Laudatio auf Aleida Assmann

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Max-Planck-Forschungspreis 2009
Laudatio auf Aleida Assmann von Peter Gruss
Bonn, 20.10.2009
Anrede
ich freue mich sehr, Ihnen jetzt die deutsche Preisträgerin des Max-Planck-Forschungspreises
2009 vorzustellen. Sie hat, wie kaum jemand anderes, das Gebiet der Gedächtnisgeschichte
geprägt:
Professor Dr. Aleida Assmann von der Universität Konstanz.
Frau Assmann, ganz herzlichen Glückwunsch zu dieser Anerkennung!
An dieser Stelle auch: Congratulations to you, Mr. Galinsky!
Der deutsche Nationaldichter Friedrich Schiller hat die Geschichte einmal als die „unsterbliche
Bürgerin aller Zeiten und Nationen“ bezeichnet. Bürgerin heißt, sie lebt mitten unter uns, sie ist
keine ferne Theorie, sondern Teil unserer Realität. Unsterblich ist sie sicher auch, denn
solange es Menschen geben wird, werden sie sich in irgendeiner Form ihrer Vergangenheit
und ihrer Vorfahren bewusst sein. Trotzdem zeigt sich die Geschichte weniger greifbar und
weniger eindeutig als Friedrich Schiller sie vermutlich vor Augen hatte. Die Geschichte ist
vielmehr eine Hydra mit verschiedenartigen Köpfen, die jedem Betrachter ein anderes Haupt
entgegenstreckt.Und auch mit der Zeit wechselt sie ihre Gestalt. Keine ganz einfache
Mitbürgerin also…
Das Bild der Hydra, ist hier in Deutschland sicher besonders passend: Denn gerade uns
Deutschen erscheint die Geschichte oft als Ungeheuer, das uns an die Verbrechen unserer
Väter und Großväter während der Nazi-Zeit erinnert. Aber daneben existieren natürlich noch
andere Geschichtsbilder: Das von der scheinbar guten alten Zeit, die etwa um die Wende vom
19. zum 20. Jahrhundert verortet wird: Mit Weichzeichner verzerrt erschient es gerne in der
Werbung und erzählt von einem einfacheren, geordneteren Leben. Oder das Bild des
abenteuerlichen Mittelalters, in zahllosen Ritterspielen, Umzügen und Märkten immer wieder
neu zum Leben erweckt. Präsent ist natürlich auch die jüngste Geschichte, die viele Bürger
selbst erlebt haben:
Wiederaufbau und Wirtschaftswunder,
Mondlandung und Stundentenrevolte,
Ölkrise und Tschernobylkatastrophe
und natürlich der Mauerfall und der Zusammenbruch des Ostblocks, der einen
weltweiten Wandel nach sich zog.
Es ist diese Vielschichtigkeit der Geschichtsbilder, an denen die Forschung von Aleida
Assmann ansetzt. Ihr Erkenntnisinteresse gilt den verschiedenen Dimensionen der
Erinnerungskultur, den unterschiedlichen Formen und Medien kultureller Überlieferung.
Zentrale Fragen ihrer Arbeit sind zum Beispiel: Wie wandelt sich das kulturelle Gedächtnis?
Wie bringen verschiedene Generationen ihre Erinnerung in das Geschichtsbild ein? Welche
Bedeutung haben historische Gebäude als Erinnerungsträger? Und das sind nur wenige
Beispiele.
Bemerkenswerter Weise ist Frau Assmann keine Historikerin. Ihr Zugang leitet sich zum einen
aus der Literaturwissenschaft, zum anderen aus der Ägyptologie her. In beiden Fächern
promovierte Aleida Assmann 1977. Ihre Habilitation an der neuphilologischen Fakultät der
Universität Heidelberg folgte 1992. Ein Jahr später erhielt sie den Ruf auf den Lehrstuhl für
Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz.
Zu ihrer erfolgreichen akademischen Laufbahn gehören zahlreiche Gastprofessuren:
unter anderem an der Princeton und der Yale University,
an der Universität Wien, sowie an der University of Chicago.
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Aleida Assmann ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
sowie der kulturwissenschaftlichen Sektion der Akademie deutscher Naturforscher Leopoldina
in Halle. Sie wurde zudem zum korrespondierenden Mitglied der Göttinger und der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Für ihre Forschungen auf dem
Gebiet des kollektiven Gedächtnisses wurde sie 1999 mit dem Philip Morris Forschungspreis
ausgezeichnet. Als erste Nicht-Theologin erhielt sie im vergangenen Jahr die
Ehrendoktorwürde der theologischen Fakultät der Universität Oslo. Bei all dem möchte ich
nicht unerwähnt lassen, dass Frau Assmann neben ihrem akademischen Wirken fünf Kinder
großgezogen hat.
Der Startschuss für Aleida Assmanns umfangreiches Oeuvre zur Gedächtnisgeschichte fiel mit
ihrer Habilitation. Mehrere ihrer großen Monografien fußen auf diesem Werk, das sie darin
intensiv weiterentwickelt. Wichtige Publikationen sind zum Beispiel die auch ins Französische
übersetzte Studie „Arbeit am nationalen Gedächtnis“ und der Band „Erinnerungsräume.
Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses“ – ebenfalls in mehreren Sprachen
erschienen. Beide gehören inzwischen zu den Klassikern der Gedächtnisgeschichte und den
international am Häufigsten zitierten Schlüsselwerken in diesem Feld.
Aleida Assmanns Verdienst ist, dass sie ein analytisches Repertoire und vor allem die
grundlegenden Begrifflichkeiten für das Feld der Gedächtnisgeschichte entwickelt hat. Beides
ist international nicht mehr wegzudenken. Ein Beispiel dafür ist Assmanns Differenzierung des
kollektiven Gedächtnisses in das „soziale“, das „nationale“ und das „kulturelle“ Gedächtnis:
Was im sozialen Gedächtnis gespeichert ist, gerät am schnellsten in Vergessenheit. Denn es
wird vor allem mündlich tradiert. Solange eine Gruppe sich über eine Erfahrung immer wieder
austauscht, solange besteht ein soziales Gedächtnis. Mit dem Tode der lebendigen Träger
aber löst es sich auf.
Auf längere Zeit ist das nationale Gedächtnis angelegt, das in Lehrplänen, Straßennamen und
Jahrestagen verankert ist. Es ist aber ebenso wie die Erinnerung des Einzelnen perspektivisch
verengt und es wandelt sich mit dem Zeitgeist.
Vergleichsweise stabil und langlebig ist kulturelle Gedächtnis, das auf Dokumenten und in
Büchern festgehalten ist, aber auch weitere dingliche Exponate wie Möbel, Kleidungsstücke,
Gerätschaften oder andere Alltagsgegenstände umfasst.
Bibliotheken, Museen und Archive konservieren solche materiellen Rückstände der Kultur –
allerdings ebenfalls höchst selektiv. Wiederum nur ein kleiner Teil davon ist tatsächlich
zugänglich und rezipierbar.
Aleida Assmann verfolgt in ihren Arbeiten einen äußerst interdisziplinären Ansatz:
außer Literatur- und Geschichtswissenschaft bezieht sie auch psychologische, soziologische
und philosophische Aspekte mit ein. Das wiederum macht ihre Theorien offen für andere
Disziplinen und Genres. Die genannten Fächer können daran ebenso anschließen wie Kunst,
Literatur und Film. Assmanns Arbeiten sind nicht nur wissenschaftlich von weitreichender
Bedeutung, sie sind auch für Politik und Gesellschaft praktisch relevant.
Letztlich kann man sogar sagen, sie tangieren das Selbstverständnis der Nation – auch oder
gerade heute in unserer globalisierten Welt. In Deutschland haben Assmanns Analysen
besonderen Belang. Hier wurde die Geschichte nach dem Krieg zunächst tabuisiert, später
infolge der 68er-Bewegung auf den Holocaust fixiert. Damit entstand so etwas wie ein Vakuum
im Geschichtsbewusstsein, eine Leerstelle, an der eigentlich ein positiver Bezug der
Deutschen zu ihrer Historie stehen sollte. In ihrem jüngsten Buch „Geschichte im
Gedächtnis“ plädiert Aleida Assmann dafür, die Erinnerungskultur wieder stärker zu pflegen,
auch die Geschichte jenseits der nationalsozialistischen Diktatur. Natürlich geht es ihr nicht
darum, den Holocaust auszublenden – oder, um das Bild vom Anfang aufzugreifen, der Hydra
diesen Kopf abzuschlagen. Assmann regt an, sich zugleich den zahlreichen anderen Aspekten
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der deutschen Geschichte in ihrer ganzen Vielfalt zuzuwenden und sie im europäischen
Zusammenhang wieder ins Bewusstsein zu bringen. In diese Richtung zielt auch ihr neustes
Projekt: Aleida Assmann beabsichtigt eine Untersuchung Europas als
Erinnerungsgemeinschaft, die sich in Konflikt und Konsens gebildet hat und durch die
Europäischen Union immer enger vernetzt. Ein solches Forschungsvorhaben könnte dazu
beitragen, den europäischen Einigungsprozesses besser zu verstehen und die globale Position
Europas genauer einzuordnen.
Liebe Frau Assmann, ich würde mich sehr freuen, wenn der Max-Planck-Forschungspreis
Ihnen helfen könnte, dieses ambitionierte und wichtige Vorhaben voranzutreiben.
Ihnen noch einmal herzlichen Glückwunsch und weiterhin viel Erfolg!
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