Islam und Gesellschaft - islamic

Werbung
Islamische Botschaft Nr. 17
Islam und Gesellschaft
Islamisches Zentrum Hamburg
Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami
Islam und Gesellschaft
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen
Die Bedeutung des Freitagsgebetes
Im Islam zielen sämtliche gottesdienstliche Handlungen auf die Erziehung und Vervollkommnung des Menschen ab, und das Gebet ist in
diesem Sinne der bedeutsamste Ausdruck der Gottesverehrung. Die
Anbetung Gottes findet nicht nur auf individueller, sondern auch auf
gesellschaftlicher Ebene statt, wobei sie als Korrektiv für menschliche
Handlungen wirken kann. Der Gläubige, der Gott nahe kommen
möchte, darf auch auf gesellschaftlicher Ebene keine unangemessene
und destruktive Haltung einnehmen, denn sein Handeln bringt letztlich
die Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit seines Glaubens zum Ausdruck.
Wer die Rechte der Anderen und Gesetze missachtet, die den Schutz
und die Bewahrung der Rechte des Einzelnen garantieren, kann kein
wahrhaftiger Muslim sein, und in einem solchen Fall sind auch seine
individuellen Gebete vergebens.
Was den gesellschaftlichen Aspekt der Anbetung betrifft, so wird
hierbei der Mensch nicht als individueller Gläubiger, sondern als Mitglied einer Gesellschaft angesprochen, wobei keine gesellschaftlichen
Effekte im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die gesellschaftliche
Essenz hervorgehoben wird. Der Mensch wird ermutigt, sich der Gesellschaft anzuschließen und als ein Mitglied der Gemeinschaft und
nicht nur als isoliertes Individuum zu beten. Wer den Sinn derartiger
Gebete nicht versteht und an seinen individuellen Gebeten festhält,
erfüllt seine Pflicht nicht vollständig. Das Freitagsgebet soll in der
Gemeinschaft verrichtet werden; es hat die Vorteile eines individuellen Gebets vereint mit gesellschaftlicher Bedeutung.
Im Heiligen Qur’Án, Sure al-¹umuþa, Vers 9 lesen wir: „O ihr, die ihr
glaubt, wenn zum Freitagsgebet gerufen wird, dann eilt zum Gedenken
Allahs…“
Diesem Vers ist zu entnehmen, dass Gott nicht nur im Alleinsein, sondern auch in der Gemeinschaft zu finden ist. Auch in der Vielfalt ist
2
die Einheit wahrnehmbar, und in diesem Sinne verkörpern die Mitglieder einer Gemeinschaft unabhängig von jeglichen unterschiedlichen Einsichten und Motiven einen Körper und eine Seele.
In einer wahrhaft islamischen Gesellschaft muss jedes Mitglied Verständnis für die Erfüllung seiner Verantwortung in der Gesellschaft
haben, wobei die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft die Erfüllung der
individuellen Verpflichtungen impliziert.
Gesellschaftliche Schwierigkeiten und Konflikte resultieren nicht zuletzt aus mangelnder Kooperationsbereitschaft des Einzelnen. Deshalb
betont der Islam das tiefe individuelle Verantwortungsgefühl. Das in
der Gemeinschaft verrichtete Gebet gilt im Islam als eine wichtige
Form der Gottesverehrung und –anbetung und wird im Heiligen
Qur’Án betont. Insbesondere das Freitagsgebet ist eines der wichtigsten
Gebete, das Brüderlichkeit, Solidarität und Verantwortungsgefühl
stärkt. Deshalb sollten in der Freitagsansprache neben dem Aufruf zur
Gottesfurcht und Selbstbeherrschung immer auch gesellschaftliche
Probleme angesprochen werden. Das Freitagsgebet lehrt uns, dass die
Liebe der Mitmenschen die Voraussetzung für die Verwirklichung der
Gebete ist, und dass Gottesliebe ohne Nächstenliebe und Liebe zu den
anderen Geschöpfen Gottes nicht möglich ist. Die Schöpfung Gottes
ist nicht auf den Menschen beschränkt, sondern schließt alle anderen
Geschöpfe ein. Aus diesem Grund sollte der Gläubige stets verantwortungsbewusst mit natürlichen Ressourcen und der Umwelt umgehen.
Die Bewahrung der Sicherheit der Menschen in einer Gesellschaft
durch die herrschenden Kräfte ist unerlässlich. Man kann von Bürgern
kein gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein erwarten, wenn
ihre individuellen Freiheiten und Rechte nicht gesichert sind. Fehlende
Sicherheit in diesem Bereich führt zu Abkehr und Desinteresse gegenüber dem Schicksal der Gesellschaft.
Leider werden wir in jüngster Zeit in manchen europäischen Ländern
Zeugen unerfreulicher Ereignisse; ein Beispiel dafür ist das Kopftuchverbot für muslimische Frauen. Diese Gesetze und Gesetzesvorhaben
sind nicht nur in rechtlicher Hinsicht kontrovers, sondern schaden
auch der Harmonie der Gesellschaft und dem Sicherheitsempfinden
der Muslime, die oftmals schon in der zweiten oder dritten Generation
in dieser Gesellschaft leben und zu deren Entwicklung bemerkenswerte wissenschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Beiträge geleistet
haben. Es ist ihr gutes Recht, von dieser Gesellschaft die Respektierung und Wahrung ihrer Glaubensgrundsätze und persönlichen Freiheiten zu erwarten und nicht zur Missachtung ihrer auf Bewusstsein
und Freiwilligkeit basierenden religiösen Gebote gezwungen zu werden. Die islamische Bekleidung (¼iºÁb) ist kein politisches Symbol
und keine politische Parole, sondern ein religiöses Gebot, das wie andere islamische Vorschriften von den Muslimen freiwillig akzeptiert
wird. Das Verbot der islamischen Bekleidung kommt zweifellos einer
Bedrohung der persönlichen Freiheit und Verletzung der Privatsphäre
gleich. Man kann nicht einerseits von Religionsfreiheit in der Gesellschaft sprechen und andererseits Bürger dieser Gesellschaft, die nicht
dem Mehrheitsglauben angehören, zur Missachtung ihrer religiösen
Bestimmungen zwingen. Die Botschaft des Kopftuchverbotes an die
muslimischen Frauen lautet: Ihr dürft eure Religion nicht frei wählen,
nicht danach leben und nicht danach handeln. Abschließend möchte
ich dem Bundespräsidenten für seine faire und weise Stellungnahme
sowie dem Bundesverfassungsgericht für sein Urteil in Bezug auf die
Bekräftigung der Rechte der muslimischen Frauen beim Auswählen
ihrer islamischen Bekleidung danken.
Das menschliche Recht auf Wissen und Bewusstsein
Im Kontext der Freiheit stellt sich zunächst die Frage, ob und wie die
menschliche Willensfreiheit im Islam begrenzt wird und zwar zum
einen im Hinblick auf die innere Dimension, das Gewissen, und andererseits hinsichtlich der äußerlichen Ebene der Gesellschaft. Bezüglich
des Gewissens gibt es keinerlei Einschränkungen. Freiheit bedeutet die
Fähigkeit, alle Bedürfnisse befriedigen zu können, ohne dass irgendein
äußerer Faktor darauf einwirken kann. Wenn wir also von vielfältigen
Bedürfnissen sprechen und davon ausgehen, dass diese nicht auf die
4
materielle und sinnliche Dimension beschränkt sind, impliziert das
keineswegs, dass die geistigen und immateriellen Neigungen eingrenzend wirken dürfen, sondern vielmehr, dass diese Bedürfnisse des
Menschen genauso zu seinem Wesen und seiner Natur gehören wie
alle anderen. Wenn dem Menschen gesagt wird, dass er nicht nur reine
Materie ist, sondern ihn über seine materiellen und physischen Aspekte hinaus auch Emotionen, Liebe, Vollkommenheit, Schönheitsempfinden usw. prägen, resultiert das nicht in einer Begrenzung seiner
Freiheit, sondern weitet ihm vielmehr den Horizont für die Vielseitigkeit und Weite seiner eigenen Existenz, die nicht eindimensional und
begrenzt ist wie das Sein von Tieren, unbelebten Körpern oder auch
Engeln.
Aus der Sicht des Islam sind mit Ausnahme des Menschen alle Geschöpfe, angefangen bei den unbelebten Körpern bis hin zu den Engeln, eindimensional. Die Engel kennzeichnet z. B. eine himmlische
und übernatürliche Identität, die ohne jegliches Bewusstsein von den
irdischen materiellen Bedürfnissen ist. Im Gegensatz dazu unterliegen
die Tiere völlig ihren materiellen und instinktiven Anlagen und haben
keinerlei Verständnis von geistigen oder höheren Neigungen gleich
welcher Art. Einzig der Mensch ist ein Konglomerat beider Aspekte
und kann durch die Schaffung einer harmonischen Ausgewogenheit
einen einzigartigen Rang erreichen. Weder Tiere noch Engel sind
vollkommen und fehlerfrei, sondern nur der Mensch genießt eine herausragende Stellung in der Schöpfung, weil er die beiden Ebenen von
Gut und Böse, Hässlichkeit und Schönheit usw. kennt. Eine
qur’anische Metapher beschreibt die Erschaffung der Lebewesen
durch Gott mit einer Hand, während Er den Menschen mit beiden
Händen erschuf. Als Iblis sich weigert, sich auf Gottes Geheiß vor
dem Menschen niederzuwerfen, fragt ihn Gott, warum er sich weigert,
sich vor etwas niederzuwerfen, dass Er mit Seinen beiden Händen
erschaffen hat, und als Iblis sich für besser als der Mensch erklärt,
verflucht ihn Gott.1
1
Vgl. Qur’an, Sure ÆÁd, Verse 71-78.
5
Die beiden Hände symbolisieren die materielle irdische und die spirituelle himmlische Dimension, die augenscheinlich nicht zusammen
passen. Der Qur’an beschreibt an anderer Stelle die Vollkommenheit
und Zweidimensionalität des Menschen, denn einzig und allein der
Mensch kann alle Eigenschaften Gottes in sich vereinen, während die
anderen Geschöpfe nur einige der Eigenschaften Gottes haben. Deshalb ist der Mensch auch Statthalter Gottes auf Erden2; ihm wurden
alle Namen gelehrt.3 Die Zweidimensionalität des Menschen gewährt
ihm Willensfreiheit. Freiheit und Willen sind aber nur dann von Bedeutung, wenn man die Kraft und Kapazität hat, sie zu benutzen. Weder sind die Engel fähig, sich sinnlichen Trieben hinzugeben, noch
haben Tiere die Möglichkeit, über ihre Körperlichkeit hinauszuwachsen; der Mensch hingegen ist dazu in der Lage, und aus diesem Grunde steht er über all diesen Wesen und erlangt einen Rang, der mit göttlichen Erwartungen und der Verantwortung gegenüber Gott verbunden
ist, die kein anderes Geschöpf teilt. Diese Zweidimensionalität erhebt
den Menschen nicht nur über alle anderen Wesen, sie unterscheidet ihn
auch von ihnen. Wenn ihm nur ein Weg offen stünde, hätte er keine
Möglichkeit zur Wahl und zur freien Entscheidung. Seine Fähigkeit
zur Erkenntnis impliziert folglich Entscheidung und Wahl auf der
Grundlage von Bewusstsein.
Hier wird die mit der Entsendung der Propheten und der Offenbarung
der Heiligen Schriften verbundene Philosophie offenbar: Die Propheten kamen niemals, um den Menschen seiner Freiheit zu berauben,
oder ihm irgendeinen Zwang aufzuerlegen. Mittels der Offenbarung
soll vielmehr das menschliche Bewusstsein geweckt werden, dass ihn
zur besten Wahl führen soll. Gemäß der islamischen Sichtweise ist der
Mensch mit einer reinen Natur erschaffen worden, d. h. er ist von seinem Wesen her weder schlecht noch ein Sünder, sondern er liebt von
vornherein das Gute, eine Tendenz, die es zu entwickeln und zu fördern gilt, denn ungeachtet dessen verfügt er über die Freiheit, sich für
das Gute oder Schlechte zu entscheiden. Genauso wie ein Pflanzen2
3
Ebd., Sure al-Baqara, Vers 30.
Ebd., Vers 31.
6
keim in der Erde ohne Pflege und Bewässerung nicht zu einer Pflanze
oder einem Baum heranwächst, braucht auch das „Korn“ der reinen
Natur des Menschen Rechtleitung und Pflege, damit es gedeihen und
Früchte tragen kann.
Erziehung bedeutet also, die nach Vollkommenheit strebende Natur
des Menschen zu entwickeln, wobei er sich mit zwei Problemen konfrontiert sieht: Er weiß oft nicht, mit welcher der verschiedenen Möglichkeiten, die sich ihm bieten, er seine Bedürfnisse wirklich befriedigen kann. Andererseits fühlt er sich manchmal nicht nur vom Guten,
sondern auch vom Schlechten oder seiner materiellen und animalischen Seite angezogen. Der Erfolg des Menschen besteht also darin,
dass er das Gute und Schöne erkennt und die Anziehung des Guten in
sich verstärkt, damit sie die Anziehung des Schlechten überwiegt. Es
genügt nicht, dem Menschen nur Rechte und Freiheiten einzuräumen,
sondern er muss auch Erkenntnis und Bewusstsein erlangen. Ein Kind
verfügt im Unterschied zum Erwachsenen noch nicht über einen Grad
an Bewusstsein und Wissen, dass ihm stets einen vorteilhaften
Gebrauch seiner Freiheiten ermöglicht, so dass ihm seine Freiheiten
durchaus zu seinem eigenen Nachteil oder Schaden gereichen können.
Bevor wir also über verschiedene Rechte des Menschen sprechen,
müssen wir ein Grundrecht thematisieren: das Recht auf Wissen und
Bewusstsein. Der Qur’an bezeichnet eine solche Haltung mit dem
Begriff „ruÊd“. Wenn der Mensch nicht weiß, wie er seine Rechte einsetzen kann, nützen ihm weitere Rechte nichts.
Vor allem Eltern und Lehrer müssen die Bewusstseinsbildung und
Reife des Kindes fördern und ihm eine Erziehung angedeihen lassen,
die ihm eine richtige Nutzung seiner Freiheiten ermöglicht. Niemand
wird Eltern dafür tadeln, dass sie ihr Kind vor dem Sturz ins Feuer
bewahren. Hier stellt sich die Frage, warum Eltern die Freiheiten des
Kindes einschränken können, ohne dafür zur Verantwortung gezogen
zu werden? Wie bereits erwähnt, ist Freiheit ein menschliches Grundrecht, das allen von Geburt an zusteht; ein Kind hat jedoch auch ein
Recht auf Wissen und Bewusstsein, was zuweilen nur mittels einer
Begrenzung seiner Freiheit zu gewährleisten ist. Bewusstsein und Er-
7
kenntnis sind kein Hindernis für die Freiheit des Menschen, sondern
zeigen ihm vielmehr die richtige Nutzung seines Rechtes auf.
Der wichtigste Unterschied zwischen den Menschenrechten aus der
Sicht des Islam und nichtgöttlichen (materialistischen) Denkschulen
besteht darin, dass der Islam den Menschen als erziehungsfähig definiert. Seine Erziehung soll ihm nicht nur das Recht auf Freiheit vermitteln, sondern auch das Recht auf Wissen, Bewusstsein und Entwicklung realisieren, weil dies die Grundlage für alle anderen Rechte
darstellt.
Die religiösen Pflichten und Gebote stellen keine Einschränkungen der
Freiheiten des Menschen dar, sondern bringen vielmehr die Wahrheiten der Schöpfung und des Seins zum Ausdruck. Es handelt sich hier
um Wahrheiten, die der Mensch erkennt und die ihm Verantwortung
abverlangen. Göttliche Verpflichtungen gründen im Bewusstsein, so
dass die Begriffe Gebot und Verbot, die immer Zwang implizieren,
nicht angebracht sind. Die religiösen Pflichten sind in diesem Sinne
Wahrheiten, die dem Menschen den Weg zur Glückseligkeit weisen,
ihn einladen, diesen Weg zu beschreiten und ihn keinem Zwang unterwerfen. Folglich ist die göttliche Strafe nichts anderes als die natürliche Folge eines falschen Weges und der Handlungen des Menschen.4
Ein bewusster Mensch erkennt seine Freiheit stets im ethischen und
tugendhaften Verhalten, und erstrebt mittels Bewahrung seiner
menschlichen Identität und deren Entwicklung Rechtleitung und
Glückseligkeit; niemals wird er seine Freiheit auf einem Wege nutzen,
der ihn der Vernichtung preisgibt.
Der Unterschied zwischen gläubigen und ungläubigen Individuen und
Gesellschaften besteht nicht in Freiheit bzw. Unfreiheit, sondern in der
Frage, wozu diese Freiheit benutzt wird. Aus islamischer Sicht müssen
alle Hindernisse der Bewusstseinsbildung beseitigt werden, ohne den
Menschen die Freiheit zu nehmen. Sie sollen den Weg zum Erfolg
selbst erkennen und so ihre Freiheit richtig nutzen. Heutzutage ist in
manchen freien und demokratischen Gesellschaften gelenkte Werbung
und Propaganda an die Stelle dieser Bewusstseinsbildung getreten,
4
Vgl. Qur’an, Sure al-Baqara, Vers 256, und Sure al-InsÁn, Vers 3.
8
und obwohl ständig von Freiheit die Rede ist, werden die Menschen
mit selektierten Informationen bombardiert, in eine bestimmte Richtung gedrängt und letztlich manipuliert. In solchen Gesellschaften ist
Freiheit nur eine leere Parole. Dem Menschen bleibt letztlich nichts
anderes übrig, als der von den Massenmedien vorgezeichneten Darstellung zu folgen. Hier verliert ein Begriff wie „freie Wahl“ völlig
seine eigentliche Bedeutung. Wahl bedeutet aber, einen von vielen
verschiedenen Wegen einzuschlagen. Bewusstseinsbildung will den
Verstand des Menschen ansprechen, Propaganda will ihn manipulieren. Propaganda und Werbung sprechen Sensationslust und Gefühle
des Menschen an und nehmen ihm die Entscheidungsfreiheit. Es steht
ihm frei, gezwungen zu sein. Im Islam hat auch die Verbreitung der
Ideen einen bewusstseinsbildenden Charakter, denn der Verstand des
Menschen wird angesprochen und nicht sein Gefühl. Deshalb stellt der
Qur’an auch unmissverständlich fest, dass manche Menschen nach
ihrer Bewusstseinsbildung den rechten, andere aber den falschen Weg
einschlagen (vgl. Sure al-InsÁn, Vers 3).
Die gesellschaftlichen Grenzen der individuellen Freiheit
Auf der innerlichen Ebene wird die Freiheit nicht eingeschränkt, denn
erst die Bedürfnisse und Wünsche des Menschen lassen die Freiheit
erkennen und stellen somit per se keine Einschränkung dar. Ist dies
aber auch auf die äußere oder gesellschaftliche Ebene übertragbar?
Selbst die Vertreter der absoluten Freiheit räumen ein, dass die individuelle Freiheit auf der gesellschaftlichen Ebene nicht absolut und uneingeschränkt sein kann. Die wichtigsten Begrenzungen der menschlichen Freiheit definieren das Gesetz und die Freiheit des anderen. Danach stößt die Freiheit an ihre Grenzen, wo die Freiheit des anderen
und die Bewahrung des Gesetzes gefährdet sind. Legen aber allein die
Vorteile anderer diese rote Linie fest, oder darf man jemandem, der
das Gesetz nicht verletzt und auch die Rechte seiner Mitmenschen
9
nicht gefährdet, dennoch eine Missachtung der gesellschaftlichen Werte zugestehen?
Offensichtlich ist die soziale Freiheit nicht nur durch Gesetze oder den
Nutzen der anderen begrenzt, sondern es gibt darüber hinaus einen
weiteren wichtigen Faktor im Hinblick auf die Identität und Existenz
der Gesellschaft. Jede Gesellschaft setzt sich zwar aus Individuen zusammen, gewinnt ihre Identität und ihr Dasein aber auch aus ihrem
historischen Bezugsrahmen, wird also von einem „Geist“ getragen, der
sie von anderen Gesellschaften unterscheidet. Westliche und östliche
Gesellschaften unterscheiden sich nicht nur durch die Individuen, sondern auch durch den Geist, der in diesen Gesellschaften herrscht. Dieser „Geist“ speist sich aus Aktionen und Reaktionen und historischen
Entwicklungen und Veränderungen auf kultureller, politischer und
wirtschaftlicher Ebene. Kulturelle und religiöse Traditionen, nationale
Sitten und Gebräuche, die geographische und klimatische Lage usw.
sind Dinge, die die Identität einer Gesellschaft beeinflussen. Diese
Faktoren sind nicht leicht zu verändern, weil sie in einem historischen
Prozess während vieler Jahre und Jahrhunderte entstanden sind, und
auch die Individuen einer Gesellschaft können diese Faktoren nicht
einfach missachten oder mittels Konsens verändern. Werturteile, geliebte oder verhasste Dinge in einer Gesellschaft gründen in dieser
tradierten gesellschaftlichen Identität.
Der ehrwürdige Qur’an unterscheidet Identitäten und Schicksale von
Gesellschaften und sieht sie nicht nur als Ansammlung von Individuen
an, sondern spricht jeder Gesellschaft eine Eigenständigkeit zu, die in
einigen Fällen sogar den Willen und die Unabhängigkeit des Individuums beeinflussen kann. Ebenso wie der Mensch Aufgaben und
Handlungen hat, die Belohnung oder Bestrafung bewirken, verfügt
auch die Gesellschaft über einen bestimmten Handlungsradius, und die
Handlungen jeder Gesellschaft erscheinen dieser Gesellschaft als
schön (vgl. Sure al-AnþÁm, Vers 108). Jede Gesellschaft hat darüber
hinaus ihre eigene Geschichte, und jede Gemeinschaft wird für ihre
Handlungen zur Verantwortung gezogen werden (vgl. Sure al-¹ÁÝiya,
Vers 28).
10
Eine der wichtigsten „roten Linien“ der Freiheit besteht also darin, die
Identität und Existenz der Gesellschaft nicht zu beeinträchtigen, d. h.
eine Handlung, die zwar keinen Gesetzesverstoß und keine Rechtsverletzung darstellt, aber den Werten und der Identität einer Gesellschaft
widerspricht, zu unterlassen. Gesellschaftliche Koexistenz impliziert
die Verantwortung des Individuums für die gesellschaftliche Identität.
Auch viele liberale Philosophen, die den Einfluss der Gesellschaft auf
das Individuum bestätigen, wie z. B. John Stuart Mill, verbinden diese
Einflussnahme seitens der Gesellschaft mit Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft seitens des Individuums. Da die prägenden Werte einer gesellschaftlichen Identität wie bereits erwähnt differieren und
verschiedene „rote Linien“ ergeben können, resultiert dies beispielsweise in einer orientalischen Gesellschaft, in der möglicherweise ein
völlig anderer Geist herrscht als in einer okzidentalen Gesellschaft.
Der Islam vertritt die rationale These, dass jede Gesellschaft ihre eigenen Werte respektieren darf (vgl. Sure al-AnþÁm, Vers 108). Jede Gesellschaft hat das Recht, ihren Werten treu zu bleiben und Gesetze
zum Schutz ihrer Werte und Identität zu erlassen. Jeder, der einer Gesellschaft angehört, ist zur Achtung und Wahrung ihrer Gesetze verpflichtet, und selbst wenn jemand diese Gesetze nicht akzeptiert, hat er
nicht das Recht, ihnen gegenüber respektlos zu handeln. Selbstverständlich kann jeder Mensch auf der Grundlage der Meinungsfreiheit
bestehende Werte und Traditionen kritisieren. Wenn er ihre Werte
nicht mittragen kann, kann er seine Gesellschaft letztlich verlassen,
aber er hat nicht das Recht, deren identitätsbildenden Werte zu verletzen, solange er ihren Schutz genießt.
Die islamischen Lehren verpflichten jeden Muslim, für die Gesellschaft, in der er lebt, Verantwortung zu übernehmen. So wie diese
Gesellschaft seine Rechte schützt, ist auch der Muslim verpflichtet, die
Regeln der Gesellschaft, in der er lebt, zu respektieren, auch wenn
diese Gesellschaft nicht islamisch ist. Keinem Muslim steht es frei,
Rechte, Gesetze und Werte einer Gesellschaft zu missachten, nur weil
diese Gesellschaft nicht islamisch ist. Er hat jedoch dank seiner indivi-
11
duellen Rechte die Möglichkeit, alle Dinge, die seiner Identität
widersprechen, zu vermeiden.
Wenn heute Muslime in einigen westlichen Gesellschaften gegen das
Gesetz zum Verbot der islamischen Kleidung (½iºÁb) protestieren,
dann tun sie das nicht, weil sie die Gesetze und die Werte des Westens
verletzen wollen. Wir gestehen diesen Gesellschaften das Recht zu,
ihre gesellschaftlichen und historischen Identitäten zu bewahren und
zu verteidigen. Wenn Säkularismus und Neutralität des Staates gegenüber Religionen zu den Hauptwerten des Westens gehören, sind wir
als Muslime verpflichtet, diese Werte zu respektieren und sie nicht zu
bekämpfen.
Wir respektieren die prinzipielle Trennung von Religion und Staat in
dieser Gesellschaft, und zwar nicht aus taktischen oder politischen
Überlegungen heraus, sondern aufgrund der den islamischen Lehren
zugrunde liegenden Rationalität, die den Gläubigen verpflichtet, die
gesellschaftlichen Verträge einzuhalten. Der Islam lehrt uns, das Recht
jeder Gesellschaft auf Bewahrung ihrer Werte zu respektieren, und
wer dagegen verstößt, hat nicht nur das Gesetz übertreten, was sanktioniert werden muss, sondern auch ein göttliches Gebot negiert. Wenn
die Kleidung muslimischer Frauen tatsächlich die Gesetze und Werte
mancher Gesellschaften verletzen sollte, dann müssen sich die Muslime meines Erachtens nach diesen Regeln richten. Ich bin jedoch der
Meinung, dass der Säkularismus nicht zwangsläufig mit einer negativen Einstellung zu den Religionen verbunden ist, sondern eine Neutralität gegenüber religiösen Glaubensinhalten impliziert.
Die Gesetze eines zivilisierten Landes wie Deutschland, das als Heimat der Dichter und Denker gilt, haben es sich sogar zum Ziel gesetzt,
die Anhänger aller Religionen bei der Ausübung ihrer Religion gleichermaßen zu unterstützen. Die Säkularität lässt dem Menschen sogar
freie Hand bei der Wahl seiner Religion oder seiner Kleidung. Säkularität bedeutet keinesfalls, die Religionen zu leugnen, sondern verlangt
von den Mitgliedern der Gesellschaft sogar, anderen keine bestimmte
Meinung aufzuzwingen. Wenn also niemand den anderen Gesellschaftsmitgliedern seine religiösen Anschauungen aufzwingen darf, so
12
darf im umgekehrten Fall auch den Gläubigen keine unreligiöse Lebensweise aufoktroyiert werden. Der säkulare Staat ist ebenso, wie er
andere Rechte gewährleistet, verpflichtet, die Gläubigen bei der
Durchführung ihrer religiösen Gebote zu unterstützen. Muslime und
andere religiöse Minderheiten von der Ausübung ihrer religiösen
Pflichten abhalten zu wollen stellt einen Eingriff in die Privatsphäre
und im Endeffekt den Tod der Demokratie dar.
Gleiches gilt auf zwischenstaatlicher Ebene: Keine Gesellschaft darf
einer anderen die eigenen Werte und die eigene historische Identität
aufzwingen. Ebenso wie westliche Gesellschaften das Recht auf Verteidigung ihrer Identität und Werte haben, muss dieses Recht auch
islamischen und östlichen Gesellschaften zugestanden werden.
Jesus (a.s.) ertrug wie Moses (a.s.) und Mohammad (s.a.s.) große
Pein, um die Menschen rechtzuleiten. Diese Qualen darf man aber
niemals den Angehörigen einer Offenbarungsreligion, in diesem Falle
dem Judentum, zuschreiben und alle Juden pauschal verurteilen. Unser
Prophet Mohammad wurde von einigen seiner Familienangehörigen
gequält und bekämpft, was aber nicht die Verurteilung seiner gesamten Verwandtschaft rechtfertigt. Daher wurde sein Nachfolger aus
seinem engsten Familienkreis gewählt.
Die Übertretungen einiger Juden, Christen oder Muslime dürfen wir
also niemals dem Judentum, dem Christentum oder dem Islam zuschreiben. Als Muslime empfinden wir großen Respekt vor unseren
jüdischen und christlichen Geschwistern, die wie wir einer göttlichen
Religion folgen.
Individuum und Gesellschaft
Die Beziehung des Menschen zu seiner Gesellschaft wird von drei
wesentlichen Faktoren definiert:
ƒ Freiheiten von Individuum und Gesellschaft bei der Wahl von Handlungen und Verhaltensweisen.
13
ƒ Trennung von privatem und öffentlichem Leben.
ƒ Differenzierung zwischen dem Wahren und dem Legitimen.
Mit dem ersten Grundprinzip, der Betonung der individuellen und
gesellschaftlichen Freiheiten, wird verdeutlicht, dass alles gute und
schlechte Verhalten erst dann beurteilt werden kann, wenn es aus freiem Willen geschieht, d. h. aus den entsprechenden Freiheiten resultiert
die Verantwortlichkeit für die Handlungen von Individuum und Gesellschaft. Wer zu einer guten bzw. schlechten Tat gezwungen wird,
verdient keine Belohnung bzw. Bestrafung. Der Islam vertritt das rationale Prinzip, dass freier Wille und Entscheidungsfreiheit der Verantwortung zugrunde liegen; folglich entbehrt jedes auf Zwang und Unterdrückung basierende despotische Verhalten aller moralischen und
ethischen Werte. Eine Handlung ist nur dann ethisch, wenn sie bewusst und aus freiem Willen verrichtet wird. Der Wert sowohl einer
ethischen wie auch einer religiösen Tat beruht folglich darauf, dass der
moralische und religiöse Mensch diese mit vollem Bewusstsein und
aus freiem Willen ausführt. Jedes Individuum hat das Recht, sein privates Leben selbst zu bestimmen, und niemand darf sich in diesen
Bereich einmischen. Die Verletzung der Privatsphäre kommt einer
Aufhebung des individuellen Rechts auf Freiheit gleich. Entsprechend
muss auch auf gesellschaftlicher Ebene alles Handeln auf dem Einverständnis der Mehrheit der Bevölkerung basieren, und niemandem steht
es zu, der Gesellschaft seine persönlichen Überzeugungen aufzuzwingen, selbst wenn es sich hierbei um die tugendhaftesten und besten
ethischen und religiösen Normen handelt, denn jegliche Aufoktroyierung impliziert den Verlust des ethischen und religiösen Wertes. Ebenso wie der Einzelne seinen persönlichen Bereich bestimmen kann, hat
auch die Gesellschaft das Recht, die Art ihres Zusammenlebens zu
wählen. Hier tritt die Trennung von privatem und öffentlichem Bereich in Kraft. Den islamischen Grundsätzen zufolge darf jedes Individuum nur über sein eigenes persönliches und privates Leben entscheiden, während die Entscheidung über die Form des gesellschaftlichen
Zusammenlebens bei der Mehrheit liegt. Keine Minderheit darf der
Mehrheit etwas aufzwingen; die Minderheiten gleichen den Individu-
14
en, d. h. sie dürfen nur für sich selbst und ihre Angelegenheiten entscheiden. Den Willen der Mehrheit zu missachten oder zu verletzen ist
unzulässig und ungesetzlich, auch wenn diese Minderheit von der
Richtigkeit und Korrektheit ihrer Meinung überzeugt ist. Der Islam
lehrt uns, dass niemand das Recht hat, unter Berufung auf die Wahrheit die Willensfreiheit eines anderen einzuschränken.
Der Islam lehrt uns ungeachtet seines Wahrheitsanspruches und seiner
Rationalität weiter, dass wir selbst eine Gesellschaft mit säkularen und
areligösen Ansprüchen respektieren müssen und einer solchen Gesellschaft Religion und religiöse Gebote nicht aufgezwungen werden dürfen.
Hier haben wir es nun mit dem dritten der zuvor genannten Prinzipien
zu tun, nämlich der Unterscheidung zwischen dem absoluten Wahrheitsanspruch und der Gesetzgebung. Aus islamischer Sicht muss respektiert werden, wenn ein Individuum oder die Mehrheit einer Gesellschaft nicht nach religiösen Grundsätzen leben will, denn die Wahrheit
ist beständig und nicht nach individuellen oder gesellschaftlichen Ansichten veränderbar. Obgleich oftmals eine Diskrepanz zwischen der
Wahrheit und den Wünschen der Mehrheit besteht, wäre ein erzwungenes Durchsetzen der Wahrheit unrechtmäßig. Hier gilt es, die Differenzierung des Islam zwischen dem Wahren und dem Legitimen zu
beachten. Der Gültigkeitsanspruch des Wahren resultiert aus der erwiesenen Richtigkeit, der das Unwahre, das Falsche (bÁÔil) gegenübersteht. Etwas Wahres stimmt gemäß Logik und Realität mit der Wahrheit überein, so wie z. B. unsere Behauptung, dass die Erde um die
Sonne kreist, mit der Wahrheit übereinstimmt. Die Meinung von Individuum oder Gesellschaft spielt bei dieser Wahrheit keine Rolle. Galilei war z. B. gezwungen, seinen Thesen abzuschwören, aber die
Wahrheit dieser Thesen blieb bestehen. Trotzdem kann keine Religion,
auch wenn sie den höchsten Grad an Wahrheit erreicht hat, mit Zwang
durchgesetzt werden. Religiöse Gebote können nur dann als Gesetze
formuliert werden, wenn die Mehrheit der Gesellschaft sich demokratisch dafür entschieden hat; ohne diesen demokratischen Konsens
15
können selbst die Gebote der Scharia nicht als Gesetz angesehen und
realisiert werden.
Dies verdeutlicht, dass die Religion der Demokratie nicht konträr gegenübersteht, sondern dass sie vielmehr die konkrete Umsetzung der
demokratischen Werte intendiert. Der Islam nutzt bei der Gestaltung
der Gesellschaft nur demokratische Methoden und lehnt undemokratische Vorgehensweisen strikt ab; diktatorische Zwangsmaßnahmen
sind „unislamisch“. Auch auf anderer Ebene stimmt der Islam mit der
Demokratie überein: Gewohnheitsrecht und menschliche Vernunft
sind zwei Hauptquellen bei der Rechtsfindung in gesellschaftlichen
Belangen. Einerseits stützt sich der Islam auf den göttlichen Offenbarungen entnommene Grundlagen und Bestimmungen und sieht die
Einhaltung ethischer und religiöser Bestimmungen im gesellschaftlichen Handeln als notwendig an, andererseits überlässt er die Festlegung vieler gesellschaftlicher Bestimmungen dem Gewohnheitsrecht
und der menschlichen Vernunft; in diesem Sinne werden die Gesetze,
die eine Gesellschaft aufgrund bestimmter Notwendigkeiten beschließt, bindend, sofern keine Einmischungen in die Privatsphäre der
Menschen stattfinden und die persönlichen und religiösen Rechte der
Individuen nicht verletzt werden. Gewohnheitsrechte dürfen nicht dazu führen, dass das Individuum seinen religiösen Verpflichtungen
nicht nachkommen kann. Der Wert, den der Islam dem Gewohnheitsrecht und der menschlichen Vernunft beimisst, führt dazu, dass der
Islam ewig und dauerhaft ist und nicht an die engen Grenzen von Zeit
und Ort gebunden ist. Zusammenfassend können wir also festhalten,
dass der Islam Demokratie und das Votum der Mehrheit respektiert
und fordert.
Muslime beabsichtigen nicht, in einer Gesellschaft mit einer nichtmuslimischen Mehrheit einen „Staat im Staat“ zu bilden und die Bestimmungen dieses Staates zu missachten. Nach Ansicht vieler Theoretiker
der Demokratie impliziert die Herrschaft der Mehrheit keine „Diktatur
der Mehrheit“, in der die Rechte von Minderheiten missachtet und mit
Füßen getreten werden dürfen. Einer der wichtigsten demokratischen
Grundsätze besteht in der Wahrung der Rechte der Minderheiten und
16
deren Praktizierung. Wer Minderheiten als Gefahr ansieht, irrt und
entfernt sich weit von demokratischen Prinzipien. Die Präsenz von
Minderheiten stärkt und festigt die demokratischen Grundlagen einer
Gesellschaft. Historische Erfahrungen verschiedener Gesellschaften,
auch der deutschen, zeigen, dass die Unterdrückung von Minderheiten
und die Missachtung ihrer Rechte nur Diktatur und Faschismus mit
sich bringt. Solche Diktaturen missachten nach einiger Zeit die Rechte
aller Menschen, die der Minderheiten und die der Mehrheit. Die Bevölkerung und die Politiker in Deutschland werden sicherlich nicht
zulassen, dass sich diese bitteren historischen Erfahrungen aufgrund
falscher Propaganda wiederholen.
Aus islamischer Sicht sind die Hauptelemente des Lebens das Bewusstsein und die Erkenntnis. Was im Bereich der Erkenntnis wichtig
und gültig ist, sind die rationalen Erkenntnisse, und alle Bereiche des
menschlichen Lebens sollen eine rationale Rechtfertigung aufweisen.
Zusammenfassend gesagt besteht das Konzept in einem besseren Leben, von dem auch im Qur’an die Rede ist, dem „½ayÁt Ôayyebe“, einem reinen und rationalen Leben.
Zweifellos wird ein wichtiger Teil des Lebens in der direkten Beziehung mit dem Schöpfer und Seiner Anbetung geformt. Das ist der religiöse Aspekt des Lebens, der jedoch auf einer gewissen rationalen
Rechtfertigung basiert. Religiosität an sich beansprucht keinen Erkenntniswert, sondern definiert ihren Wert aus ihrer Grundlage der
Rationalität und rationalen Erkenntnis. Wenn wir von der Expertise
und Wahrhaftigkeit eines Arztes Kenntnis haben, werden wir seine
Empfehlungen akzeptieren, und diese Art der Akzeptanz basiert auf
einer gewissen Rationalität.
Die Rolle der Vernunft im Bereich der gesellschaftlichen
Beziehungen
Wenn wir über den Bereich der Religiosität und Anbetung hinausgehen, so finden wir in anderen Bereichen der menschlichen und gesell-
17
schaftlichen Beziehungen bestimmte Maßstäbe und Bezüge vor, die
der Mensch mittels seiner Vernunft und seines Verstandes verstehen
und unterscheiden kann. D. h. die Ratio kann entweder aus sich oder
mittels einiger in der Religion und göttlichen Offenbarungen enthaltenen Zeichen und Merkmale das Schlechte vom Guten unterscheiden
und sich für die Kenntnis und Wahl des Besseren entscheiden. In solchen Fällen, in denen die Ratio die Möglichkeit hat, eine auf Erkenntnis gründende endgültige Entscheidung zu treffen, wird die Religion
niemals ein bestimmtes Gebot haben, das diesem widerspricht. Tatsächlich hat die Religion viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens
der Ratio des Menschen überlassen und bestätigt und unterschreibt die
rationale Entscheidung. Prinzipiell sind die islamischen Gebote in
zwei Kategorien unterteilbar, nämlich erstens begründete Gebote und
zweitens gebilligte Gebote.
Begründete Gebote sind jene, die seitens des Propheten und der göttlichen Offenbarung begründet werden und ihre Legitimation durch die
Offenbarung erlangen. Viele religiöse Zeremonien und Rituale gehören zu dieser Kategorie. Die religiösen Pflichten und alles, was zur
Scharia gehört, sind begründete Gebote. Im Unterschied dazu sind die
gebilligten oder bestätigten Gebote jene Vorschriften, deren Gründe
und Erklärungen nicht in der Religion und göttlichen Offenbarung
liegen, sondern mit einer Vielzahl von Erkenntnissen und rationalen
Lehren und Traditionen rational gerechtfertigt werden, d. h. die Menschen haben aufgrund ihrer Erkenntnisse diese Gebote gerechtfertigt
und tun dies noch immer. Der Islam bestätigt diese rationalen und traditionellen Strukturen und menschlichen Ziele, weil sie mit den Geboten konform sind. Zuweilen erfolgt diese Bestätigung nach einigen
Korrekturen, worauf ich im weiteren Verlauf meiner Ansprache noch
eingehen werde.
Eines der wichtigsten und besonderen Merkmale des Islam, dem viele
Menschen besondere Achtung schenken, ist seine gesellschaftliche
Dimension, die für manche Anlass zu Begeisterung und für andere zu
Kritik ist. Zweifellos ist der Islam eine gesellschaftliche Religion, der
die Rolle und Art der Präsenz des Individuums in der Gesellschaft und
18
seiner Funktion Achtung schenkt. Der Islam betont, dass ein religiöser
Mensch in seinem gesellschaftlichen Leben im Umgang mit Anderen
ein gutes und akzeptables Benehmen haben soll. Wir müssen jedoch
zugeben, dass die islamische Gesellschaftstheorie den Nichtmuslimen,
der westlichen Welt und sogar manchen Muslimen nicht in aller Richtigkeit und Deutlichkeit erklärt und interpretiert wurde.
Zunächst ist es notwendig, die individuelle und die gesellschaftliche
Tat zu definieren. Solange der Maßstab der individuellen Tat und der
Unterschied zur gesellschaftlichen Tat nicht klar und deutlich sind,
können wir nicht verstehen, was mit gesellschaftlichem Islam und mit
islamischer Gesellschaft gemeint ist. Der beste und genaueste Maßstab
für die Unterscheidung und Trennung der individuellen von der gesellschaftlichen Tat ist das Gemeinwohl. Jedes Verhalten und jede Tat, die
Bezug zum gesellschaftlichen Gemeinwohl aufweist, wird als gesellschaftliche Tat bezeichnet, und jedes Verhalten, das sich auf den Nutzen für das Individuum bezieht, gilt als individuelle Tat. Weil die Bestimmung des Nutzens jedem selbst überlassen ist, und kein anderer
das Recht hat, sich an diesem Prozess zu beteiligen, ist die Entscheidung über die individuelle Tat allein das Recht des Individuums, und
jede Art von Beteiligung an der Entscheidung käme einer Einschränkung des Rechts des Individuums gleich. Deshalb haben wir für die
individuelle Tat viele Beispiele, die wir nicht auf das reduzieren können, was wir in der Regel als Privatleben bezeichnen, sondern es umfasst auch Verhaltensweisen, die das Individuum im Rahmen der Gesellschaft tut, wie beispielsweise die Partizipation an Wahlen.
Aber auch wenn dieses Recht in der Gesellschaft wahrgenommen
wird, kann man die Teilnahme an Wahlen nicht als eine rein gesellschaftliche Tat bezeichnen. Normalerweise besteht der individuelle
Maßstab bei Wahlen in der persönlichen Zweckmäßigkeit, d. h. das
Individuum berücksichtigt dabei seine eigenen Vorteile und wird dem
seine Stimme geben, der seine Vorteile sichert. Nun sollen wir sehen,
worin das Individuum seine Vorteile sieht und inwieweit gesellschaftliche, religiöse, tribalistische und nationale Faktoren und Absichten
auf seine Definition von Zweckmäßigkeit einwirken bzw. ob sie für
19
seine Wahlentscheidung bedeutungslos sind. An Wahlen zu partizipieren manifestiert sich in der Gesellschaft, in der Gemeinschaft mit anderen Menschen, hat aber dennoch ein individuelles Wesen, wie man
z. B. auch seinen Beruf oder seinen Ehegatten wählt oder wie man sich
bekleidet. Alle diese Dinge haben ein gemeinsames Wesen, obwohl
der Mensch selbst die freie Entscheidung hat, und natürlich wird er
sich zugunsten seiner Vorteile entscheiden, was sie letztlich als individuelle Taten kennzeichnet.
Deshalb kann man das individuelle Handeln in zwei Teile aufteilen,
nämlich erstens Taten, die im Rahmen des individuellen Privatlebens
stattfinden, wie z. B. essen, schlafen, Freundschaft mit jemandem
pflegen, die Wahl des Ehegatten, die Beziehung zum Ehegatten, zu
den Kindern und anderen Verwandten usw., und zweitens Taten, die
im gesellschaftlichen Rahmen stattfinden, wie z. B. das passive und
aktive Wahlrecht, Bekleidung, Arbeit und jedes Engagement, das allein auf das Individuum bezogen ist.
Wenn also eine individuelle Tat in der Gesellschaft geschieht, ist das
kein Argument dafür, dass es eine gesellschaftliche Tat ist, wie bereits
erklärt wurde. Aber vielleicht kann man sagen, dass es einen wichtigen
Unterschied zwischen diesen beiden Arten des individuellen Handelns
gibt. Wenngleich in beiden Fällen das Recht und die Freiheit des Individuums betroffen sind, ist im zweiten Fall, also bei den Handlungen,
die in der Gesellschaft stattfinden, das gesellschaftliche Gemeinwohl
involviert. Bei derartigen Fällen sollte das Individuum bei seinen Entscheidungen nicht das gesellschaftliche Gemeinwohl oder andere gesellschaftliche Gesetze verletzen. Klar ausgedrückt heißt das: Obwohl
das Individuum hinsichtlich der Taten und Entscheidungen, die rein
auf es selbst bezogen sind, nicht verpflichtet ist, das gesellschaftliche
Gemeinwohl und die Vorteile der anderen zu berücksichtigen, ist es
aber verpflichtet, bei der Wahrung seiner eigenen Vorteile nicht zu
übertreiben und das gesellschaftliche Gemeinwohl und die Vorteile
der anderen nicht zu beeinträchtigen.
20
Handeln auf gesellschaftlicher Ebene
Neben der individuellen Tat gibt es die gesellschaftliche Tat, deren
Entscheidungsmaßstab das Gemeinwohl der gesamten Gesellschaft ist.
Gemäß dieser Definition sind Herrschaft und Regieren, die das
Schicksal der gesamten Gesellschaft betreffen, eine gesellschaftliche
Tat, bei der man niemals den reinen Nutzen und Vorteil des Individuums berücksichtigen kann, selbst wenn dieses Individuum Politiker
und Staatsmann wäre mit der Pflicht, zu regieren und politische Entscheidungen zu treffen. Das Zivilrecht und alle Gesetze und gesellschaftlichen Bedingungen einer jeden Gesellschaft gehören dem Bereich des gesellschaftlichen Handelns an, ausgenommen der Bereich,
der sich mit der Interpretation der Rechte des Individuums beschäftigt.
Die Absicht und der Hauptgrund, warum diese Dinge als ungültig
bzw. als gesetzlich erklärt werden, sind die Sicherung des gesellschaftlichen Gemeinwohls und der Nutzen aller Individuen. Alle Bereiche
des gesellschaftlichen Lebens wie z. B. Politik und Wirtschaft gehören
zum Bereich des gesellschaftlichen Handelns.
Die unterschiedlichen Formen des menschlichen Verhaltens
Aus dem bisher Gesagten wurde deutlich, dass wir es grundsätzlich
mit drei unterschiedlichen menschlichen Verhaltensweisen zu tun haben:
ƒ Individuelles Verhalten im privaten Bereich.
ƒ Individuelles Verhalten im gesellschaftlichen Leben.
ƒ Gesellschaftliches Verhalten, das alle Bereiche des soziopolitischen
Lebens in der Gesellschaft umfasst.
Was will der Islam, und welche Wirkung will er auf diese drei unterschiedlichen Verhaltensweisen haben?
21
Ein Großteil von dem, was wir zu den religiösen Pflichten und der
Scharia zählen, bezieht sich auf die zwei Bereiche des individuellen
Handels der religiösen und gläubigen Menschen. Manche von diesen
Pflichten und Gesetzen beziehen sich auf das Privatleben des Menschen, wie z. B. das Fasten, die Gesetze über Essen und Trinken, die
Wahl des Ehegatten und dergleichen, wieder andere wie z. B. die Zeremonien der Pilgerfahrt, das Verbot von Wucherei und Bestechung,
die Bekleidungsvorschriften für Frauen und Männer oder das Freitagsgebet sind Zeremonien und individuelle Taten, die im Rahmen der
Gesellschaft stattfinden. Aber wie bereits erklärt wurde, sind dies
gänzlich individuelle Angelegenheiten, die von der Entscheidung und
dem Willen des Individuums abhängig sind. Andere religiöse Pflichten
können im Rahmen der Gesellschaft und auch vollkommen im privaten Bereich erfüllt werden, wie z. B. die täglichen rituellen Gebete, die
man in der Gemeinschaft oder auch allein zu Hause verrichten kann.
Letztlich muss man beachten, dass begründete Gebote im Islam, die
man als Scharia und religiöse Pflichten bezeichnet, nicht alle Dimensionen des individuellen Lebens der gläubigen und religiösen Menschen umfassen, sondern der Islam hat einen großen Bereich des individuellen Lebens, der sich auf die Beziehungen des Individuums mit
anderen im Bereich der Familie und Gesellschaft bezieht, die auf
menschlichen und moralischen Werten basieren, betont und unterschrieben, wie der Prophet des Islam mit aller Deutlichkeit gesagt hat:
„Ich wurde entsandt, damit ich die moralischen Schönheiten und
Weisheiten verbreite.“
Sich der Lüge zu enthalten, die Betonung von Freundlichkeit und
Freundschaft zu anderen, Solidarität, Hilfsbereitschaft, Opferbereitschaft und der Lösung der Probleme der anderen den Vorzug zu geben
vor der Lösung der eigenen Probleme, sich der Unterdrückung und der
Vernachlässigung der Rechte der anderen zu enthalten, auch wenn sie
unsere Feinde sind, die Verantwortung gegenüber Verträgen und Vereinbarungen, die Berücksichtigung der Rechte der Tiere und dass man
sie nicht quält, den Schutz der Umwelt und natürlichen Quellen, die
angemessene Nutzung von Allgemeingut und die Berücksichtigung
22
der Rechte und des Anteils der anderen Individuen der Gesellschaft
bei der Nutzung dieses Allgemeinguts, die Achtung gegenüber Älteren
und insbesondere den Eltern, gutes Benehmen und Freundlichkeit gegenüber jungen Menschen, und Hunderte oder Tausende solcher kleinen und großen moralischen Lehren, die das rationale menschliche
Urteil gutheißt und an deren Richtigkeit es keinen Zweifel gibt, dies
alles sind Gesetze und islamische Lehren und Werte, zu denen der
Islam seine Anhänger und alle Menschen einlädt, und die heiligen
islamischen Quellen erklären und interpretieren diese Gesetze und
Lehren.
Aber im Bereich des gesellschaftlichen Handelns sind begründete islamische Gesetze quantitativ gering und begrenzt. In den meisten
Bereichen des gesellschaftlichen Lebens werden die islamischen
Gebote bestätigt und unterschrieben, und in diesem Bereich ist es für
den Islam sehr wichtig, dass die Berücksichtigung der Moral und
gesellschaftlichen Gerechtigkeit auf Rationalität basieren. Jeder
Brauch und jedes Gesetz, das so etwas bestätigt, wird genau mit
diesem Maßstab gebilligt und bestätigt. Die Berücksichtigung der
gesellschaftlichen Verträge und Vereinbarungen sind weitere
Grundprinzipien, die im Bereich der gesellschaftlichen Beziehungen
äußerst wichtig sind und betont werden. Aus der Sicht der islamischen
Scharia akzeptiert jedes Individuum mit seinem Eintritt in die
Gesellschaft und der Möglichkeit der gesetzlichen Nutzung dessen,
was die Gesellschaft für ihn vorgesehen hat, automatisch einen
Vertrag und eine Vereinbarung. Daraus resultiert seine Verpflichtung,
die Vorschriften, Gesetze und Bedingungen dieser Gesellschaft zu
berücksichtigen, und jede Art von Weigerung wäre ein Zeichen der
Untreue gegenüber diesen Gesetzen und Vereinbarungen, was gemäß
den existenten Gesetzen in jeder Gesellschaft mit Sanktionen belegt
wird. Aus islamischer Sicht stellt es eine Sünde dar und wirkt auch auf
das Jenseits, womit sich ein Teil des islamischen Rechts und der
islamischen Scharia beschäftigt. Deshalb bestätigt der Islam Bräuche,
rationale Strukturen, Gesetze und Vorschriften der verschiedenen
Gesellschaften und gesellschaftlichen Verträge, und bewahrt diesen
Dingen gegenüber kein Stillschweigen und keine Gleichgültigkeit,
23
und keine Gleichgültigkeit, sondern er verlangt von seinen Anhängern,
dass sie diese Bedingungen und Gesetze genau so wie die Gesetze der
ersten Kategorie, würdigen und treu und verantwortlich zu ihnen stehen.
Wir haben erwähnt, dass der Islam im Bereich der Beziehungen und
gesellschaftlichen Entscheidungen Bräuche und rationale Methoden
grundsätzlich bestätigt und betont. Es gibt jedoch einige begründete
Gesetze, wie z. B. manche Strafgesetze, und hier stellt sich die Frage,
ob im Hinblick auf diese begründeten Gesetze der Islam von seinen
Anhängern verlangt, diese Gesetze in der Gesellschaft zu praktizieren
oder nicht? Sind die Muslime verpflichtet, die islamische Scharia in
dieser Gesellschaft, in der sie leben, zu praktizieren oder nicht?
Gesellschaftliche Verantwortung
Es wurde gesagt, dass ein Großteil der gesellschaftlichen Gebote des
Islam keine begründeten, sondern gebilligte Gebote sind und dass der
Islam in diesem Bereich die Prinzipien der Ethik und Gerechtigkeit
hervorhebt. Zu den begründeten gesellschaftlichen Geboten und Lehren im Islam, die auf der Offenbarung basieren und zu deren Berücksichtigung die Muslime in ihrem gesellschaftlichen Leben verpflichtet
sind, gehören auch einige Strafgesetze, d. h. die Strafen, die die Scharia für bestimmte Taten vorsieht. Die Frage lautet nun, ob die Muslime, so wie ihnen die Verrichtung der Gebete oder die Durchführung
anderer religiöser Vorschriften geboten wurde, auch verpflichtet sind,
die Scharia in der Gesellschaft, in der sie leben, zu praktizieren? Die
klare und deutliche Antwort auf diese Frage lautet: Nein! Der Grund
dafür ist, dass diese Gruppe von gesellschaftlichen Geboten des Islam
aufgrund der bereits aufgezeigten Unterteilung zu den gesellschaftlichen Taten und folglich nicht zu den Pflichten und Aufgaben des Muslims als Individuum gehört. Aus islamischer Sicht ist jeder Muslim
verpflichtet, die Scharia einzig und allein in seinem Privatleben zu
24
berücksichtigen. Deshalb wird die Scharia nur das, was wir als individuelle Tat bezeichnet haben, beeinflussen und bestimmen.
Wenn die Scharia aber hinsichtlich gesellschaftlicher Taten Lehre und
Gebote bestimmt hat, wird kein muslimisches Individuum zur Verpflichtung dieser Gebote und Lehren verpflichtet. Grundsätzlich werden diese Lehren und Gebote genau wie andere Theorien oder gesellschaftliche Rechtsvorstellungen dargestellt, damit die Gesellschaft
darüber urteilt und entscheidet und im Rahmen eines vollkommen
demokratischen Prozesses die Möglichkeit hat, sie im gesellschaftlichen Leben zu manifestieren. So wurden z. B. bei der Bestrafung und
islamischen Rechtsprechung für Diebstahl bestimmte Gebote und Strafen erörtert, oder für das Richteramt spezielle Voraussetzungen festgelegt, die auf einer spezifischen Philosophie, Rechtsanschauung und
besonderen juristischen Struktur basieren, die mit anderen philosophischen und theoretischen Rechtsprechungen der menschlichen Gesellschaft zum Vergleich angeboten werden. Wenn eine Gesellschaft sich
aufgrund ihres Bewusstseins für die Gesamtheit oder einen Teil dieser
Vorschläge oder Theorien entscheidet und sie in einem vollkommen
demokratischen Prozess akzeptiert und annimmt, werden diese selbstverständlich in das Rechtssprechungssystem integriert. Selbstverständlich wird dies nur in einer islamischen Gesellschaft, in der die Mehrheit der Menschen Muslime sind, möglich sein. Aber auch eine nichtmuslimische Gesellschaft sollte diese Möglichkeit nicht außer Acht
lassen, dass sie von einem Teil dieser Theorien und Lehren im Rahmen ihrer eigenen Gesetzgebung Gebrauch macht, wie z. B. auch die
Rechtsprechung von manchen europäischen Ländern die Gesetzgebung vieler islamischer Länder beeinflusst hat.
Deshalb sind die speziellen gesellschaftlichen Gesetze wie z. B. das
Strafgesetz niemals Befehle und Bestimmungen, zu deren Praktizierung in der Gesellschaft das muslimische Individuum verpflichtet ist.
Vielmehr steht aus islamischer Sicht jedes Bemühen und Engagement
eines Einzelnen, diese Theorien und Lehren in einer Gesellschaft, auch
wenn es sich um eine islamische Gesellschaft mit mehrheitlich Muslimen handelt, zu praktizieren, ohne Zweifel im Widerspruch zur
25
Scharia und den islamischen Geboten. Folglich gilt derjenige, der so
etwas tut, als Straftäter, der eine Sünde begangen hat und vor Gott für
seine Schuld verantwortlich ist.
Jede Theorie, auch wenn sie den höchsten Grad an Richtigkeit und
Wahrheit besitzt, wie z. B. die göttlichen Lehren der Propheten, die
aus der Sicht ihrer Anhänger die vollkommene Wahrheit und Richtigkeit haben, kann grundsätzlich nur dann Teil des gesellschaftlichen
Lebens der Menschen und als Grundprinzip der gesellschaftlichen
Ordnung und des Zivilrechts berücksichtigt werden, wenn sie in Form
eines Gesellschaftsvertrages von der Gesellschaft angenommen und
akzeptiert wurde. Niemand hat das Recht, mit der Argumentation, dass
sei die Scharia und Religion, anderen etwas aufzuzwingen. Kein religiöser und frommer Mensch steht über den göttlichen Propheten. Kein
Muslim, gleich welchen Grad von Glauben er hat, steht über dem Propheten des Islam, und kein Christ oder Jude, egal wie gläubig er ist,
steht über Jesus oder Mose. Diesen großen Propheten wurde von göttlicher Seite nicht das Recht zugestanden, den Menschen und der Gesellschaft die Offenbarung und Einladung zum Glauben aufzuzwingen,
und wenn jeder dieser großartigen Menschen heute gegenwärtig wäre,
würde er seine gesellschaftliche Lehre anbieten. Auch wenn alle religiösen Menschen und Anhänger seine Sicht annehmen und daran
glauben würden, weil es eine göttliche Sicht ist, hat dennoch kein
Mensch – sei er auch noch so gläubig – das Recht, diese Sicht in der
Gesellschaft zu praktizieren und sie anderen aufzuzwingen, solange
diese Theorie nicht in einem demokratischen und traditionellen Prozess akzeptiert und zum Gesetz bestimmt wurde.
Was in der Gesellschaft herrscht, was alle berücksichtigen und woran
sich alle halten müssen, ist das Gesetz. Niemals ist ein religiöser
Mensch verpflichtet, die Scharia gegen das Gesetz zu tauschen, weil
die Scharia selbst dies nicht erlaubt. Es ist durchaus möglich, dass die
Menschen einer Gesellschaft, die zwar Muslime sind und an die
Wahrheit des Propheten des Islam glauben, dennoch aus irgendeinem
Grund kein Interesse an der Berücksichtigung der Scharia in irgendeinem Bereich ihrer gesellschaftlichen Beziehungen und ihres Zivil-
26
rechts haben, und das ist eine Sache, die sie und Gott betrifft. Aber
Gott hat niemandem erlaubt, diese Menschen zu zwingen, die Scharia
zu akzeptieren, zu berücksichtigen oder zu praktizieren. Ein solches
Verhalten ist zweifellos unislamisch, unmenschlich und gilt als große
Sünde.
Obwohl der Islam die Berücksichtigung der Ethik und Gerechtigkeit in
den gesellschaftlichen Beziehungen betont und die Familie für sehr
wichtig hält, kann man dennoch mit dem, was heutzutage als Fundamentalismus und Islamismus bezeichnet wird, nicht einverstanden
sein. Man muss jedoch festhalten, dass heutzutage viele unklare Begriffe benutzt werden, denen keine klare und eindeutige Definition und
Bedeutung zugeschrieben wurde. Wenn mit Fundamentalismus die
Bindung an die religiöse Identität und die Grundprinzipien der islamischen Gedanken gemeint ist, dann ist zweifellos jeder Muslim ein
Fundamentalist. Genauso ist jeder Christ und jeder Jude oder jeder
andere Mensch, der an eine bestimmte Lehre oder Philosophie glaubt,
ein Fundamentalist, und in diesem Sinne müssten die Säkularisten, die
die Grundprinzipien des Säkularismus betonen, zuallererst als Fundamentalisten angesehen werden.
Es scheint jedoch, dass der Begriff Fundamentalismus gegenwärtig
nicht in diesem Sinne gebraucht wird, sondern der Fundamentalismus
als eine inakzeptable, falsche, irrationale und dogmatische Form des
Festhaltens an Tradition und religiösen Zeremonien verstanden wird.
Um es deutlich zu sagen: Jeder, der sich bemüht, seinen Glauben und
seine
Überzeugungen, egal was das ist, auch wenn dieser Glaube die Botschaft der Offenbarung und die göttliche Botschaft ist, seinen Mitmenschen und der Gesellschaft aufzuzwingen und die demokratische
Struktur und gesellschaftliche Ordnung zu stören, d. h. durch Anwendung von undemokratischen Methoden und Gewalt seine Meinung und
seinen Glauben der Gesellschaft aufzuzwingen, ein solcher Mensch ist
ein Fundamentalist. Gemäß dieser Definition ist der Fundamentalismus ein irrationales und unmenschliches Phänomen und weist nicht
das geringste Maß an Vereinbarkeit mit dem Islam oder einer anderen
27
göttlichen Religion auf, auch wenn solche Fundamentalisten sich
selbst als Muslime und die Islamisierung als ihr Ziel bezeichnen.
Intensivere Überlegungen zum Fundamentalismus und Islamismus
Die göttlichen Religionen werden mit all ihrer Bedeutung und Wahrheit der Vernunft angeboten, und solange die Grundsätze dieser Religionen für die Ratio nicht verständlich sind, können sie nicht als Beweis und Wahrheit angesehen werden. Unter Berücksichtung dieses
Punktes können wir eine genauere Definition vom Fundamentalismus
geben: Ein Fundamentalist ist derjenige, der seine Ideologie und Meinung über die Vernunft stellt. Aus der Bevorzugung der Ideologie und
des Glaubens über die Vernunft und das Nachdenken resultiert die
Tatsache, dass der Mensch seine Vernunft durch Glauben und Traditionen ersetzt, anstatt die Vernunft zum Maßstab seines Urteils zu machen.
Es ist durchaus möglich, dass am Anfang diese Ersetzung einfach und
oberflächlich geschieht, aber das Ersetzen der Ratio durch Tradition
und Ideologie verursacht die Bildung eines Phänomens und eines
Schadens, den ich als „Ideologisierung“ und „Traditionalisierung“
bezeichne. Mit diesen zwei Begriffen ist kein Handeln gemeint, das
auf Tradition und Ideologie beruht, sondern damit ist gemeint, dass der
Mensch so sehr in die Gefangenschaft seines Glaubens und seiner
Traditionen gerät, dass er keine Kritik an seiner Meinung akzeptiert,
sondern seine Meinung als Maßstab für die Richtigkeit und die Wirklichkeit von etwas Anderem ansieht, und dass er für sich daraus das
Recht ableitet, seinen Glauben und seine Traditionen anderen aufzuzwingen und andere dazu zu nötigen, seinem Handeln zu folgen. Deshalb kann man den Absolutheitsanspruch als wichtigste Auswirkung
der „Ideologisierung“ bezeichnen. Der Absolutheitsanspruch ist auch
ein Hauptelement von Faschismus und Diktaturen. Die Rechtfertigung
der Gewalt und der Verbrechen, die nazistische und kommunistische
28
Führer begangen haben, resultierte aus der Vorstellung, ihre Überzeugungen und ihr Glaube sei vorzuziehen und überlegen; jede rationale
Kritik wurde abgelehnt, und normalerweise sehen solche Menschen
für sich eine weltliche Mission, und sie denken, sie haben die Pflicht,
sie müssten die anderen Menschen wie sich selbst machen. Al-Qaida
und die Taliban sind gute Beispiele für diese krankhafte Ideologisierung.
Der Islam ist gegen jede Art von Fundamentalismus, den wir hier
dargestellt haben. Eine der grundlegenden islamischen Pflichten ist die
Verneinung eines solchen Fundamentalismus, d. h. absolutistisch zu
denken und den Glauben und die Traditionen der Ratio und dem
Nachdenken vorzuziehen, wird von islamischer Seite nachdrücklich
verneint, und der Islam distanziert sich davon, selbst wenn dieser
Glauben und diese Traditionen sich auf den Islam beziehen. Deshalb
wird der Islamismus in dem Sinne, dass jemand seinen islamischen
Glauben gegenüber seiner Vernunft bevorzugt und ihn als so absolut
sieht, dass Vernunft und Verstand ignoriert und nicht berücksichtigt
werden, und er seine Meinung und seinen Glauben den anderen aufzwingen will, vom Islam verurteilt, und diese Art des Islamismus unterscheidet sich insofern nicht vom Kommunismus und Nazismus, da
ihnen die Missachtung der Ratio und der Absolutheitsanspruch gemeinsam sind. Wenn jemand die Ratio ignoriert und absolutistisch
denkt, ist er von seinem Gedanken und Glauben begeistert und wird
sich jede Art von Gewalt und Verbrechen erlauben.
Das Gesagte macht deutlich, dass Dogmatismus und Selbstbegeisterung nicht zu einem bestimmten Gedanken und Glauben gehören, und
dass jeder Gedanke dem Dogmatismus und Fundamentalismus zum
Opfer fallen kann. Mit anderen Worten: Der Fundamentalismus kann
sich in verschiedenen Formen manifestieren, selbst in einer intellektuellen Form. Aber beim Fundamentalismus ist der Inhalt der Theorien
und Ideologien nicht primär wichtig, sondern von großer Bedeutung
ist die Vermischung von Dogmatismus und Fanatismus, was Gewalt
verursachen kann.
29
Gewalt und Dogmatismus sind dem Geist der göttlichen Religionen
fremd. Niemand kann behaupten, er sei religiös, und gleichzeitig ein
gewalttätiger Mensch sein. Diejenigen, die Ereignisse wie vom 07. Juli
in London, dem 11. März in Madrid und dem 11. September in New
York zu verantworten haben, verfügen nicht über die geringste Kenntnis von der Spiritualität der Religion bzw. der islamischen Lehre, und
sie kennen die grundsätzliche Bedeutung von Menschlichkeit nicht.
Wie könnte man akzeptieren, dass jemand im Namen der Religion
Terror und Gewalt praktiziert? Niemals kann man so etwas akzeptieren, weil die göttliche Religion und insbesondere der Islam, Frieden
und eine freundliche Botschaft überbringt und der Dienst für den Menschen die größte Anbetung ist. Aus islamischer Sicht gibt es nichts
Verpflichtenderes als den Schutz des menschlichen Lebens, und das
Engagement für den Schutz des Lebens einer Person ist dem Schutz
des Lebens der ganzen Gesellschaft gleich.
Mit aller Deutlichkeit wird gesagt: wenn jemand einen Unschuldigen
tötet, ist es genau so, als hätte er alle Menschen einer Gesellschaft
getötet, und es ist dabei unbedeutend, welchen Glauben und welche
Gedanken diese Person hat. Auch wenn diese Person uns feindlich
gesinnt wäre oder eine vollkommen andere Meinung haben sollte als
wir, so ist der Schutz ihres Lebens verpflichtend; und diesen Menschen einen Schaden zuzufügen wäre gleichbedeutend damit, allen
Menschen einen Schaden zuzufügen. Wie ich im Hinblick auf die Terroranschläge von London in einer Verlautbarung dargelegt habe, sind
diejenigen, die solche Terroranschläge durchführen, Mörder und Kriminelle, die man grundsätzlich nicht als Menschen bezeichnen kann.
Ihr Ziel ist die Zerstörung der freundlichen Koexistenz der Anhänger
der unterschiedlichen Religionen und der vorhandenen Integration in
dieser Gesellschaft, und wir sind sicher, dass sie dieses schlimme und
unmenschliche Ziel niemals erreichen werden.
Der vorliegende Text ist eine Zusammenstellung der Freitagsansprachen vom
19.03.2004, 07.05.2004, 21.05.2004, 04.06.2004, 03.06.2005 und 05.08.2005.
30
Eine wichtige Anmerkung
Die heiligen islamischen Quellen (Qur’an und Sunna) sind interpretierbar; bei vielen qur’anischen Versen kann man die äußere Bedeutung nicht als Maßstab und Grundlage heranziehen. Der Qur’an selbst
betont diesen klaren Punkt und unterteilt seine Verse in zwei Kategorien: Erstens Verse, deren Bedeutung vollkommen klar und deutlich ist
(ÁyÁte mo½kam - eindeutige Verse), und zweitens Verse, deren Bedeutung nicht vollkommen klar ist und die interpretiert werden müssen
(ÁyÁte mutaÊÁbih – mehrdeutige Verse). Dem Qur’an zufolge sind die
eindeutigen Verse die Wurzel und wesentliche Grundlage des Heiligen
Buches, die man für die Interpretation der mehrdeutigen Verse zu Hilfe nehmen muss. Bei der Interpretation eines jeden Qur’anverses muss
der gesamte Qur’an, und nicht nur ein Teil davon, berücksichtigt werden. Der Qur’an stellt fest: „Er ist Gott, der das Buch (Qur’an) auf
dich (Mohammad) herabgesandt hat. Ein Teil dieses Buches sind die
eindeutigen Verse (mit einer klaren und deutlichen Bedeutung), und
diese Verse sind die Mutter (Wurzel) dieses Buches (Qur’an) dar. Und
ein Teil dieses Buches sind mehrdeutige Verse, (die der Interpretation
bedürfen). Diejenigen, in deren Herzen Abweichungen und Krankheiten vorhanden sind, benutzten die mehrdeutigen Verse, um Zwietracht
zu verursachen, und sie wollen die Verse aus sich selbst heraus interpretieren, obwohl niemand die Interpretation dieses Buches kennt,
außer Gott und denjenigen, die ein tiefes Wissen über alle Qur’anverse
haben. (Qur’an, Sure Ale-þImrÁn, Vers 7).
Wir sind darum bemüht, die Qur’anverse mittels der vom Qur’an
selbst erklärten Methode zu interpretieren, und nicht nach persönlichem Interesse zur Rechtfertigung von Tradition, Kultur oder einer
persönlichen Überzeugung, damit wir wissen, was der Qur’an sagt.
Was Sie nun in Händen haben, ist eine Bemühung in dieser Hinsicht.
31
Herunterladen