Jahrbuch 2004/2005 | Boehm, Thomas | Qualitätskontrolle im Immunsystem Qualitätskontrolle im Immunsystem Quality control in the immune system Boehm, Thomas Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik, Freiburg Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung W ie vermeidet das Immunsystem eine Selbstzerstörung und die verheerenden Ausw irkungen der Autoimmunität, die Paul Ehrlich einst als „horror autotoxicus” beschrieb? W ie konnten die frühen W irbeltiere überleben, als sie damit begannen, Rezeptoren mit zufälliger Antigenspezifität zu verw enden? Deren extensive Selbst-Reaktivität hätte den eigenen Körper angreifen und zerstören müssen. Es gibt Hinw eise dafür, dass die Qualitätskontrollmechanismen, die die Selbstreaktivität im Immunsystem zähmen, von einem alten System stammen, w elches die Partnerw ahl auf Basis der Bew ertung der genetischen Verschiedenheit steuerte. Summary How does the immune system avoid self-destruction and the devastating effects of autoimmunity that Paul Ehrlich described as “horror autotoxicus“? How did early vertebrates survive w hen they began to use receptors w ith random antigen specificities despite their extensive self-reactivity? It appears that the quality control mechanisms taming self-reactivity in the immune system w ere derived from an ancient mechanism that guided sexualselection on the basis of evaluating genetic diversity. Warum braucht das Immunsystem eine Qualitätskontrolle? Das Immunsystem verw endet verschiedene Rezeptor-Typen, um Selbst- und Nichtselbst-Strukturen zu unterscheiden. Auf der einen Seite stehen Rezeptoren, die charakteristische Strukturen (Lipopolysaccharide etc.) von Pathogenen erkennen. Sie w urden im Laufe der Evolution auf Selbsttoleranz hin selektiert und gehören zum angeborenen Immunsystem. Auf der anderen Seite nutzt das Immunsystem Rezeptoren, die auch in der Lage sind, neue beziehungsw eise veränderte Krankheitserreger zu erkennen. Diese Rezeptoren entstehen in den jew eiligen Individuen durch einen kombinatorischen Prozess und sind auf diese Weise von potenziell unendlicher Variabilität. So kann das Immunsystem selbst Stereoisomere kleiner Moleküle unterscheiden. Die potenziell unendliche Variabilität der Rezeptoren birgt die Gefahr, dass Rezeptoren entstehen, die körpereigene Strukturen erkennen. Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, w ie das Immunsystem eine © 2005 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/4 Jahrbuch 2004/2005 | Boehm, Thomas | Qualitätskontrolle im Immunsystem Selbstdestruktion oder – w ie Paul Ehrlich formulierte – den „horror autotoxicus“ vermeiden kann. Die Antw ort auf diese Frage liegt in der Tatsache, dass das Immunsystem ein ausgeklügeltes Qualitätskontrollsystem nutzt, w elches in der Lage ist, selbstreaktive Rezeptoren zu eliminieren oder zu unterdrücken und nur selbsttolerante Rezeptoren in das Repertoire seiner Effektorzellen aufzunehmen. Wie entstand das Qualitätskontrollsystem im Laufe der Evolution? Eine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Immunbiologie w idmet sich seit einiger Zeit der Frage, w ie dieses neue Rezeptorsystem und das dazugehörige Qualitätskontrollsystem im Verlauf der Evolution entstanden sind. Aus heutiger Sicht w ird der Beginn des kombinatorischen Prozesses der Rezeptorentstehung an den Anfang der W irbeltierentw icklung, also in die Zeit vor etw a 500 Millionen Jahren gelegt. Man hat Hinw eise dafür gefunden, dass die für die Rekombination erforderlichen genetischen Elemente durch einen so genannten lateralen Gentransfer, das heißt aus dem Genom einer anderen Spezies, in das Genom der frühen Vertebraten eingebracht w orden sind. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, w ie sich ein Rekombinationssystem, das Antigenrezeptoren mit unvorhersehbarer Spezifität generiert, in diesen frühen Vertebraten etablieren konnte, ohne durch diese neugew onnene Fähigkeit die betroffenen Individuen selbst zu zerstören. In der Freiburger Arbeitsgruppe um Thomas Boehm w urde deshalb die Hypothese entw ickelt, dass das damals bestehende entstehende Qualitätskontrolle Rekombinationssystem für Antigenrezeptoren auf eine schon früher zurückgreifen konnte, deren Funktion in der sexuellen Selektion von Organismen lag. Weiter spekulierten die W issenschaftler, dass diese Funktion auch heute noch nachw eisbar sein könnte. Qualitätskontrolle im „modernen” Immunsystem: Funktion der MHC-Peptide Die Qualitätskontrollmechanismen, die im heutigen Immunsystem dafür sorgen, dass selbstreaktive B- und TZellen aus dem entstehenden Repertoire eliminiert w erden, sind in den Grundzügen verstanden, besonders gut untersucht bei der Entw icklung der T-Zellen. Die Rezeptoren auf T-Zellen erkennen Antigene in Komplexen mit so genannten MHC-Molekülen, die die Antigene aus dem Inneren der Zelle an der Zelloberfläche präsentieren (Abb.1). So können T-Zellen mit ihren T-Zellrezeptoren die Sequenz dieser Peptide überprüfen und gegebenenfalls eine Immunantw ort einleiten. Dieses MHC-Peptidpräsentationssystem ist in seiner Funktion einer funktionellen Genomanalyse vergleichbar, w eil es eine ständige Evaluation der Proteinsynthese in einzelnen Zellen erlaubt. Sollte also eine Körperzelle von einem Virus befallen sein, so w erden mit einiger Wahrscheinlichkeit Teile von viralen Proteinen auf MHC-Moleküle geladen und diese viralen Peptide an der Oberfläche den T-Zellen präsentiert, die daraufhin das Fremdsein der Peptide erkennen und eine Immunantw ort einleiten. Interessanterw eise hat sich gezeigt, dass MHC-Moleküle Peptide deshalb so besonders gut präsentieren können, w eil ihre Bindung an Peptide nur von w enigen charakteristischen Aminosäureresten im gesamten Peptid abhängt. Diese so genannten Ankerreste sind für jedes MHC-Molekül spezifisch, sodass verschiedene MHC-Moleküle aus dem großen Pool an intrazellulären Peptiden jew eils nur einen kleinen Teil binden und an der Zelloberfläche präsentieren. Die w eitere Sequenz dieser Peptide w ird von T-Zellrezeptoren bis ins kleinste Detail evaluiert, w eil diese genaue Analyse für die Einleitung oder Unterdrückung von Immunreaktionen von entscheidender Bedeutung ist. Das heißt also, dass die von MHCMolekülen gebundenen Peptide Informationen auf zw ei Ebenen tragen. Zum einen deuten die Ankerreste an, w elches MHC-Molekül das betreffende Peptid präsentiert, zum anderen w eist die genaue Sequenz des gesamten Peptids auf seinen Ursprung zurück. W ichtig für die Immunüberw achung ist, dass die MHCPeptidkomplexe an der Zelloberfläche von Zellen fixiert w erden, damit die Immunantw ort lokalisiert bleiben © 2005 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/4 Jahrbuch 2004/2005 | Boehm, Thomas | Qualitätskontrolle im Immunsystem kann und gesunde Nachbarzellen verschont. Für die intra -individue lle Unte rsche idung zwische n ve rschie de ne n Ze lle n m üsse n die MHC -Kom ple x e a uf de r Ze llobe rflä che im m obilisie rt we rde n. Die s be nötigt nur e ine e inzige ge ne tische Modifik a tion de s m utm a ßlich ursprüngliche n Syste m s, z. B. da s Einfüge n de s Ex ons e ine r Tra nsm e m bra n-Dom ä ne in da s Ge n, we lche s für da s lösliche C a rrie r-P rote in codie rt. Da na ch k a nn de r P e ptid/C a rrie rKom ple x von de r Ze lle fre ige se tzt we rde n, um P e ptidLiga nde n für de n spä te re n inte rindividue lle n Ve rgle ich ve rfügba r zu m a che n. Auf die se W e ise k a nn e in Me cha nism us sowohl de n inte r-ze llulä re n a ls a uch de n inte r-individue lle n Ve rgle ich unte rstütze n. © Ma x -P la nck -Institut für Im m unbiologie /Boe hm Steuerung der Partnerwahl Ausgehend von der Idee, dass das MHC-Peptidpräsentationssystem für Entscheidungen bei sexuellen Selektionsprozessen eine Rolle spielen könnte, fragen sich die W issenschaftler, w ie aus MHC-Peptidkomplexen Informationen über die genetische Individualität gew onnen w erden können. Dazu ist es zunächst erforderlich, dass die MHC-Peptidkomplexe von der Zelloberfläche abgetrennt w erden, in den Extrazellularraum gelangen und schließlich in Körperflüssigkeiten w ie beispielsw eise Urin auftauchen. W ie oben erw ähnt ist für die Struktur von MHC-Molekülen charakteristisch, w elche Ankerreste von Peptiden sie binden können. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Ankerreste von Peptiden auf die sie transportierenden MHC-Moleküle hinw eisen. Da MHC-Moleküle vom genetischen Material der Zelle beziehungsw eise des Individuums kodiert w erden, kann aus der Art der Ankerreste von MHC-Peptiden auf die Natur der MHC-Moleküle rückgeschlossen w erden. Über die Analyse der Ankerreste kann man Informationen über die genetische Identität von Zellen bzw . Individuen gew innen. Aufbauend auf dieser Hypothese ist es den Freiburger W issenschaftlern in Zusammenarbeit mit den Arbeitsgruppen von Peter Brennan (Cambridge, USA), Heinz Breer (Stuttgart) und Frank Zufall (Baltimore, USA) gelungen nachzuw eisen, dass die Peptide aus MHC-Peptidkomplexen tatsächlich bei Entscheidungen im Zusammenhang mit sexueller Selektion genutzt w erden [1]. Sie konnten zeigen, dass MHC-Peptidliganden sensorische Neuronen im olfaktorischen System der Maus sequenz-spezifisch erregen. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass MHC-Peptidliganden nicht nur für den T-Zellrezeptor Information über die Proteinsynthese in Zellen liefern, sondern gleichzeitig auch bei der Erkennung genetischer Individualität eine Rolle spielen. In der Tat zeigte sich bei diesen Untersuchungen, dass es vor allem die Ankerreste der Peptide sind, die die Spezifität der Erkennung durch olfaktorisch-sensorische Neuronen bestimmen. In w eiterführenden Untersuchungen konnten die Forscher zudem nachw eisen, dass synthetische Peptide tatsächlich in der Lage sind, abhängig von ihrer Sequenz Reproduktionsentscheidungen von Mäusen zu beeinflussen. Evolution: Von Partnerwahl zur Qualitätskontrolle Um zu zeigen, ob dieser Mechanismus ein evolutionär konservierter ist, w urde in Zusammenarbeit mit der © 2005 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/4 Jahrbuch 2004/2005 | Boehm, Thomas | Qualitätskontrolle im Immunsystem Arbeitsgruppe von Manfred Milinski (Plön) untersucht, ob sich das ausgeprägte Wahlverhalten von w eiblichen Stichlingsfischen durch Zugabe von synthetischen Peptiden beeinflussen lässt. In der Tat zeigten die Versuche, dass das Wahlverhalten von Weibchen durch die Zugabe von Peptiden in vorhersagbarer Weise verändert w urde [2]. Mithilfe dieser Untersuchungen w urde nochmals nachgew iesen, dass MHC-Peptide in der Tat zw ei Funktionen im Organismus erfüllen: Zum einen erlauben sie dem Immunsystem, über den Status von einzelnen Zellen Informationen zu erlangen (durch die Analyse der MHC-Peptidkomplexe an der Zelloberfläche durch die T-Zellrezeptoren). Zum anderen erlaubt die Analyse der Struktur dieser Peptide durch olfaktorische Neuronen Informationen zu gew innen über den genetischen Status eines Gegenübers, da die Struktur der Ankerreste von Peptiden Rückschlüsse auf die Struktur von MHC-Molekülen und damit Rückschlüsse auf die Kodierungskapazität von Organismen zulassen. Auch w enn diese Experimente nicht bew eisen können, dass die Einführung des rekombinierenden Systems zur Herstellung von Antigenrezeptoren auf ein Ur-Qualitätskontrollsystem aufbauen konnte, legen die vorgestellten Untersuchungen doch nahe, dass Immun- und Nervensystem ähnliche molekulare Mechanismen zur Evaluierung von Zellen oder Individuen verw enden. Diese unerw artete mechanistische Verknüpfung von sensorischen Vorgängen im Immun- und Nervensystem ist ein starker Hinw eis darauf, dass diese beiden Systeme im Verlauf der Evolution immer stärker miteinander verschränkt w orden sind. Zukünftige Experimente w erden zeigen, ob sich ein auf Peptiden basierendes Qualitätskontrollsystem schon bei solchen Organismen findet, die in der Evolution unter den frühen Vertebraten stehen, also unter Umständen Vorläufer des später daraus hervorgegangenen Qualitätskontrollsystems darstellen können. Originalveröffentlichungen Nach Erw eiterungen suchenBilderw eiterungChanneltickerDateilisteHTML- Erw eiterungJobtickerKalendererw eiterungLinkerw eiterungMPG.PuRe-ReferenzMitarbeiter Editor)Personenerw eiterungPublikationserw eiterungTeaser (Employee mit BildTextblockerw eiterungVeranstaltungstickererw eiterungVideoerw eiterungVideolistenerw eiterungYouTubeErw eiterung [1] Leinders-Zufall, T., P. Brennan, P. Widmayer, S. P Chandramani, A. Maul-Pavicic, M. Jäger, X.-H. Li, H. Breer, F. Zufall and T. Boehm: MHC Class I Peptides as Chemosensory Signals in the Vomeronasal Organ Science 306, 1033-1037 (2004). [2] Milinski, M., S. Griffiths, K. M. Wegner, T. B. H. Reusch, A. Haas-Assenbaum, and T. Boehm: Mate choice decisions of stickleback females predictably modified by MHC peptide ligands Proc. Natl. Acad. Sci. USA 102, 4414-4418 (2005). © 2005 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/4