Erinnerung speichern? Medien, Gedächtnis und

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SUSANNE HARTWIG
Erinnerung speichern?
Medien, Gedächtnis und Erinnerung aus
systemtheoretischer Perspektive
Oft wird erst an Extremfällen sichtbar, was in Alltagssituationen ‘unbeobachtet
mitläuft’. Dass zum Beispiel die Metaphern der neuen Medien, was Gedächtnis
und Erinnerung betrifft, schief sind Ð “Das habe ich gespeichert!” für “Das
merke ich mir”, “Mit diesem Aspekt mache ich mal ein neues Fenster auf” für
“Ich wechsle das Thema” oder “Ich hab’ die falsche Datei aufgerufen” für “Ich
habe mich geirrt”. In solchen und ähnlichen Sätzen erscheint Erinnerung wie
das Zusammensetzen eines Puzzles: ‘Irgendwo’ im Hirn ‘lagern’ Bilder und Eindrücke, zu denen im Falle der Erinnerung nur der geeignete Pfad gesucht werden muss und die bei Bedarf wieder wie Dateien geschlossen werden können.
Solche Auffassungen orientieren sich am technischen Medium Computer.1 Unmittelbar anschaulich werden sie zum Beispiel in vielen Darstellungen von Vergangenheit im Film. Die so genannte Rückblende lässt die erinnerten Bilder so
erscheinen, als müssten Sprünge in der Zeit nicht auch einen Sprung in der
Art der Darstellung nach sich ziehen und als seien Erinnerung und aktuell
Wahrgenommenes trennbar.2
Natürlich reicht eine am Computer orientierte Speichermetapher für den Alltagsgebrauch aus. In Grenzsituationen aber, wie sie z. B. das Trauma darstellt,
wird deren Brüchigkeit deutlich. Was uns das Trauma über das Verhältnis zwischen Medium und Erinnerung lehrt und wie eine systemtheoretische Herangehensweise das Zusammenspiel von Erinnerung, Medien und Gedächtnis modellieren kann, soll im Folgenden an einem aktuellen spanischen Kinofilm, La luz
prodigiosa (Miguel Hermoso, Spanien 2003),3 illustriert werden. Es handelt sich
1
2
3
Nach Schmidt “disziplinieren [Medien] unsere Wahrnehmung durch die von ihnen erzwungenen Anpassungen an ihre Nutzungsbedingungen” (2000: 43).
Vgl. z. B. im spanischen Kino Fernando Truebas El embrujo de Shanghai (2002), Antonio Hernández’ En la ciudad sin lı́mites (2001) oder Pedro Almodóvars Hable con
ella (2002).
Regie: Miguel Hermoso; Drehbuch: Fernando Marı́as. Mit Alfredo Landa (Joaquı́n),
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um die Verfilmung des 1991 erschienenen gleichnamigen Romans von Fernando
Marı́as,4 der das Problem eines Menschen zeigt, sich an sich selbst zu erinnern.
Der Film
Zunächst zum Inhalt des Films: Zur Zeit des Spanischen Bürgerkrieges findet
der junge Schäfer Joaquı́n einen lebensgefährlich verletzten Mann auf einer
Lichtung, nimmt ihn zu sich und pflegt ihn, doch hat der Unbekannte vollkommen sein Gedächtnis verloren. Als Joaquı́n zum Militärdienst eingezogen wird,
bringt er den Kranken in ein Spital und soll ihn erst vierundvierzig Jahre später
wieder sehen. Erst in den achtziger Jahren nämlich kehrt er wegen einer Erbschaftsangelegenheit nach Granada zurück und muss feststellen, dass Galápago
(diesen Namen hat Joaquı́n dem Fremden gegeben) mittlerweile als Bettler
durch die Straßen zieht. Immer noch weiß niemand, wer er ist, und Joaquı́n
nimmt sich seiner an. Als er ihn unbeabsichtigt in einem Konzertsaal alleine
lässt, setzt sich der alte Mann ans Klavier und spielt mit Sensibilität, Hingabe
und Talent. Joaquı́n glaubt nun, dass es sich bei dem Unbekannten möglicherweise um eine wichtige Person des gesellschaftlichen Lebens vor dem Bürgerkrieg handelt, und beginnt mit Nachforschungen. In der Bücherei, die er zum
ersten Mal in seinem Leben betritt Ð hat er doch erst mit über dreißig Jahren
lesen und schreiben gelernt Ð ziehen Photos des klavierspielenden Federico
Garcı́a Lorca seine Aufmerksamkeit an. Nun ist sein Interesse geweckt: Er
kauft Biographien über Lorca und fertigt stapelweise Kopien von Fotos und
Texten des berühmten Dichters an. Unterstützt wird er von seiner Hausverwalterin, die das große Geschäft mit einer Sensationsgeschichte wittert. Als Joaquı́n ein Gedicht Lorcas laut zu lesen beginnt, beendet Galápago es aus dem
Gedächtnis; als beide einer Aufführung von Lorcas La casa de Bernarda Alba
beiwohnen, spricht Galápago den Text auswendig mit. Ist er Garcı́a Lorca?
Doch eigentümlicherweise ist das, was Joaquı́n so sehnlich begehrt, einem
Unbekannten seine Identität wiederzuverschaffen, gerade das, was dieser mehr
als den Tod fürchtet. Die in seinem Schlafzimmer aufgehängten Lorca-Fotos
reißt Galápago in einem fiebrigen Anfall von den Wänden und zerfetzt sie. Als
die geschäftstüchtige Hausverwalterin mit Galápago gar zu der Stelle fährt, an
der er einst mit dem Erschießungskommando gestanden hatte, greift er sie
tätlich an und läuft dann panisch zu Joaquı́ns inzwischen verfallenem Bauern-
4
Nino Manfredi (Galápago), Kiti Manver (Adela) und José Luis Gómez (Silvio). Produktionsjahr: 2002. Vgl. die Rezension bei Méndez-Leite 2003.
Marı́as schrieb auch das Drehbuch.
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haus. Joaquı́n geht Galápago nach, setzt sich neben ihn und verspricht ihm, er
werde ihm keine Erinnerungen mehr aufzwingen, und beide lesen nun gemeinsam Gedichte Garcı́a Lorcas.
Metaphern des Films
Ich möchte im Folgenden gewiss nicht diesen Film als Meisterwerk des Cine
español ausgeben. Worauf es mir vielmehr ankommt ist, verschiedene Aspekte
des Verhältnisses von Medium und Erinnerung anhand der Geschichte, die der
Film erzählt, zu skizzieren. Diese thematisiert nämlich die Möglichkeit und Grenzen der Schrift und des Fotos als ‘Spurensicherung’ oder Archiv. Der Film fragt
zugleich danach, was wissenswerte Daten sind und wer darüber entscheidet, was
in welcher Form gewusst werden darf. Schließlich zeigt er die Konditionierung
der Wahrnehmung durch Medialisierung und den Gebrauch von Medien.
Im Zentrum des Filmes steht jemand, der, wie man so schön sagt, sein Gedächtnis verloren hat. Ein doppeltes Trauma Ð hier im ursprünglichen und im
übertragenen Sinne, die schwere äußerliche Kopfwunde und die unerträgliche
innere Erfahrung, seine eigene Erschießung zu erleben Ð versperrt ihm buchstäblich seine Vergangenheit
Nun ist Galápago in einer besonderen Situation: Sollte er wirklich Federico
Garcı́a Lorca sein, dann hat er in seiner Jugend eine große Menge eigener
Kommunikationen auf externe Datenträger geladen und hätte Ð sollten die
Computermetaphern stimmen Ð ein Teil seines Gedächtnisses damit gerettet:
in Gedichten, Theaterstücken und Fotos. Doch die externen Materialträger wollen nicht so recht zum Medium der Erinnerung werden. Zwar zitiert Galápago
Lorcas Werke, aber diese Handlung scheint eher ein Reflex als eine lebendige
Erinnerung zu sein, so wie Galápago ja auch seine automatisierten Talente als
Klavierspieler beleben kann. Doch weigert er sich, Kontexte zu erinnern. Salopp ausgedrückt bleibt ‘seine’ proustsche Madeleine ein simples Gebäckstück,
das keine Bilder zu assoziieren vermag.
Offensichtlich ‘sagen’ Galápago auf eine ähnlich vorkommunikative Weise
auch seine Heimatstadt Granada und vor allem die Tiere etwas, denn er reagiert
mit besonderer Innigkeit auf sie. Als er einen Dokumentarfilm über Salvador
Dalı́ im Fernsehen sieht, beginnt er gar zu weinen. Das Blitzlicht des Fotoapparates hingegen veranlasst ihn zu panischen Abwehrreaktionen, was ebenfalls
auf eine vorbegriffliche ‘Erinnerung’ hinweist. Galápagos Körper wird hier
buchstäblich zum Resonanzkörper, durch den hindurch eine andere Zeitschicht
deutlich wird, ohne Eingang in Kommunikation zu finden. Es fehlt Galápago die
Fähigkeit, die ‘Resonanzen’ zu kontextualisieren, wodurch die konservierten
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Elemente seiner eigenen Vergangenheit stumm bleiben. Die Handlung ist damit
eine Metapher dafür, dass es unmöglich ist, Medien als ‘ausgelagerte Speicher’
des menschlichen Gedächtnisses zu betrachten.
Die These, die ich an diesen Beispielen veranschaulichen und die ich im
Folgenden näher aufrollen möchte, lautet: Die Darstellung der rudimentären
Erinnerungen Galápagos verweist auf den performativen, prozesshaften Charakter des Gedächtnisses, sein Unvermögen, die Erinnerungen kommunikativ
zu beobachten, auf das Ausbleiben einer fundamentalen Unterscheidung: der
zwischen früher und jetzt.
Traumata
In der Psychologie werden traumatische Erinnerungen als ‘eingefrorene Gefühle’ angesehen,5 deren Synthese in ein integriertes semantisches Gedächtnis
fehlschlägt. Das traumatisierte Individuum erinnert sich nicht direkt an die
Ursprungsszene, um sich so gegen übergroße Erregung zu schützen.6 Ein überwältigender Eindruck hat sich buchstäblich ‘in den Körper geprägt’ und entzieht die Erfahrung “der sprachlichen und deutenden Bearbeitung [. . .]. Trauma,
das ist die Unmöglichkeit der Narration” (Assmann 1999: 264). Das Trauma
überfordert die vorhandenen Kohäsionskräfte und verhindert die Assoziation
(Synthese) des Erlebens. Komponenten der Psyche (u. a. Erinnerungen) sind
dann nicht mehr mit dem Kontinuum des klaren Tages-Wach-Bewusstsein verbunden (vgl. Scharfetter 1999):
“Traumatische Erinnerungen werden vorwiegend als sensorische Fragmente des Ereignisses gespeichert und isoliert als Bilder, Körpersensationen, Geruchsempfindungen, Geräusche aufbewahrt. Sie alle sind von anderen Erinnerungen dissoziiert und
können nicht damit verbunden werden.” (Bohleber 2001: 53)
Ein Spezifikum des Traumas ist also seine Kontextlosigkeit.
Traumatische Erinnerungen sind mit bestimmten Reizen verbunden, die mit
der ursprünglich traumatischen Szene assoziiert sind (state dependant memory; Bohleber 2001: 53). Das Individuum wird von den Reizen ‘erfasst’, kann
5
6
Für ein Trauma eignet sich die Metapher von Einfrieren und Auftauen (Assmann 1999:
168), denn das Trauma ist “das ‘Reale an sich’ und hat keine Repräsentation” (MahlerBungers 2001: 173). “Die Verwendung linguistischer Kanäle wird gedrosselt und die der
sensomotorisch-affektiven Kanäle verstärkt. Das Ergebnis ist ein nicht-symbolischer,
inflexibler und unveränderbarer Inhalt traumatischer Erinnerung, deren Zugang zum
Bewusstsein starken Einschränkungen unterliegt” (Bohleber 2001: 53).
Ich halte es daher für problematisch, vom Trauma als einem “psychische[n] Stabilisato[r] der Erinnerung” (Assmann 1999: 250) zu sprechen.
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diese aber selbst nicht erfassen, da sie vom Bewusstsein dissoziiert sind: “Dissoziation und nicht Verdrängung ist der entscheidende Mechanismus, mit dem
die traumatische Erinnerung vom Bewusstsein ferngehalten wird und der auch
für die traumatische Amnesie verantwortlich ist” (Bohleber 2001: 53). Unter
Dissoziation versteht man einen Prozess, in dem zusammengehörige Denkoder Handlungsvorgänge in Einzelheiten zerfallen, d. h. die Abspaltung von Gedanken und Vorstellungen, von der übrigen Persönlichkeit, in die sie ursprünglich integriert waren. Die normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins und des Gedächtnisses werden unterbrochen. Statt Erinnerung erfolgt
eine Wahrnehmung des Gestern als Heute.
Am Trauma kann man leicht sehen, dass Vergessen ein höchst aktiver Vorgang
sein kann, dann nämlich, wenn es sich um ein Nichtwissenwollen handelt, also
nicht ein passives Verschließen gegenüber der Wahrnehmung, sondern ein aktives Zurückweisen (Bohleber 2001: 58).7 Bei traumatischen Erinnerungen geht
nicht einfach ein ‘Pfad’ zu einer ‘Datei’ verloren; vielmehr wird aktiv das Auftauchen und das Überschwemmt-Werden mit bestimmten Inhalten vermieden.
Der ‘Speicher’
Was besagt dies nun für das Verhältnis von Medien und Erinnerung?
Zum einen: Offensichtlich gibt es zwei Arten von Erinnerung: einerseits eine
in Narrative eingebundene kommunikative, und andererseits eine unwillkürliche, reflexartige, außerhalb von Kommunikation stehende Erinnerung, im Film
ausgedrückt durch Joaquı́ns zusammenhängende Erinnerungsbilder an seine
Jugend auf der einen, und Galápagos ‘Körpergedächtnis’ auf der anderen Seite.
Der Unterschied kann mit zwei unterschiedlichen Erfahrungssätzen charakterisiert werden, dem durch die Kommunikation distanzierten “Ich habe” und dem
unmittelbaren “Ich bin”. Die präverbale Erinnerung erfolgt in diffusen Stimmungen oder Bildern, wobei der Körper gewissermaßen zum Resonanzkörper
wird, der Schwingungen aufnimmt und verstärkt.8
7
8
“So entstehen vielfältige Mischungen von Abwehr und Erinnerung, die von aktiver Unterdrückung und vollständigem Vergessen bis zum verschobenen Wissen, zu Deckerinnerungen und Wiederinszenierungen reichen” (Bohleber 2001: 58). Assmann unterscheidet “ein auflösendes, destruktives Vergessen und ein bewahrend konservierendes
Vergessen” (1999: 168).
Assmann bezeichnet den Körper als “ein eigenes Medium [. . .], sofern die psychischen
und mentalen Erinnerungsprozesse nicht nur neuronal, sondern auch somatisch verankert sind” (1999: 20), und spricht von der “Leibbezogenheit des rezeptiven oder somatischen Gedächtnisses” (2002: 233).
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Zum anderen: Zwar ist Erinnerung ein stimulierbarer Akt (z. B. belebt ein
Zufall das tote Gedächtnis Galápagos),9 aber offensichtlich haben die Medien
nur begrenzt Einfluss darauf, ob und welche der beiden Erinnerungsarten sie
stimulieren. Im Falle der Körpererinnerung rufen sie reflexartige Reaktionen
hervor, die jedoch von dem sie Erleidenden nicht kommunikativ beobachtet
werden können. Mit anderen Worten: Sie sind für ihn keine Unterschiede, die
einen Unterschied machen, folglich keine Information. Medien speichern damit keine Information oder gar Kommunikation, sondern nur Möglichkeiten
zur Information oder Kommunikation. Ich erinnere hier an den anschaulichen Vergleich, den Heinz von Foerster gibt, wenn er darauf hinweist, dass
eine Bibliothek nur Bücher, keineswegs jedoch Information (und ich füge
hinzu: auch keine Kommunikation) speichere:
“Ebenso könne man eine Garage ein System der Speicherung und Wiedergabe von
Verkehr nennen. In beiden Fällen wird ein brauchbares Vehikel (des Verkehrs oder
der Information) mit dem verwechselt, mit dem er es betreibt und benutzt. Jemand
muß es tun. Es selbst tut nichts.” (Foerster 1996: 270 f.)10
Text und Foto speichern aus dieser Perspektive nur mögliche Auslöser von
Erinnerung, sie sind Anlässe für kognitive Operationen.
Unter dieser konstruktivistischen Prämisse ist der Begriff des Speichergedächtnisses problematisch,11 denn als “jedes mechanische Verfahren [. . .], das
die Identität von Einlagerung und Rückholung anzielt” (Assmann 1999: 28),
suggeriert er eine eher passive Konservierung von Objekten an einem (begrenzbaren) Ort. Wo aber sollten die Grenzen des Gedächtnisses als Speicher liegen?
Gerade die Neurobiologie verweist ja auf die netzwerkartige Entstehung von
Erinnerungen (‘Konnektionismus’),12 der zufolge im Gehirn z. B. Erinnerungen
9
10
11
12
Assoziative Phänomene wie die mémoire involontaire Proustscher Prägung werden so
als Emergenz-Phänomene beschreibbar.
Von Foerster spricht von der “Verwechslung von Behältern für potentielle Information
mit der Information selbst” (1985: 99). Unter Anlehnung an Hejl sagt Schmidt: “Texte,
Daten, Dokumente und ähnliches enthalten oder transportieren kein Wissen. Sie müssen erst kognitiv und kommunikativ zur Produktion von Wissen unter den je aktuellen
Operationsbedingungen der aktiven Systeme genutzt werden” (2000: 365, Anm. 46).
Diese Aussage steht im Gegensatz zur Auffassung, welche besagt, die Schrift sei ein
Medium, das kulturellen Sinn extern speichern könne (Assmann/Assmann 2001: 121).
Bekanntlich meint Assmann mit Speichergedächtnis ein Gedächtnis ohne vitalen Bezug
zur Gegenwart, von dem sie das Funktionsgedächtnis absetzt, deren Hauptunterschied
zwischen Potentialität und Aktualität/Auswahl besteht: “Das bewohnte Gedächtnis
wollen wir das Funktionsgedächtnis nennen. Seine wichtigsten Merkmale sind Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung” (1999: 134; vgl. Assmann/Assmann 2001: 121Ð123).
Vgl. die einführenden Erläuterungen bei Mechsner 1993.
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an vertraute Gesichter nicht in einem lokalisierbaren Areal gespeichert, sondern über verschiedene Neuronen verteilt werden.
Gedächtnisinhalte sind zudem veränderlich, also nicht statischen Objekten
vergleichbar. In diesem Zusammenhang wäre zu fragen, ob etwa reflexartige
Leistungen wie das Auswendiglernen von Vokabeln oder Telefonnummern13
nicht vielleicht doch eine qualitativ andere Form der Erinnerung ist als die
Erinnerung an Ereignisse, weil sie eine andere affektive Beteiligung der sich
erinnernden Person impliziert und weitgehend ohne Assoziationen geschieht.14
Erinnerung als dynamische Fähigkeit wäre dann abzusetzen von einer automatisierten ‘Erinnerung’ wie dem Treppensteigen, weil der Gegenstand der Erinnerung sich selbst im Vorgang der Erinnerung verändert und die Gegenwart
der sich erinnernden Person ebenfalls in diesen einfließt.15
Von ‘passiver Konservierung’ von Erlebtem könnte nur die Rede sein, wenn
Erinnerung eine rein reproduktive Fähigkeit wäre; sie ist indes generativ, denn
Erinnern kontextualisiert und komplettiert ihre Gegenstände im Sinne einer
beständigen Suche nach Kohärenz.16 Bei jeder Erinnerung wird nämlich der
entsprechende Erinnerungsauslöser in einen aktuellen Kontext gebracht. Dabei
scheint mir ein weiterer Aspekt zentral zu sein: Jemand, der eine Erfahrung
macht, lernt durch sie.17 Doch ist Wissensentwicklung bei Lebewesen, die ein
Gedächtnis haben, nicht kumulativ, sondern erfolgt in Gestalten (das legen
schon Piagets Ausführungen zu Assimilation und Akkomodation nahe). Die
Lernfähigkeit bewirkt, dass Wahrnehmungen nicht auf eine tabula rasa fallen,
sondern schon vorgeformte Strukturen vorfindet Ð und dass sie zu zwei ver13
14
15
16
17
So schreibt Assmann: “Speichern ist auch eine Sonderfunktion des menschlichen Gedächtnisses, wenn es um das Auswendiglernen von Wissensgegenständen wie liturgischen Texten, Gedichten, mathematischen Formeln oder historischen Daten geht” (1999:
29).
Sigmund Freuds Begriff der Erinnerungsspur oder Jacques Derridas Begriff des supplément verweisen darauf, dass Kommunikationen stets Spuren eines Abwesenden enthalten, welches nicht in dem Gesagten, sondern mit dem Gesagten zur Sprache kommt.
Vgl. Assmann: “Erfahrung und Erinnerung lassen sich niemals völlig zur Übereinstimmung bringen. Zwischen beiden liegt ein Hiat, in dem der Gedächtnisinhalt verschoben,
vergessen, verstellt, neu aufgeladen oder rekonstruiert wird” (1999: 177).
Zum Abbau dissonanter und inkonsistenter Strukturen im Bewusstsein vgl. Schmidt
1991: 385. Schmidt nennt Erinnern die “Aktivierung einer dauerhaft gebahnten Struktur
in komplexen kognitiven Zusammenhängen” (1991: 381).
Vgl. Schmidt: “Wiederholtes Auftreten gleichen Verhaltens in gleichen Situationen kann
daher als Ausdruck eines konstanten Systems verhaltenssynthetisch relevanter kognitiver Strukturen angesehen werden. Erregungsverläufe außerhalb markierter Bahnen
werden als ‘neu’ empfunden und emotional mit Unsicherheit konnotiert. Neurophysiologische Hypothesen dieser Art legen als heuristische Strategien nahe, ‘Gedächtnis’
nicht nach Speichermodellen zu konzipieren, sondern vielmehr auszugehen von Wahrnehmungs- und Lernprozessen und deren Einwirkung auf die Konnektivität des neuronalen Systems” (1991: 380).
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schiedenen Zeitpunkten logischerweise auch verschieden verarbeitet werden.
Denn Erinnern ist eine aktuelle Handlung auf der Grundlage einer Geschichte
vieler vorangegangener Erinnerungen: “Das Gedächtnis scheint eine Funktion
zu sein, in der unter anderem stabile Weltmodelle dafür sorgen, daß neue Wahrnehmungen modellkompatibel verarbeitet werden” (Simon 2002a: 225).18 Neu
aufgenommene Daten werden von bereits vorhandenen affiziert, nicht wie im
Computer, in dem die Daten, die in einer Datei liegen, grundsätzlich keinen
Einfluss auf neu eingehende Daten haben. Es ist buchstäblich die Bildung, die
Erfahrungen im Körper und in der kognitiven Struktur hinterlassen, die den
Umgang des Individuums mit seinen Erinnerungen ‘rahmen’. Neben dem deklarativen Gedächtnis muss zudem ein prozedurales Gedächtnis angenommen
werden, welches nicht Daten, sondern Programme speichert.19
Dabei stehen Gedächtnis und Erinnerung im Auftrag des Hier und Jetzt. Alle
aufbewahrten Daten sind nur kontextualisiert beobachtbar,20 d. h. Menschen
erinnern sich, im Unterschied zum Computer, innerhalb eines Kontextes: “Erinnern ist aktuelle Sinnproduktion im Zusammenhang jetzt wahrgenommener
oder empfundener Handlungsnotwendigkeiten” (Schmidt 1991: 386). Das Prinzip der ständigen Umarbeitung oder Re-Interpretation des Vergangenen im
Lichte gegenwärtiger Erlebnis-, Verständnis- oder Bedürfnishorizonte nannte
Freud das Prinzip der Nachträglichkeit. Welcher Aspekt eines Datums in der
Erinnerung aktualisiert wird, hängt also vom aktuellen Kontext ab.21
18
19
20
21
Das Gedächtnis repräsentiert “sozusagen den jeweiligen Stand der Wahrnehmungsgeschichte eines kognitiven Systems und steuert die Bedeutungszuweisungen an aktuelle
Wahrnehmungen durch Schemata beziehungsweise Attraktoren (im Sinne von H. Haken), wobei Sprache, Affekte und Normen eine bedeutende Rolle spielen dürften”
(Schmidt 2000: 107 f.).
Ich benutze die Begriffe in Analogie zu Hofstadters Unterscheidung von deklarativem
und prozeduralem Wissen. Deklarativ ist Wissen, “wenn es explizit gespeichert ist, so
daß nicht nur der Programmierer, sondern auch das Programm es ‘lesen’ kann, als
stünde es in einem Lexikon oder Almanach. Das bedeutet üblicherweise, daß es an
einem bestimmten Ort codiert und nicht verstreut ist. Dagegen ist prozedurales Wissen
nicht als Tatsache codiert, sondern nur als Programm”; prozedurales Wissen ist daher
in Stücken verstreut und nicht einfach abrufbar; es ist “eine globale Folge davon, wie
das Programm arbeitet, kein lokales Detail” (1985: 389).
Assmann spricht von “in der Konfiguration der story gebundenen Elementen einerseits
und der amorphen Masse ungebundener Elemente andererseits” (1999: 135; vgl. auch
Assmann/Assmann 2001: 122 f.). Dies erinnert an Luhmanns Unterscheidung zwischen
lose gekoppeltem Medium und rigide gekoppelter Form (1995, 1998). Beobachtbar sei
nur die Form: “Ein Medium ist also ein Medium nur für eine Form, nur gesehen von
einer Form aus” (1995: 891).
Assmann verweist auf die neuere Hirn- und Gedächtnisforschung, die dem statischen
Speicher-Modell “ein dynamisch konstruktives Modell der fortwährenden Umbildung”
entgegensetzt, “wonach das Gedächtnis die Vergangenheit fortwährend elastisch funktional an die Gegenwart anpasst” (1999: 249). Vgl. psychologische Theorien bei so genannten Augenzeugenberichten: Individuen erinnern sich an Bilder, indem sie sie im
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Das menschliche Gedächtnis ist mit dem Speicher eines Computers schließlich auch deshalb nicht vergleichbar, weil kognitive Systeme Ereignissen Bedeutung zuschreiben. Welche dies sind, hängt von der Struktur der kognitiven
Systeme ab:
“Wenn kognitive Systeme strukturdeterminiert sind, dann heißt dies, daß das System
selbst Ð entsprechend seiner eigenen, geschichtlich gewachsenen kognitiven Strukturen Ð bestimmt, welche Bedeutung es den Ereignissen in seiner Umwelt zuschreibt. Lernen ist daher niemals eine passive Informationsaufnahme, sondern stets
ein aktiver, innengesteuerter Selektionsprozeß.” (Simon 2002: 152)
Dementsprechend bezeichnet Roth das Gedächtnis als “die Gesamtheit aller
früherer sensomotorischen Erfahrung und der damit verknüpften Bewertungsprozesse” (1985: 239). Ereignisse wandern also nicht in Speicher, sondern werden in Filtern bewertet und dem Gedächtnis eingeprägt. Sowohl die Ereignisse
als auch das Gedächtnis verändern sich damit in einer sich selbst organisierenden Eigendynamik. Daher bringt der Mensch Erinnerung generativ hervor.22
Die Speichermetapher ist irreführend, weil sie Erinnerung in ein Objekt verwandelt, das sich nicht verändert, während sie ruht, und die potentiell jederzeit
hervorgeholt werden kann. Speichermetaphern berücksichtigen zudem nicht
Wechselwirkungen, Selbstorganisation und Eigendynamiken beim Vorgang des
Erinnerns.23
Erinnerung als die Aktualisierung der Differenz Früher-Jetzt
Aus den Darlegungen folgt, dass Erinnerung als eine bestimmte Klasse von
Beobachtungen in einem konkreten Kontext beschrieben werden muss, nämlich solche, die eine Früher-Jetzt-Differenz mitdenken.24 Erinnern ist in dieser
Hinsicht ein ganz normales Beobachterphänomen: Der Vorgang ist der gleiche
22
23
24
Rahmen ihrer Erwartungen rekonstruieren (vgl. Wessells 1994: 207 f.). Vgl. auch Roth:
“Das kognitive Subjekt erfährt die Welt in jedem Wahrnehmungsakt so, wie sie dem
Gehirn jeweils am wahrscheinlichsten, am zutreffendsten erscheint” (1985: 239).
Daher ist das Gedächtnis auch nicht losgelöst von einem Träger konzipierbar. Vgl.
Schönpflug: “Mein Misstrauen richtet sich gegen die Tendenz, Medien, Artefakte, Relikte losgelöst von Akteuren und Prozessen des Erinnerns als Gedächtnisse zu definieren. Ich bestehe darauf: Es bedarf der Akteure des Erinnerns, die sich dieser Mittel
bedienen” (Schönpflug 2002: 223).
Daher halte ich Schrift für keine gute Metapher des Gedächtnisses, denn ihr liegt ein
statischer Code zugrunde. Zur Schrift als Medium und Metapher des Gedächtnisses vgl.
Assmann 1999: 184 f.
“Gegenwart wird [. . .] an das Konzept ‘Bewußtheit’, Vergangenheit an das Konzept ‘Bekanntheit’ gekoppelt (vergangen ist, was bekannt ist)” (Schmidt 1991: 388).
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wie bei einer ‘echten’ Wahrnehmung,25 nur die Leitdifferenz bei der Beobachtung dieser Wahrnehmung ist spezifisch. Bei der Dissoziation sieht man dann,
wie diese Leitdifferenz nicht funktioniert: Die Unterscheidung Früher-Jetzt
wird nicht getätigt, denn das Gestern wird zum Heute. Bewusste Erinnerung
benutzt die Unterscheidung Früher-Jetzt (und gewinnt damit Information), unbewusste (passive, rezeptive) Körpererinnerung benutzt sie nicht. Wenn mit
Hilfe eines außerhalb des Körpers aufbewahrten Datums eine Beobachtung mit
der Früher-Jetzt-Differenz vorgenommen wird, so ist Ð logischerweise Ð das
Heute fester Bestandteil der Unterscheidung. Immer wirkt das aktuelle Bewusstsein des Handelnden mit. Daher gibt es keine nicht von der Gegenwart
‘kontaminierte’ Aufbewahrung von Vergangenem.
Der Auslöser von Erinnerung ist prinzipiell nicht festgelegt: Alles kann Erinnerung bewirken.26 Durch Schrift und Computer können die Anzahl und die
Selektion der Auslöser manipuliert werden, nicht jedoch die Erinnerung selbst.
Speziell als historisch ausgewiesene Archive kann man dann als Datenspeicher
ansehen, die explizit oder implizit die Aufforderung enthalten, eben die FrüherJetzt-Differenz als Leitdifferenz zu benutzen.
Tradition und Datenübergabe
Wie man sich nun die Weitergabe von Erinnerungen vorzustellen hat, soll anhand des eingangs erwähnten Films illustriert werden.
Wissen wird von einer Generation an die nächste in (Handlungs-)Kontexten
vermittelt.27 Externe Speichermedien und kulturelle Praktiken greifen dabei
ineinander. Neben Datenträgern werden nämlich Narrative und Schemata für
Handlungsvollzüge weitergegeben. Als konkretes Beispiel mag das Foto dienen, das Garcı́a Lorca zeigt: Es ist grundsätzlich weder für Galápago noch für
Joaquı́n eine Information, denn ihm fehlt der Kontext. Ein Foto kann erst zu
einem Medium der Erinnerung werden, wenn jemand es mittels einer FrüherJetzt-Unterscheidung beobachtet. Joaquı́n wird zu dieser Unterscheidung befä-
25
26
27
Erinnerungen sind kognitiv-psychische Konstruktionen, “Operationen, die notwendigerweise immer in der Gegenwart ablaufen und dem Bewusstsein wie eine Art von
Wahrnehmungen oder Vorstellungen erscheinen [. . .]” (Schmidt 2000: 108 f.). Nach
Schmidt entspricht der Erinnerungsprozess daher “strukturell der Wahrnehmungssynthese” (1991: 383 f.).
Der Vorgang des Erinnerns kann selbstreflexiv wieder Auslöser für eine neue Erinnerung werden: Man erinnert sich dann an die Erinnerung.
Vgl. Simon: “Will man Wissen erwerben, so muß man handeln, und will man Wissen vermitteln, so muß man Verhaltensanweisungen geben” (2002: 156). Vgl. auch Wallner 1990: 247.
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higt, indem er in eine Bibliothek geht und das Lorca-Foto in einem Bildband
über die spanischen Schriftsteller vor dem Bürgerkrieg sieht. Sein ‘Gedenken’
an Lorca ist damit aber völlig anders als das Galápagos, der somatisch reagiert.
In beiden Figuren zeigt sich, dass individuelle und kollektive Erinnerung von
der Struktur her verschieden sind. Individuelle Erinnerung arbeitet mit dem
Körper, während kollektives Wissen in Geschichten erworben wird: Diese dienen der Strukturierung der Umwelt in Objekte und kohärente Prozesse, also
der Sicherung der Identität.28
Wir erinnern uns nicht nur auf kommunikativem Wege, sondern auch über
unseren Körper. Auf diese Weise können in Handlungszusammenhängen auch
vorkommunikative Erfahrungen vermittelt werden. Die Weitergabe von Traumata von der Eltern- an die Kindergeneration über Körperempfindungen ist
ein eindrucksvolles Beispiel dafür.29 Metaphern, die Medien als ausgelagerte
Speicher oder als Prothesen des menschlichen Gedächtnisses bezeichnen, sind
daher schief: Ein Medium ist dem Körper nicht vergleichbar.
Vielfach geschieht Weitergabe indes konkret manipulativ. Wieder ein Beispiel aus dem Film: Die geschäftstüchtige Vermieterin will Galápagos Geschichte mit einem sensationellen Etikett versehen und meistbietend verkaufen. Ihr Verhalten verweist auf eine kulturelle Dynamik, dass Kultur nämlich
die Kontexte vorgibt, innerhalb derer man sich zu erinnern hat.30 Schemavorgaben der Konstruktion (u. a. ‘große Erzählungen’) erleichtern die Kontextualisierung von Ereignissen in einem geschichtlichen Kontinuum. Kulturelle Schemata haben dabei Einfluss auf die individuelle Kommunikation in der Gegenwart, so dass diese immer eine Traditionskomponente aufweist. Schmidt
spricht von der Selbstevidenz der eigenen Erinnerungen, die durch Intersubjektivität modifiziert werde (1991: 389). Die kulturellen Schemata werden aber
ihrerseits von individueller Erinnerung modifiziert, so dass man von einem
komplexen Rückkopplungsprozess zwischen individuellen und allgemeinen
Schemata ausgehen kann. Diese stellen dann gewissermaßen Eigenwerte im
selbstorganisierenden Prozess der Kultur dar. Dabei können dann auch Erinne28
29
30
“Erinnern als aktuelle Sinnproduktion wird erheblich beeinflußt von gestaltendem Erzählen. Beide scheinen denselben Mustern kohärenter Konstruktion von Zusammenhängen zu folgen” (Schmidt 2000: 109). Erzählschemata sind bei der Suche nach Kohärenz behilflich (Schmidt 1991: 388).
Vgl. auch die so genannte projektive Identifizierung: “Das Gegenüber wird zum Empfänger von vorsprachlicher, vorsymbolischer Mitteilung, es ist eine Kommunikation vom Unbewußten zum Unbewußten (die natürlich in jeder Mitteilung eine Rolle spielt) und in
der Affekte und emotionale Zustände übermittelt werden” (Mahler-Bungers 2001: 188).
Vgl. Schmidt: “In der neueren Medienwissenschaft herrscht Einigkeit darüber, daß die
Medien nicht über Ereignisse berichten, sondern daß sie diese schaffen” (2000: 222) Ð
eben durch eigene Koppelungen, denn: “Öffentliche Meinung richtet kognitive Schemata ein und schreibt sie fort” (Schmidt 2000: 120).
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rungsgeschichten ohne authentisches Ursprungsereignis entstehen, etwa Legenden.31 Tradiert werden Eigenwerte der Gesellschaft bei der Interpretation
von Phänomenen und Bewertung von Erfahrung und nicht ‘authentische’ Vorfälle. Der Eigenwert und die Anforderungen des kulturellen Systems wirken
dann wie Filter auf alle neuen Erfahrungen und bestimmen darüber, was archiviert wird und was nicht.32
In den beiden Figuren Joaquı́n und Galápago zeigt sich indes, welchen Stellenwert das kollektive Gedächtnis hat. Der Film zeigt den Hiat, der zwischen
persönlicher Erinnerung und gesellschaftlich Tradiertem klafft. Zwischen den
Gedächtnissen der Einzelsubjekte gibt es innerhalb einer ‘nationalen Erzählung’ höchstens Familienähnlichkeiten (im Sinne Wittgensteins). Joaquı́n
wusste nichts von Garcı́a Lorca: Er ist aus dem kollektiven Gedächtnis über
eine Bildungsschranke ausgeschlossen, denn er war bis ins Mannesalter Analphabet; Galápago weiß nichts von Garcı́a Lorca aufgrund seines Traumas:
Ihn trennt vom kollektiven Gedächtnis die Weigerung seiner psychischen Organisation, gewisse Stimuli zu verarbeiten. Dies zeigt: Wirklich tradiert wird nur
das, was ein Individuum als wissenswert assimiliert, auch wenn die Explosion
der Möglichkeiten zur Datenspeicherung suggeriert, dass prinzipiell alles weitergegeben werden kann. Es kann indes niemals mehr Information entstehen
als bei einer individuellen Verarbeitung anfällt. Medien mögen ja alles zugleich
gespeichert bereithalten33 Ð abgerufen und gelesen werden kann es nur linearsukzessiv. Daher sollte man der Sorge um eine unbegrenzte Akkumulation von
Information gelassen entgegensehen: Unbegrenzte Weitergabe wird so lange
nicht möglich sein, wie nicht auch die Fähigkeit zur Benutzung der FrüherJetzt-Unterscheidung informatisierbar wird.
Die Schlusssequenz des Filmes wirft noch eine weitere Frage im Zusammenhang mit Erinnerung auf: Woran erinnert ein Individuum sich? Offensichtlich
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Vgl. z. B. Legenden, die selbst keine authentische Erinnerung tradieren (Assmann 1999:
36). Nach Roth muss das Gehirn diejenigen Kriterien, nach denen es seine eigene Aktivität bewertet aufgrund früherer interner Bewertungen der Eigenkreativität erst noch
entwickeln (vgl. Schmidt 1991: 383).
Insofern ist der Film unter einem kulturgeschichtlichen Aspekt angreifbar. Garcı́a
Lorca ist eine eminente Symbolfigur spanischen Selbstverständnisses, in der sich eine
offizielle Haltung gegenüber einem traumatischen Kollektivereignis der Nationalgeschichte widerspiegelt: Garcı́a Lorca ist das tragische geniale Opfer. Da Galápago hochbetagt ist, ist das Vergessen für ihn ein gangbarer Weg Ð allzu leicht kann diese ‘Botschaft’ des Films aber auch als Aufforderung zum unterschiedslosen geschichtlichen
Vergessen verstanden werden.
Daher scheint mir Bolz’ Aussage nicht zutreffend: “Seit die Medienenvironments aus
sich selbst emergieren, gibt es Geschichte im spezifischen Sinn nicht mehr. Die neuen
Medien ermöglichen einen unmittelbaren Zugriff auf alle gespeicherten Vergangenheiten. Diesen von den elektromagnetischen Wellen gebildeten Raum strikter Gleichzeitigkeit hat McLuhan Global Village genannt” (1994: 11).
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mischt es äußere Realität und Projektionen innerer Zustände. Die Frage danach,
ob Erinnerung von der Gegenwart oder von der Vergangenheit abhängig ist,34 ist
demnach mit “sowohl als auch” zu beantworten. Denn wenn auch das Erinnern
selbst ein Vorgang in der Gegenwart ist und diese zwangsläufig mit thematisiert,35 so halten die gespeicherten Daten/Stimuli den Vergangenheitsbezug fest.
Das Ergebnis ist ein Austarieren zwischen Hier-Da und Früher-Jetzt Ð allerdings
nicht in Richtung auf eine ‘Wahrheit’. “Die Erinnerung ist ein matter Abglanz der
ursprünglichen Erfahrung, zu der kein Weg mehr zurückführt”, schreibt Assmann
(1999: 102); noch radikaler sollte man vielleicht sagen: Die Erinnerung ist eine
neue Erfahrung, die nur Aspekte einer vorherigen Erfahrung aufweist.36
Die Schlusssequenz des Films enthält einen Fingerzeig darauf, dass es bei Erinnerung im Grunde auch gar nicht um eine ‘Ursprungs-Wahrheit’ geht. Joaquı́n und
Galápago lesen vor dem verfallenen Bauernhof Gedichte Lorcas, während sich
die Kamera immer weiter entfernt. Als sie bereits ein gutes Stück Umland einfährt,
geht die Sonne von links oben bis zur Mitte hinter dem Bauernhaus unter, woraufhin hinter dem Haus ein Mond zum Vorschein kommt. Die letzten Bilder haben
surrealistisches Flair: der Film enthüllt sich hier selbst als Fiktion. Der Schluss
macht damit darauf aufmerksam, dass ‘Wahrnehmung ersten Grades’ immer nur
ein vorläufiger Beobachterstandpunkt ist, das den Beobachter (hier: die Kamera)
impliziert; außerdem ist der Beobachter (die Kamera) seinerseits wieder beobachtbar (vom Zuschauer). Das Trägermedium erweist sich dann immer als der
blinde Fleck der Wahrnehmung, der seine eigene Unterscheidung invisibilisiert.
Schlussbetrachtung
Abschließend möchte ich noch einmal die Schlüsselwörter Revue passieren
lassen:
1) Erinnerung ist ein Beziehungsbegriff und meint das Inbezugsetzen eines
Reizes zu einer Erfahrung und zu einem Beobachter. Sie entsteht in einem
Gebrauchszusammenhang und ist immer kontextualisiert. Wenn es niemanden
gibt, der sich erinnert, nützt der beste Speicher nichts.
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Zu Recht bemerkt Assmann, die Vorstellung, Erinnerung sei ausschließlich von Gegenwart abhängig, “liefe auf die Abschaffung der Vergangenheit als realexistierendem materiellem und ideellem Problemüberhang hinaus” (1999: 250).
Denn der Vergangenheitsbezug ist nur beobachtbar, wenn es sich ‘rigide koppelt’ in der
aktiven Erinnerung eines Individuums, wenn ein Individuum die Stimuli selegiert und
kontextualisiert.
Man kann nie wieder auf die Beobachtung erster Ebene zurück. Wie soll ich wissen,
ob etwas wirklich so war, wie ich es erinnere? Ich beobachte ja immer nur Wahrnehmungen, und diese Beobachtungen sind immer standortgebunden. Es gibt daher kein
substanzielles Objekt der Erinnerung.
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2) Gedächtnis ist kein Besitz, sondern eine Fähigkeit (wie es Assmann 1999
in ihrer Umschreibung vis auch nahe legt). Mit Schmidt soll die Gedächtnistätigkeit nicht als Aufbewahrungs-, sondern als Konstruktionsarbeit verstanden
werden (1991: 378). Daraus folgt, dass Gedächtnis nur in einer Handlung aktiviert wird. Daher sind z. B. Fotos kein Gedächtnis, ebenso wenig wie ein Ort
ein Gedächtnis ist.37 Denn nach den vorherigen Darlegungen ist das Gedächtnis
kein sedimentiertes Wissen, weder in irgendeinem Teil des Gehirns noch in
irgendeinem äußeren ‘Speicher’. Es ist vielmehr die nur bedingt steuerbare,
höchst dynamische Fähigkeit, Unterscheidungen durchzuführen, die mit der
Früher-Jetzt-Differenz arbeiten.
3) Mit Hilfe der Medien werden nicht Erfahrungen, Erinnerungen und Wissen auf externe Datenträger ausgelagert, sondern eben nur Ð Daten, mögliche
Anlässe. Nur in dieser Hinsicht kann dann die Elektronik als “Erweiterung
unseres zentralen Nervensystems” (Bolz 1994: 9), als medialer Verstärker unserer Sinne, verstanden werden. Die Medien dienen der Steigerung der Komplexität der Wirklichkeitskonstruktionen (vgl. Schmidt 1991: 391).
Zurück zu den Metaphern: das Gedächtnis hat keine Fenster wie der Computer, die beliebig auf- und zugemacht werden können. Und andererseits ist der
Computer kein Wunderblock: Unter einem neu aufgemachten Fenster schimmert kein verborgenes früheres durch.38 Das Überschreiben bleibt ohne Spuren. Außerdem erinnern sich Computer nicht unwillkürlich, d. h. sie haben keinen Resonanzkörper, und sie führen keine Früher-Jetzt-Unterscheidung durch.
Die Computer-Speicherung ist dem menschlichen Gedächtnis und der menschlichen Erinnerung demzufolge nicht homolog: Unser Kontextbewusstsein unterscheidet uns vom Computer, und unser Gedächtnis vom memory der technischen Aufschreibeapparate.
Resumen
En la pelı́cula La luz prodigiosa (Miguel Hermoso, España 2003) un campesino,
Joaquı́n, salva la vida a un desconocido, vı́ctima de los fusilamientos de la
Guerra Civil, que, a raı́z de una grave lesión en la cabeza, ha perdido casi
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Zum Gedächtnis ‘traumatischer Orte’ vgl. Assmann 1999: 328Ð337. Dazu Schönpflug:
“Als Adept der Lebenswissenschaften muß ich jedoch darauf bestehen: Äußere Relikte
und Ordnungen haben kein Gedächtnis und sind kein Gedächtnis. Es sind höchstens
Hinterlassenschaften, die menschlicher Akteure bedürfen, um im Prozeß des Erinnerns
als Mittel und Gegenstände nutzbar zu werden” (2002: 224).
So schreibt Assmann: “Und an die Stelle vertikaler Schichtungen des Überschreibens,
welche Latenzzustände ermöglichen, ist die reine flimmernde Oberfläche getreten ohne
Tiefe, Hintergrund und Hinterhalt” (1999: 212).
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completamente su memoria. Más de cuarenta años después, los dos hombres
vuelven a encontrarse, y surge la sospecha de que el desconocido podrı́a ser
Federico Garcı́a Lorca. Utilizando los poemas y las fotos del famoso poeta
como ‘recuerdos archivados exteriormente’, Joaquı́n intenta reavivar la memoria apagada del viejo sin conseguir más que retraumatizarlo. Finalmente decide
respetar la amnesia piadosa del octogenario.
A través de las metáforas de la pelı́cula y del comportamiento de sus protagonistas frente a los medios y los recuerdos traumáticos se estudiará la dificultad
de concebir la memoria humana como ‘archivo’. Este término sugiere una homologı́a con la memoria de un ordenador, que conserva imágenes del pasado sin
modificarlas. Sin embargo, esta concepción estática no tiene en cuenta la dinámica y el aspecto procesual del acto de recordar. Éste será definido, con la ayuda
del concepto epistemológico de la teorı́a de los sistemas en el sentido de Niklas
Luhmann, como la utilización de la diferencia entonces Ð hoy por el individuo
que recuerda; además, hay que distinguir entre una memoria controlada y una
memoria incontrolada que se manifiesta en reacciones involuntarias del cuerpo.
Los medios de la memoria aparecen como simples soportes de recuerdos posibles, no como informaciones que existen antes del acto de recordar. El artı́culo
se cierra con algunas reflexiones sobre la memoria colectiva.
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