22 + c23 = E.
2m
Mit (4.188), (4.189) und (4.191) lautet die Wirkung (4.174)
1
c21 + c22 + c23 t
2m
3/2
2
2
2
+ c1 x + c2 y −
c
−
2m
gz
,
6m2 g 3
(4.190)
(4.191)
(4.192)
S(x, y, z, t) = −
und wir finden
c1
∂S
= − t + x = a1 ,
∂c1
m
∂S
c2
= − t + y = a2 ,
∂c2
m
1/2
∂S
c3
c3
= a3 .
= − t − 2 c23 − 2m2gz
∂c3
m
mg
(4.193)
(4.194)
(4.195)
(4.196)
4.6. VERALLGEMEINERTE INTEGRALPRINZIPIEN
321
Die Gleichungen (4.194) – (4.196) stellen die bekannte Bahnkurve für
den Wurf im homogenen Schwerefeld der Erde dar. Die Gleichungen
(4.194) und (4.195) beschreiben eine gleichförmig geradlinige Bewegung in x und y-Richtung, und die Gleichung (4.194) liefert für die
Bewegung in z-Richtung die Überlagerung einer gleichförmig geradlinigen mit der gleichförmig beschleunigten Bewegung, wie durch eine
einfache Umformung zu sehen ist,
2
c23
g
a3 m
z−
,
(4.197)
=−
t+
2m2g
2
c3
d.h.
z = − 21 gt2 + at + b
(a, b - Konstante).
4.6
(4.198)
Verallgemeinerte Integralprinzipien
Das Hamiltonsche Prinzip der Mechanik in der im Abschnitt 4.1 angegebenen Form setzt die Existenz einer Lagrange-Funktion L = T −
U voraus. Dies ist natürlich immer möglich, wenn das System hinreichend groß“ gemacht wird. Das Hamiltonsche Prinzip kann aber auch
”
so allgemein formuliert werden, daß es auch dann angewendet werden
kann, wenn keine potentielle Energie definierbar ist und damit keine
Lagrange-Funktion im üblichen Sinn angebbar ist. Um dies einzusehen, besinnen wir uns zunächst wieder auf das d’Alembertsche Prinzip
3N
X
i=1
(mi ẍi − Fi ) δxi = 0
(4.199)
und schreiben
3N
X
mi ẍiδxi =
i=1
d.h.
3N X
d
i=1
3N
X
i=1
dt
(mi ẋi δxi) − mi ẋiδ ẋi ,
3N
X
d
(mi ẋiδxi ) − δT.
mi ẍiδxi =
dt
i=1
(4.200)
(4.201)
322
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
Berücksichtigen wir ferner, daß
3N
X
Fi δxi = δW
(4.202)
i=1
die virtuelle Arbeit der am System angreifenden eingeprägten Kräfte
ist, so nimmt die Gleichung (4.199) die Form der Lagrangeschen Zentralgleichung
3N
X
d
δT + δW =
(mi ẋiδxi )
(4.203)
dt
i=1
an.
Zeitliche Integration von (4.203) in den Grenzen t1 bis t2 liefert
dann mit δxi (t1) = δxi (t2) = 0:
δ
Z
t2
dt T +
t1
Z
t2
dt δW = 0
(4.204)
t1
Im allgemeinen Fall, wenn die (äußeren) eingeprägten Kräfte kein Potential besitzen, kann im zweiten Intergral die Variation δ nicht vor das
Integral gezogen werden. Besitzen die (äußeren) eingeprägten Kräfte ein
Potential, δW = −δU , so haben wir
δT + δW = δ(T − U ) = δL
(4.205)
und (4.204) nimmt die Form (4.12) bzw. (4.14) an.
Wir wollen bei der Variation die Zeit mitvariieren, d.h., wir wollen
die Bahnkurve xi (t) mit benachbarten Kurven x′i(t) zu unterschiedlichen Zeiten vergleichen,
∆xi = x′i (t + ∆t) − xi(t),
(4.206)
und ∆xi und ∆t als differenzierbare Funktionen der Zeit ansehen. Wir
finden bis auf kleine Größen höherer als erster Ordnung
∆xi = x′i(t + ∆t) − xi(t + ∆t) + xi (t + ∆t) − xi(t)
= δxi + ẋi ∆t
(4.207)
4.6. VERALLGEMEINERTE INTEGRALPRINZIPIEN
323
[δxi(t + ∆t) ≈ δxi(t)] und analog
∆ẋi = ẋ′i(t + ∆t) − ẋi (t) = δ ẋi + ẍi ∆t.
(4.208)
Die Variation einer Funktion Φ(xi, ẋi, t) lautet somit
∆Φ = Φ(xi + ∆xi, ẋi + ∆ẋi, t + ∆t) − Φ(xi, ẋi, t)
3N X
∂Φ
∂Φ
∂Φ
=
∆xi +
∆ẋi +
∆t
∂x
∂
ẋ
∂t
i
i
i=1
" 3N #
X ∂Φ
∂Φ
∂Φ
= δΦ +
ẋi +
ẍi +
∆t
∂x
∂
ẋ
∂t
i
i
i=1
= δΦ +
dΦ
∆t.
dt
(4.209)
Man beachte, daß bei der betrachteten Variationsart die Operationen
∆ und d/dt nicht miteinander vertauscht werden dürfen.
Wir formen den Term auf der rechten Seite der Lagrangeschen Zentralgleichung (4.203) unter Berücksichtigung von (4.207) etwas um,
3N
3N
d X
d X
mi ẋiδxi =
mi ẋi (∆xi − ẋi ∆t)
dt i=1
dt i=1
3N
d X
d
=
mi ẋi ∆xi − (2T ∆t)
dt i=1
dt
3N
d X
d∆t
dT
=
∆t − 2T
,
mi ẋi ∆xi − 2
dt i=1
dt
dt
(4.210)
und erhalten
3N
d∆t
d X
dT
∆t + 2T
=
mi ẋi ∆xi .
δT + δW + 2
dt
dt
dt i=1
(4.211)
324
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
Zeitliche Integration von t1 bis t2 liefert dann
Z
t2
t1
dt δT + δW + 2
dT
d∆t
∆t + 2T
dt
dt
=
3N
X
i=1
Aus den Nebenbedingungen
3N
X
fki dxi + fk0 dt = 0
!t2
mi ẋi ∆xi .
(k = 1, 2, . . . , r)
t1
(4.212)
(4.213)
i=1
[siehe (3.9)] und den für virtuelle Verrückungen geltenden Bedingungen
3N
X
fki δxi = 0
(k = 1, 2, . . . , r)
(4.214)
i=1
folgt wegen (4.207) unschwer
3N
X
fki ∆xi + fk0 ∆t = 0
(k = 1, 2, . . . , r).
(4.215)
i=1
Die weitere Auswertung von (4.212) zusammen mit (4.215) kann in
unterschiedlicher Weise erfolgen. Wird ∆t = 0 gesetzt und werden die
Variationen δxi an den Grenzen ebenfalls Null gesetzt, δxi =0, gelangen
wir zu (4.204). Wir wollen für den Fall ∆t 6= 0 die Variationen ∆xi und
∆t an den Grenzen so wählen, daß
! t2
3N
X
mi ẋi ∆xi = 0
(4.216)
i=1
t1
gilt. Ferner wollen wir so variieren, daß (anstelle ∆t = 0) die Relation
δT = δW
(4.217)
erfüllt ist, d.h., bezüglich der virtuellen Verrückungen soll die Zunahme
der kinetischen Energie gleich der virtuellen Arbeit sein. Damit sowie
δT = ∆T −
dT
∆t
dt
(4.218)
4.6. VERALLGEMEINERTE INTEGRALPRINZIPIEN
[siehe Gleichung (4.209)] geht die Gleichung (4.212) in
Z t2 d∆t
dt ∆T + T
=0
dt
t1
325
(4.219)
über. Wegen
∆
Z
t2
dt T =
Z
t2
d(t + ∆t) (T + ∆T ) −
t1
t1
=
Z
t2
t1
d∆t
dt ∆T + T
dt
Z
t2
dt T
t1
(4.220)
können wir also (4.219) in die Form
∆
Z
t2
dt T = 0
(4.221)
t1
bringen, wobei natürlich die Nebenbedingen (4.215) zu erfüllen sind.
Verglichen mit den gemäß (4.216) und (4.217) zugelassenen Vergleichsbahnen verschwindet [unter Berücksichtigung der Nebenbedingungen
(4.215)] die Variation des Zeitintegrals der kinetischen Energie für die
wirkliche Bewegung (Euler-Maupertuis-Prinzip).
Bei skleronomen Systemen können die Bedingungsgleichungen
(4.215) und die Randbedingung (4.216) erfüllt werden, wenn für t1 und
t2 ∆xi =0 und ∆t beliebig ist. In diesem Fall können also die Vergleichsbewegungen zwischen gegebener Anfangs- und Endlage zu beliebigen
Zeiten ablaufen. Ist das System noch konservativ, so gilt wegen (4.217)
δ(T + U ) = δE = 0,
(4.222)
d.h., die Gesamtenergie längs einer Vergleichsbahn hat den gleichen
Wert wie längs der wirklichen Bahn. Unter den genannten Bedingungen können wir also folgende Aussage treffen: Die Variation des Zeitintegrals der kinetischen Energie verschwindet für die wirkliche Bewegung verglichen mit Nachbarbewegungen gleicher Gesamtenergie sowie
326
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
gleicher Anfangs- und Endlage, die zu beliebigen Zeiten durchlaufen
werden. Mit (4.180) nimmt (4.221) dann die Form
∆S0 = 0
(4.223)
an. Das heißt, unter den gegebenen Bedingungen verschwindet nicht
die Variation der Wirkung, sondern die die Variation der verkürzten
Wirkung.6
Im Falle konservativer, skleronom-holonomer Systeme kann (4.223)
noch etwas weiter umgeformt werden. Es gilt bekanntlich
f
X
2
2T dt =
g αβ dqα dqβ .
(4.224)
α,β=1
Sehen wir die g αβ als die Elemente des metrischen Fundamentaltensors
des Konfigurationsraums an, so ergibt sich für das Linienelement
2
ds =
f
X
g αβ dqα dqβ
(4.225)
α,β=1
und es gilt
2T dt2 = ds2
;
ds
dt = √ .
2T
(4.226)
Damit wird aus (4.223)
∆S0 = ∆
Z
s2
ds
√
2T = 0,
(4.227)
s1
so daß i. allg.
Z s2
s1
ds
√
T =
Z
s2
s1
√
ds E − U = Extremum.
(4.228)
Verschwinden die eingeprägten Kräfte, dann reduziert sich E − U auf
eine Konstante, und aus (4.228) wird
Z s2
ds = Extremum.
(4.229)
s1
6
Dies ist natürlich in Übereinstimmung mit dem Hamilton-Prinzip zusammen mit den Gleichungen (4.174) und (4.180), wie unschwer zu sehen ist.
327
4.7. TEILCHEN- UND WELLENAUSBREITUNG
Unterliegt also das Massenpunktsystem keinen eingeprägten Kräften,
so ist die Länge der tatsächlich zwischen zwei Punkten im Konfigurationsraum (in Übereinstimmung mit den Nebenbedingungen) durchlaufenen Bahn i. allg. extremal und zwar in der Regel minimal. Man spricht
in diesem Zusammenhang auch von dem Prinzip der kürzesten
Bahn.
4.7
Teilchen- und Wellenausbreitung
Wir betrachten einen Massenpunkt mit den kartesischen Koordinaten
x, y, z, der sich in einem konservativen Kraftfeld bewegen soll. Gemäß
(4.174) gilt für die Wirkung
S(x, y, z, t) = S0 (x, y, z) − Et.
(4.230)
Während die Gleichung S0 (x, y, z) = const. eine zeitlich unveränderliche Fläche im Konfigurationsraum des Massenpunkts beschreibt, stellt
S(x, y, z, t) = const. eine bewegte Fläche dar. Man spricht in diesem
Zusammenhang auch von der Ausbreitung von Wirkungswellen. Wenn
zum Zeitpunkt t die Fläche S = C mit der Fläche
S0 (x, y, z) = C + Et
(4.231)
zusammenfällt, so fällt sie zum Zeitpunkt t + dt mit der Fläche
S0 (x, y, z) + dS0(x, y, z) = C + E(t + dt)
(4.232)
zusammen, d.h.
dS0 = E dt.
(4.233)
Ist ds der senkrechte Abstand der beiden benachbarten S0 -Flächen, so
gilt andererseits
dS0 = ds|∇S0 |
(4.234)
(ds > 0 für dS0 > 0), und der Vergleich mit (4.233) liefert
ds|∇S0| = Edt,
(4.235)
328
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
woraus für den Betrag der Ausbreitungsgeschwindigkeit der Wirkungswellen u = |ds/dt| die Beziehung
u=
|E|
|∇S0|
(4.236)
folgt. Die verkürzte Hamilton-Jakobi-Gleichung (4.175) liefert
(∇S0 )·(∇S0) = 2m(E − U ),
(4.237)
so daß wir für den Betrag der Ausbreitungsgeschwindigkeit
|E|
u= p
2m(E − U )
(4.238)
schreiben können.
Die Geschwindigkeit des Massenpunkts lautet bekanntlich
v=
1
p
= ∇S0 ,
m m
(4.239)
so daß ihr Betrag wegen (4.237) als
p
1
v=
= |∇S0 | =
m m
p
2m(E − U )
m
(4.240)
geschrieben werden kann. Wir vergleichen mit (4.238) und sehen, daß
u=
|E| |E|
=
mv
p
(4.241)
gilt. Die Bahnkurven des Massenpunkts sind also orthogonale Trajektorien der sich im Raum ausbreitenden Flächen konstanter Wirkung.
Der Betrag der Geschwindigkeit der Wirkungswellen ist dabei umgekehrt proportional zum Betrag der Teilchengeschwindigkeit.
Betrachten wir ein zunächst völlig anders erscheinendes Problem,
nämlich die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen gemäß der Wellengleichung
n2 ∂ 2 Ψ
,
(4.242)
∆Ψ = 2
c0 ∂t2
4.7. TEILCHEN- UND WELLENAUSBREITUNG
329
r(t)
S0 = C + Et
wobei c0 die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum ist und n = n(r) den i.
allg. räumlich veränderlichen Brechungsindex darstellt. Im Falle eines
homogenen Mediums (konstanter Brechungsindex) wird die Gleichung
(4.242) bekanntlich durch ebene Wellen gelöst:
Ψ(r, t) = A ei(nk·r−ωt+ϕ) ,
(4.243)
2π
ω
=
.
(4.244)
c0
λ
Die Bezeichnung ebene Welle bringt die Tatsache zum Ausdruck, daß
die Flächen konstanter Phase,
|k| =
Φ(r, t) = nk·r − ωt = const.,
(4.245)
Ebenen sind. In Verallgemeinerung von (4.243) kann man nun für
den Fall inhomogener Medien, wenn sich der Brechungsindex räumlich
ändert, den Lösungsansatz
Ψ(r, t) = A(r) eiΦ(r,t) ,
(4.246)
Φ(r, t) = Φ0(r) − ωt.
(4.247)
machen. Wir setzen (4.246) in die Wellengleichung (4.242) ein und erhalten (nach Trennen von Real- und Imaginärteil) unschwer die zwei
Gleichungen
∆A + A k 2n2 − (∇Φ0)·(∇Φ0) = 0,
(4.248)
330
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
2(∇A)·(∇Φ0) + A∆Φ0 = 0
(4.249)
(k = |k|). Wir wollen im Sinne der geometrischen Optik annehmen,
daß die Wellenlänge hinreichend klein ist gegenüber der räumlichen
Änderung sowohl des Brechungsindexes als auch der Amplitude der
Welle. In diesem Fall kann der erste Term in (4.248) vernachlässigt
werden, und wir erhalten die Eikonalgleichung7
(∇Φ0 )·(∇Φ0) = k 2n2
(4.250)
Die Gleichungen (4.247) und (4.250) der geometrischen Optik haben
offensichtlich die gleiche Form wie die Gleichungen (4.230) und (4.237)
der klassischen Mechanik für die Bewegung eines Teilchens in einem
konservativen Kraftfeld [Φ ↔ S, ω ↔ |E|, k 2 n2 ↔ 2m(E − U ) = p2].
Insbesondere breiten sich die Flächen konstanter Phase, Φ(r, t) =const.
mit der (Phasen-)Geschwindigkeit
ω
c0
c=
=
(4.251)
nk
n
aus. Die orthogonalen Trajektorien dieser Flächen bezeichnet man bekanntlich als Lichtstrahlen. Ist die Eikonalgleichung (4.250) gelöst
und Φ0(r) bekannt, kann aus der Gleichung (4.249) der Gradient der
Amplitudenfunktion A(r) in Richtung des Gradienten von Φ0(r) bestimmt werden. In der dazu senkrechten Richtung bleibt der Gradient der Amplitudenfunktion (im Sinne von Strahlen) unbestimmt. Um
den Strahlgang r = r(s) zu bestimmen (s - Bogenlänge), schreiben wir
zunächst gemäß (4.250)
dr
∇Φ0 = kn
(4.252)
ds
und leiten nach s ab,
dr
dr
d
d
· ∇ ∇Φ0
kn
= ∇Φ0 =
ds
ds
ds
ds
1
1
[(∇Φ0 ) · ∇] ∇Φ0 =
∇ [(∇Φ0)·(∇Φ0 )]
kn
2kn
1
∇k 2n2 = ∇kn.
(4.253)
=
2kn
=
7
Oft wird auch die Größe Φ0 /k Eikonal genannt, und es wird die Bezeichnung S0 verwendet.
331
4.7. TEILCHEN- UND WELLENAUSBREITUNG
Also lautet die Strahlgleichung
dr
d
n
= ∇n.
ds
ds
(4.254)
Die Äquivalenz zwischen der Eikonalgleichung in der geometrischen
Optik und der verkürzten Hamilton-Jakobi-Gleichung in der klassischen Mechanik sowie die Tatsache, daß Lichtrahlen und Bahnkurven
orthogonale Trajektorien der entsprechenden Flächen sind, kann auch
wie folgt formuliert werden. Bewegt sich ein Massenpunkt in einem konservativen Kraftfeld, so sind seine Bahnen identisch mit denjenigen der
Lichtstrahlen in einem inhomogenen Medium,
dessen Brechungsindex
√
n (bis auf einen konstanten Faktor) zu E − U korrespondiert Nach
(4.229) bedeutet dies, daß für Lichtstrahlen
Z s2
ds n = Extremum
(4.255)
s1
gilt. Diese Gleichung ist aber nichts anderes als das aus der geometrischen Optik wohlbekannte Fermatsche Prinzip, welches besagt,
daß die optische Länge eines Strahls zwischen zwei festen Punkten
extremal ist, meistens minimal. Es ist unschwer zu zeigen, daß das Extremalprinzip (4.255) tatsächlich die Strahlgleichung (4.254) liefert. Zu
diesem Zweck parametrisieren wir die Bogenlänge s gemäß
p
ds = x′2 + y ′2 + z ′2 dµ = s′ dµ,
(4.256)
x′ =
dx
,
dµ
y′ =
dy
,
dµ
z′ =
dz
,
dµ
(4.257)
so daß (4.255) in der Form
Z s2
Z µ2
p
n ds =
dµ n(x, y, z) x′2 + y ′2 + z ′2 = Extremum
s1
µ1
geschrieben werden kann. Dieses Extremalproblem führt offensichtlich
auf die Eulerschen Gleichungen bezüglich der Funktion
p
F (x, y, z, x′, y ′, z ′ ) = n(x, y, z) x′2 + y ′2 + z ′2 ,
(4.258)
332
KAPITEL 4. HAMILTONSCHE MECHANIK
d.h.
∂F
d ∂F
−
= 0,
dµ ∂x′
∂x
∂F
d ∂F
−
= 0,
dµ ∂y ′
∂y
∂F
d ∂F
−
= 0.
dµ ∂z ′
∂z
Betrachten wir beispielsweise die erste dieser drei Gleichungen. Mit
∂F
x′
=
n
,
∂x′
s′
∂F
∂n
= s′
∂x
∂x
(4.259)
erhalten wir die Gleichung
bzw.
′
d
x
∂n
n ′ = s′
dµ
s
∂x
(4.260)
1 d
1 dx
∂n
,
n
=
s′ dµ
s′ dµ
∂x
(4.261)
d.h. exakt die (x-Komponente der) Strahlgleichung (4.254):
dx
∂n
d
.
n
=
ds
ds
∂x
(4.262)
Der obige Sachverhalt kann auch durch die Feststellung zum Ausdruck gebracht werden, daß sich jedem Problem der geometrischen
Optik ein klassisch-mechanisches Problem zuordnen läßt, indem das
Eikonal proportional zur verkürzten Wirkungsfunktion gesetzt wird.
Die klassische Mechanik entspricht damit der geometrischen Optik als
dem Grenzfall der Wellenoptik für hinreichend kleine Wellenlängen. Die
charakteristischen Welleneigenschaften von Licht (wie Interferenz und
Beugung) treten in diesem Grenzfall nicht in Erscheinung. Man kann
nun die Frage stellen, ob die klassische Mechanik nicht auch als Grenzfall einer allgemeineren Wellenmechanik aufgefaßt werden kann, so daß
nur im Grenzfall hinreichend kleiner Wellenlängen eine Beschreibung
der Bewegung mittels Bahnkurven sinnvoll ist. Dies ist in der Tat so –
diese allgemeinere Mechanik ist die Quantenmechanik, die sich in der
Tat als eine Wellenmechanik formulieren läßt.
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