Schizophrenie Seminar: Seminar: Forensische Neuropsychologie SoSe 2009 Dozent: Boris Schiffer Referenten: Hanno Ohmann Martina Rustemeier Gliederung Teil I: Einführung Einleitung Diagnosestellung/Klassifikation gemäß DSM-IV Schizophreniesubtypen Einteilung der Symptome Epidemiologische Angaben (Verlauf, Prävalenz, Komorbidität) Ätiologische Modellvorstellungen (1) Theorien zur familiären Verursachung schizophrener Psychosen (2) Biologische Faktoren (Neurobiologische Befunde) (3) Vulnerabilitäts-Stress-Modell Teil II: Schizophrenie und Gewalt Einleitung Risikofaktoren Neuropsychologische Korrelate Teil III: Diskussion und Literatur 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 2 Einleitung - Schizophrenie Schwerwiegende psychische Störung Stigmatisierung und Vorurteile Großes Leid für betroffene Patienten und ihre Angehörigen In allen Ländern und Kulturen Vielfältige Symptome Kein spezifisches Symptom, das bei allen Betroffenen auftritt 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 3 Diagnosestellung / Klassifikation DSM-IV A) Charakteristische Symptome: mind. 2 der folgenden, jedes bestehend für einen erheblichen Teil einer Zeitspanne von 1 Monat (oder weniger falls erfolgreich behandelt): (1) Wahn (häufig Verfolgungswahn oder Beziehungswahn), (2) Halluzinationen, Floride (3) desorganisierte Sprechweise (z.B. häufiges Entgleisen oder Zerfahrenheit) Symptome (4) grob desorganisiertes oder katatones Verhalten, (5) negative Symptome (d.h. flacher Affekt, Alogie (Sprachverarmung) oder Passivität/Willensschwäche) Beachte: Nur ein Kriterium A-Symptom ist erforderlich, wenn der Wahn bizarr ist oder wenn die Halluzinationen aus einer Stimme bestehen, die einen fortlaufenden Kommentar über das Verhalten oder die Gedanken des Betroffenen abgibt oder wenn zwei oder mehr Stimmen sich miteinander unterhalten. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 4 Diagnosestellung / Klassifikation DSM-IV (B) Soziale/berufliche Leistungseinbußen (C) Dauer: Zeichen des Störungsbildes halten für mind. 6 Monate an. 6monatige Periode: mind. 1 Monat mit Symptomen, die Kriterium A (d.h. floride Symptome) erfüllen kann Perioden mit prodromalen o. residualen Symptomen einschließen Prodromale oder residuale Perioden: Zeichen des Störungsbildes können sich manifestieren auch durch ausschließlich negative Symptome oder zwei oder mehrere Symptome, die im Kriterium A aufgelistet und in einer abgeschwächten Form vorhanden sind (z.B. seltsame Überzeugungen, ungewöhnliche Wahrnehmungserlebnisse). 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 5 Diagnosestellung / Klassifikation DSM-IV (D-F)Ausschlusskriterien: Schizoaffektive und Affektive Störung Substanzeinfluss Medizinischer Krankheitsfaktor Vorgeschichte mit autistischer Störung o. tiefgreifender Entwicklungsstörung ¾ zusätzliche Diagnose einer Schizophrenie wird nur dann gestellt, wenn mind. 1 Monat lang gleichzeitig ausgeprägte Wahnphänomene oder Halluzinationen vorhanden 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 6 Diagnosestellung / Klassifikation DSM-IV Klassifikation des Längsschnittverlaufs: (kann nur angewandt werden, nachdem mind. 1 Jahr seit dem ersten Einsetzen florider Symptome vergangen ist) Episodisch mit Residualsymptomen zwischen den Episoden Bestimme auch, ob: mit ausgeprägten neg. Symptomen Episodisch ohne Residualsymptome zwischen den Episoden Kontinuierlich Bestimme auch, ob: mit ausgeprägten neg. Symptomen Einzelne Episode teilremittiert Bestimme auch, ob: mit ausgeprägten neg. Symptomen Einzelne Episode vollremittiert Anderes oder unspezifisches Muster 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 7 Schizophreniesubtypen DSM-IV Einteilung in fünf Typen: ¾ ¾ Paranoider Typus Desorganisierter Typus Katatoner Typus Undifferenzierter Typus Residualer Typus Bestimmung nach der zum Untersuchungszeitpunkt vorherrschenden Symptomatik (klinisches Bild) Diagnose des Subtyps kann sich im Verlauf ändern 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 8 Diagnostische Kriterien DSM-IV Paranoider Typus (leichteste Form) Ein Schizophrenietypus, bei dem die folgenden Kriterien erfüllt sind: A. Starke Beschäftigung mit einem oder mehreren Wahnphänomenen oder häufige akustische Halluzinationen. B. Keines der folgenden Merkmale steht im Vordergrund: desorganisierte Sprechweise, desorganisiertes oder katatones Verhalten, verflachter oder inadäquater Affekt. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 9 Diagnostische Kriterien DSM-IV Desorganisierter Typus (schwerwiegendste Form) Ein Schizophrenietypus, der folgende Kriterien erfüllt: A. Alle folgenden sind vorherrschend: (1) desorganisierte Sprechweise, (2) desorganisiertes Verhalten, (3) verflachter oder inadäquater Affekt B. Die Kriterien für den Katatonen Typus sind nicht erfüllt. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 10 Diagnostische Kriterien DSM-IV Katatoner Typus Ein Schizophrenietypus, bei dem das klin. Bild von mind. 2 der folgenden Kriterien bestimmt wird: (1) Motorische Unbeweglichkeit, die sich in Katalepsie oder Stupor zeigt, (2) Übermäßige motorische Aktivität (nicht zweckgerichtet, nicht durch äußere Reize beeinflusst), (3) Extremer Negativismus oder Mutismus, (4) Merkwürdige Willkürbewegungen, die sich als Haltungsstereotypien, stereotype Bewegungsabläufe, ausgeprägte Manierismen oder ausgeprägtes Grimassieren äußern, (5) Echolalie oder Echopraxie. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 11 Diagnostische Kriterien DSM-IV Undifferenzierter Typus Ein Schizophrenietypus, bei dem Symptome vorliegen, die das Kriterium A für Schizophrenie erfüllen, ohne dass die Kriterien für den Paranoiden, Desorganisierten oder Katatonen Typus erfüllt sind. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 12 Diagnostische Kriterien DSM-IV Residualer Typus Ein Schizophrenietypus, bei dem folgende Kriterien erfüllt sind: A. Fehlen von ausgeprägten Wahnphänomenen, Halluzinationen, desorganisierter Sprechweise und grob desorganisiertem oder katatonem Verhalten B. Fortbestehende Hinweise auf das Störungsbild Negativsymptome oder zwei oder mehr Symptome in abgemildeter Form, wie sie in Kriterium A für Schizophrenie aufgelistet sind (seltsame Überzeugungen, ungewöhnl. Wahrnehmungserlebnisse) 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 13 Andere psychotische Störungen nach DSM-IV Schizophrenieforme Störung Schizoaffektive Störung Wahnhafte Störung Kurze psychotische Störung Gemeinsame psychotische Störung (Folie à deux) Substanzinduzierte psychotische Störung Psychotische Störung aufgrund eines med. Krankheitsfaktors Nicht näher bezeichnete psychotische Störung 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 14 Einteilung der Symptome POSITIVE SYMPTOME NEGATIVE SYMPTOME Wahrnehmungsstörungen (Halluzinationen) Soziale Rückgezogenheit Inhaltliche Denkstörungen (Wahn) Affektive Verflachung Formale Denkstörungen (Wahn) Antriebsarmut Affektstörungen Interessenverlust Störungen d. Selbstgefühls Sprachliche Verarmung Psychomotor. Störungen Schizophrenie 09. Mai 2009 Seite: 15 Einteilung der Symptome POSITIVE SYMPTOME NEGATIVE SYMPTOME NEBENMERKMALE Wahrnehmungsstörungen (Halluzinationen) Soziale Rückgezogenheit Exzentrische Aufmachung Inhaltliche Denkstörungen (Wahn) Affektive Verflachung Formale Denkstörungen (Wahn) Antriebsarmut Affektstörungen Interessenverlust Störungen d. Selbstgefühls Sprachliche Verarmung Vernachlässigung der äußeren Erscheinung Dysphorische Verstimmung, Depression Hypochondrische Befürchtungen Psychomotor. Störungen 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 16 Symptomverlauf in Phasen Prodromalphase vor der akuten Phase deutl. Absinken des vorher bestehenden Leistungsniveaus sozialer Rückzug Konzentrations- und Schlafstörungen ungewöhnliches Verhalten Vernachlässigung der Hygiene und Körperpflege Kommunikation wird schwierig variable Dauer: Jahre oder auch nur Tage (Floride) Akutphase psychotische Symptome (= positive Symptome) Symptome werden als Realität erlebt (= mangelnde Krankheitseinsicht) variable Dauer Residualphase nach akuter Phase negative Symptome 09. Mai 2009 Beginn: plötzlich oder langsam und schleichend 25% 1 Phase (völlige Remission) 50 % mehrere Phasen (sozial mehr oder weniger angepasst) 25 % chron. Verlauf (Beeinträchtigungen im sozialen und beruflichen Bereich Æ Hospitalisation) Schizophrenie Seite: 17 Prädiktoren für einen günstigen Verlauf gute prämorbide Anpassung, auslösende Ereignisse, weibliches Geschlecht, höheres Lebensalter bei Erkrankungsbeginn, Fehlen von Schizophrenie in der Familienanamnese, Krankheitseinsicht, durchgängige Compliance für die Medikamenteneinnahme, kurze Dauer der floriden Symptome, gute Leistungsfähigkeit zwischen den Episoden, minimale Residualsymptome, Fehlen hirnstruktureller Auffälligkeiten, normale neurologische Funktionsabläufe … 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 18 Prävalenz Lebenszeitprävalenz ca. 0,5 - 1% unabhängig von Kultur und Rasse Krankheitsbeginn in der Mehrzahl der Fälle zwischen 15 und 54 Jahren Geschlechtsverhältnis: ♀ = ♂, aber… ♂: zw. 20. und 25. Lebensjahr ♀: zw. 25. und 30. Lebensjahr 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 19 Prävalenz Erhöhte Prävalenzraten Nordschweden Kroatien Irland afrokaribische Bevölkerung Großbritanniens niedrige sozioökonomische Schicht Städte unverheiratet arbeitslos 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 20 Komorbidität Substanzmissbrauch (insb. Nikotinabhängigkeit) Angststörungen Zwangsstörungen Panikstörungen … Aggressives/gewalttätiges Verhalten (?) „Suizid“ 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 21 Ätiologische Modellvorstellungen (1) Theorien zur familiären Verursachung schizophrener Psychosen Kommunikative Abweichung Doppelbindung („double bind“) Expressed-Emotion-Konzept (2) Biologische Faktoren Genetik Pränatale und frühkindliche Risikofaktoren Neuroanatomische Veränderungen Neurotransmittersysteme (3) Vulnerabilitäts-Stress-Modell 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 22 Ätiologische Modellvorstellungen (1) Theorien zur familiären Verursachung schizophrener Psychosen (geschichtlich) Kommunikative Abweichung („communication deviance“; Singer) ¾ formale Kommunikationsstörungen der Eltern (unklar, fragmentiert, vage) Kind: kein richtiges Einschätzen der Realität Doppelbindung („double bind“; Bateson) ¾ Kommunikation findet auf verschiedenen Ebenen statt (z.B. verbale vs. nonverbale Ebene) gleichzeitig: sich widersprechende Botschaften (emot. Zweideutigkeit der Kommunikation) Entstehung von Schizophrenie Kind oft von Bezugspersonen mit in sich widersprüchl. Kommunikation konfrontiert Aufklären der Widersprüchlichkeit oder Fliehen aus der Situation nicht möglich 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 23 Ätiologische Modellvorstellungen (1) Theorien zur familiären Verursachung schizophrener Psychosen Expressed-Emotion-Konzept (Brown, Leff u. Vaughn) Einstellungen der nächsten Angehörigen ¾ Einfluss auf Rückfall/Krankheitsverlauf bei schizophrenen Psychosen Kritik Feindseligkeit Emotionales Überengagement Zusammenhang zw. emot. Familienklima und Krankheitsverlauf empirisch gesichert ¾ HEE erhöht Risiko eines Rückfalls um das 2,5-fache 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 24 Ätiologische Modellvorstellungen (2) Biologische Faktoren 2.1 Genetik Familienuntersuchungen Zwillingsuntersuchungen Risiko von ca. 12%, wenn ein Elternteil schizophren ist Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen: 40-50% Konkordanzrate bei zweieiigen Zwillingen: ca. 15% Adoptivuntersuchungen Dysfunktionale Familienumgebung bei risikobehafteten Adoptivkindern erhöhtes Ausmaß an Erkrankungen Hinweis auf Zusammenwirken genetischer Anlagen und Umwelteinflüsse Æ Demnach Umweltfaktoren bedeutende ätiologische Rolle 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 25 Ätiologische Modellvorstellungen (2) Biologische Faktoren (Forts.) 2.2 Pränatale und frühkindliche Risikofaktoren (Æ erhöhte Vulnerabilität) Geburtskomplikationen Geburt im Januar/Februar Infektionskrankheiten und pränatale Unterernährung insb. im 2. Trimester Infektionen des ZNS in der frühen Kindheit 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 26 Ätiologische Modellvorstellungen (2) Biologische Faktoren (Forts.) 2.3 Neuroanatomische Veränderungen (1) Ventrikelvolumen Hinweis auf Hirnatrophie (insb. im FL & TL) Volumenvergrößerung der lateralen Ventrikel - insb. im Vorderhirn - in Zusammenhang mit ausgeprägteren negativen Symptomen Unklar, ob Ventrikelvergrößerung von Beginn an oder ob neurodegenerativer Prozess 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 27 Ätiologische Modellvorstellungen (2) Biologische Faktoren (Forts.) 2.3 Neuroanatomische Veränderungen (2) „Hypofrontalität“ Beeinträchtigung präfrontaler Strukturen des FL Geringeres FL-Volumen Ausgedünnte Neuronendichte und verringerte Synapsenanzahl Reduzierte neuronale Vernetzung Volumen der präfrontalen weißen Masse: Zusammenhang mit neg. Symptomen Störung der wesentlichen präfrontalen Schaltkreise Reduzierte thalamische Projektion zum PFC Vergrößertes Volumen von Teilen der Basalganglien (Globus pallidus, Putamen) 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 28 Ätiologische Modellvorstellungen (2) Biologische Faktoren (Forts.) 2.3 Neuroanatomische Veränderungen (3) Temporallappen Verkleinertes Volumen Beide Hippocampi und Parahippocampi, Amygdala, Enthorhinaler Cortex, Superiorer Gyrus des TL Heschl‘sche Querwindung, Primäre Hörrinde, Linksseitiges Planum temporale ÆVeränderungen der Hirnstrukturen beeinträchtigen sehr wahrscheinlich die Entwicklung kognitiver Funktionen 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 29 Ätiologische Modellvorstellungen (2) Biologische Faktoren (Forts.) 2.4 Neurotransmittersysteme (1) Dopamin (DA) Æ insb. positive Symptome Klassische Dopaminhypothese: Hyperaktivität des DA-Systems (bei Positivsymptomatik) Wohl eher: erhöhte Dichte oder Empfindlichkeit der DA-Rezeptoren Dysregulation der DA-Freisetzung geht vor allem mit akuten Episoden einher PFC - insb. DLPFC: regulierende Wirkung auf striatale DA-Aktivität Ansonsten Auslösung psychotischer Symptome Neg. Symptome in Verbindung gebracht mit Unterfkt. der D1-Rezeptoren im PFC 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 30 Ätiologische Modellvorstellungen (2) Biologische Faktoren (Forts.) 2.4 Neurotransmittersysteme (2) Serotonin (5-HT) Æ halluzinogene Wirkung Erhöhte Dichte von 5-HT1A-Rezeptoren im PFC ¾ Hinweis auf verminderte serotonerge 5-HT1-Aktivität im PFC Verminderte Dichte von 5-HT2-Rezeptoren im TL – vor allem im HC ¾ Hinweis auf überhöhte 5-HT2-Aktivität im TL Glutamat Æ negative Symptome Hemmung glutamaterger Aktivität 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 31 Ätiologische Modellvorstellungen (3) Heuristisches, interaktives Vulnerabilitäts-Stress-Modell (zur Entstehung schizophrener Episoden) (Hahlweg et al. 2006) Schizophrene Symptome entstehen aus einer Interaktion von Einflüssen auf den Ebenen der Biologie, der Umwelt und des Verhaltens • Emotional belastendes Familienklima • Belastende Lebensereignisse •… • Dysfunktion des autonomen NS • Störungen von Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung •… 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 32 Fragen? Schizophrenie und Gewalt Einleitung Risikofaktoren Neuropsychologische Korrelate 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 34 Einleitung Menschen mit Schizophrenie haben ein (3- bis 7-fach) erhöhtes Risiko, gewalttätiges Verhalten (i.d.R. schwere Gewaltdelikte) zu zeigen- kein generell erhöhtes Risiko für delinquentes Verhalten! Geburts-, und Populations – Studien konnten dies bestätigen. Welche Faktoren führen nach eurer Meinung bei Schizophrenen zu gewalttätigem Verhalten ? 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 35 Einleitung Personen mit Schizophrenie erfüllen in mindestens 20 % der Fälle bereits vor dem 15 Lebensjahr die Kriterien einer Verhaltensstörung (antisoziales Verhalten, Missachtung von Normen und Regeln) und als Konsequenz die Kriterien einer antisoziale Persönlichkeitsstörung neben der Schizophrenie im Erwachsenenalter. Diese persistenten Formen der Gewalt werden fast ausschließlich von Männern gezeigt (ähnlich wie in der normalen Population). 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 36 Einleitung Review von Naudts & Hodgins (2006) Ziel: Warum gibt es so viele persistent gewalttätige Schizophrene? Wie unterscheiden sie sich von nicht gewalttätigen Schizophrenen? Ergebnis: Gegensätzliche und schwache Befunde aus 17 Studien. Jedoch konnte dieses Review herausstellen, dass bei der Betrachtung von Schizophrenie und Gewalt oft unterschiedliche Formen und Ursachen der Gewalt nicht konsequent berücksichtigt werden. Gewalttätige Schizophrene stellen eine sehr heterogene Personengruppe da ! 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 37 Risikofaktoren Frau A. wirft Becher mit heißem Tee in Richtung anderer Patienten und dem Personal der Klinik. Wenn sie danach gefragt wird, warum sie dies tut, erklärt sie, dass sie einen Chip in ihrem Kopf hat. Dieser gibt ihr gelegentlich den Befehl, heißen Tee auf andere Leute zu werfen. Ursache? Befehl – Halluzination, Wahn 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 38 Risikofaktoren Herr B. nimmt mit anderen Patienten an einem Treffen in seiner Station teil. Dieses Treffen wird von einem jungen Psychologen geleitet. Dieser erklärt den Patienten, wie wichtig es sei, Medikamente auch nach der Entlassung weiterhin zu nehmen. Herr B. unterbricht: „ Kann ich an diesem Wochenende nach Hause gehen?“ Der Psychologe antwortet knapp mit „Nein“, woraufhin Herr B. auf den Tisch steigt und den Psychologen schlägt. Ursache ? Impulsivität / Mangelhafte Inhibition 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 39 Risikofaktoren Herr C. hatte eines Morgens eine Auseinandersetzung mit einem männlichen Pfleger, er fühlte sich respektlos behandelt. Herr C. ist ein durchschnittlich gebauter Mann, der Pfleger ist kräftig gebaut und wiegt an die 120 Kilogramm. Die Auseinandersetzung endete ruhig. Am Abend gab es einen Schichtwechsel, nun war eine zierlich gebaute Krankenschwester für ihn verantwortlich. Herr. C. wartete auf den geeigneten Moment, als diese alleine auf dem Flur der Station war. Dann griff er sie, schlug ihr ins Gesicht und brach ihre Nase. Bei der späteren Anhörung redetet er über die vorherige Auseinandersetzung mit dem Pfleger. Bei der Frage danach, warum er dann die Krankenschwester schlug, sagte er: „Der Pfleger war zu groß, der hätte mich fertig gemacht. Ich bin vielleicht verrückt, aber nicht dumm!“ Ursache? Antisoziale Persönlichkeitsstörung, Psychopathie 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 40 Risikofaktoren Ursachen der Gewalt: Mit positiven Symptomen der Schizophrenie assoziierte Gewalt: Offensichtlichste Form der Gewalt bei Schizophrenen (Befehls-)Halluzinationen, Wahn Die Stärke der Symptome ist direkt mit gewalttätigem Verhalten korreliert. Macht jedoch nur 20 % der Gewalttaten bei Schizophrenen aus ! 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 41 Risikofaktoren Impulsive Gewalt : Impulsivität wird als direkte Folge einer schizophrenen Störung angesehen (keine komorbide Ursache). Schlechte Leistungen z.B. im Go / NoGo – Paradigma Impulsivität ist direkt mit gewalttätigem Verhalten bei Schizophrenen korreliert. Diese Form der Gewalt ist oft nicht geplant und ohne Motiv. Im Nachhinein äußern die Personen oft Reue. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 42 Risikofaktoren Go /NoGo - Paradigma http://www.klinikum.uni-heidelberg.de 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 43 Risikofaktoren Gewalt auf Grund einer komorbiden Psychopathie: Psychopathie wird durch eine Reihe von Persönlichkeitseigenschaften und affektiver Veränderungen definiert (u.a. Egozentrismus, abgeflachter Affekt, Mangel an Empathie und Schuldgefühlen , etc.) Folge sind regelmäßigen Gewalttaten und der Bruch sozialer Normen. Æ Schizophrenie und Psychopathie können koexistieren! Komorbide Persönlichkeitsstörungen erklären einen Anteil der Gewalt bei Schizophrenen. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 44 Risikofaktoren Formen der Gewalt: Körperliche Gewalt Sexualisierte Gewalt Psychische und emotionale Gewalt Belästigung … 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 45 Risikofaktoren Weitere Faktoren: Komorbider Substanzmissbrauch: Substanzmissbrauch erhöht das Risiko von Gewalttaten bei Schizophrenen Schizophrenie erhöht das Risiko von Substanzmissbrauch 60 % Substanzmissbrauch, 37 % Sucht (Baseline – Messung) Substanzmissbrauch senkt ebenfalls die Compliance bei der Einnahme von Medikamenten 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 46 Risikofaktoren (Non-)Compliance bei der Einnahme von Medikamenten: Einnahmeverweigerung bei Antipsychotika liegt bei ca. 50 % ! Negativer funktionelle Folgen - u. a. gewalttätiges Verhalten auf Grund einer Zunahme schizophrener Symptome (Halluzinationen, Wahn). Jedoch liegt hier eine bidirektionale Wirkung vor. Aggression und Gewalt können ebenfalls als Prädiktoren für die Einnahmewahrscheinlichkeit verwendet werden. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 47 Schizophrenie Seite: 48 Risikofaktoren Medikamente: 09. Mai 2009 Risikofaktoren Antipsychotika: wirkungsvollstes Medikamente zur Senkung von gewalttätigem Verhalten ist „Clozapin“ (breite Wirkung) Mehrere Studien konnten deren Wirkung im Vergleich zu anderen atypischen Antipsychotika(„Risperidon“, „Olanzipin“, etc.) bestätigen. Diese sind typischen Antipsychotika häufig überlegen. Jedoch sind die Effekte insgesamt sehr schwach oder widersprüchlich. Stimmungsstabilisierende Medikamente („Valproat“, „Carbamazepin“, etc.) und Lithium konnten nur in Ausnahmen Effekte zeigen. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 49 Risikofaktoren Verschiedene Medikamente gehen mit unterschiedlichen „Nebenwirkungen“ und spezifischen kognitiven Veränderungen einher. Scheinbar reagieren unterschiedliche schizophrene Subtypen auch unterschiedlich auf einzelne Medikamente. Clozapin Æ Mehr Symptomreduktion bei persistent gewalttätigen Schizophrenen. Risperidon, Olanzapin Æ Mehr Symptomreduktion bei nicht-gewalttätigen Schizophrenen. Daher ist es von großer Bedeutung Art und Dosis der Medikation auch im Zusammenhang mit gewalttätigem Verhalten genau zu berücksichtigen. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 50 Risikofaktoren Die widersprüchlichen Ergebnisse kommen also dadurch zu Stande, dass unterschiedliche Formen von Gewalt mit dem gleichen Medikament behandelt wurden (spezifische Wirkung). Dies spricht erneut für unterschiedliche Subtypen gewalttätiger Schizophrener, die eine spezifische Behandlung nötig machen. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 51 Risikofaktoren Drei Subtypen gewalttätiger Schizophrener: Wahnhaft (Psychotisch) Impulsiv Psychopathisch Folgen schizophrener Symptome - spontan Koexistenz mit der Schizophrenie - persistent Existieren spezielle neuropsychologische Korrelate für den letzten Subtyp? 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 52 Neuropsychologische Korrelate Angewendete Testverfahren: NSS (Neuropsychological Soft Signs) NSS sind nicht, wie die bekannten klinisch-neurologisch harten Zeichen, exakt lokalisierbaren Hirnarealen zuzuordnen. Sie spiegeln vielmehr Funktionsstörungen in folgenden Bereichen wieder: Feinmotorik (z.B. Diadochokinese), Koordinative Motorik (z.B. Finger-Daumen-Opposition), Ausführung komplexer sequentieller Bewegungsmuster (z.B. Oseretzki's Test) Sensorische Leistungen (z.B. Stereognosis, Rechts-Links-Orientierung) 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 53 Neuropsychologische Korrelate Finger-Daumen-Opposition 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 54 Neuropsychologische Korrelate Die Pathogenese dieser Störungen ist unklar. Die Funktionsstörungen im Bereich der NSS sind vor allem im Hinblick auf Korrelationen zu verschiedenen neuropsychologischen Defiziten als mangelnde Funktionsfähigkeit verschiedener zerebraler Funktionssysteme (motorisch, sensorisch, kognitiv) einzuschätzen. In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass NSS häufiger und in stärkerer Ausprägung bei schizophrenen Patienten als bei gesunden Probanden und Patienten mit anderen psychiatrischen Krankheitsbildern vorliegen. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 55 Neuropsychologische Korrelate Neuropsychologische Tests WCST(Wisconsin Card Sorting Test), Trail Making Test WAIS (Wechsler Adult Intelligence Scale) Trigram Test etc. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 56 Neuropsychologische Korrelate WCST 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 57 Neuropsychologische Korrelate Trail Making Test 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 58 Neuropsychologische Korrelate Funktionelle u. Strukturelle Bildgebung fMRT PET SPECT etc. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 59 Neuropsychologische Korrelate Kennzeichen persistenter Gewalt: Verhaltensstörung in der Jugend Antisoziale Persönlichkeitsstörung / Psychopathie im Erwachsenenalter fast ausschließlich männlich enorme Belastung für das Gesundheitswesen (dauerhafte Unterbringung) / Gerichte (häufige Prozesse) oft schlechte schulische Leistungen früher Drogenmissbrauch häufig körperlicher Missbrauch in der Familie Kriminalität / Drogenmissbrauch in der Familie 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 60 Neuropsychologische Korrelate Neuropsychologische Korrelate antisozialer Persönlichkeitsstörungen: Mehr NSS (korreliert mit Tests zu orbitofrontalen Funktionen) Geringeres Volumen des gesamten Gehirns (Gehirnatrophie) Beeinträchtigte Hirnareale: DLPFC OFC Temporallappen (Hippocampus, Amygdala) 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 61 Neuropsychologische Korrelate DLPFC Funktion: •Arbeitsgedächtnis •„Exekutive Funktionen“ (Planung, Entscheidung) Spezifische Folge: •Fehleinschätzungen •„Falsche“ Entscheidungen 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 62 Neuropsychologische Korrelate OFC Funktion: •Repräsentation von Belohnung und Bestrafung •Entscheidungen Spezifische Folge: •Disinhibition •Missachtung von Risiko 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 63 Neuropsychologische Korrelate Temporallappen Funktion: •Sprache, Gedächtnis •… Spezifische Folge: •Mangelhafte verbale Fähigkeiten 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 64 Neuropsychologische Korrelate Amygdala - Dysfunktion (niedrigerer Cortisol – Level) Spezifische Folge: •Geringe Stress- Reaktion •Auch Gewalt weniger aversiv 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 65 Neuropsychologische Korrelate Stress Verhaltensstörung Antisoziale Persönlich keitsstörung Missbrauch Gewalt Umweltanforderungen 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 66 Neuropsychologische Korrelate Verhaltensstörung Stress Antisoziale Persönlich keitsstörung Dauerhaft verringerter Cortisol – Level (geringe Stress – Antwort) Gehirn – Atrophie (DLPFC, Amygdala – orbitofrontales System) 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 67 Neuropsychologische Korrelate Stress 09. Mai 2009 Verhaltensstörung Schizophrenie Antisoziale Persönlich keitsstörung Seite: 68 Neuropsychologische Korrelate Neuropsychologische Korrelate Schizophrener mit antisozialer Persönlichkeitsstörung: Insgesamt weniger (!) neuropsychologische Defizite als bei nicht gewalttätigen Schizophrenen. Bessere Leistungen: u. a. WCST (Wisconsin Card Sorting Test), Trail Marking Test und dem WAIS (Wechsler Adult Intelligence Scale). Æ bessere exekutive Funktionen und verbale Fähigkeiten Æ jedoch höhere Impulsivität 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 69 Neuropsychologische Korrelate Insgesamt weniger starke hirnanatomische Veränderungen als bei nicht-gewalttätigen Schizophrenen, aber…. Eingeschränkte Konnektivität Amygdala - OFC 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 70 Neuropsychologische Korrelate Wie erklärt man, dass persistent gewalttätige Schizophrene, die schon vor Beginn der Schizophrenie hirnanatomische Defizite aufzeigten, im Vergleich zu anderen Schizophrenen nun weniger Defizite zeigen? Schlüssel: Stress – Reaktion Schizophrenie 09. Mai 2009 Seite: 71 Neuropsychologische Korrelate Vulnerabilitätsfaktoren Stress Schizophrene Störung Missbrauch Gewalt Umweltanforderungen 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 72 Neuropsychologische Korrelate Schizophrene Störung Stress 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 73 Neuropsychologische Korrelate Stress Verhaltensstörung Antisoziale Persönlich keitsstörung Schizophrene Störung 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 74 Neuropsychologische Korrelate Da spezifischer und starker Stress in frühen Entwicklungsphasen sowohl persistente Gewalt als auch eine schizophrene Störung bedingen kann, erklärt dies möglicherweise den hohen Anteil persistent gewalttätiger Schizophrener. Persistente Gewalt ist aber nicht als genereller Schutzfaktor bei einer schizophrenen Störung zu verstehen. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 75 Neuropsychologische Korrelate Eine antisoziale Persönlichkeitsstörung bedingt im Zusammenhang mit mangelnder Inhibition oft häufigeren Drogenmissbrauch. Dieser führt insbesondere bei Schizophrenen zu einem Abbau kognitiver Leistungsfähigkeit. Dies könnte auch Studien erklären, bei denen bei fortgeschrittener schizophrener Störung keine Leistungsunterschiede mehr gefunden wurden. 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 76 Fragen? Diskussion Könnt ihr euch die kognitive Überlegenheit persistent gewalttätiger Schizophrener noch auf eine andere Weise erklären? Habt ihr Ideen für die Therapie gewalttätiger Schizophrener? Oder können sie gar nicht therapiert und daher nur „weggesperrt“ werden? 09. Mai 2009 Schizophrenie Seite: 78 Literatur Margraf, J. & Schneider, S. (2009). Lehrbuch der Verhaltenstherapie II. Heidelberg, Springer. Sartory, G. (2007) Schizophrenie. Empirische Befunde und Behandlungsansätze. Heidelberg, Spektrum-Elsevier. Sass, H., Wittchen, H.-U. & Zaudig, M. (Hrsg.). (2003). Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen – Testrevision (DSM-IV-TR). Göttingen, Hogrefe. Wright, I. C., Rabe-Hesketh, S., Woodruff, P. W.R., David, A. S., Murray, R. M. & Bullmore, E. T. (2000). Meta-Analysis of Regional Brain Volumes in Schizophrenia. Am. J. Psychiatry 157: 16-25 Hilger E., Kasper S. (2002). Kognitive Symptomatik bei schizophrener Erkrankung: Diagnostik und Pharmakotherapie. Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 3 (4): 17-22 Naudts K., Hodgins S. (2006). 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