Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und

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Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und
10.02.11
politische Identität, München 6/2007 (1992)
(empfohlene Zitierweise: Detlef Zöllner zu Jan Assmann, Das kulturelle
Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, München 6/2007
(1992), 10.02.2011, in: http://erkenntnisethik.blogspot.de/)
1. Lebenswelt als „Einheit von Gesellschaft und Gedächtnis“
2. Der Körperleib als Urbild aller Grenzbestimmungen
3. Nachtrag: Zirkulation von Sinn und Serienproduktion
An dieser Stelle soll noch einmal ein Vergleich zwischen Anders, dem Technologiekritiker, und Assmann, dem Altertumswissenschaftler, gezogen werden. Dabei
geht es um die Begriffe der ‚Sinnstiftung‘ und der ‚Serienproduktion‘. Es gibt
nämlich eine auffallende Analogie zwischen der von Anders beschriebenen Wirtschafts-‚Ontologie‘ und Assmanns Textbegriff; eine Analogie, die möglicherweise auch auf einen impliziten ‚Nihilismus‘ des prinzipiellen Hermeneutikers, also
Sinnauslegers Jan Assmann hindeutet. Die Analogie besteht im Prinzip der Wiederholung, die bei beiden, bei Assmann wie Anders, die Sinn- bzw. Seinshaftigkeit von Texten bzw. Produkten bestimmt. Texte müssen wiederaufgenommen,
also gelesen und interpretiert werden, damit sie Sinn haben können, und Produkte
müssen in Serie gehen, damit sie ‚Wert‘ haben können.
Dabei macht es keinen Unterschied, daß es sich bei der Interpretation von
Texten immer auch um Variation und Innovation handelt (vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.99f.), wir es also nicht nur mit einer gleichförmigen Serienfolge zu tun haben wie in der Warenproduktion. Denn gerade die Verbindung von
Technologie und Kapitalismus in der Warenproduktion verlangt geradezu eine
entsprechende ständige Variation und Innovation der technischen Produkte, so
daß man auch hier eben nicht von einer ‚geistlosen‘ Wiederholung des Immergleichen sprechen kann.
Diese Analogie geht so weit, das Assmann sogar wie beim Geld von einer
Sinnzirkulation spricht: „Sinn bleibt nur durch Zirkulation lebendig. Die Riten
sind eine Form der Zirkulation. Die Texte hingegen sind es von sich aus noch
nicht, sondern nur insoweit, als sie ihrerseits zirkulieren.() Wenn sie außer Gebrauch kommen, werden sie eher zu einem Grab als zu einem Gefäß des Sinns ...“
(Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992) S.91)
Doch was bei Assmann zur Entwicklung eines Bildungsgedächtnisses beiträgt
(vgl. Kulturelles Gedächtnis (2000), S.33, 43), führt bei Anders zu einem zweideutigen ontologischen Status insbesondere der Produkte von Rundfunksendungen (vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.131, 142f.): die Urteilskraft der Konsumenten, inwiefern es sich bei ihnen um bloße Informationen oder um die Ereignisse selbst
handelt, wird geschwächt. Dieser zweideutige Status überträgt sich auch auf alle
anderen Produkte der Warenproduktion. Sie alle nehmen den Status von ‚Phantomen‘ an, also einem gespenstischen Zwitter zwischen realen Phänomenen und
bloßen Illusionen.
Das führt zugleich zu einer Neudefinition des Verhältnisses von Produzenten
und Konsumenten: von nun an sind auch die im Ganzen der Warenproduktion befangenen Produzenten selbst nur noch Konsumenten (vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.
6f.), und die Konsumenten werden zu Produzenten, weil sie in ‚Heimarbeit‘ vor
den Rundfunkgeräten an der Produktion des Massenmenschen beteiligt sind (vgl.
Antiquiertheit Bd.1, S.103).
Anders’ Kennzeichnung dieser ontologisch zweideutigen ‚Produkte‘ als ‚Phantome‘ und die damit verbundene Diagnose des Nihilismus leuchtet ohne weiteres
ein. Auch daß Assmann notwendigerweise zum gegenteiligen Ergebnis kommen
muß, nämlich zur kulturellen Notwendigkeit der Sinnaktualisierung durch mal rituelle (mündliche Kulturen), mal kommentatorische und interpretatorische ‚Wiederholung‘ (schriftliche Kulturen), leuchtet unmittelbar ein. Zugleich stellt sich
aber ein leichtes Unbehagen ein, weil man sich des Eindrucks nicht erwehren
kann, daß beide Prozesse, die Wirtschaftsontologie und die Erinnerungskultur,
dasselbe Grundprinzip miteinander teilen, – daß möglicherweise der Nihilismus
also die gleiche Wurzel hat wie die Humanität: nämlich das Sinnbedürfnis des
Menschen. Denn wäre der Mensch nicht sinnbedürftig, wie könnte er sonst der
Serienproduktion von Waren, der Inversion von Angebot und Nachfrage als einer
Erzeugung der Nachfrage durch das Angebot, verfallen wie einer Drogensucht?
Daß also Nihilismus und Humanismus nach Auschwitz sich aus derselben
Quelle speisen, läßt sich kaum leugnen. Wie aber ist es gemeint, wenn ich dem
hinzufüge, daß auch der Humanismus selbst seinen Nihilismus in sich trägt? –
Dazu führt mich das Gegenprinzip zur Wiederholung als Sinn, Sein und Wert stiftendem Grundprinzip: bei Anders die Atombombe und bei Assmann ‚Auschwitz‘.
So wie die Atombombe die Wirtschaftsontologie grundsätzlich in Frage stellt,
weil sie nicht wiederholt werden kann, also nicht in Serie gehen kann, so stellt
‚Auschwitz‘ den Humanismus in Frage, weil es nicht wiederholt werden darf.
‚Auschwitz‘ legt den inneren Nihilismus jedes künftigen menschlichen Sinnbezugs offen. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (2000), S.36f.)
Daß aus diesem Nihilismus etwas Positives, nämlich Humanität, hervorgehen
soll, scheint Mephisto, dem Anders jede Legitimität abgesprochen hat (vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.277f.), wieder zu rechtfertigen. Aber auch im Humanismus des
nicht-wiederholen-Dürfens von Auschwitz ist nicht mehr von einer Wiederherstellung des Guten auf einer höheren Ebene die Rede, sondern lediglich von einer
daraus erwachsenden Verantwortung für ein auch künftig mögliches menschenwürdiges Leben, – und zwar vor der (moralisch nicht, geschichtlich aber durchaus)
wiederholbaren Folie faktischer Sinnlosigkeit.
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