Freitagsansprache vom 05.08.2005 von Ayatollah Seyyed Abbas Hosseini Ghaemmaghami Imam und Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg Gesellschaftliche Verantwortung Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen. Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm ), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten. In der letzten Freitagsansprache wurde darauf hingewiesen, dass der Islam abgesehen von der individuellen auch eine gesellschaftliche Dimension hat, und dass ein Großteil der gesellschaftlichen Lehren im Islam rational bestätigte Lehren sind. Im Bereich der gesellschaftlichen Beziehung misst der Islam manchen Angelegenheiten besondere Achtung bei, z. B. dem Prinzip der Familie im Islam. Der Islam ist bemüht, die Familie als die wichtigste gesellschaftsbildende und –stärkende Institution darzustellen, und es gilt jedes Schwächen oder Auseinanderfallen dieser Institution zu verhindern. Aber die Bedeutung der Familie aus islamischer Sicht werde ich zum Thema anderer Freitagsansprachen machen. Heute soll die Frage beantwortet und analysiert werden, die ich in der letzten Ansprache gestellt habe. Es wurde gesagt, dass ein Großteil der gesellschaftlichen Gebote des Islam keine begründeten, sondern gebilligte Gebote sind und dass der Islam in diesem Bereich die Prinzipien der Ethik und Gerechtigkeit hervorhebt. Zu den begründeten gesellschaftlichen Geboten und Lehren im Islam, die auf der Offenbarung basieren und zu deren Berücksichtigung die Muslime in ihrem gesellschaftlichen Leben verpflichtet sind, gehören auch einige Strafgesetze, d. h. die Strafen, die die Scharia für bestimmte Taten vorsieht. Die Frage lautet nun, ob der Islam von seinen Anhängern verlangt, dass sie diese Vorschriften in ihrem gesellschaftlichen Leben praktizieren? D. h., sind die Muslime, so wie sie zur Verrichtung der Gebete oder der Durchführung anderer religiöser Vorschriften verpflichtet sind, auch verpflichtet, die Scharia in der Gesellschaft, in der sie leben, zu praktizieren? Die klare und deutliche Antwort auf diese Frage lautet: Nein! Der Grund dafür ist, dass diese Gruppe von gesellschaftlichen Geboten des Islam aufgrund der Unterteilung die wir in der letzten Ansprache aufgezeigt haben, zu den gesellschaftlichen Taten und folglich nicht zu den Pflichten und Aufgaben des Muslims als Individuum gehört. Aus islamischer Sicht ist jeder Muslim verpflichtet, die Scharia einzig und allein in seinem Privatleben zu berücksichtigen. Deshalb wird die Scharia nur das, was wir als individuelle Tat bezeichnet haben, beeinflussen und bestimmen. Wenn die Scharia aber hinsichtlich gesellschaftlicher Taten Lehre und Gebote bestimmt hat, wird kein muslimisches Individuum zur Verpflichtung dieser Gebote und Lehren verpflichtet. Grundsätzlich werden diese Lehren und Gebote genau wie andere Theorien oder gesellschaftliche Rechtsvorstellungen dargestellt, damit die Gesellschaft darüber urteilt und entscheidet und im Rahmen eines vollkommen demokratischen Prozess die Möglichkeit hat, sie im gesellschaftlichen Leben zu manifestieren. So wurden z. B. bei der Bestrafung und islamischen Rechtsprechung für Diebstahl bestimmte Gebote und Strafen erörtert, oder für das Richteramt bestimmte Voraussetzungen festgelegt, die auf einer bestimm- 2 ten Philosophie, Rechtsanschauung und besonderen juristischen Struktur basieren, die mit anderen philosophischen und theoretischen Rechtsprechungen der menschlichen Gesellschaft zum Vergleich angeboten werden. Und wenn eine Gesellschaft sich aufgrund ihres Bewusstseins für die Gesamtheit oder einen Teil dieser Vorschläge oder Theorien entscheidet und sie in einem vollkommen demokratischen Prozess akzeptiert und annimmt, werden diese selbstverständlich in das Rechtssprechungssystem integriert. Selbstverständlich wird dies nur in einer islamischen Gesellschaft, in der die Mehrheit der Menschen Muslime sind, möglich sein. Aber auch eine nichtmuslimische Gesellschaft sollte diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass sie von einem Teil dieser Theorien und Lehren im Rahmen ihrer eigenen Gesetzgebung Gebrauch macht, wie z. B. auch die Rechtsprechung von manchen europäischen Ländern die Gesetzgebung vieler islamischer Länder beeinflusst hat. Deshalb sind die speziellen gesellschaftlichen Gesetze wie z. B. das Strafgesetz niemals Befehle und Bestimmungen, zu deren Praktizierung in der Gesellschaft das muslimische Individuum verpflichtet ist. Vielmehr steht aus islamischer Sicht jedes Bemühen und Engagement eines Einzelnen, diese Theorien und Lehren in einer Gesellschaft, auch wenn es sich um eine islamische Gesellschaft mit mehrheitlich Muslimen handelt, zu praktizieren, ohne Zweifel im Widerspruch zur Scharia und den Geboten. Folglich gilt derjenige, der so etwas tut, als Straftäter, der eine Sünde begangen hat und vor Gott für seine Schuld verantwortlich ist. Jede Theorie, auch wenn sie den höchsten Grad an Richtigkeit und Wahrheit besitzt, wie z. B. die göttlichen Lehren der Propheten, die aus der Sicht ihrer Anhänger die vollkommene Wahrheit und Richtigkeit haben, kann grundsätzlich nur dann Teil des gesellschaftlichen Lebens der Menschen werden und als Grundprinzip der gesellschaftlichen Ordnung und des Zivilrechts berücksichtigt werden, wenn sie in Form eines Gesellschaftsvertrages von der Gesellschaft angenommen und akzeptiert wurde. Niemand hat das Recht, mit der Argumentation, dass sei die Scharia und Religion, anderen etwas aufzuzwingen. Kein religiöser und frommer Mensch steht über den göttlichen Propheten. Kein Muslim, gleich welchen Grad von Glauben er hat, steht über dem Propheten des Islam (? ), und kein Christ oder Jude, egal wie gläubig er ist, steht über Jesus (?) oder Mose (?). Diesen großen Propheten wurde von göttlicher Seite nicht das Recht zugestanden, den Menschen und der Gesellschaft die Offenbarung und Einladung zum Glauben aufzuzwingen, und wenn jeder dieser großartigen Menschen heute gegenwärtig wäre, würde er seine gesellschaftliche Lehre anbieten. Auch wenn alle religiösen Menschen und Anhänger seine Sicht annehmen und daran glauben würden, weil es eine göttliche Sicht ist, hat dennoch kein Mensch – sei er auch noch so gläubig – das Recht, diese Sicht in der Gesellschaft zu praktizieren und sie anderen aufzuzwingen, solange diese Theorie nicht in einem demokratischen und traditionellen Prozess akzeptiert und zum Gesetz bestimmt wurde. Was in der Gesellschaft herrscht, was alle berücksichtigen und woran sich alle halten müssen, ist das Gesetz. Niemals ist ein religiöser Mensch verpflichtet, die Scharia gegen das Gesetz zu tauschen, weil die Scharia selbst dies nicht erlaubt. Es ist durchaus möglich, dass die Menschen einer Gesellschaft, die zwar Muslime sind und an die Wahrheit des Propheten des Islam glauben, dennoch aus irgendeinem Grund kein Interesse an der Berücksichtigung der Scharia in irgendeinem Bereich ihrer gesellschaftlichen Beziehungen und ihres Zivilrechts haben, und das ist eine Sache, die sie und Gott betrifft. Aber 3 Gott hat niemandem erlaubt, diese Menschen zu zwingen, die Scharia zu akzeptieren, zu berücksichtigen oder zu praktizieren. Ein solches Verhalten ist zweifellos unislamisch, unmenschlich und gilt als große Sünde. Obwohl der Islam die Berücksichtigung der Ethik und Gerechtigkeit in den gesellschaftlichen Beziehungen betont und die Familie für sehr wichtig hält, kann man dennoch mit dem, was heutzutage als Fundamentalismus und Islamismus bezeichnet wird, nicht einverstanden sein. Man muss jedoch festhalten, dass heutzutage viele unklare Begriffe benutzt werden, denen keine klare und eindeutige Definition und Bedeutung zugeschrieben wurde. Wenn mit Fundamentalismus die Bindung an die religiöse Identität und die Grundprinzipien der islamischen Gedanken gemeint ist, dann ist zweifellos jeder Muslim ein Fundamentalist. Genauso ist jeder Christ und jeder Jude oder jeder andere Mensch, der an eine bestimmte Lehre oder Philosophie glaubt, ein Fundamentalist, und in diesem Sinne müssten die Säkularisten, die die Grundprinzipien des Säkularismus betonen, zuallererst als Fundamentalisten angesehen werden. Es scheint jedoch, dass der Begriff Fundamentalismus gegenwärtig nicht in diesem Sinne gebraucht wird, sondern der Fundamentalismus als eine inakzeptable, falsche, irrationale und dogmatische Form des Festhaltens an Tradition und religiösen Zeremonien verstanden wird. Um es deutlich zu sagen: Jeder, der sich bemüht, seinen Glauben und seine Überzeugungen, egal was das ist, auch wenn dieser Glaube die Botschaft der Offenbarung und die göttliche Botschaft ist, seinen Mitmenschen und der Gesellschaft aufzuzwingen und die demokratische Struktur und gesellschaftliche Ordnung zu stören, d. h. durch Anwendung von undemokratischen Methoden und Gewalt seine Meinung und seinen Glauben der Gesellschaft aufzuzwingen, ein solcher Mensch ist ein Fundamentalist. Gemäß dieser Definition ist der Fundamentalismus ein irrationales und unmenschliches Phänomen und weist nicht das geringste Maß an Vereinbarkeit mit dem Islam oder einer anderen göttlichen Religion auf, auch wenn solche Fundamentalisten sich selbst als Muslim und die Islamisierung als ihr Ziel bezeichnen. Intensivere Überlegungen zum Fundamentalismus und Islamismus Aus verschiedenen Freitagsansprachen ist sehr deutlich hervorgegangen, dass der Rationalität nichts vorzuziehen ist. Die göttlichen Religionen werden mit all ihrer Bedeutung und Wahrheit der Vernunft angeboten, und solange die Grundsätze dieser Religionen für die Ratio nicht verständlich sind, können sie nicht als Beweis und Wahrheit angesehen werden. Unter Berücksichtung dieses Punktes können wir eine genauere Definition vom Fundamentalismus geben: Ein Fundamentalist ist derjenige, der seine Ideologie und Meinung über die Vernunft stellt. Aus der Bevorzugung der Ideologie und des Glaubens über die Vernunft und das Nachdenken resultiert die Tatsache, dass der Mensch seine Vernunft durch Glauben und Traditionen ersetzt, anstatt die Vernunft zum Maßstab seines Urteils zu machen. Es ist durchaus möglich, dass am Anfang diese Ersetzung einfach und oberflächlich geschieht, aber das Ersetzen der Ratio durch Tradition und Ideologie verursacht die Bildung eines Phänomens und eines Schadens, den ich als „Verideologisierung“ und „Vertraditionalisierung“ bezeichne. Mit diesen zwei Begriffen ist kein Handeln gemeint, das auf Tradition und Ideologie beruht, sondern damit ist gemeint, 4 dass der Mensch so sehr in die Gefangenschaft seines Glaubens und seiner Traditionen tritt, dass er keine Kritik an seiner Meinung akzeptiert, sondern seine Meinung als Maßstab für die Richtigkeit und die Wirklichkeit von etwas Anderem ansieht, und dass er für sich daraus das Recht ableitet, seinen Glauben und seine Traditionen anderen aufzuzwingen und andere dazu zu nötigen, seinem Handeln zu folgen. Deshalb kann man den Absolutheitsanspruch als wichtigste Auswirkung der „Verideologisierung“ bezeichnen. Der Absolutheitsanspruch ist auch ein Hauptelement des Faschismus und der Diktaturen. In unserer Zeit sind der Kommunismus und Nazismus deutliche Zeichen einer solchen Verideologisierung. Die Rechtfertigung der Gewalt und der Verbrechen, die nazistische und kommunistische Führer begangen haben, resultierte aus der Vorstellung, ihre Überzeugungen und ihr Glaube sei vorzuziehen und überlegen; jede rationale Kritik wurde abgelehnt, und normalerweise sehen solche Menschen für sich eine weltliche Mission, und sie denken, sie haben die Pflicht, sie müssten die anderen Menschen wie sich selbst machen. Al-Qaida und die Taliban sind gute Beispiele für diese krankhafte Verideologisierung. Der Islam ist gegen jede Art von Fundamentalismus, den wir hier dargestellt haben. Eine der grundlegenden islamischen Pflichten ist die Verneinung eines solchen Fundamentalismus, d. h. absolutistisch zu denken und den Glauben und die Traditionen der Ratio und dem Nachdenken vorzuziehen, wird von islamischer Seite nachdrücklich verneint, und der Islam distanziert sich davon, selbst wenn dieser Glauben und diese Traditionen sich auf den Islam beziehen. Deshalb wird der Islamismus in dem Sinne, dass jemand seinen islamischen Glauben gegenüber seiner Vernunft bevorzugt und ihn als so absolut sieht, dass Vernunft und Verstand ignoriert und nicht berücksichtigt werden, und er seine Meinung und seinen Glauben den anderen aufzwingen will, vom Islam verurteilt, und diese Art des Islamismus unterscheidet sich insofern nicht vom Kommunismus und Nazismus, da ihnen die Ignoranz der Ratio und der Absolutheitsanspruch gemeinsam sind. Wenn jemand die Ratio ignoriert und absolutistisch denkt, ist er von seinem Gedanken und Glauben begeistert und wird sich jede Art von Gewalt und Verbrechen erlauben. Das Gesagte macht deutlich, dass Dogmatismus und Selbstbegeisterung nicht zu einem bestimmten Gedanken und Glauben gehören, und dass jeder Gedanke dem Dogmatismus und Fundamentalismus zum Opfer fallen kann. Mit anderen Worten: Der Fundamentalismus kann sich in verschiedenen Formen manifestieren, selbst in einer intellektuellen Form. Aber beim Fundamentalismus ist der Inhalt der Theorien und Ideologien nicht so wichtig, sondern von großer Bedeutung ist die Vermischung von Dogmatismus und Fanatismus, was Gewalt verursachen kann. Diese Thematik möchte ich in Zukunft weiter ausführen. Ich sehe es hier als notwendig an, den Punkt zu erwähnen, dass Gewalt und Dogmatismus dem Geist der göttlichen Religionen fremd sind. Niemand kann behaupten, dass er religiös ist und gleichzeitig ein gewalttätiger Mensch sein. Diejenigen, die Ereignisse wie vom 07. Juli in London, dem 11. März in Madrid und dem 11. September in New York zu verantworten haben, verfügen nicht über die geringste Kenntnis von der Spiritualität der Religion bzw. der islamischen Lehre, und sie kennen die grundsätzliche Bedeutung von Menschlichkeit nicht. Wie könnte man akzeptieren, dass jemand im Namen der Religion Terror und Gewalt praktiziert? Niemals kann man so etwas akzeptieren, weil die göttliche 5 Religion und insbesondere der Islam, Frieden und eine freundliche Botschaft überbringt und der Dienst für den Menschen die größte Anbetung ist. Aus islamischer Sicht gibt es nichts Verpflichtenderes als den Schutz des menschlichen Lebens, und das Engagement für den Schutz des Lebens einer Person ist dem Schutz des Lebens der ganzen Gesellschaft gleich. Mit aller Deutlichkeit wird gesagt: wenn jemand einen Unschuldigen tötet, ist es genau so, als hätte er alle Menschen einer Gesellschaft getötet, und es ist dabei unbedeutend, welchen Glauben und welche Gedanken diese Person hat. Auch wenn diese Person uns feindlich gesinnt wäre oder eine vollkommen andere Meinung haben sollte als wir, so ist der Schutz ihres Lebens verpflichtend, und ihr einen Schaden zuzufügen wäre gleichbedeutend damit, allen Menschen einen Schaden zuzufügen. Wie ich am Donnerstag der Terroranschläge von London in einer Verlautbarung dargelegt habe, sind diejenigen, die solche Terroranschläge durchführen, Mörder und Kriminelle, die man grundsätzlich nicht als Menschen bezeichnen kann. Ihr Ziel ist die Zerstörung der freundlichen Koexistenz der Anhänger der unterschiedlichen Religionen und der vorhandenen Integration in dieser Gesellschaft, und wir sind sicher, dass sie dieses schlimme und unmenschliche Ziel niemals erreichen werden. Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.