seyler-f 1..224 - Verlag Karl Alber

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SEuL 24 (48642) / p. 1 /18.12.14
Frédéric Seyler
Fichtes »Anweisung
zum seligen Leben«
VERLAG KARL ALBER
A
SEuL 24 (48642) / p. 2 /18.12.14
Die »Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre«,
hervorgegangen aus den Berliner Vorlesungen von 1806, ist Fichtes
wichtigste religionsphilosophische Abhandlung. Zusammen mit den
»Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters« und den Vorlesungen
»Über das Wesen des Gelehrten« bildet sie die populäre Darstellung
seines Systems der Wissenschaftslehre in dessen Vollendungsphase.
Dabei steht sie in einem besonders engen Zusammenhang mit der
wichtigen, 1804 vorgetragenen Neufassung der »Wissenschaftslehre«.
Fichtes »Anweisung« soll hier aus dieser philosophischen Perspektive
heraus kommentiert und Schritt für Schritt analysiert werden. Nicht
zuletzt soll damit auch sein berühmter Ausspruch: »Die Wissenschaft
hebt allen Glauben auf und verwandelt ihn in Schauen« in seinen systematischen Zusammenhängen erschlossen werden.
Der Autor:
Frédéric Seyler lehrt Philosophie an der DePaul University Chicago.
Buchveröffentlichungen: Mitübersetzer von Fichtes Anweisung zum
seligen Leben ins Französische (Paris: Vrin 2012), Eine Ethik der Affektivität: Die Lebensphänomenologie Michel Henrys (Freiburg i. Br.:
Alber 2010).
SEuL 24 (48642) / p. 3 /18.12.14
Seele, Existenz und Leben
Band 24:
Frédéric Seyler
Fichtes »Anweisung
zum seligen Leben«
Ein Kommentar zur
Religionslehre von 1806
Verlag Karl Alber Freiburg / München
SEuL 24 (48642) / p. 4 /18.12.14
Seele, Existenz und Leben
Herausgegeben von
Günter Funke und Rolf Kühn
in Zusammenarbeit mit dem
Institut für Existenzanalyse und Lebensphänomenologie Berlin
(www.guenterfunkeberlin.de)
sowie dem
Forschungskreis Lebensphänomenologie, Freiburg i. Br.
(www.lebensphaenomenologie.de)
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise GmbH, Trier
Herstellung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48642-9
SEuL 24 (48642) / p. 5 /18.12.14
»C’est la vie qui aime«
Alain
À
Bernard Hillard et Shoji Ishitsuka
gewidmet
SEuL 24 (48642) / p. 6 /18.12.14
SEuL 24 (48642) / p. 7 /18.12.14
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Erster Teil:
Theorie des seligen Lebens
1.
Vorlesung: Einleitung in die Seligkeitslehre . . . . . .
1. Leben ist Seligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Wahrhaftiges und scheinbares Leben . . . . . . .
3. Der Gedanke als Element des wahrhaftigen Lebens
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27
27
42
47
2.
Vorlesung: Warum ein populärer Vortrag? . . . .
1. Möglichkeit des populären Vortrages . . . . . .
2. Populärer und wissenschaftlicher Vortrag . . . .
3. Der populäre Vortrag im gegenwärtigen Zeitalter
.
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53
53
55
59
3.
Vorlesung: Seins- und Daseinslehre . . . . . . . . . . . .
1. Denken und Meinen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Vollzug des Denkens an den »höchsten Elementen
der Erkenntnis« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
69
4.
Vorlesung: Einheit und Mannigfaltigkeit . . . . .
1. »Es ist außer Gott nichts da, denn das Wissen«
2. Die Entstehung der Mannigfaltigkeit . . . . . .
3. Das »Als«: Prinzip der Mannigfaltigkeit . . . .
86
86
90
91
5.
Vorlesung: Die Fünffachheit der Weltansicht . . . . . . . 99
1. Die Ansicht der Sinnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 101
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Inhalt
2.
3.
4.
5.
6.
Die Ansicht der Legalität . . . . .
Die Ansicht der höheren Moralität
Die Ansicht der Religion . . . . .
Die Ansicht der Wissenschaft . . .
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Vorlesung: Interpretation des Johannes-Evangeliums . . .
1. Methodologische Vorgaben . . . . . . . . . . . . . .
2. Die Abwehr des Schöpfungsgedankens zugunsten des
ewigen Logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Metaphysische und historische Wahrheit (I) . . . . . .
4. Beilage zur 6. Vorlesung: Metaphysische und historische
Wahrheit (II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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102
103
104
107
. 120
. 120
. 124
. 128
. 131
Zweiter Teil:
»Der Theorie lebendiger Besitz«
7.
Vorlesung: Der Affekt auf den »niederen Standpunkten« . 139
1. Affektlosigkeit und geistige »Nicht-Existenz« . . . . . . 139
2. Der Affekt des Seins in den Standpunkten der Sinnlichkeit
und der Legalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
8.
Vorlesung: Der Affekt auf den höheren Standpunkten . . .
1. Der Einheitspunkt aller Spekulation . . . . . . . . . . .
2. Die Freiheit der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Der höchste Akt der Freiheit: Das Aufgeben des Glaubens
an die eigene Selbständigkeit . . . . . . . . . . . . . .
4. Das Verhältnis zur Sinnenwelt und der Übergang zur
höheren Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
149
153
Vorlesung: Individuelle Bestimmung und Tugend . . . . . .
1. Der individuelle Anteil an der übersinnlichen Welt . . .
2. Wahre Religiosität als Tugend . . . . . . . . . . . . . .
3. Tugendhaftes Handeln in der sinnlichen Welt . . . . . .
167
167
171
177
9.
8
157
164
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Inhalt
10. Vorlesung: Die Liebe und der moralisch-religiöse Mensch . 181
1. Die Liebe: Mittelpunkt des wahrhaftigen Lebens . . . . . 181
2. Tiefere Charakterisierung des moralisch-religiösen
Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
11. Vorlesung: Die Überwindung des gegenwärtigen Zeitalters . 196
Ausblick: Die phänomenologische Weiterführung der Lebensund Seligkeitslehre durch Michel Henry . . . . . . . . . . . .
1. Affektivität und Intentionalität: Wesensunterschied und
Fundierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Affektive Gewissheit und intentionale Evidenz:
Die Selbstbezüglichkeit des letzten Grundes . . . . . .
3. Wie ist Lebensphänomenologie möglich? . . . . . . .
4. Die Lebendigen und das Leben . . . . . . . . . . . .
5. Seligkeitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 201
. 203
.
.
.
.
204
207
209
212
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Register
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
9
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Einleitung
Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre erschien Ende April 1806, also kurz nach Beendigung der Vorlesungen,
die Fichte zu diesem Thema jeweils einstündig vom 12. Januar bis zum
30. März im runden Saal der Berliner Akademie der Wissenschaften
hielt. Schon die Vorlesungsankündigung hatte, wahrscheinlich auch
aufgrund des ungewöhnlichen Titels, bei Fichtes Gegnern für Spott
gesorgt. So schrieb z. B. Krug: »Anweisung zum seeligen Leben – für
einen Friedrichsd’or. Neidenswerthe Berliner! Für fünf Thaler könnt
ihr seelig werden!« 1 Auch die Wertschätzung der christlichen Religion
und die philosophische Auslegung des Johannes-Evangeliums, die für
Fichtes Religionslehre zentral sind, mussten zu Spekulationen Anlass
geben, und das gerade bei einem Philosophen, dem noch einige Jahre
zuvor Atheismus vorgeworfen wurde und der im Zuge dieser Anklage
seine Anstellung als Professor in Jena verloren hatte. 2
Bei den Reaktionen auf das Erscheinen der Anweisung stand u. a.
die Frage nach der allgemeinen Kontinuität und Konsistenz des fichteschen Denkens im Vordergrund, d. h. vor allem die der Vereinbarkeit
des Jenaer Systementwurfs mit der neuen populären Lehre. Da aber die
FiG. 6.2, 666. Band 9 der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, herausgegeben von R. Lauth und H. Gliwitzky, enthält neben Fichtes Anweisungsschrift auch eine ausführliche Darstellung der Rezeption der Anweisung durch
Fichtes Zeitgenossen. Vgl. GA I, 9, 3–44.
2 Ausgelöst wurde der sogenannte Atheismusstreit 1798 durch einen Aufsatz von Fr. K.
Forberg in dem von Fichte und Niethammer herausgegebenen Philosophischen Journal.
Fichte sah sich genötigt dem Aufsatz eine kurze Abhandlung beizufügen, die den Titel
»Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung« trug. Anstoß
erregte dabei Fichtes Idee, wonach die Vorstellung eines personalen und mit Bewusstsein ausgestatteten Gottes eine unzulässige Projektion unserer endlichen Selbsterfahrung auf das Absolute sei. Die weiteren Umstände, die zum Verlust der Jenaer Professur
führten, schildert ausführlich z. B. W. G. Jacobs, Johann Gottlieb Fichte. Eine Biographie. Berlin: Insel 2012, 98–120.
1
11
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Einleitung
wichtigen Ausarbeitungen der Wissenschaftslehre, die 1805 in Erlangen und vor allem 1804 in Berlin vorgetragen wurden und erst nach
Fichtes Tod im Druck erschienen, den Rezensenten unbekannt waren,
mussten diese ihr Urteil auf mehr als fünf Jahre zurückliegende Ausführungen Fichtes basieren. Die These von der Kontinuität der fichteschen Lehre wurde insbesondere von Herbart und den Brüdern Schlegel vertreten. So sieht z. B. August Wilhelm Schlegel 1809 Fichtes
philosophische Entwicklung als bezeichnend für die Hinwendung des
Deutschen Idealismus zum Religiösen: »Hatte er sich nicht die […]
Anklage wegen des Atheismus […] zugezogen […]. Und seitdem hat
er sich alle Ausdrücke der heil. Schrift zugeeignet, […] und im Anfang
des Evangeliums Johannis fand er das Wesentliche der W.L. wieder.
Indessen was F. betrifft so will ich gern seiner Versicherung glauben,
dass er bey dieser scheinbaren Umwandlung immer noch auf dem alten
Flecke steht«. 3 Tatsächlich hatte Fichte in der Vorrede zur Anweisung
die Kontinuität des eigenen Werkes beansprucht. 4
Demgegenüber war es vor allem Schelling, der Fichte nicht nur
der Inkonsistenz, sondern kurzerhand auch des Plagiats an seinem eigenen, 1804 erschienenen Philosophie und Religion bezichtigte: »Wäre
das Fichtesche System eines allgemeingültigen Zusammenhangs fähig,
und wüsste er selbst ihm diesen zu geben, so würde er wohl keinen
Augenblick anstehen, seine Wissenschaftslehre herauszugeben, und
dies anständiger finden als unter der Form populärer Vorlesungen die
verbesserten, und entlehnte, Ideen als die ursprünglichen und die eigenen ins Publikum zu bringen«. 5 Ein derartiges Polemisieren verkennt
jedoch, dass der Übergang von der wissenschaftlichen zur populären
Form des Vortrages – ein Übergang, den die zweite Vorlesung der Anweisung explizit thematisiert – notwendig eine Einbuße an philosophischer Systematik zur Folge hat. Und es bleibt ein Urteil in Unkenntnis
über die entscheidende Entwicklung der Wissenschaftslehre durch die
FiG. 4, 222.
Vgl. GA I, 9, 47. Interessant ist auch die Entwicklung von Fichtes Position dazu im
Briefwechsel mit Schelling. Während Fichte in seinem Brief vom 27. Dezember 1800
»eine noch weitere Ausdehnung der Transzendentalphilosophie, selbst in ihren Prinzipien« in Aussicht stellt (GA III, 4, 406), heißt es am 31. Mai 1801: »Es fehlt der Wissenschaftslehre durchaus nicht in den Prinzipien, wohl aber fehlt es ihr an Vollendung; die
höchste Synthesis nemlich ist noch nicht gemacht, die Synthesis der Geisterwelt«
(GA III, 5, 45).
5 SW I, 7, 48.
3
4
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Einleitung
drei Berliner Vortragszyklen 1804. Dabei nimmt der Zweite Vortrag
eine Schlüsselstellung ein, insofern dieser nach dem gegenwärtigen
Stand der Forschung die systematischste Ausarbeitung der fichteschen
prima philosophia nach 1800 darstellt. Auch spätere Versionen der
Wissenschaftslehre werden den dort eingenommen Standpunkt nicht
überholen. 6 Aus diesen beiden Punkten folgt aber auch, dass ein
grundlegend-systematisches Verständnis der Anweisung im Rahmen
von Fichtes Philosophie den Bezug zur Wissenschaftslehre 1804 notwendig und zentral einschließen muss.
Dadurch vervollständigt sich das Bild von Fichtes Schaffen beträchtlich, auch im Hinblick auf den Zusammenhang von Religionsphilosophie und Wissenschaftslehre. Schon 1786 hatte Fichte eine Religion der lebendigen inneren Überzeugung gegenüber einer Religion
des Verstandes verteidigt und damit die entscheidende Rolle der Affektivität für das religiöse Leben hervorgehoben. 7 Dies musste aber im
Widerspruch zum Determinismus stehen, von dem er sich erst 1790
durch die Lektüre von Kants Kritik der praktischen Vernunft endgültig
loslöste. 8 Der noch im Stile Kants verfasste Versuch einer Kritik aller
Offenbarung erschien anonym 1792 und wurde zunächst irrtümlich
für eine Schrift Kants gehalten. Als der Name des Autors bekannt wurde, wurde Fichte über Nacht berühmt. Dabei enthält der Versuch noch
ein stark eudämonistisch geprägtes Gottesbild, das in der Anweisung
heftig kritisiert werden wird: Die Vorstellung eines Gottes, der unsere
Tugend belohnt, ist noch Ausdruck des Standpunktes der Sinnlichkeit,
Die Wichtigkeit dieses Vortrages für die Populärphilosophie Fichtes haben in letzter
Zeit vor allem die Arbeiten von H. Traub, J. G. Fichtes Populärphilosophie 1804–1806.
Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromman-Holzboog 1992; Ch. Asmuth, Das Begreifen des
Unbegreiflichen. Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromman-Holzboog 1999 sowie P. L. Oesterreich u. H. Traub, Der ganze Fichte. Stuttgart: Kohlhammer 2006 hervorgehoben. Der
Stand der Forschung zur Wissenschaftslehre 1804 beruht nicht zuletzt auf den wichtigen Arbeiten von M. Guéroult, L’évolution et la structure de la doctrine de la science
chez Fichte. 2 Bde. Hildesheim/New York: Olms 2013 (1. Auflage: Paris 1930), W. Janke, Fichte – Sein und Reflexion. Berlin: de Gruyter 1970 und J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach J. G. Fichtes Wissenschaftslehre 18042 .
Hamburg: Meiner 1977. Vgl. neuerdings den Sammelband von J.-Ch. Goddard u.
A. Schnell (Hg.), Sein und Erscheinung. J. G. Fichte: Die Wissenschaftslehre 1804.
Paris: Vrin 2009.
7
Vgl. GA II, 1, 67 ff. sowie den Überblick von H. Verweyen, »Fichtes Religionsphilosophie. Versuch eines Gesamtüberblicks«, in: Fichte-Studien, Bd. 8, 1995, 193–224.
8
Vgl. die Briefe an F. A. Weisshuhn (GA III, 1, 67 f.) sowie an M. J. Rahn (GA III, 1,
169 ff.).
6
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SEuL 24 (48642) / p. 14 /18.12.14
Einleitung
welche Gott für unser Wohlergehen instrumentalisiert, und keineswegs wahre Religiosität, die das sinnliche Wohl dem Willen Gottes
bedingungslos unterordnet.
Auch hatte Fichte zu dieser Zeit sein eigenes System der Freiheit
noch zu entwickeln, und zwar im Sinne einer Vollendung der Transzendentalphilosophie. Nach Fichte fügen sich nämlich die drei Kritiken
Kants nicht zu einem systematischen Ganzen, es fehlt ihnen ein Einheitsgrund, aus dem die Mannigfaltigkeit wirklichen Bewusstseins abgeleitet, d. h. genetisch aufgezeigt werden kann. 9 Die Suche nach dieser
letztgültigen Einheit wird auch 1804 zentral für die Neuorientierung
der Wissenschaftslehre sein. Für den 1794 erarbeiten Ansatz der Wissenschaftslehre als System der Freiheit musste diese Einheit noch im
reinen Ich liegen, und zwar als Grund des in der Opposition von Ich
und Nicht-Ich entstehenden faktischen Bewusstseins. Mit Blick auf die
Freiheit steht dort das praktische Soll der Angleichung des Nicht-Ich an
das Ich im Vordergrund. 10 Diese Perspektive wird nach 1800, insbesondere in der Wissenschaftslehre 1804, entscheidend korrigiert: der
Einheitsgrund ist nicht mehr das Ich, sondern das absolute Sein als
göttliches Leben. Dies musste auch dem Sollensgesetz einen neuen
Ausdruck als Offenbarung Gottes in endlicher Vernunft geben. Und
Mit seinem offenen Brief vom 28. August 1799, der im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung erschien, distanziert sich Kant endgültig von Fichte und bezeichnet Fichtes Wissenschaftslehre als »gänzlich unhaltbares System«. Sie sei des Weiteren
»bloße Logik, welche mit ihren Prinzipien sich nicht zum Materialen versteigt […], aus
welcher ein reales Object herauszuklauben vergeblich und daher auch nie versuchte
Arbeit« sei (FiG. 2, 217 f.). Auch Jacobi, der im Vorfeld des Atheismusstreites eine nicht
unwichtige Rolle spielte, hatte in seinem ebenfalls offenen Brief von 1799 Fichtes Wissenschaftslehre vorgeworfen, Ausdruck des Nihilismus zu sein. Vgl. auch G. Zöller,
Fichte’s Transcendental Philosophy. The Original Duplicity of Intelligence and Will.
Cambridge: Cambridge University Press 1998, 20–24.
10 So schreibt z. B. Fichte in Anspielung auf das kantische Gottespostulat in den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten von 1794/95: »Die vollkommene Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst, und – damit er mit sich selbst übereinstimmen könne – die Übereinstimmung aller Dinge ausser ihm mit seinen notwendigen
praktischen Begriffen von ihnen, – den Begriffen, welche bestimmen, wie sie sein sollen, – ist das letzte höchste Ziel des Menschen. Diese Übereinstimmung überhaupt ist,
dass ich in die Terminologie der kritischen Philosophie eingreife, dasjenige, was Kant
das höchste Gut nennt: welches höchstes Gut an sich, wie aus dem obigen hervorgeht,
gar nicht zwei Teile hat, sondern völlig einfach ist: es ist – die vollkommene Übereinstimmung eines vernünftigen Wesens mit sich selbst.« (GA I, 3, 31 f.)
9
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Einleitung
es musste Fichte zu einer ausgereiften Fassung seiner Religionslehre
bewegen.
Fichtes Anweisung enthält zum einen eine Theorie des seligen Lebens,
zum anderen will sie aber aufzeigen, dass der »lebendige Besitz« dieser
Theorie gerade mit der Seligkeit identisch ist. Eine solche Gliederung 11
ist Ausdruck der zwei Schwerpunkte, welche die Religionslehre von
1806 durchweg prägen: Wissen und Liebe. Ein Primat des Wissens besteht zunächst für das selige Leben insofern, als dieses durch eine Ansicht der Welt bedingt ist. Das wird die Theorie der Fünffachheit der
Weltansichten methodisch ausführen und dabei den Standpunkt der
Religion als nicht zu überbietendes Erfassen der Seligkeit herausstellen.
Ausschlaggebend für die religiöse Weltsicht ist die Erkenntnis,
wonach »Gott allein, ist und außer ihm nichts« (110). Die gesamte
Welt und auch wir selbst vernichten uns am Absoluten, der alleinigen
Realität Gottes. Alles andere wird zum Schein, somit ist das selige Leben ein Leben, welches in das göttliche aufgegangen ist und die Liebe
zum Veränderlichen und Mannigfaltigen gegen die Liebe zum einen
Ewigen eingetauscht hat. Zugleich ist damit aber der anscheinend mit
dem Wissen konkurrierende Primat der Liebe angesprochen. Denn die
Religion würde zur leeren Abstraktion verkommen, wenn sie nur in
der Lage wäre, das Absolute mit Hilfe des Verstandes kalt und indifferent zu denken, ohne affektiv in diesem aufzugehen. Daraus folgt, dass
auch die Wissenschaft als der höchste Standpunkt die Religion nicht zu
überbieten vermag. Zwar ist die Wissenschaft unerlässlich, um zu verstehen, wie die Welt in ihren mannigfaltigen Gestaltungen aus göttlicher Einheit entsteht, dass dies aber der Fall ist, ist bereits eine Gewissheit für den religiösen Menschen, und eine solche Gewissheit ist
die entscheidende Bedingung für das selige Leben. Nun ist die Gewissheit des Religiösen lebendiger Vollzug der Gottesliebe, welche das Wissen übersteigt. Im seligen Leben liebt Gott sich selbst im Menschen,
der sich ihm hingibt. Die Liebe selbst ist dabei »höher, denn alle Reflexion« (166), mehr noch: sie ist der lebendige Ursprung und Grund
Dabei stellen die ersten zwei Vorlesungen eine Einleitung dar, die Vorlesungen drei
bis fünf bilden die eigentliche Theorie des seligen Lebens, während die 6. Vorlesung sich
dem spezifischen Thema des Johannes-Evangeliums widmet und dadurch eine Mittelstellung zwischen den zwei Hauptteilen einnimmt.
11
15
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Einleitung
aller Reflexion, das ewige Band zwischen Gott und dem Menschen, und
damit ein Urfaktum, das nicht weiter zu begreifen ist denn als Unbegreifliches.
In der Religion wird diese Wahrheit gelebt, in der Wissenschaft
wird sie mit dem Wie des Welterscheinens in Zusammenhang gebracht
und als solche begriffen. Deshalb ist der Mittelpunkt des wahrhaftigen,
d. h. seligen Lebens die Liebe und nicht der zugleich göttliche Einheit
und weltliche Vielheit umfassende Mittelpunkt der Wissenschaftslehre. Zwar entwirft der Mensch immer auch ein Urbild des Absoluten als
Objekt seiner Liebe und sehnt sich nach diesem, doch selbst ein Urbild,
das der Wahrheit in der Form des Begriffes entspricht, bleibt von der
Realität des Absoluten getrennt. Diese Trennung zu überwinden, vermag nur die tätige Liebe zu Gott, die sich im Handeln des von Gott
Begeisterten ausdrückt. Bekanntlich ist es die 10. Vorlesung der Anweisung, welche die Liebe als Grund der Reflexion aufstellt, und damit
das selige Leben von einer der Reflexion unzugänglichen Offenbarung
abhängig zu machen scheint.
Die Wissenschaftslehre 1804 hatte ihrerseits die Realität nicht nur
als inwendiges Licht und Leben, sondern auch als »Grabstätte des Begriffs« erschlossen. Denn der Begriff besitzt zwar die Form der Einheit
in Vielheit, insofern er eines durch das andere expliziert, sein Inhalt
aber und seine Lebendigkeit können ihm nicht durch die bloße Form
zukommen, sondern sie müssen ihren tieferen Grund jenseits des Begriffes finden, in einer dem absoluten Leben vorbehaltenen Selbstbewegung. So hat der Begriff »bei aller Anlage zum Leben, dennoch
in sich selber nur den Tod«. 12 Doch eine solche Trennungslinie läuft
Gefahr, Liebe und Reflexion, Licht und Begriff vereinfachend entgegenzusetzen und damit sowohl die Religions- als auch die Wissenschaftslehre zu verfehlen. Erstere entwickelt einen Liebes- und Lebensbegriff, der die reflexive Form der Ichheit und des Bewusstseins nicht
verneint, sondern begründet. Liebe und Leben sind demnach nur in
dieser Form möglich, weil ein liebendes Erfassen eine Entzweiung voraussetzt, die gerade durch das spaltende Bewusstsein gegeben ist.
Auch kann die Vereinigung mit Gott diese Form nicht aufheben, ohne
das Ich selbst zu zerstören. Daher ist die Liebe immer die Einheit einer
nicht aufzuhebenden Zweiheit. Des Weiteren ist die Liebe mit den konkreten Bestimmungen der Reflexion in Beziehung zu setzen, insofern
12
GA II, 8, 160.
16
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Einleitung
sie diese nicht negiert, sondern mit Leben erfüllt. Es ist die Kraft der
Liebe, die eine Teleologie bestimmt, welche die Reflexion im Rahmen
der Fünffachheit zu den höheren Standpunkten der Weltansicht voranzutreiben vermag. Das selige Leben gibt es nur in der Gottesliebe, doch
geht dies einher mit dem Einnehmen eines Standpunktes der Reflexion, nämlich dem der Religion. Da die Liebe Gottes zu uns als ewiges
Band immer gegeben ist, liegt der Unterschied zwischen Seligkeit und
Unseligkeit in der Erkenntnis, d. h. letztendlich im Wissen darum, dass
Gott in uns lebt. Dass eine solche Erkenntnis auch affektiv in der Liebe
zu Gott gelebt werden muss, hebt dabei die Notwendigkeit der Reflexion als Ansicht nicht auf.
In der Wissenschaftslehre 1804 ist diese Notwendigkeit offenkundig. Denn ihr Resultat besteht je gerade im Begreifen des Unbegreiflichen als Unbegreiflichen. Doch um sich an der Urrealität des Absoluten
vernichten zu können, muss der Begriff zuvor gesetzt und durchdrungen worden sein. Die Grenze des Wissens, das inwendige göttliche Leben, kann nur vom Wissen selbst zur Klarheit erhoben werden. Diese
komplexe Balance zwischen Liebe und Reflexion sowie zwischen Licht
und Begriff ist entscheidend mit der Seins- und Daseinslehre Fichtes
verbunden. Denn das absolute Sein und Leben ist nicht nur, sondern es
ist, als nicht weiter einzusehendes Urfaktum, auch notwendig da. Das
Dasein Gottes ist aber wiederum nichts anderes als das Wissen, sodass
der religiöse Grundsatz ergänzt werden muss: es gibt außer Gott nichts
als das Wissen. Mithin ist die Wissenschaftslehre nicht nur eine Konstruktion des Absoluten, sondern sie beansprucht dessen Selbstkonstruktion zu sein.
In der Religionslehre ist der Wille des von Gott Begeisterten ganz
in den Willen Gottes übergangen, sodass es Gott ist, der in seiner Individualität lebt und handelt. Die Form des Bewusstseins ist nicht aufgehoben, dafür aber die Entzweiung des Willens und der Liebe. In der
lebendigen Religion entspricht unsere Liebe zu Gott seiner eigenen
Liebe zu sich auf eine nicht zu vervollkommnende Weise. Von hier
aus versteht sich auch Fichtes dreifache Neuformulierung des johanneischen Logos als Vernunft, Form und schließlich als Liebe: »Im Anfange: höher denn alle Zeit, und absolute Schöpferin der Zeit, ist die
Liebe« (168). Die Gottesliebe ist, phänomenologisch ausgedrückt, als
höchster Einheitsgrund und als transzendentale Bedingung jeglichen
Erscheinens ausgemacht. Damit ist eine Überwindung des Dilemmas
angestrebt, das jeder Philosophie begegnet, die nach absoluter Einheit
17
SEuL 24 (48642) / p. 18 /18.12.14
Einleitung
sucht und nicht auf einen unüberbrückbaren Dualismus ausweichen
will: »Dies war eben die Schwierigkeit aller Philosophie, die nicht Dualismus sein wollte, sondern mit dem Suchen der Einheit Ernst machte,
dass entweder wir zu Grunde gehen mussten, oder Gott. Wir wollten
nicht, Gott sollte nicht!« 13 Explizit ist hier der Bezug Fichtes auf Spinoza, denn wie könnte ein Absolutes, welches weder Leben noch Wissen ist, sondern Substanz, d. h. eben »Sein ohne Leben«, es überhaupt
zu einem absoluten Wissen kommen lassen? Diese Schwierigkeit kann
für Fichte nur im Rahmen einer Transzendentalphilosophie gelöst werden, welche das absolute Leben als Bedingung der Möglichkeit des Wissens verstanden hat.
Dennoch stellt sich hier die Frage: Wie erscheint die Liebe und was
erscheint durch die Liebe? Der Anweisung zufolge erscheint sie in der
menschlichen Existenz als Seligkeit, wie aber offenbart sich diese dem
Menschen, wenn sie doch höher als jede Reflexion und damit jenseits
des spaltenden Bewusstseins sein soll? Konsistent mit Fichtes Wissenschafts- und Religionslehre ist die Annahme, dass wir Gottes Liebe zu
uns nicht weiter charakterisieren können denn als ewiges Band Gottes
mit seinem Dasein im Menschen. Warum lässt sich dann aber das Erlebnis der Liebe im endlichen Dasein als »innere Offenbarung« bezeichnen und was ist der Erscheinungsmodus einer solchen Offenbarung, welche den von Gott Begeisterten mit einer absoluten
Gewissheit erfüllt? Einen ersten Hinweis gibt bereits die 1. Vorlesung,
wenn sie die Liebe als Genuss ihrer selbst bezeichnet. Genügen kann
dieser Hinweis jedoch nicht, denn zum einen folgt aus ihm wiederum
die Frage nach dem Wesen bzw. dem Erscheinungsmodus des Genusses,
zum anderen ist die Liebe auf allen Standpunkten der Weltansicht gegeben, und nicht nur in der »inneren Offenbarung« der religiösen
Weltansicht. Diese bleibt in ihrem Erscheinen als Offenbarung also
weiterhin erklärungsbedürftig.
Die 9. Vorlesung hat eine solche Charakterisierung gewagt, z. B.
als Handeln, welches an sich selbst Gefallen und höchste Erfüllung
findet, ohne dabei die Limitierungen solcher Beschreibungen außer
Acht zu lassen: »Wem wirklich also seine eigentümliche höhere Bestimmung aufgegangen ist, der weiß es, wie sie ihm erscheint; und er
kann nach Analogie schließen, wie es im allgemeinen mit andern sich
verhält, falls auch ihnen ihre höhere Bestimmung klar werde. Wem sie
13
GA II, 8, 114.
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nicht aufgegangen ist, dem ist hierüber keine Kunde beizubringen; und
es dienet zu nichts, mit dem Blinden von Farben zu reden.« (160) Die
damit angesprochene Entdeckung des individuellen Anteils am übersinnlichen Sein, die Fichte hier im Bereich der höheren Moralität ansiedelt, ist also durch Selbstbezüglichkeit gekennzeichnet. Das heißt
aber auch, dass deren Beschreibung notwendig einen äußerlichen Charakter beibehält, der nicht dem eigentlichen Wesen der »inneren Offenbarung« und Gewissheit entspricht. Sie hat nur approximativen
Wert für den, dem diese Offenbarung bereits auf einem anderen Weg
zuteil wurde. Das kann aber nur bedeuten: die Offenbarung der (Gottes-)Liebe erfolgt jenseits des objektivierenden Bewusstseins und der
spaltenden Reflexion.
Die Liebe ist »Quelle aller Gewissheit, und aller Wahrheit, und
aller Realität« (167), d. h. Gewissheit Gottes und seines Daseins in uns.
Jenseits dieser philosophierenden Deutung im Begriffe findet »im lebendigen Leben« keine Deutung der Liebe statt, sondern sie ist stets
unmittelbar gegenwärtig im Halten des Geliebten, »wie es in sich selber ist, weil sie ja nichts anderes ist, als das Sichselbsthalten des absoluten Seins« (ebd.). Sie ist deshalb auf eine der Reflexion fremde Weise
gegeben und kann von dieser nicht als solche eingeholt werden. Dennoch scheint Fichte den Schritt zu einer der Liebe eigenen Erscheinungsweise, die zugleich material-qualitatives Erfassen des Absoluten
wäre, nicht gewagt zu haben. Zumindest in der Wissenschaftslehre
1804, aber auch in der Anweisung selbst, wird das Erscheinen stets
unter die Bedingung des Bewusstseins gestellt. In der Erlanger Wissenschaftslehre 1805 wird ein material-qualitatives Erfassen des Absoluten sogar ausgeschlossen, 14 und es bleibt eine der interessantesten Fragen der gegenwärtigen Fichte-Forschung, ob sich beim späten Fichte
eine Lösung dieses Problems finden lässt. In der zeitgenössischen Phänomenologie ist es Michel Henry, der dieses Problem im Rahmen seiner Rezeption der Anweisungsschrift klar gesehen hat. 15 Dies führt ihn
dazu, innerhalb der durch Husserl etablierten phänomenologischen
Tradition einen Ansatzpunkt für eine Phänomenologie reiner, d. h.
»Das Absolute als Absolutes (nicht freilich material, sondern formal zu verstehen),
wollen wir ergreifen: und zwar keineswegs in seinem inneren Sein, was uns wohl
durchaus unmöglich sein dürfte ohne es selbst zu werden, sondern in seiner Existenz«
(GA II, 9, 229).
15 M. Henry, L’essence de la manifestation. Paris: PUF 1963, 2 1990.
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vor-intentionaler Affektivität zu entwickeln. Henrys radikale Lebensphänomenologie ist daher durchaus als eine mögliche Weiterführung
der fichteschen Lebens- und Seligkeitslehre anzusehen. 16
Wie bereits erwähnt, ist innerhalb von Fichtes mittlerer Schaffensperiode 17 das Verhältnis zwischen der Anweisung und der Wissenschaftslehre 1804 von zentraler Bedeutung für das Verständnis der populären Religionslehre. Dabei tun sich aber durchaus Unterschiede auf,
die über den der Vortragsform hinausgehen und inhaltlicher Natur
sind. Eine wichtige Problematik ist hier der Status des Standpunktes
der Religion, der in der Anweisung mit dem seligen Leben gleichgesetzt wird, ohne dass dieses einer weiteren Steigerung durch den
Standpunkt der Wissenschaft bedürfen würde oder auch nur fähig wäre. Die Seligkeit ist im wahrhaft religiösen Leben ganz gegeben, die
Wissenschaft ermöglicht nur eine allseitige Klärung des Wie im Rahmen einer genetisch verfahrenden Wahrheits- und Erscheinungslehre.
Die Wissenschaftslehre ist damit auf die Rolle der Durchdringung
einer Erkenntnis reduziert, welche die Religion bereits besitzt und lebt.
Nur wer die Gewissheit der Religion noch nicht besitzt, bedarf zumindest aus praktisch-moralischer Sicht der Aufklärung durch die Philosophie. Eine solche Aufgabe stellt sich dem Glauben nicht. Dieser »ruht
unerschütterlich in dem Dass seiner Einsicht, ohne des Wie zu bedürfen« (95). Sie kann sich nur demjenigen stellen, der bisher entweder an
den Schein des Mannigfaltigen geglaubt hat oder zwischen diesem und
dem Glauben an das Eine noch »herumgeworfen« wird. Mehr noch: die
Durchdringung des Wie gehört selbst gar nicht zur Aufgabe der populären Religionslehre, also der Anweisung, sondern sie ist dem wissenschaftlichen Philosophieren vorbehalten.
Vgl. die einführende Darstellung dazu im Ausblick.
Die Periodisierung von Fichtes Werk ist weiterhin Gegenstand von Diskussionen in
der Fichte-Forschung. Anerkannt ist eine Einteilung in drei Hauptperioden, so unterscheidet z. B. J. Drechsler, Fichtes Lehre vom Bild. Stuttgart: Kohlhammer 1955, 34 f.,
eine erste Periode von 1794 bis 1798, eine mittlere Periode von 1800 bis 1808 und die
Spätlehre von 1810 bis 1813. Dieser Ansatz entspricht am besten der Entwicklung und
den Einschnitten in Fichtes Leben, auch wenn sich die Frage nach der Kontinuität zwischen den verschiedenen Perioden weiterhin stellt und andere Kriterien unterschiedliche Einteilungen ermöglichen, vgl. z. B. M. Guéroult, L’évolution et la structure de la
doctrine de la science; B. Bourgeois, L’idéalisme de Fichte. Paris: Vrin 1995. Der grundlegende Ansatz von Fichtes Philosophie wird von R. Lauth, »J. G. Fichtes Gesamtidee
der Philosophie«, in: Philosophisches Jahrbuch 71, 1963/64, 253–285 eindringlich dargestellt.
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Eine solche Einschränkung ist verständlich, sie wird aber problematisch, wenn die Wissenschaftslehre 1804 gerade die wissenschaftliche Durchdringung der Wahrheit zur Bedingung des absoluten
Wissens zu machen scheint, und damit zur Bedingung der Selbstoffenbarung des Absoluten. Dann wäre der religiöse Glaube für eine Offenbarung unzureichend, die ihrerseits wiederum die Seligkeit bedingen
soll. Nicht zuletzt wird damit das problematische Verhältnis von Glauben und Wissen angesprochen, und dies nicht nur in einer noch genauer auszuführenden Parallelsetzung der Anweisung mit der Wissenschaftslehre 1804, sondern auch textimmanent in der Anweisung
selbst. Denn auch hier wird sich eine Zweideutigkeit des Glaubensbegriffes zeigen, einerseits als Denken und Erkenntnis, ja sogar als
höchste Erkenntnis, andererseits aber als bloßer Glaube »auf fremde
Versicherung hin« (69), mit der Folge, ihn in Bezug auf Seligkeit und
Religionslehre zu diskreditieren. Diese Äquivokation muss berücksichtigt werden, um nicht in eine einseitige Auslegung der fichteschen Religionslehre zu verfallen. Das ist der Fall, wenn Letztere entweder auf
eine für die Vernunft undurchdringliche Liebesmystik oder im Gegenteil auf einen jeden Glauben ablehnenden rationalistischen Ansatz,
d. h. eine Art »philosophische Religion« reduziert wird.
Erst eine Gesamtdarstellung der Anweisung sowie vergleichende
Analysen mit dem Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre 1804 können ein differenzierteres Bild von Fichtes Position in dieser Hinsicht
geben. Ohne diese Darstellung vorwegzunehmen, muss darauf hingewiesen werden, dass dem »Glauben« in der Anweisung nicht nur eine,
sondern zwei kontextabhängige Bedeutungen zukommen. Einerseits
ist, wie die 5. Vorlesung verlautet, »die Religion, ohne Wissenschaft,
[…] irgendwo ein bloßer, demohngeachtet jedoch, unerschütterlicher,
Glaube: die Wissenschaft hebt allen Glauben auf, und verwandelt ihn
in Schauen« (112). Andererseits unterstreicht die Anweisung ganz eindeutig, dass es in der christlichen Religion zur Erkenntnis Gottes, d. h.
der Erfassung »der tiefsten Elemente und Gründe der Erkenntnis […],
in aller der Lauterkeit, und Reinheit, welche auch wir auf keine Weise
zu übertreffen vermögen« (69), gekommen sei. Der wissenschaftliche
Weg ist damit reduziert auf die Aufgabe der vollständigen Durchdringung einer bereits besessenen Wahrheit. Wenn daher Fichte von der
Verwandlung des Glaubens in ein Schauen der Wissenschaft spricht,
so ist hier mit Glauben gerade keine blinde Annahme von Grundsätzen
»auf Hörensagen und fremde Versicherung hin« (ebd.) gemeint, son21
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dern »die Einsicht, dass schlechthin alles Mannigfaltige in dem Einen
gegründet, und auf dasselbe gegründet sei« (112). Die Wissenschaft
führt zwar zur Einsicht in das Wie des Zusammenhangs zwischen
dem Einen und dem Mannigfaltigen, insofern aber bereits die christliche Religion Einsicht in die tiefsten Elemente der Erkenntnis ist, hat
sie nichts mit einer blinden und autoritätsgebundenen Annahme von
Grundsätzen zu tun.
Neben dem allgemeinen Verhältnis von Glauben und Wissen ist
eine Auslegung der Anweisung unter Bezugnahme auf die Wissenschaftslehre 1804 notwendig, um die Fünffachheit der möglichen
Weltansichten zu erschließen. Diese wird im 28. und letzten Vortrag
der Wissenschaftslehre 1804 eingeführt. Dabei stellt sich allerdings die
Frage, ob das, was Fichte dort als den dritten Standpunkt der Moralität
ausmacht, auch mit der »höheren Moralität«, dem dritten Standpunkt
der Anweisung, übereinstimmt oder nicht. Im eher lapidaren Kommentar zum dritten Standpunkt heißt es in der Wissenschaftslehre
1804: »So ist bei der Moralität als Prinzip allerdings auch ein Gott, aber
nicht um seiner selbst willen, sondern damit er über das Sittengesetz
halte, und hätten sie kein Sittengesetz, so bedürften sie keines Gottes;
und es sind ihnen Menschen außer sich, auch nur lediglich, damit sie
sittlich seien oder werden, und eine Sinnenwelt, lediglich als Sphäre
des pflichtmäßigen Handelns«. 18 Damit ist das Sittengesetz an erster
Stelle gesetzt. In der Anweisung hingegen ist das Gesetz der höheren
Moralität nicht nur ein das Vorhandene ordnendes, »sondern vielmehr
ein das Neue, und schlechthin nicht Vorhandene, erschaffendes Gesetz.
Jenes ist nur negativ, nur aufhebend den Widerstreit zwischen den verschiedenen freien Kräften, und herstellend, Gleichgewicht, und Ruhe:
dieses begehret die, dadurch in Ruhe gebrachte Kraft, wieder auszurüsten mit einem neuen Leben« (109).
In der höheren Moralität werden »das Heilige, Gute, Schöne« zum
absolut Realen, sie kommt damit einer materialen Bestimmung des
Gesetzes aufgrund eines höchsten Zwecks gleich, nämlich »die Menschheit […] in der Wirklichkeit zu dem machen, was sie, ihrer Bestimmung nach, ist, – zum getroffenen Abbilde, Abdrucke, und zur Offenbarung – des innern göttlichen Wesens« (ebd.). Wenn es aber in der
höheren Moralität bereits um die Offenbarung des innern göttlichen
Wesens geht, worin besteht dann der Unterschied mit dem Standpunkt
18
GA II, 8, 418.
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der Religion? Schließlich scheint ja Letztere gerade durch eine solche
Offenbarung definiert zu sein. Auch wird zu entscheiden sein, ob Fichte gar einen Zusammenschluss der drei letzten Standpunkte – höhere
Moralität, Religion und Wissenschaft – anvisiert oder ob sich auch diese drei höheren Standpunkte gegenseitig ausschließen. Für die erste
These spricht die Behauptung, wonach Religion und Wissenschaft im
Gegensatz zur höheren Moralität lediglich »betrachtend, und beschauend, keineswegs an sich tätig, und praktisch« sind (112), die wahrhafte
Religion jedoch nicht kontemplativ verbleiben darf, sondern tätig und
handelnd sein soll. Demgegenüber wird die zweite These durch eine
explizite Stellungnahme Fichtes gestützt: »eine höhere Weltansicht
duldet nicht etwa neben sich auch die niedere, sondern jede höhere
vernichtet ihre niedere, – als absolute, und als höchsten Standpunkt, –
und ordnet dieselbe sich unter« (109). Es wird sich herausstellen: die
Lösung des Problems erfolgt durch die Aufhebung des niederen Standpunktes beim Übergang in den nächst höheren, d. h. also durch eine
Überwindung, welche zugleich das Überwundene als untergeordnetes
Prinzip beibehält. Daher ist ein religiöses Leben immer auch »moralisch-religiös«, d. h. handelnd und tätig.
Wie diese einleitenden Ausführungen erkennen lassen, erfordert das
Verstehen von Fichtes Anweisung zum seligen Leben nicht nur eine
analytische Rekonstruktion des Anweisungstextes, sondern auch eine
Bezugnahme auf die Wissenschaftslehre, ohne die ein philosophisches
Erschließen der populären Religionslehre nicht möglich ist. Dies gilt
ganz besonders für die Wissenschaftslehre 1804, was aber den ergänzenden Rekurs auf andere Fassungen, vor allem aus der mittleren Periode, wie die Erlanger Wissenschaftslehre 1805 oder die Königsberger
Wissenschaftslehre 1807, keineswegs ausschließt. Ein solches Vorgehen kann somit auch auf eventuelle Diskrepanzen zwischen der wissenschaftlichen und der populären Lehre aufmerksam machen. Auch
die anderen populären Vorträge aus dieser Zeit, die Grundzüge zum
gegenwärtigen Zeitalter und die Vorlesungen Über die Bestimmung
des Gelehrten, müssen dabei berücksichtigt werden, insofern sie für
Fichte zusammen mit der Anweisung als »ihren hellsten Lichtpunkt«
ein Ganzes populärer Lehre darstellen. Der hier vorliegende Kommentar folgt daher dem Aufbau der Anweisung Schritt für Schritt. Der
Herausarbeitung und Analyse der in den einzelnen Vorlesungen enthaltenen Kernaussagen folgen weitergehende Ausführungen, die den
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oben genannten Kontext berücksichtigen, wobei die Zweite Vortragsreihe der Wissenschaftslehre 1804 den wichtigsten Bezugspunkt darstellt.
Dieser Text wird hier als Wissenschaftslehre 1804 gekennzeichnet
und nicht wie oft in der Forschungsliteratur mit WL-18042 , um sie von
den beiden anderen Berliner Vortragszyklen 1804 zu unterscheiden,
die hier nicht berücksichtigt werden konnten. Fichtes Werke werden
allgemein in der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zitiert als GA mit darauffolgender Nummerierung für Reihe, Band und Seite (z. B. für die Wissenschaftslehre 1804, S. 318: GA II,
8, 318). In einigen wenigen Fällen wurden einzelne Wörter an die heutige Schreibweise angepasst, Fichtes Interpunktion wurde jedoch
durchgehend beibehalten. Die Seitenverweise für die Zitate aus der
Anweisung zum seligen Leben (= GA I, 9) wurden direkt im Text angegeben, während die Angaben für andere Werke durch Fußnoten
kenntlich gemacht sind. Siglen, die für andere Quellen benutzt wurden, sind im Literaturverzeichnis aufgeführt.
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