Ursula Reutner Interkulturelle Kompetenz Anleitung zum Fremdgehen – Ein Lernparcours 1.2 Eröffnungsveranstaltung Fremdgänger 2: In unserem Parcours wollen wir vor allem Fragen aufwerfen und einen Denkanstoß geben. Es soll aber nicht allein bei diesem kleinen Denkl anstoß bleiben. Wir wünschen uns, dass die Schüler im Unterricht, auf dem Paul senhof, in der Familie oder in der Kneipe weiterhin fremdgehen und gewohnte Denkmuster hinterfragen. Fremdgänger 1: Dafür, liebe Lehrer, brauchen wir ihre Unterstützung! Sie haben regelmäßigen Kontakt mit den Schülern, und wir würden uns freuen, wenn sie im Unterricht die Zeit fänden, die Inhalte des Parcours zu vertiefen. Wenn der Parl cours hinter uns liegt, die Schüler und wir unsere Arbeit ausgewertet haben, dann erhalten sie von uns Nachbereitungsmaterial, das sie gerne nutzen können, um weiterhin mit den Schülern fremdzugehen. Wenn sie einen Blick nach hinten werl fen, sehen sie auch unseren Infostand, an dem wir den ganzen Abend für weitere Informationen bzw. Fragen bereitstehen. Egal, ob am Infostand oder dann beim Sektempfang/Buffet, sprechen sie uns einfach an! Fremdgänger 2: Wen ansprechen? Die Fremdgänger. Das sind nicht nur wir beide, sondern zu unserem Team gehören noch sechs weitere Leute. Fremdgänl ger 3 und 4 sind ebenfalls dabei. Fremdgänger 3 und 4 kommen nach vorne. Fremdgänger 3: Wenn wir ihnen mit unserer kurzen Vorstellung Lust aufs Fremdgehen machen konnten, laden wir sie nun herzlich ein, den Parcours einmal selbst mitzuerleben. Wir würden jetzt gemeinsam mit ihnen in die Fremdgängerl Räume gehen und dort für alle Interessierten einen Durchlauf durch den Parcours anbieten. Das Ganze dauert insgesamt etwa 100 Minuten, aber natürlich können sie sich auch nur eine oder zwei Stationen ansehen. Fremdgänger 4: Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit und viel Vergnügen. 19 2 Grundlagen Im Anschluss an die praxisorientierte Vorstellung der Parcoursinhalte seien nun einige theoretische Fragen geklärt. Zunächst werden Grundannahmen zur interl kulturellen Kommunikation dargestellt. Anschließend wenden wir uns dem erfahl rungsorientierten Lernen zu, das den konzeptionellen Unterbau des Parcours bildet und so Auswirkungen auf die Rolle und Sprache der Trainer hat. Alle Hinl weise verstehen sich dabei als ausgewählte Anregungen. Die Literatur zum Weiterl lesen am Ende des Buches hilft, sich umfassender mit Theorien der interkulturell len Kommunikation sowie unterschiedlichen Moderationsstrategien vertraut zu machen. 2.1 Interkulturelle Kommunikation Interkulturelle Kommunikation ist Kommunikation zwischen unterschiedlichen Kull turen. Doch was ist Kultur? Und zu welcher Kultur gehört das kommunizierende Individuum? Sind es nicht häufig viele verschiedene Kulturen, die ein Mensch in sich vereint? Und ist damit nicht eigentlich jede Kommunikation interkulturell? In gewisser Weise ist dies tatsächlich der Fall, sodass interkulturelle Sensibilisiel rung für jede Kommunikationssituation relevant ist. Ihre Bedeutung nimmt aber in dem Maße zu, wie die beteiligten Kulturen voneinander abweichen. Kultur und Interkulturalität Die klassische Vorstellung von interkultureller Kommunikation geht von einer Kommunikation zwischen den Vertretern unterschiedlicher Nationen aus. Kultur wird damit durch ein Staatengefüge bestimmt, dessen Wertvorstellungen und Handlungsmuster sie prägen. Ein solches Kulturverständnis lässt sich als diatol pisch geprägt beschreiben. Unterhalb der Staatengrenze gehören hierzu auch kleinere Einheiten, die eigene Identifikationsmerkmale aufweisen wie etwa Orte, Städte oder Regionen. Oberhalb der Staatengrenze ist an supranationale Gel meinschaften wie die Europäische Union, aber auch die Frankophonie oder Hisl panophonie zu denken. Denn auch ihre Mitglieder teilen bestimmte kulturelle Merkmale, die in der Sprache in kondensierter Form weitergegeben werden. Doch Kultur lässt sich nicht nur diatopisch definieren, sondern auch diastral tisch, d. h. durch die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe. Diese kann über die Tätigkeit (z. B. Berufsgruppen) oder Ausbildung bestimmt sein, aber u. a. auch durch bestimmte Interessen (z. B. Tennisspieler, Ruderer, Tangotänzer, Konzertbesucher, Museumsgänger, Fußballfans), die Weltanschauung (z. B. Relil gionsgemeinschaften) oder Geisteshaltung (z. B. politische Parteien), die sexuelle Orientierung, eine körperliche Beeinträchtigung (z. B. Krankheiten oder Behindel rungen), das Alter oder Geschlecht. 20 2.1 Interkulturelle Kommunikation Die Aussage, jeder Mensch gehöre verschiedenen Kulturen an, erreicht eben dann einen besonderen Stellenwert, wenn solche diatopischen wie diastratischen Komponenten in die Kulturkonstitution einbezogen werden. Und doch wird die Bel schreibung einer Kultur in der Forschung häufig auf die Staatenzugehörigkeit bel schränkt. Denn diese beeinflusst die Verhaltensl und Denkweisen des Individul ums in besonderem Maße: Geteilte Erfahrungen aus der Geschichte, staatliche Gesetze und Regeln, ein ähnliches Bildungssystem mit vergleichbarer Schwerl punktsetzung, eine oder mehrere Landessprachen und zahlreiche weitere Faktol ren wie Massenmedien verbinden die Bürger eines Staates. Geert Hofstede spricht in diesem Zusammenhang sogar von „mentaler Programmierung“ (1993, 27) der Bürger durch die Staaten. Doch ist Fremdes nicht von sich aus reizvoll, sodass eine Ermunterung zum Fremdgehen gar nicht notwendig ist? Manchmal trifft dies sicherlich zu. Aber Fremdes ist häufig auch negativ belegt. Fremde Kulturen und ihre zunächst unbel kannten Verhaltensweisen erzeugen seit jeher auch Misstrauen oder Missachl tung. Im alten Griechenland wurden die Angehörigen fremder Völker beispielsl weise „Stotternde“ (gr. βάρβαρος) genannt, nur weil sie kein Griechisch sprachen. Bis heute wird der Ausdruck Barbaren für vermeintlich unzivilisierte Zeitgenossen verwendet. Italiener werden in Deutschland umgangssprachlich Spaghetti gel nannt, in Frankreich macaroni. Die „Froschschenkelfresser“ aus Frankreich werl den in England auch als frogs bezeichnet, die Deutschen verächtlich als krauts. In Frankreich sind Deutsche wiederum manchmal nur boches und in Italien crucchi, während die Norditaliener – abgeleitet vom Maisbrei Polenta – als polentoni und die Süditaliener – abgeleitet von terra „Land“ – als terroni beschimpft werden. Treten verschiedene Kulturen miteinander in Kontakt, so sind Szenarien denkl bar, die vom massiven Gegeneinander über das bloße Nebeneinander bis hin zum gelungenen Miteinander reichen. Wirkliche Interkulturalität meint ein Zusaml menspiel, aus dem heraus sich etwas Neues ergibt: eine Interkultur C, die von einer Kultur A und einer Kultur B während des Kulturkontaktes ausgebildet wird und gegebenenfalls Rückwirkungen auf die Kulturen A und B haben kann. Erfoll gen kann dies auf der Ebene von Individuen, Organisationen oder ganzen Institul tionen. In den Leitlinien vieler Unternehmen ist Diversität (diversity) inzwischen als ein Ziel verankert, das gerade die Führungsetagen prägen sollte. Doch das der Biolol gie entlehnte Konzept ist nicht unumstritten. Hat nicht auch jeder Gärtner Pflanl zen, die er besser nicht nebeneinander pflanzt? Ist maximale Verschiedenheit von Mitarbeitern wirklich ein Erfolgsgarant? Diversität stärkt Reibungsflächen, die Stress erzeugen, dabei aber auch die Wachsamkeit und Aufmerksamkeit der Mitl arbeiter schärfen. Insbesondere versprechen sich Unternehmen von Diversität eine größere Innovationskraft und eine höhere Flexibilität in der Reaktion auf Verl änderungen. 21 2. Grundlagen Terminologisch kommt im Ausdruck Diversität Verschiedenheit, Andersartigkeit und damit die meist negativ konnotierte Normabweichung zum Ausdruck. Daher wäre es sicherlich angebrachter, ihn durch Vielfalt (variety) zu ersetzen. „Variety“ ist nicht nur „the spice of life“, sondern kennzeichnet auch unsere Gesellschaft. Viele fordern daher, dass sich die Heterogenität eines Landes etwa in der Mitarl beiterzusammensetzung von Behörden spiegelt. Interkulturelle Kommunikation gewinnt hier an Bedeutung – ebenso wie beim ArztlPatientenlKontakt im Kranl kenhaus, auf dem Polizeirevier, unter Arbeitern einer Fabrik und in vielen weiteren Berufsfeldern. Als Medium interkultureller Kommunikation wird meist die Lautsprache angel nommen, aber auch in Bildl und Schriftsprache lässt sie sich realisieren. Gelunl gen ist „der bildl, lautl oder schriftsprachliche Austausch zwischen Vertretern unterschiedlicher Kulturen, wenn der Empfänger einer Botschaft das versteht, was der Sender meint“ (Reutner 2012: 37). Dies ist aus zwei Gründen schwierig: Einerseits weil ein und dieselbe Realität unterschiedlich versprachlicht werden kann, andererseits weil sich die Wahrnehmung der Realität, über die gesprochen wird, von Kultur zu Kultur unterscheidet. Unterschiedliche Versprachlichungsmuster der Realität Um auf die verschiedenen Möglichkeiten der Versprachlichung aufmerksam zu machen, ist es eines der Ziele interkultureller Trainings, die Teilnehmenden zum Nachdenken über ihr eigenes Zeichensystem anzuregen und sie für andere Zeil chensysteme zu sensibilisieren. Es geht um eine bewusste Produktionsl und Inl terpretationskompetenz. Gerade bei Äußerungen, die zu einem Gesichtsverlust des Gegenübers führen können, ist es wichtig, die Versprachlichungsstrategie der Fremdkultur zu kennen. Ablehnungen beispielsweise werden je nach Sprachkultur mit einem unterschiedlichen Grad an Direktheit formuliert. Und Tabuisierungen sind nicht nur graduell verschieden, sondern ganz besonders auch im Hinblick auf die betroffenen Themen. Das richtige Gespür dafür, ob diese komplett ausgel spart oder mit Hilfe von Euphemismen angesprochen werden können, ist Hinweis auf eine sensible und sensibilisierte Sprachkompetenz. Doch Kommunikation betrifft weit mehr als nur die Lautsprache. Jeder Mensch kommuniziert selbst dann, wenn er kein einziges Wort äußert. „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (Watzlawick/Bavelas/Jackson 1990: 53), hält Watzlawick zu Recht fest. Elemente auf der nonl, paral und extraverbalen Ebene gilt es adäquat zu enkodieren und korrekt zu dekodieren. Im Parcours nennen wir diese Elemente nopaexkolisch. Der Gemütszustand eines Sprechers spiegelt sich beispielsweise auf paraverbaler Ebene. Sie umfasst als besonders aussagerelevante Faktoren die Betonung und Artikulation, die Lautstärke, Stimmlage, Sprechpausen und das Sprechtempo. Diese Aspekte werden lautsprachlich vermittelt und sind ausl schließlich im Gesprochenen präsent. Doch erfordern sie keinen Augenkontakt mit dem Gesprächspartner, sondern wirken selbst im Telefongespräch, was sie von den bildlich kodierten extraverbalen Inhalten unterscheidet, also von Gestik 22 2.1 Interkulturelle Kommunikation und Mimik. Ebenfalls mit dem Sehsinn, bisweilen aber auch mit dem Geruchssinn wahrnehmbar sind nonverbale Inhalte wie etwa Kleidung, Schmuck, Schminke oder Parfum. Während extraverbale Inhalte in der Kommunikationssituation nur stellenweise auftreten und das Gesagte auf unterschiedliche Weise kommentiel ren, sind nonverbale Inhalte meist unabhängig vom Gesprächsverlauf. Doch selbst wer nopaexkolische Kommunikationselemente empfindsam wahrl nimmt, stößt an Grenzen, wenn diese je nach Sprache und sogar innerhalb einl zelner Dachsprachen unterschiedliche Bedeutungen annehmen (Homomorphien). Lautstärke ist nicht in jeder Kultur negativ, ein Kopfschütteln heißt nicht immer Nein und eine mit Goldschmuck überladene Frau ist nicht überall reich. Unterl schiedliche Zeichen haben je nach Kultur verschiedene Bedeutungen und müsl sen relativ zu ihrer jeweiligen kulturellen Wertigkeit interpretiert werden. Unterschiedliche Realitätswahrnehmung und ugestaltung Ein gelungenes Verständnis des Gegenübers wird – wie oben angedeutet – auch dadurch eingeschränkt, dass jeder die Realität und damit die Grundlage, über die gesprochen wird, anders wahrnimmt. Eine objektive Realität gibt es nicht, denn unterschiedliche Kulturen interpretieren die Welt aus ihrem eigenen Erfahrungsl horizont heraus, dem erlernten kulturellen Orientierungssystem. Sie wenden bel stimmte Arten der Realitätsinterpretation an und sehen die Welt durch ihre eigene „kulturelle Brille“. Diese ermöglicht dem Menschen, Bekanntes schärfer zu sehen, steht mit ihrer Ausrichtung auf eben dieses Bekannte dem Blick auf Neues aber entgegen. Ethnozentrismus meint, dass bekannte Handlungsmuster als normal qualifil ziert werden. Auffälligkeiten von Fremdkulturen werden dann häufig in Form von Stereotypen abgespeichert. Der von Lippmann 1922 aus der Drucktechnik entl lehnte Ausdruck bezeichnet schablonenhafte Vorstellungen von gruppenspezifil schen Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die unsere Wahrnehmung der Real lität von der eigentlichen Realität trennen. Sie haben unterschiedliche Funktionen, darunter viele hilfreiche: Sie erlauben es dem Menschen, Dinge einzuordnen, und machen die Komplexität der Welt mental zugänglich. Stereotype bieten eine kol gnitive Orientierung gegenüber einem Sachverhalt und können durchaus positiv konnotierte Werte tradieren. Affektiv orientiert und häufig mit negativem Inhalt ist hingegen das Vorurteil. Wie der Name schon sagt, geht es um ein Urteil, das vorab gefällt wird, ein frz. préjugé > engl. prejudice, sp. prejuicio, it. pregiudizio – allesamt Nachfolger von lat. praeiudicium aus prae „vorher“ und iudicium „Urteil“. Versuche, Kulturen wertneutral zu kategorisieren, haben u. a. der USlamerikal nische Kulturanthropologe Edward Hall und der niederländische Organisationsl psychologe Geert Hofstede unternommen. Zentrale Kulturdimensionen Halls sind Proxemik, Zeitverständnis und Kontexteinbindung. Mit Proxemik beschreibt Hall die Nutzung des Raums, also beispielsweise den physischen Abstand zwischen den Gesprächspartnern oder die Raumaufteilung in privaten Wohnungen. Beim Zeitverständnis unterscheidet er Kulturen, die ihre Zeit eher monochron einteilen 23