Qualitätskontrolle im Immunsystem - Max-Planck

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Boehm, Thomas | Qualitätskontrolle im Immunsystem
Tätigkeitsbericht 2005
Immun- und Infektionsbiologie/Medizin
Qualitätskontrolle im Immunsystem
Boehm, Thomas
Max-Planck-Institut für Immunbiologie, Freiburg
Abteilung - Entwicklung des Immunsystems
Korrespondierender Autor: Boehm, Thomas
E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
Wie vermeidet das Immunsystem eine Selbstzerstörung und die verheerenden Auswirkungen der
Autoimmunität, die Paul Ehrlich einst als „horror autotoxicus” beschrieb? Wie konnten die frühen
Wirbeltiere überleben, als sie damit begannen, Rezeptoren mit zufälliger Antigenspezifität zu verwenden? Deren extensive Selbst-Reaktivität hätte den eigenen Körper angreifen und zerstören müssen. Es
gibt Hinweise dafür, dass die Qualitätskontrollmechanismen, die die Selbstreaktivität im Immunsystem zähmen, von einem alten System stammen, welches die Partnerwahl auf Basis der Bewertung der
genetischen Verschiedenheit steuerte.
Abstract
How does the immune system avoid self-destruction and the devastating effects of autoimmunity that
Paul Ehrlich described as “horror autotoxicus“? How did early vertebrates survive when they began
to use receptors with random antigen specificities despite their extensive self-reactivity? It appears
that the quality control mechanisms taming self-reactivity in the immune system were derived from an
ancient mechanism that guided sexualselection on the basis of evaluating genetic diversity.
Warum braucht das Immunsystem eine Qualitätskontrolle?
Das Immunsystem verwendet verschiedene Rezeptor-Typen, um Selbst- und Nichtselbst-Strukturen
zu unterscheiden. Auf der einen Seite stehen Rezeptoren, die charakteristische Strukturen (Lipopolysaccharide etc.) von Pathogenen erkennen. Sie wurden im Laufe der Evolution auf Selbsttoleranz hin
selektiert und gehören zum angeborenen Immunsystem. Auf der anderen Seite nutzt das Immunsystem
Rezeptoren, die auch in der Lage sind, neue beziehungsweise veränderte Krankheitserreger zu erkennen. Diese Rezeptoren entstehen in den jeweiligen Individuen durch einen kombinatorischen Prozess
und sind auf diese Weise von potenziell unendlicher Variabilität. So kann das Immunsystem selbst
Stereoisomere kleiner Moleküle unterscheiden.
Die potenziell unendliche Variabilität der Rezeptoren birgt die Gefahr, dass Rezeptoren entstehen, die
körpereigene Strukturen erkennen. Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, wie das Immunsystem eine
Selbstdestruktion oder – wie Paul Ehrlich formulierte – den „horror autotoxicus“ vermeiden kann. Die
Antwort auf diese Frage liegt in der Tatsache, dass das Immunsystem ein ausgeklügeltes Qualitätskontrollsystem nutzt, welches in der Lage ist, selbstreaktive Rezeptoren zu eliminieren oder zu unterdrücken und nur selbsttolerante Rezeptoren in das Repertoire seiner Effektorzellen aufzunehmen.
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Wie entstand das Qualitätskontrollsystem im Laufe der Evolution?
Eine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Immunbiologie widmet sich seit einiger Zeit der
Frage, wie dieses neue Rezeptorsystem und das dazugehörige Qualitätskontrollsystem im Verlauf der
Evolution entstanden sind. Aus heutiger Sicht wird der Beginn des kombinatorischen Prozesses der
Rezeptorentstehung an den Anfang der Wirbeltierentwicklung, also in die Zeit vor etwa 500 Millionen Jahren gelegt. Man hat Hinweise dafür gefunden, dass die für die Rekombination erforderlichen
genetischen Elemente durch einen so genannten lateralen Gentransfer, das heißt aus dem Genom einer
anderen Spezies, in das Genom der frühen Vertebraten eingebracht worden sind. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie sich ein Rekombinationssystem, das Antigenrezeptoren mit unvorhersehbarer Spezifität generiert, in diesen frühen Vertebraten etablieren konnte, ohne durch diese
neugewonnene Fähigkeit die betroffenen Individuen selbst zu zerstören. In der Freiburger Arbeitsgruppe um Thomas Boehm wurde deshalb die Hypothese entwickelt, dass das damals entstehende Rekombinationssystem für Antigenrezeptoren auf eine schon früher bestehende Qualitätskontrolle zurückgreifen konnte, deren Funktion in der sexuellen Selektion von Organismen lag. Weiter spekulierten die
Wissenschaftler, dass diese Funktion auch heute noch nachweisbar sein könnte.
Qualitätskontrolle im „modernen” Immunsystem: Funktion der MHC-Peptide
Die Qualitätskontrollmechanismen, die im heutigen Immunsystem dafür sorgen, dass selbstreaktive
B- und T-Zellen aus dem entstehenden Repertoire eliminiert werden, sind in den Grundzügen verstanden, besonders gut untersucht bei der Entwicklung der T-Zellen. Die Rezeptoren auf T-Zellen erkennen
Antigene in Komplexen mit so genannten MHC-Molekülen, die die Antigene aus dem Inneren der
Zelle an der Zelloberfläche präsentieren (Abb.1). So können T-Zellen mit ihren T-Zellrezeptoren die
Sequenz dieser Peptide überprüfen und gegebenenfalls eine Immunantwort einleiten. Dieses MHCPeptidpräsentationssystem ist in seiner Funktion einer funktionellen Genomanalyse vergleichbar, weil
es eine ständige Evaluation der Proteinsynthese in einzelnen Zellen erlaubt. Sollte also eine Körperzelle von einem Virus befallen sein, so werden mit einiger Wahrscheinlichkeit Teile von viralen Proteinen
auf MHC-Moleküle geladen und diese viralen Peptide an der Oberfläche den T-Zellen präsentiert, die
daraufhin das Fremdsein der Peptide erkennen und eine Immunantwort einleiten. Interessanterweise
hat sich gezeigt, dass MHC-Moleküle Peptide deshalb so besonders gut präsentieren können, weil
ihre Bindung an Peptide nur von wenigen charakteristischen Aminosäureresten im gesamten Peptid
abhängt. Diese so genannten Ankerreste sind für jedes MHC-Molekül spezifisch, sodass verschiedene
MHC-Moleküle aus dem großen Pool an intrazellulären Peptiden jeweils nur einen kleinen Teil binden
und an der Zelloberfläche präsentieren. Die weitere Sequenz dieser Peptide wird von T-Zellrezeptoren
bis ins kleinste Detail evaluiert, weil diese genaue Analyse für die Einleitung oder Unterdrückung von
Immunreaktionen von entscheidender Bedeutung ist. Das heißt also, dass die von MHC-Molekülen
gebundenen Peptide Informationen auf zwei Ebenen tragen. Zum einen deuten die Ankerreste an,
welches MHC-Molekül das betreffende Peptid präsentiert, zum anderen weist die genaue Sequenz des
gesamten Peptids auf seinen Ursprung zurück. Wichtig für die Immunüberwachung ist, dass die MHCPeptidkomplexe an der Zelloberfläche von Zellen fixiert werden, damit die Immunantwort lokalisiert
bleiben kann und gesunde Nachbarzellen verschont.
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Abb. 1: Für die intra-individuelle Unterscheidung zwischen verschiedenen Zellen müssen die MHC-Komplexe
auf der Zelloberfläche immobilisiert werden. Dies benötigt nur eine einzige genetische Modifikation des mutmaßlich ursprünglichen Systems, z. B. das Einfügen des Exons einer Transmembran-Domäne in das Gen, welches für
das lösliche Carrier-Protein codiert. Danach kann der Peptid/Carrier-Komplex von der Zelle freigesetzt werden,
um Peptid-Liganden für den späteren interindividuellen Vergleich verfügbar zu machen. Auf diese Weise kann
ein Mechanismus sowohl den inter-zellulären als auch den inter-individuellen Vergleich unterstützen.
Urheber: Max-Planck-Institut für Immunbiologie/Boehm
Steuerung der Partnerwahl
Ausgehend von der Idee, dass das MHC-Peptidpräsentationssystem für Entscheidungen bei sexuellen
Selektionsprozessen eine Rolle spielen könnte, fragen sich die Wissenschaftler, wie aus MHC-Peptidkomplexen Informationen über die genetische Individualität gewonnen werden können. Dazu ist es
zunächst erforderlich, dass die MHC-Peptidkomplexe von der Zelloberfläche abgetrennt werden, in
den Extrazellularraum gelangen und schließlich in Körperflüssigkeiten wie beispielsweise Urin auftauchen. Wie oben erwähnt ist für die Struktur von MHC-Molekülen charakteristisch, welche Ankerreste
von Peptiden sie binden können. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Ankerreste von Peptiden
auf die sie transportierenden MHC-Moleküle hinweisen. Da MHC-Moleküle vom genetischen Material der Zelle beziehungsweise des Individuums kodiert werden, kann aus der Art der Ankerreste
von MHC-Peptiden auf die Natur der MHC-Moleküle rückgeschlossen werden. Über die Analyse der
Ankerreste kann man Informationen über die genetische Identität von Zellen bzw. Individuen gewinnen. Aufbauend auf dieser Hypothese ist es den Freiburger Wissenschaftlern in Zusammenarbeit mit
den Arbeitsgruppen von Peter Brennan (Cambridge, USA), Heinz Breer (Stuttgart) und Frank Zufall
(Baltimore, USA) gelungen nachzuweisen, dass die Peptide aus MHC-Peptidkomplexen tatsächlich bei Entscheidungen im Zusammenhang mit sexueller Selektion genutzt werden [1]. Sie konnten
zeigen, dass MHC-Peptidliganden sensorische Neuronen im olfaktorischen System der Maus sequenzspezifisch erregen. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass MHC-Peptidliganden nicht nur für den TZellrezeptor Information über die Proteinsynthese in Zellen liefern, sondern gleichzeitig auch bei der
Erkennung genetischer Individualität eine Rolle spielen. In der Tat zeigte sich bei diesen Untersuchungen, dass es vor allem die Ankerreste der Peptide sind, die die Spezifität der Erkennung durch olfaktorisch-sensorische Neuronen bestimmen. In weiterführenden Untersuchungen konnten die Forscher
zudem nachweisen, dass synthetische Peptide tatsächlich in der Lage sind, abhängig von ihrer Sequenz
Reproduktionsentscheidungen von Mäusen zu beeinflussen.
Evolution: Von Partnerwahl zur Qualitätskontrolle
Um zu zeigen, ob dieser Mechanismus ein evolutionär konservierter ist, wurde in Zusammenarbeit mit
der Arbeitsgruppe von Manfred Milinski (Plön) untersucht, ob sich das ausgeprägte Wahlverhalten von
weiblichen Stichlingsfischen durch Zugabe von synthetischen Peptiden beeinflussen lässt. In der Tat
zeigten die Versuche, dass das Wahlverhalten von Weibchen durch die Zugabe von Peptiden in vorher-
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sagbarer Weise verändert wurde [2]. Mithilfe dieser Untersuchungen wurde nochmals nachgewiesen,
dass MHC-Peptide in der Tat zwei Funktionen im Organismus erfüllen: Zum einen erlauben sie dem
Immunsystem, über den Status von einzelnen Zellen Informationen zu erlangen (durch die Analyse
der MHC-Peptidkomplexe an der Zelloberfläche durch die T-Zellrezeptoren). Zum anderen erlaubt die
Analyse der Struktur dieser Peptide durch olfaktorische Neuronen Informationen zu gewinnen über
den genetischen Status eines Gegenübers, da die Struktur der Ankerreste von Peptiden Rückschlüsse
auf die Struktur von MHC-Molekülen und damit Rückschlüsse auf die Kodierungskapazität von Organismen zulassen.
Auch wenn diese Experimente nicht beweisen können, dass die Einführung des rekombinierenden
Systems zur Herstellung von Antigenrezeptoren auf ein Ur-Qualitätskontrollsystem aufbauen konnte,
legen die vorgestellten Untersuchungen doch nahe, dass Immun- und Nervensystem ähnliche molekulare Mechanismen zur Evaluierung von Zellen oder Individuen verwenden. Diese unerwartete mechanistische Verknüpfung von sensorischen Vorgängen im Immun- und Nervensystem ist ein starker
Hinweis darauf, dass diese beiden Systeme im Verlauf der Evolution immer stärker miteinander
verschränkt worden sind. Zukünftige Experimente werden zeigen, ob sich ein auf Peptiden basierendes
Qualitätskontrollsystem schon bei solchen Organismen findet, die in der Evolution unter den frühen
Vertebraten stehen, also unter Umständen Vorläufer des später daraus hervorgegangenen Qualitätskontrollsystems darstellen können.
Literaturhinweise
[ 1] Leinders-Zufall, T., P. Brennan, P. Widmayer, S. P Chandramani, A. Maul-Pavicic, M. Jäger,
X.-H. Li, H. Breer, F. Zufall and T. Boehm:
MHC Class I Peptides as Chemosensory Signals in the Vomeronasal Organ
Science 306, 1033-1037 (2004).
[ 2] Milinski, M., S. Griffiths, K. M. Wegner, T. B. H. Reusch, A. Haas-Assenbaum, and T. Boehm:
Mate choice decisions of stickleback females predictably modified by MHC peptide ligands
Proc. Natl. Acad. Sci. USA 102, 4414-4418 (2005).
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