Kapitel 4 Anwendungen aus der Astrophysik 4.1 4.1.1 Strömungsinstabilitäten in Supernovahüllen Rayleigh–Taylor Instabilität Eine Rayleigh–Taylor Instabilität tritt dann auf, wenn auf zwei aneinander grenzende, unterschiedlich dichte Flüssigkeiten (oder auch auf eine Flüssigkeit mit Dichtegradient) eine Kraft wirkt (z.B. Schwerkraft oder eine Beschleunigung), die von der dichteren Flüssigkeit in Richtung auf die spezifisch leichtere Flüssigkeit weist (siehe Chandrasekhar (1961), Seite 428ff). In der Astrophysik findet man Rayleigh–Taylor Instabilitäten in einer Vielzahl von Situationen, unter anderem in Supernovaexplosionen infolge der Propagation der Stoßwelle durch die Sternhülle. Abbildung 4.1: Als einfachsten Fall betrachten wir zwei ruhende, homogene, inkompressible Flüssigkeiten der Dichten ρ1 und ρ2 , die durch eine ebene Grenzfläche (z = 0) voneinander getrennt sind, und die eine Beschleunigung g erfahren, die in negative z–Richtung weist (Abb. 4.1 91 KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 92 Abbildung 4.2: Computersimulation einer Rayleigh–Taylor Instabilität. Zwei homogene Flüssigkeiten konstanter Dichte ρ1 (hellbraun) und ρ2 = 2ρ1 (dunkelbraun) sind anfänglich durch eine horizontale Grenzfläche (weisse Linie) voneinander getrennt und erfahren beide eine konstante Beschleunigung g, die senkrecht nach unten gerichtet ist. Diese Anordnung der Flüssigkeiten ist Rayleigh-Taylor instabil. Stört man die Anordnung durch ein vertikal konstantes und horizontal sinusförmiges Geschwindigkeitsfeld von kleiner Amplitude, dann ergibt eine hydrodynamische Simulation die gezeigte Entwicklung. Die dichte Flüssigkeit (dunkelbraun) dringt in das Gebiet der weniger dichten Flüssigkeit (hellbraun) ein und umgekehrt. Die pilzförmigen Köpfe an den Enden der eindringenden “Finger , ” sowie die wirbelförmigen Strukturen an ihren Rändern werden durch Kelvin–Helmholtz Instabilitäten verursacht. Diese treten immer auf, wenn eine Scherströmung vorliegt, und bewirken ein Aufrollen“ der Scherschicht. ” KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 93 Abbildung 4.3: und 4.2). Wir nehmen nun an, dass die Grenzfläche leicht gestört wird und betrachten die zeitliche Entwicklung der Störung mit Hilfe einer linearen Stabilitätsanalyse nach Fouriermoden. Dazu suchen wir Lösungen der Form ξ ∝ exp(ikx x + iky y + nt) , (4.1) wobei kx , ky und n Konstanten sind. Setzt man diesen Störungsansatz in die hydrodynamischen Gleichungen ein und vernachlässigt alle Terme, die nichtlinear in der Störung sind, erhält man die folgende Dispersionsrelation: ρ2 − ρ1 −2 2 τRT = n = gk . (4.2) ρ2 + ρ1 Hierbei ist τRT ≡ n−1 die Anwachszeitskala und k = (kx2 + ky2 )1/2 der Absolutwert des Wellenvektors der Störung. Demnach ist die Anordnung der Flüssigkeiten stabil, falls ρ2 < ρ1 , d.h. wenn sich die leichtere Flüssigkeit oberhalb der schwereren Flüssigkeit befindet, da dann n2 < 0 ist. Im Falle ρ2 > ρ1 ist die Anordnung der Flüssigkeiten instabil. Gemäß der Dispersionsrelation wachsen kurzwellige Störungen am schnellsten (exponentiell) an. Die Rayleigh–Taylor Instabilität kann man in Fallturmexperimenten untersuchen (Abb.4.3). Man verwendet dazu einen Behälter mit zwei übereinander geschichteten Flüssigkeiten unterschiedlicher Dichte in einem Schwerefeld. Die leichtere Flüssigkeit ρ2 befindet sich dabei oberhalb der schwereren Flüssigkeit ρ1 > ρ2 , d.h. die Anordnung ist Rayleigh–Taylor stabil. Nun beschleunigt man den Behälter nach unten, und zwar mit einer Kraft Fb , die größer als die Schwerkraft Fg ist. Die Flüssigkeiten spüren infolge der Beschleunigung eine nach oben gerichtete Trägheitskraft −Fb . Die Nettokraft auf die Anordnung ist −Fb + Fg 0. Sie ist wegen |Fb | > |Fg | nach oben gerichtet und macht die Schichtung instabil. KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 94 Abbildung 4.4: 4.1.2 Kelvin–Helmholtz Instabilität Eine Kelvin–Helmholtz Instabilität tritt dann auf, wenn zwischen zwei aneinander grenzenden Flüssigkeiten (oder auch innerhalb einer Flüssigkeit) ein Scherströmung (d.h. ein Geschwindigkeitsgradient senkrecht zur Richtung der Strömung) vorhanden ist (siehe Chandrasekhar (1961), Seite 481ff). In der Astrophysik findet man Kelvin–Helmholtz Instabilitäten in einer Vielzahl von Situationen, unter anderem in Jets. Sie treten auch immer als Folge von Rayleigh–Taylor Instabilitäten auf, wenn sich die auf- und absteigenden Blasen oder Finger relativ zur Umgebung bewegen (Abb. 4.2). Als einfachsten Fall betrachten wir zwei homogene, inkompressible Flüssigkeiten der Dichten ρ1 und ρ2 < ρ1 , die durch eine ebene Grenzfläche (z = 0) voneinander getrennt sind, und die sich parallel zu der Grenzfläche in x–Richtung mit konstanten Geschwindigkeiten u1 und u2 bewegen (~v = u~ex . Die beiden Flüssigkeiten erfahren außerdem eine Beschleunigung g, die in negative z–Richtung weist (siehe Chandrasekhar, 1961, Seite 481ff; Abb. 4.4). Wir nehmen nun an, dass die Grenzfläche leicht gestört wird und betrachten die zeitliche Entwicklung der Störung mit Hilfe einer linearen Stabilitätsanalyse nach Fouriermoden ganz analog wie im Fall der Rayleigh–Taylor Instabilität. Setzt man den Störungsansatz (4.1) in die hydrodynamischen Gleichungen ein und vernachlässigt alle Terme, die nichtlinear in der Störung sind, erhält man die folgende Dispersionsrelation: 1/2 −1 τKH = n = −ikx (α1 u1 + α2 u2 ) ± gk(α2 − α1 ) + kx2 α1 α2 (u1 − u2 )2 , (4.3) wobei α1 = ρ1 , ρ1 + ρ2 α2 = ρ2 ρ1 + ρ2 (α2 < α1 ) und τ die Anwachszeitskala und k = (kx2 + ky2 )1/2 der Absolutwert des Wellenvektors der Störung. • Im Falle kx = 0 gilt: p n = ± gk(α2 − α1 ) KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 95 oder n2 = gk ρ2 − ρ1 ρ1 + ρ2 d.h. das Auftreten von Instabilitäten (RT) transversal zur Strömungsrichtung bleibt unbeeinflusst von der Scherströmung. • Im Falle kx 6= 0 ist die Strömung instabil, falls gk(α2 − α1 ) + kx2 α1 α2 (u1 − u2 )2 > 0 , bzw. falls k>− g(α2 − α1 ) α1 α2 (u1 − u2 )2 cos2 θ wobei θ der Winkel zwischen dem Wellenvektor der Störung ~k und der x–Richtung (d.h. der Strömungsrichtung) ist. Falls weiterhin ky = 0 (oder allgemein, falls ~k||~v ) und damit θ = 0, folgt k > kmin ≡ 4.1.3 g(α1 − α2 ) . α1 α2 (u1 − u2 )2 Instabilitäten in Supernovahüllen Einige Fakten zu Supernovae allgemein: • Supernovae (= Sternexplosionen) gehören zu den energiereichsten Phänomenen im Universum. Sie entfesseln so viel Energie, wie die Sonne in zehn Milliarden Jahren erzeugt. Dabei erreichen sie für mehrere Wochen die Helligkeit einer ganzen Galaxie (Lmax ≈ 1043 erg/s). Der weitaus größere Teil der Energie, rund 1051 erg, wird aber nicht als elektromagnetische Strahlung abgegeben, sondern steckt in der kinetischen Energie des stellaren Gases, das mit bis zu 0.1 c in den interstellaren Raum geschleudert wird. Radioaktive Elemente, die bei der Explosion entstehen, heizen durch ihren Zerfall die expandierende Gaswolke und lassen ihre Helligkeit über viele Jahre exponentiell abklingen. Wenn ein massereicher Stern als Supernova explodiert, sind selbst diese Energiemengen winzig im Vergleich zu der Energie, die in Form von Neutrinos abgestrahlt wird: Einige 1053 erg oder das Äquivalent von ∼ 0.1 M werden freigesetzt, wenn der stellare Kern zu einem Neutronenstern oder Schwarzen Loch kollabiert. KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 96 • Die Suche nach Supernovae wird heute systematisch durch automatische Teleskope betrieben. Jedes Jahr gelingt es so, weit über 100 Ereignisse in fernen Galaxien aufzuspüren. In unserer Milchstraße ereignen sich Supernovae recht selten, nach Schätzungen nur wenige pro Jahrhundert. Rund 200 diffuse oder sphärische Gasnebel zeugen jedoch von vergangener Aktivität. Der wahrscheinlich bekannteste ist der Krebsnebel, der Überrest einer Supernova, die im Jahr 1054 als Gaststern“ von chi” nesischen, japanischen, koreanischen und arabischen Astronomen beobachtet wurde. Die letzte mit freiem Auge sichtbare Supernova in unserer Galaxie war die Keplersche im Jahr 1604. Ein noch jüngerer Supernovaüberrest ist Cassiopeia A (Abb.4.5), der mit einer Sternexplosion um das Jahr 1680 in Verbindung gebracht wird. Seit ihrer Entstehung vor etwa 12 Milliarden Jahren haben viele 100 Millionen Supernovae das Gas der Milchstraße unter anderem mit Fe, Si, O, C und Ca angereichert und damit die Entstehung von Planeten und des Lebens auf der Erde erst ermöglicht. Die durch den interstellaren Raum pflügenden Explosionswellen haben das Gas verdichtet und die Geburt neuer Sterne eingeleitet. Supernovae spielen deshalb eine zentrale Rolle im kosmischen Kreislauf der Materie und beim Werden und Vergehen von Sternen. Supernovae sind auch die wichtigste Quelle der hochenergetischen kosmischen Strahlung, von der die Erde getroffen wird, und beeinflussen mit ihrer riesigen Energiefreisetzung die Entwicklung der Galaxien. Durch ihre enorme Helligkeit können sie selbst am Rand des sichtbaren Universums beobachtet werden. • Jüngste Beobachtungen belegen einen Zusammenhang zwischen den kosmischen Gammablitzen und gewissen Supernovaexplosionen (Typ Ic). Astrophysiker haben daher ein starkes Interesse zu klären, welche Sterne als Supernovae explodieren, welche Vorgänge zur Explosion führen und welche Prozesse die beobachtbaren Eigenschaften der Explosion bestimmen. • Empirisch unterscheidet man traditionell Supernovae vom Typ I und II. Bei ersteren fehlen Balmerlinien des Wasserstoffs im Spektrum, während bei letzteren stark dopplerverbreiterte Emissions- und Absorptionslinien von Wasserstoff gemessen werden, die auf hohe Expansionsgeschwindigkeiten der Sternmaterie hindeuten. Desweiteren unterteilt man Supernovae vom Typ I in die Untertypen Ia, Ib und Ic abhängig vom Auftreten oder Fehlen von Spektrallinien von Silizium bzw. von Helium während des Helligkeitsmaximums (Abb. 4.6). • Theoretisch sind nur zwei mögliche Energiequellen für eine Supernovaexplosion bekannt: Thermonukleare Energie und Gravitationsbindungsenergie (Abb. 4.6). – Supernovae vom Typ Ia zeigen im Spektrum Si-Linien, aber keine H-Linien, und die Form ihrer Lichtkurve und ihre maximale Helligkeit ist erstaunlich ähnlich. Sie eignen sich daher als extrem helle Standardkerzen“ zur Vermessung ” von kosmischen Entfernungen. Man erklärt sie als thermonukleare Explosionen KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK Abbildung 4.5: 97 KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK keine H−Balmerlinien thermonukleare 98 H−Balmerlinien Siliziumlinien SN I a Explosion −/− keine Siliziumlinien Gravitations− kollaps He SN I b kein He SN Ic SN II Abbildung 4.6: Klassifikationsschema von Supernovae mit empirischer und theoretischer Unterteilung. Abbildung 4.7: KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 99 von Weißen Zwergen, die aus Helium oder Kohlenstoff und Sauerstoff bestehen. Der Weiße Zwerg wird bei der Explosion vollständig zerstört und es bleibt nur ein diffuser Gasnebel als Überrest (siehe auch Kpa. 4.2). – Typ II, Typ Ib und Typ Ic Supernovae sind das Endprodukt massereicher Sterne (M > ∼ 10 M ) und beziehen ihre Explosionsenergie aus der gravitativen Bindungsenergie des kollabierenden stellaren Eisenkerns. Solche Sterne durchlaufen die komplette Abfolge möglicher nuklearer Brennphasen, in deren Verlauf im Zentrum immer schwerere chemische Elemente bis hin zu Eisen aufgebaut werden. Am Ende ihrer Entwicklung besitzen diese Sterne eine Zwiebelscha” lenstruktur“, bei der ein stellarer Eisenkern von Schichten umgeben ist, die vorwiegend aus Silizium, Sauerstoff, Kohlenstoff, Helium und Wasserstoff bestehen (Abb.4.7). Wenn die Masse des stellaren Eisenkerns schießlich zu groß wird, kommt es zum Gravitationskollaps, wodurch die Explosion des Sterns ausgelöst wird. Besitzt der Stern zum Zeitpunkt der Explosion noch seine Wasserstoffhülle, erscheinen in den Supernovaspektren Balmerlinien (Typ II). Hat er dagegen seine Hülle in vorangegangenen Entwicklungsphasen durch Sternwind abgeblasen, fehlen diese Linien (Typ Ib). Wurde über Sternwinde oder durch Gasaustausch mit einem Begleitstern auch die Heliumschale abgestreift, sind Heliumlinien in den Spektren ebenfalls nicht vorhanden (Typ Ic). Im Zentrum des expandierenden Explosionsnebels bleibt – im Gegensatz zu Typ Ia Supernovae – eine kompakter Überrest zurück, in der Regel ein Neutronenstern. Wenn jedoch der explodierende Stern eine anfängliche Masse von mehr als dem 25-fachen der Sonnenmasse hatte, entsteht wahrscheinlich ein Schwarzes Loch. Rayleigh–Taylor–Instabilitäten in Gravitationskollapssupernovae: • Supernova 1987A: Es war ein historischer Glücksfall für die Astronomen, als am 23. Februar 1987 eine Supernova in der Großen Magellanschen Wolke, einer Satellitengalaxie der Milchstraße, in nur 170.000 Lichtjahren Entfernung explodierte. Mit den Methoden der modernen astronomischen Beobachtung war es möglich, eine beispiellose Fülle von Daten in allen Wellenlängenbereichen des elektromagnetischen Spektrums über die gesamte Entwicklung der Explosion bis heute zu sammeln. • Hinweise auf Mischvorgänge in der Supernova 1987A: Röntgen- und Gammastrahlung aus radioaktiven Zerfällen wurde schon nach drei Monaten und nicht wie vorher vermutet erst nach Jahren beobachtet (Abb.4.8). Dies lässt sich nur verstehen, wenn die Zwiebelschalenstruktur des Vorläufersterns durch nichtradiale Instabilitäten zerstört wird und großskalige Mischprozesse radioaktive Nuklide aus Regionen nahe dem Neutronenstern, wo sie synthetisert werden, bis in die Wasserstoffhülle transportieren, wo die beim radioaktiven Zerfall entstehende Röntgen- und Gammastrahlung aus dem Stern entweichen kann (Abb.4.9). Wären nämlich die radioaktive Nuklide nicht nach außen gemischt worden, so hätte die Röntgen- und Gammastrahlung erst KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 100 Supernova 1987A 42 40 39 Ginga: Entdeckung 41 Ginga: kein Signal Log Leuchtkraft [erg/s] bolometrische Lichtkurve GRAD SMM CIT Mischgebiet LM 40% 20% 10% 37 0 des Stern− radius ] 38 100 200 300 400 Tage seit der Explosion 500 Abbildung 4.8: nach Jahren entweichen können, wenn die Sternhülle infolge der durch die Explosion bewirkten Expansion genügend verdünnt worden wäre. Andere Beobachtungsergebnisse lassen sich nur verstehen, wenn umgekehrt Helium und Wasserstoff tief ins Innere des explodierenden Sterns verfrachtet werden. Die hydrodynamischen Instabilitäten, die das Mischen bewirken, führen auch zu starken Inhomogenitäten in der Explosionswolke. Dopplereffekte in den Spektren zeigen, daß Nickelklumpen mit bis zu mehreren tausend Kilometern pro Sekunde expandieren. Diese Geschwindigkeiten sind typisch für die Wasserstoffhülle des Sterns und damit viel höher als in sphärisch symmetrischen Modellen für Nickel vorhergesagt. • Hinweise auf Mischvorgänge in anderen Supernovae: Die anisotrope und geklumpte Verteilung der chemischen Elemente in der Explosionswolke scheint ein generisches Phänomen, für das es mittlerweile Evidenzen aus Lichtkurven und Spektren einer ganzen Reihe von Supernovae gibt. Auch Röntgenaufnahmen der diffusen, gasförmigen Überreste von Supernovae zeigen derartige Inhomogenitäten. Besonders KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK Abbildung 4.9: 101 KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 102 Abbildung 4.10: eindrucksvoll sind die schnell fliegenden, dichten Fragmente auf Aufnahmen des Vela Überrests durch den Röntgensatelliten ROSAT, die den durch das zirkumstellare Medium jagenden Supernovastoß bereits überholt haben und durch ihre überschallschnelle Bewegung Machkegel ausformen (Abb.4.10). Die Rekonstruktion ihrer Bewegungsrichtungen deutet auf einen gemeinsamen Ursprungsort nahe dem Zentrum des Supernovaüberrests, so daß ihre Entstehung bereits zu Beginn der Sternexplosion vermutet wird. Aufnahmen des Cassiopeia A Überrests durch das CHANDRA Röntgenobservatorium der NASA offenbaren räumlich getrennte Filamente, die dominante Anteile von Eisen, Kalzium, Silizium oder Schwefel enthalten (Abb.4.5). Die eisenreichen Strukturen scheinen am äußeren Rand des Überrests zu liegen, was bedeuten könnte, daß das Material, das in der Explosion am weitesten innen entstand, später mit den höchsten Geschwindigkeiten expandierte. Ein solches Ergebnis steht im Widerspruch zu sphärisch symmetrischen Modellen, die das genaue Gegenteil erwarten lassen. • Stoßpropagation: Wenn der Supernovastoß durch den Stern nach außen rast, beschleunigt er in Schichten mit einem Dichtegradienten steiler als r−3 und wird abgebremst, wenn er Zonen mit flacherer Dichteschichtung durchläuft. Dadurch kommt es nach dem Stoßdurchgang zum Aufbau von lokalen Dichtemaxima in der Nähe der Grenzen zwischen Sternschichten unterschiedlicher chemischer Komposition, wo der KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK Abbildung 4.11: 103 KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 104 Dichtegradient flacher ist (Abb.4.11). Stabilitätsanalysen zeigen (siehe weiter unten), dass dort hohe Anwachsraten für Rayleigh–Taylor Instabilitäten zu erwarten sind. Da die Energie der Stoßwelle in einer Gravitationskollapssupernova (Typ II, Ib, Ic) viel größer ist als die gravitative Bindungsenergie der ausgeschleuderten Hüllenmaterie, ist die Gravitation für die Ausbreitung der Stoßwelle dynamisch irrelevant. Ausserdem bestehen die Sternhüllen aus kompressiblem Gas, d.h. es sind Dichteund Druckgradienten vorhanden. • Die obigen Überlegungen zur Rayleigh–Taylor Instabilität (Kap. 4.1.1) sind daher nicht direkt auf Supernovae anwendbar. Trotzdem können auch in Supernovahüllen Rayleigh–Taylor Instabilitäten auftreten. In diesem Fall wird die Rolle der Schwerebeschleunigung g vom negativen Druckgradienten übernommen g =⇒ − 1 ∂p , ρ ∂r und das (lokale) Instabilitätskriterium lautet: Supernovahüllen (i.A. kompressible Gase) sind Rayleigh–Taylor instabil, wenn die (lokale) Druckskalenhöhe P ≡ ∂ ln p/∂r und die (lokale) Dichteskalenhöhe R ≡ ∂ ln ρ/∂r die Bedingung 1 R < P γ (4.4) erfüllen, wobei γ der (lokale) Adiabatenindex des Gases ist. Diese Bedingung ist immer erfüllt, wenn Druck- und Dichtegradient ein unterschiedliches Vorzeichen besitzen. Für die Anwachsrate der Instabilität gilt σRT = cs p 2 P − γPR , γ wobei cs die (lokale) Schallgeschwindigkeit ist. • Damit Rayleigh–Taylor Instabilitäten auch Konsequenzen für eine Supernovaexplo−1 sion haben, muss ihre Anwachszeitskala τRT ≡ σRT offensichtlich kürzer als die hydrodynamische Zeitskala τhyd ≡ rsh /vsh sein. Hierbei sind rsh und vsh der Radius und die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Stoßwelle. • Simulationen: Mehrdimensionale hydrodynamische Simulationen bestätigen, daß sich am Si/O-, (C+O)/He- und He/H-Übergang innerhalb weniger Minuten die charakteristischen Rayleigh–Taylor Pilzstrukturen entwickeln und in die aneinander grenzenden Schichten einzudringen beginnen (Abb.4.12). Nachdem die Stoßfront durch die Sternschichten mit vorwiegend Sauerstoff, Kohlenstoff und Helium nach außen gerast ist, beginnen Rayleigh–Taylor Instabilitäten die Kompositionsgrenzen zu zerfransen. Die radioaktiven Produkte der explosiven Nukleosynthese, ebenso wie KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK Abbildung 4.12: 105 KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 106 Silizium und Sauerstoff des Vorläufersterns, werden über eine weiten Bereich von Radien und Geschwindigkeiten verteilt. Helium und Wasserstoff werden tief ins Innere des explodierenden Sterns gemischt. Nickel findet sich schließlich hoch konzentriert in schnell fliegenden Klumpen und Knoten entlang ausgedehnter Filamente aus verdichtetem Gas, die auch mit Sauerstoff, Kohlenstoff und Silizium angereichert sind. Die schnellsten dieser Nickelklumpen bewegen sich mit Geschwindigkeiten von mehreren tausend Kilometern pro Sekunde schneller als das umgebende Helium. Allerdings gelang es mit diesen Simulationen nicht, das beobachtete Ausmaß des radialen Mischens und die gemessenen hohen Nickelgeschwindigkeiten zu reproduzieren. Um die Beobachtungsdaten zu erklären, ist sehr wahrscheinlich bereits ein nicht–radialer Explosionsbeginn erforderlich, d.h. bereits bei der Entstehung der Stoßwelle müssen merkliche Abweichungen von der Radialsymmetrie auftreten. • Laser-Experimente: Seit wenigen Jahren ist es auch möglich, die Rayleigh–Taylor Instabilitäten in Supernovahüllen im Labor durch den Einsatz extrem leistungsstarker Laser zu untersuchen (Abb.4.13). KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK Abbildung 4.13: 107