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Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen:
Epidemiologie, Therapie und Prävention
Ludwig Kraus, Claudia Semmler, Sabine Kunz-Ebrecht, Boris Orth, Irene Hüffer,
Alexander Hose, Karin Welsch, Dilek Sonntag & Rita Augustin
Institut für Therapieforschung, München
3
Inhaltsverzeichnis
Teil I
Epidemiologie, Therapie und Prävention von Kokainkonsum und kokainbezogenen
Störungen: Eine Literaturübersicht
Ludwig Kraus, Claudia Semmler, Alexander Hose, Sabine Kunz-Ebrecht,
Irene Hüffer & Boris Orth
Kurzfassung ................................................................................................................................9
1
Einleitung.....................................................................................................................17
2
Epidemiologie des Kokainkonsums............................................................................21
Alexander Hose und Ludwig Kraus
2.1
Einleitung.....................................................................................................................21
2.2
Verbreitung des Kokainkonsums................................................................................21
2.3
Prävalenz von Missbrauch und Abhängigkeit ............................................................33
2.4
Charakteritik von Kokainkonsumenten.......................................................................34
2.5
Verbreitung des Crackkonsums .................................................................................39
2.6
Schlussfolgerung ........................................................................................................44
2.7
Literatur .......................................................................................................................45
3
Konsummuster des Kokaingebrauchs........................................................................51
Ludwig Kraus
3.1
Einleitung.....................................................................................................................51
3.2
Applikation...................................................................................................................53
3.3
Multipler Drogengebrauch ..........................................................................................54
3.4
Geschlechtsspezifische Unterschiede........................................................................57
3.5
Kontrollierter Konsum .................................................................................................58
3.6
Schlussfolgerung ........................................................................................................61
3.7
Literatur .......................................................................................................................63
4
Körperliche und psychische Folgen des Kokainkonsums..........................................67
Claudia Semmler und Alexander Hose
4.1
Einleitung.....................................................................................................................67
4.2
Der Kokainrausch .......................................................................................................67
4.3
Körperliche Folgen ......................................................................................................67
4.4
Psychische Folgen......................................................................................................69
4.5
Entzugssyndrom .........................................................................................................70
4.6
Folgen pränataler Kokainexposition ...........................................................................72
4.7
Schlussfolgerung ........................................................................................................74
4.8
Literatur .......................................................................................................................75
4
Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Epidemiologie, Therapie und Prävention
5
Risikofaktoren des Kokainkonsums............................................................................79
Alexander Hose und Ludwig Kraus
5.1
Einleitung.....................................................................................................................79
5.2
Risikofaktoren des Drogenkonsums...........................................................................80
5.3
Intrapersonale Risikofaktoren .....................................................................................84
5.4
Interpersonale Risikofaktoren .....................................................................................87
5.5
Schlussfolgerung ........................................................................................................88
5.6
Literatur .......................................................................................................................89
6
Komorbidität bei Personen mit einer kokainbezogenen Diagnose............................95
Claudia Semmler
6.1
Einleitung.....................................................................................................................95
6.2
Definition Komorbidität................................................................................................95
6.3
Schwankungen der Komorbiditätsraten .....................................................................96
6.4
Epidemiologische Studien ..........................................................................................96
6.5
Komorbidität bei Behandeltenstichproben................................................................102
6.6
Schlussfolgerung ......................................................................................................111
6.7
Literatur .....................................................................................................................113
7
Wirkungen des Mischkonsums.................................................................................117
Sabine Kunz-Ebrecht
7.1
Einleitung...................................................................................................................117
7.2
Konsum von Heroin und Kokain ...............................................................................119
7.3
Schlussfolgerung ......................................................................................................121
7.4
Literatur .....................................................................................................................122
8
Wirksamkeit von Psychotherapie .............................................................................125
Ludwig Kraus und Irene Hüffer
8.1
Einleitung...................................................................................................................125
8.2
Psychotherapeutische Verfahren .............................................................................126
8.3
Klinische Studien ......................................................................................................130
8.4
Spezifische Klienten- und Therapiemerkmale..........................................................145
8.5
Schlussfolgerung ......................................................................................................154
8.6
Literatur .....................................................................................................................159
9
Wirksamkeit von Pharmakotherapie.........................................................................167
Sabine Kunz-Ebrecht
9.1
Einleitung...................................................................................................................167
9.2
Grundprinzipien der pharmakologischen Therapie von Kokainabhängigkeit ..........167
9.3
Behandlung bei Mischkonsum..................................................................................170
9.4
Schlussfolgerung ......................................................................................................170
9.5
Literatur .....................................................................................................................172
Inhaltsverzeichnis
10
Behandelte und unbehandelte Kokainkonsumenten
5
175
Claudia Semmler
10.1
Einleitung...................................................................................................................175
10.2
Behandelte und unbehandelte Kokain-Kokonsumenten..........................................175
10.3
Unterschiede zwischen behandelten und unbehandelten Kokainkonsumenten .....177
10.4
Schlussfolgerung ......................................................................................................184
10.5
Literatur .....................................................................................................................187
11
Prävention .................................................................................................................189
Boris Orth
11.1
Einleitung...................................................................................................................189
11.2
Kokain und Drogenprävention ..................................................................................191
11.3
Kokain und Harm Reduction: Das Beispiel HIV-Prävention ....................................192
11.4
Schlussfolgerung ......................................................................................................197
11.5
Literatur .....................................................................................................................198
Teil II
Untersuchung zu Epidemiologie, Konsummuster, Risikofaktoren und Behandlungscharakteristik von Kokainkonsumenten in Deutschland
Ludwig Kraus, Sabine Kunz-Ebrecht, Claudia Semmler, Boris Orth, Karin Welsch,
Dilek Sonntag & Rita Augustin
1
Einleitung...................................................................................................................203
2
Schätzung des Umfangs von Kokainkonsumenten .................................................205
3
Fragestellung und Daten ..........................................................................................205
3.1
Epidemiologie............................................................................................................206
3.2
Behandlung ...............................................................................................................206
3.3
Konsummuster und substanzbezogene Probleme des Kokainkonsums ................208
4
Ergebnisse................................................................................................................210
4.1
Kokainkonsum bei Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland: Prävalenz, Konsummuster und Trends..............................................................................210
4.2
Kokainabhängige in Behandlung: Charakteristik, Diagnose und Behandlungsvorgeschichte............................................................................................................210
4.3
Unterschiede zwischen unbehandelten und behandelten Kokainkonsumenten
mit einer aktuellen kokainbezogenen Diagnose.......................................................211
4.4
Konsummuster und substanzbezogene Störungen bei Kokainkonsumenten.........212
4.5
Ist Sensation Seeking ein Risikofaktor für den Übergang in den Kokainkonsum?..........................................................................................................................213
4.6
Charakteristika von Kokainkonsumenten in einer Stichprobe von Drogenkonsumenten .................................................................................................................215
6
Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Epidemiologie, Therapie und Prävention
5
Diskussion.................................................................................................................217
6
Literatur .....................................................................................................................221
7
Zusammenfassungen / Abstracts .............................................................................225
Teil I
Epidemiologie, Therapie und Prävention von Kokainkonsum und kokainbezogenen Störungen:
Eine Literaturübersicht
Ludwig Kraus, Claudia Semmler, Alexander Hose, Sabine Kunz-Ebrecht,
Irene Hüffer & Boris Orth
Institut für Therapieforschung, München
9
Kurzfassung
Epidemiologie
Kokain hat in den USA in den 1980er Jahren eine erhebliche Ausbreitung erfahren, die sich
im Verlauf der 1990er Jahre jedoch deutlich abgeschwächt hat. Demgegenüber weisen Surveydaten zum Konsum von Kokain und/oder Crack in Europa und in anderen Weltregionen
trotz geringfügig zunehmender Prävalenzen auf keine Epidemie hin. In der überwiegenden
Mehrheit der Europäischen Länder haben maximal 3% der Allgemeinbevölkerung Erfahrung
mit Kokain, in Australien und Neuseeland etwa 4%, in Kanada 6%, in den USA 14% und in
den anderen Regionen der Welt unter 2%. Crack spielt in Europa in der Allgemeinbevölkerung so gut wie keine Rolle. Trotz der geringen Verbreitung des Kokainkonsums in der Allgemeinbevölkerung lassen sich in den Industrienationen dennoch in bestimmten Szenen der
jugendlichen Subkultur (Partyszene), unter Opiat- und Alkoholabhängigen, bei Jugendlichen
im Großstadtmilieu sowie bei Strafgefangenen erhöhte Prävalenzwerte mit steigender Tendenz beobachten. Kokain wird aber in der Regel nicht als Droge erster Wahl konsumiert.
Kokainkonsumenten weisen überwiegend polyvalente Konsummuster auf, so dass eine klare
Abgrenzung des Kokainkonsums im Hinblick auf Konsumentencharakteristika kaum möglich
ist. Crack findet sich insbesondere bei Heroinkonsumenten der offenen Drogenszene. Aufgrund der geringen Prävalenz des Crackkonsums gibt es kaum spezifische Studien zu
Gebrauch und Gebrauchsmuster.
Studien, die Charakteristika von Kokainkonsumenten untersuchten, berichten, dass der
Frauenanteil in etwa ein Viertel beträgt und Kokainkonsumenten im Vergleich zu NichtKonsumenten eher jünger, unverheiratet, ohne Schulabschluss und häufiger arbeitslos waren. Die Vielzahl unterschiedlicher Szenen, in denen Kokain konsumiert wird, macht deutlich,
dass Kokainkonsum szenespezifisch und insbesondere in Bezug auf die Konsummotivation
differenziert betrachtet werden muss. Untersuchungen zu psychischen Charakteristika ergaben vor allem bei behandelten Kokainkonsumenten Hinweise auf eine antisoziale Persönlichkeit sowie ein gehäuftes Auftreten von Angst- und Depressionsstörungen. Die Evidenz in
Bezug auf soziodemographische Unterschiede sowie Unterschiede in Bezug auf komorbide
Störungsbilder zwischen Kokainkonsumenten und Nicht-Konsumenten ist allerdings unklar.
Konsummuster
Untersuchungen in Stichproben von Kokainkonsumenten weisen übereinstimmend auf eine
überwiegend intranasale Applikationsform hin. Studien, die sich mit den Übergängen verschiedener Applikationsformen im Verlauf der Drogenkarriere beschäftigen, berichten, dass
Konsumenten häufig zwischen den Einnahmeformen wechseln, in der Regel aber Wechsel
zu Applikationsformen mit höherem Abhängigkeitspotential stattfinden, so dass es unweigerlich zu einem i.v. Konsum kommt. Multipler Drogenkonsum ist bei Kokainkonsumenten eher
die Regel als die Ausnahme. Die bei Kokainkonsumenten beobachtete Polyvalenz des Konsums sowie der bei Klienten mit anderen substanzbezogenen Störungen zu beobachtende
zusätzliche Konsum von Kokain machen deutlich, das Kokain in unterschiedliche Subkultu-
10
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
ren von Drogenkonsumenten mit unterschiedlichen Gebrauchsmustern und Funktionen eingebunden ist. Aufgrund dieser vielseitigen Anwendung von Kokain kann weder von einer
„Kokainszene“ noch von dem „Kokainkonsumenten“ gesprochen werden.
Einige Studien berichten geschlechtsspezifische Unterschiede, die jedoch in Abhängigkeit
der Stichprobe variieren. Ingesamt wurde i.v. Konsum von Kokain unter Frauen weit seltener
beobachtet als unter Männern. In behandelten Stichproben konnte auch festgestellt werden,
dass Frauen früher in den Konsum einstiegen und in einem jüngeren Alter um Therapie
nachsuchten, während Männer eine längere Drogenkarriere und einen exzessiveren Konsum
berichteten. Ebenso waren zusätzliche Diagnosen einer Alkoholabhängigkeit bei Frauen seltener als bei Männern. Studien, die der Frage nach einem kontrollierten Kokainkonsum
nachgingen, kamen zu dem Ergebnis, dass es einer Gruppe von Kokainkonsumenten gelingt, ihren Konsum zu kontrollieren, und sie es versteht, negative Folgen durch eine Reihe
von Regeln zu verhindern. Die Ergebnisse unterstützen die Theorie von Zinberg über die
Rolle von Verhaltensregeln und Ritualen bei der Selbstregulierung des Drogenkonsums. Allerdings bleibt unklar, ob die Selbstregulierung dauerhaft ist oder lediglich eine Phase im
Verlauf einer problematischen Entwicklung darstellt.
Körperliche und psychische Folgen
Kokain ist ein starkes Psychostimulans, das sowohl psychische als auch physische Funktionen und das Verhalten beeinflusst. Kurzfristig führt Kokain zu einem dreiphasigen Kokainrausch mit verschiedenen psychischen und physischen Symptomen. Wird Kokain in zu hoher
Dosis konsumiert, kann dieser Kokainrausch in eine akute Kokainintoxikation mit Komplikationen übergehen. Langfristig bewirkt der Kokainkonsum psychische Schäden mit depressiven
Symptomen, Angstanfällen und einem eigenbezüglichen Denken. Zudem treten körperliche
Schädigungen auf, vor allem am Herz-Kreislauf- und dem zerebrovaskulären System. Sind
solche Schädigungen festzustellen, wird der schädliche Gebrauch von Kokain nach ICD-10
diagnostiziert, kommen weitere Symptome wie Toleranzsteigerung oder Kontrollverlust hinzu, liegt eine Kokainabhängigkeit vor. Wird Kokain nicht mehr zugeführt, tritt ein Entzugssyndrom auf. Kokainkonsum während der Schwangerschaft kann negative Auswirkungen auf
den Schwangerschaftsverlauf und den Fetus zur Folge haben.
Risikofaktoren
Die für den Drogenkonsum allgemein diskutierten intrapersonalen (biologisch-genetische
Faktoren, Persönlichkeit/Temperament, Problemverhalten und psychopathologische Störungen) und interpersonale bzw. soziale Risikofaktoren (Familie/traditionelle Einrichtungen,
Freundeskreis, sozioökonomischer Status, kritische Lebensereignisse) gelten uneingeschränkt für den Kokainkonsum. Untersuchungen des Einflusses negativer Umgebungsvariablen auf die Exposition des Kokainangebots zeigen, dass soziale Umgebungsvariablen in
direktem Zusammenhang stehen mit der Gelegenheit zum Konsum von Kokain. Differenzierte Untersuchungen zeigen, dass Faktoren der Mikroebene wie Altersgenossen und Familie
Kurzfassung
11
einen stärkeren Einfluss auf Drogenkonsum haben als die Effekte der Makroebene wie
Schule und Gemeinde bzw. Stadtteil.
Untersuchungen über Depression und Kokainkonsum bestätigen keinen Zusammenhang
zwischen erhöhter Depressivität im Jugendalter und späterem Kokainkonsum. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass insbesondere intensiver Kokainkonsum ein höheres Risiko für die
Entwicklung depressiver Störungen, eingeschränkter Motivation und von Gesundheitsproblemen darstellt. Mit Hilfe von Zwillingsstudien konnten genetische Faktoren für Konsum,
Missbrauch und Abhängigkeit von Kokain nachgewiesen werden. Ihr Einfluss ist jedoch wesentlich geringer in Bezug auf den Kokainkonsum als auf die Entwicklung von Kokainmissbrauch und -abhängigkeit.
Die generell gegen die Gateway-Hypothese vorgebrachten Einwände, dass für den Übergang von einer zur anderen Droge nicht die Droge per se verantwortlich ist, sondern andere
Moderatorvariablen, werden unterstützt durch Ergebnisse, die einen Zusammenhang zwischen den Drogenstadien und der Expositionswahrscheinlichkeit feststellten. Drogenkonsum
auf einer bestimmten Stufe ist verbunden mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eines Drogenangebots für Drogen der nächsthöheren Stufe. Die für den Kokainkonsum gefundenen
Ergebnisse des Einflusses erhöhter Exposition konnten für die Übergänge in den Konsum
von Cannabis, Halluzinogene und Heroin bestätigt werden.
Komorbidität
Es gibt zahlreiche Studien zur Komorbidität bei Kokainkonsumenten, allerdings beziehen
sich nur wenige auf Stichproben, die nicht im Zusammenhang mit Drogenberatungen bzw. behandlungen rekrutiert wurden. Die Komorditätsraten der Behandeltenstichproben variieren
zum Teil erheblich. Trotz methodischer Unterschiede zwischen den einzelnen Studien belegen alle Untersuchungen eindrucksvoll das Phänomen der Komorbidität unter kokainmissbrauchenden oder kokainabhängigen Personen. Besonders ausgeprägt sind Erkrankungen
an affektiven, Angst- und Persönlichkeitsstörungen. Wodurch diese Komorbidität hervorgerufen wird, ist allerdings noch weitestgehend unklar. Die beiden wichtigsten Erklärungsansätze
stehen in direktem Widerspruch: Der eine Erklärungsansatz geht davon aus, dass eine
zugrundeliegende psychische Störung eine sich sekundär entwickelnde Drogenkarriere bedingt. Dies nimmt zum Beispiel die Selbstmedikations-Hypothese an. Die andere Theorie
postuliert, dass durch den Drogenkonsum psychische Störungen hervorgerufen werden, wie
z. B. eine Cannabispsychose. Unabhängig von der die Komorbidität bewirkenden Kausalrichtung ist die Berücksichtigung der Komorbidität in Forschung, Diagnostik und Behandlung von
nicht zu unterschätzender Relevanz. Die Behandlung komorbid erkrankter Personen geschieht allerdings oftmals nur unzureichend und mangelhaft.
12
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Wirkungen des Mischkonsums
Die höchste Mortalitätsrate aufgrund von Überdosierungen wurde bei Mischkonsum von
Opiaten, Kokain und Alkohol gefunden. Die pharmakologische Behandlung gestaltet sich bei
Mehrfachkonsumenten sehr schwer, da es bislang noch kein geeignetes Medikament gibt.
Wird nur die Opiatabhängigkeit bzw. die Alkoholabhängigkeit behandelt, so sind die Prognosen für den Erfolg schlechter als bei „reinen“ Opiat- bzw. Alkoholabhängigen, da der Kokainkonsum von den Patienten zum einen eingesetzt wird, um die Entzugserscheinungen zu mildern, und zum anderen weiterhin das „High“-Gefühl zu erzeugen. Aus diesem Grund ist es
umso wichtiger, geeignete psychologische und sozialtherapeutische Maßnahmen für Mehrfachkonsumenten zu entwickeln und anzuwenden.
Wirksamkeit von Psychotherapie
Die Effektivität kontingenter Verstärkung in Bezug auf eine Verbesserung der Haltequote und
der Reduzierung bzw. Abstinenz von Substanzkonsum konnte nicht nur in der Behandlung
von Alkohol-, Cannabis-, Nikotin- und Opiatabhängigen, sondern auch bei der Behandlung
von Kokainabhängigkeit nachgewiesen werden. Eine Metaanalyse zum Kontingenz Management (CM) in ambulanter Methadontherapie kommt zu dem Ergebnis, dass eine CMIntervention signifikant zu einer Reduzierung positiver Urinproben führte. Die Integration des
Kontingenz Managements in den Gemeindenahen Verstärkeransatz (Community Reinforcement Approach, CRA) ebenso wie die Ansätze zur Rückfallprävention haben sich bei der
Behandlung substanzbezogener Störungen als wirkungsvoll erwiesen. Eine Metaanalyse zur
Therapie von Kokainabhängigen, in die 27 Studien mit supportiven, verhaltenstherapeutischen und psychotherapeutischen Ansätzen eingingen, berichtete für behaviorale Ansätze
im Vergleich zu behandelten Kontrollgruppen insgesamt eine Effektstärke von 0,24. Die Effekte in den supportiven und psychotherapeutischen Gruppen waren nicht signifikant.
In der NIDA-Kokain-Therapiestudie (National Institute on Drug Abuse Collaborative Cocaine
Treatment Study) zeigten alle Behandlungsgruppen (kognitive Verhaltenstherapie, psychodynamische Therapie (Supportiv-expressive Therapie), individuelle Drogenberatung nach
dem 12-Schritte Programm in Kombination mit Gruppendrogenberatung) eine signifikante
Reduktion des Kokainkonsums. Die individuelle Drogenberatung mit Gruppensitzungen war
den beiden anderen Therapien jedoch in der Reduktion des Kokainkonsums und gemessen
an der Anzahl Tage mit Kokainkonsum im letzten Monat überlegen. Ein Vergleich stationärer
und ambulanter Therapien (Drug Abuse Treatment Outcome Study ) kommt zu dem Schluss,
dass Patienten mit einem hohen Störungsgrad mit größerer Wahrscheinlichkeit von einer
stationären Langzeittherapie profitieren, während für Klienten mittleren Störungsgrads längerfristige ambulante Therapien am geeignetsten und zudem kostengünstiger sind.
Kurzfassung
13
Spezifische Klienten- und Therapiemerkmale
Vergleiche von kokainabhängigen Klienten, die mit unterschiedlichen Therapieformen unterschiedlicher Dauer und Intensität behandelt wurden, zeigen, dass bestimmte Klientencharakteristiken die Erfolgsaussichten verschlechtern. Klienten, welche dazu neigen, die Therapie
frühzeitig abzubrechen und infolgedessen ihren Kokainkonsum nur wenig verringern können,
sind im Durchschnitt jünger, weniger gebildet und Angehörige ethnischer Minderheiten. Abgesehen von diesen allgemeinen Klientenmerkmalen verschlechtert sich die Aussicht auf
einen erfolgreichen Verlauf der Therapie erheblich, wenn Klienten neben dem regelmäßigen
Konsum von Kokain eine Abhängigkeitsdiagnose für weitere Substanzen haben.
Kokainabhängige mit komorbiden psychischen Störungen sind im Vergleich zu Klienten ohne
psychische Beeinträchtigung benachteiligt. Für einige Therapieformen konnten aber für komorbide Klienten positive Effekte auf die Abstinenzrate, die Haltequote sowie den psychischen Zustand nachgewiesen werden. So berichteten mehrere Studien von Therapieerfolgen, wenn Klienten mit psychischen Störungen mit Rückfallprävention behandelt wurden. Die
Behandlung mit gemeindebezogenen Therapieansätzen führte bei komorbiden Klienten
ebenfalls zu positiven Ergebnissen. Zudem bewirkte eine zusätzliche Behandlung mit Psychopharmaka, dass komorbide Klienten häufiger Abstinenz erlangten als Klienten, die stattdessen ein Placebo verabreicht bekamen.
In ambulanten Therapiesettings beträgt die Abbruchquote von Kokainabhängigen durchschnittlich 55%. Eine Therapie kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, den
Klienten über einen Mindestzeitraum von drei Monaten in der Therapie zu halten. Für vorzeitigen Abbruch spielen die Therapieform, das Therapiesetting, eine begleitende Pharmakotherapie und die Analyse von speziellen Bedürfnissen bestimmter Klientengruppen eine
entscheidende Rolle. Unabhängig vom Behandlungssetting führt eine höhere Behandlungsintensität häufiger zu besseren Therapieergebnissen. Allerdings unterliegen diese Ergebnisse bestimmten Selektionskriterien. Viele kokainabhängige Klienten sind eher bereit, sich einer weniger zeitaufwändigen ambulanten Therapie zu unterziehen, als einer stationären Behandlung. So haben ambulante Therapien aufgrund ihrer Reichweite häufig einen Vorteil,
wenn es darum geht, eine langfristige Behandlung anzubahnen. Ambulante Therapien erweisen sich zudem bei der Behandlung von Klienten mit mittleren psychischen Störungen als
geeigneter als stationäre Therapien. Der höhere Kostenaufwand bei stationären Behandlungen ist daher bei Patienten mit hohem Grad an psychischen Störungen gerechtfertigt. Eine
Metaanalyse zeigt nur geringe Effekte von Supportiver Psychotherapie, Verhaltenstherapie
und Psychotherapie auf die Haltequote. In Abhängigkeit des Beobachtungsintervalls waren
in den meisten Bedingungen die Haltequoten in den Experimentalbedingungen schlechter
als in den Kontrollbedíngung. Ingesamt zeigten lediglich die psychotherapeutischen und dabei insbesondere familientherapeutische Ansätze gute Effekte auf die Haltequote bis zu einem Jahr in Behandlung.
14
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Wirksamkeit von Pharmakotherapie
Studien zur Effektivität pharmakologischer Behandlung der Kokainabhängigkeit kommen zu
dem übereinstimmenden Ergebnis, dass es für eine medikamentöse Behandlung der Kokainabhängigkeit keine wissenschaftliche Grundlage gibt. Eine Erklärung für dieses Ergebnis
ist, dass der Behandlungserfolg stark von der Motivation und Compliance der Patienten abhängt, so dass es sehr unwahrscheinlich ist, mittels einer rein pharmakologischen Behandlung eine Verhaltensänderung zu bewirken, sprich eine Reduktion des Kokainkonsums zu
erreichen. Gerade die hohen Dropout Raten weisen daraufhin, dass die Compliance gezielt
gefördert werden muss, um die Effekte der pharmakologischen Behandlung zu verbessern.
Die Kokainabhängigkeit ist damit eine der wenigen Abhängigkeitserkrankungen, bei der die
Psychopharmakologie keine effektive Substanz zur Entwöhnungstherapie entwickelt hat. Es
wurden zwar leichte Effekte für Antidepressiva, Amantadin und Phenylphenidat gefunden,
die jedoch wegen Komorbiditätseffekten nicht eindeutig interpretiert werden können. Die
pharmakologische Behandlung darf allerdings nur als ein kleiner Teil innerhalb des Settings
gesehen werden, die eingebettet ist in die psychosoziale Therapie und Rehabilitation. Die
Kombination von Psychotherapie und pharmakolgischer Behandlung wurde bislang nur wenig untersucht, obwohl die bisherigen Ergebnisse positiv sind.
Integrierte Pharmakotherapie und Psychotherapie
Während sich in der Behandlung Opiat- und Alkoholabhängiger mit Hilfe von Pharmaka Erfolge abzeichnen, liegen keine positiven Befunde über die Wirksamkeit einer pharmakologische Behandlung bei Kokainabhängigkeit vor. Es gibt aber Hinweise auf einen additiven Effekt einer Disulfiram Behandlung in Verbindung mit Psychotherapie. Unabhängig von der Art
der Behandlung erhöhte eine Behandlung mit Disulfiram die Therapiehaltezeit. Zudem erreichen Klienten mit einer Disulfiram Behandlung signifikant längere Kokain-, Alkohol- oder
kombinierte Kokain- und Alkoholabstinenz im Vergleich zu Klienten ohne eine Disulfiram Behandlung. Eine Disulfiram Behandlung im Zusammenhang mit dem gemeindenahen Verstärkermodell zeigte ebenfalls bei diesen Klienten um das zweifache niedrigere Raten in Bezug
auf Alkoholkonsum und negative Kokain-Urinproben. Diese Ergebnisse sind insbesondere
vor dem Hintergrund einer zusätzlichen Alkoholabhängigkeitsdiagnose bei kokainabhängigen
Klienten von über 60% als positiv zu bewerten.
Behandelte und unbehandelte Kokainkonsumenten
Unterschiede zwischen unbehandelten und behandelten Drogenkonsumenten wurden bislang nur in geringem Umfang untersucht. Die Ergebnisse der wenigen vorliegenden Studien
dazu sind überwiegend widersprüchlich, so dass keine eindeutigen Schlussfolgerungen gezogen werden können, wie sich behandelte oder unbehandelte Kokainkonsumenten in ihrem
Kokainkonsum, im Konsum anderer Substanzen, in ihren sozialen Netzwerken oder im devianten Verhalten unterscheiden. Eindeutiger sind die Ergebnisse zu den Konsequenzen des
Kokainkonsums, die bei Personen in Behandlung schwerwiegender als bei Unbehandelten
waren. Möglicherweise könnten auch Faktoren wie eine erhöhte Aufmerksamkeit für die
Kurzfassung
15
Konsequenzen oder Rationalisierungsprozesse (z. B. ”Wenn ich eine Behandlung aufsuche,
muss mein Kokainkonsum aus den Bahnen geraten sein.”) in der Gruppe der Behandlungssuchenden dazu beigetragen haben, dass sie verstärkt negative Folgen ihres Kokainkonsums berichteten. Eindeutig waren auch die Ergebnisse zu psychischen Symptomen, unter
denen behandelte Kokainkonsumenten stärker litten als unbehandelte. Gründe für die widersprüchlichen Ergebnisse könnten zum einen in der eingeschränkten Vergleichbarkeit der
Studien liegen, zum anderen könnten Studienmängel die inkonsistenten Ergebnisse bedingen. Nicht nur die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse, sondern auch zwei weitere Faktoren
erschweren die Übertragung der Ergebnisse in unseren Kulturkreis: Zum einen stammen die
vorliegenden Ergebnisse aus dem amerikanischen Sprach- und Kulturraum. Zum anderen
wurden die Studien 1985 bzw. 1992 veröffentlicht. Verschiebungen in den Unterschieden
zwischen behandelten und unbehandelten Kokainkonsumenten in der Zwischenzeit sind
nicht auszuschließen. Damit bleibt unklar, inwiefern sich deutsche Kokainkonsumenten mit
bzw. ohne Behandlung voneinander unterscheiden.
Prävention
Verbreitung und Gebrauchsmuster des Kokainkonsums stellen aus Sicht der Präventionsforschung kein eigenes, spezifisches Feld dar, so dass große empirische Studien fehlen. Primärpräventive Konzepte zielen auf die Verhinderung des Substanzgebrauchs im allgemeinen. Kokain ist keine typische Einstiegsdroge, der Konsum von Kokain findet in aller Regel
erst dann statt, wenn schon andere Substanzen konsumiert werden. Primärpräventive Programme fördern allgemeine Lebenskompetenzen und sind insofern substanzunspezifisch.
Kokain ist lediglich ein Informationsbestandteil der entsprechenden Programme.
Ziel der Sekundärprävention ist es, bei etablierten Gebrauchsmustern auf weniger schädliches Konsumverhalten hinzuwirken. Da Kokaingebrauch typischerweise im Rahmen polyvalenten Drogenkonsums stattfindet, ist es für die Implementierung präventiver Maßnahmen
weniger relevant, ob Kokain konsumiert wird, sondern zu welcher Szene mit ihren eigenen
Konsumformen und Risiken eine Person gehört. Ob neben den anderen Substanzen auch
Kokain genommen wird, ist dann eher als Erschwernis der bestehenden Problematik interpretierbar. Im Bereich der Technoszene sind Konsumreduktion und Verringerung des Polykonsums also auch des zusätzlichen Konsums von Kokain, Präventionsziele. Innerhalb der
Szene der Opiatabhängigen, die auch einen hohen Kokainbeikonsum aufweisen können,
greifen Maßnahmen der Harm Reduction, deren Ziele die Verbesserung der Lebensqualität,
der Gesundheit und Reduktion von Risiken sind. Bevölkerungsweite kokainspezifische Präventionsmaßnahmen scheinen in Deutschland und Europa zur Zeit nicht indiziert. Allerdings
sollten Trends des Kokainkonsums durch Monitoring- und Frühwarnsysteme in den verschiedenen Szenen beobachtet werden, um im Falle einer Änderung von Konsumgewohnheiten frühzeitig spezifisch intervenieren zu können.
17
1
Einleitung
Kokain hat in den 1980er Jahren eine erhebliche Ausbreitung in den USA erfahren (Rouse,
1991). Diese Zunahme, die sich im Laufe der 1990er Jahre deutlich abgeschwächt hat, hat
zu einer Fülle wissenschaftlicher Untersuchungen geführt, die das Ziel hatten, Erkenntnisse
über Verbreitung (vgl. Johnston, O'Malley & Bachman, 2003; Schober & Schade, 1991),
Konsummuster (vgl. Erickson et al., 1994; Kozel & Adams, 1993), Risiken (vgl. Compton et
al., 1998; Irwin et al., 1996; Hartsock & Genser, 1991), Therapie (vgl. Tims & Leukefeld,
1993; Onken & Blaine, 1990) und Prävention (vgl. Leukefeld & Bukoski, 1991) zu gewinnen.
Surveydaten in Europa weisen trotz geringfügig zunehmender Prävalenzen auf keine Epidemie des Kokainkonsums hin (European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction,
2003). Die geringe Verbreitung in Europa und in anderen Regionen hat umgekehrt kaum
wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema Kokain ausgelöst, so dass in einer Phase
zunehmenden öffentlichen Interesses für dieses Thema der überwiegende Teil der Literatur
aus dem nordamerikanischen Raum kommt. Ein Umstand, der an vielen Stellen die Frage
nach der Anwendbarkeit dieser Erkenntnisse auf die spezifischen Verhältnisse in Europa
aufkommen lässt.
Epidemiologie und Risikoverhalten fallen regional unterschiedlich aus. Aufgrund der in der
überwiegenden Mehrheit der Länder der Europäischen Union (EU) regelmäßig durchgeführten Surveys stehen aber ausreichend Daten zu Verfügung (European Monitoring Centre for
Drugs and Drug Addiction, 2003). Trotz geringer Prävalenz sind, wenn auch in geringem
Umfang, auch Studien über Kokainkonsumenten in Europa durchgeführt worden (vgl. Cohen
& Sas, 1993; Decorte, 2002). So gut wie nicht verfügbar sind dagegen europäische und insbesondere deutsche Studien zur Behandlung von Kokainabhängigen. Im Zuge des zunehmenden polyvalenten Konsums unter Heroinabhängigen weisen erste Befunde jedoch auf
eine zunehmende Problematik in dieser Klientel im Umgang mit Kokain und auch Crack hin
(vgl. Stöver, 2001; Verthein et al., 2001). In diesem Zusammenhang sind daher die nordamerikanischen Studienergebnisse von hohem Interesse, müssen aber vor dem Hintergrund des
europäischen Verständnisses im Umgang mit Drogenabhängigen sowie den besonderen
regionalen Verhältnissen des Drogenhilfesystems betrachtet werden.
Die in der vorliegenden Übersicht eingegangenen Studien wurden mit Hilfe der von Lipsey
und Wilson (2000) vorgeschlagenen Suchstrategien ausgewählt: (1) Stichwortsuche in den
Datenbanken MEDLINE, EREC, Mbase, PsycInfo und PsycIndex, (2) Literaturübersichten
und Reviews, (3) Literaturhinweise in publizierten Studien, (4) Bibliographien und (5) Stichwortsuche in relevanten Journals. Eine Recherche in den entsprechenden Datenbanken mit
dem Stichwort Kokain und der Einschränkung auf Referenzen, die seit 1990 publiziert wurden, lieferte eine Auswahl von 10.420 Referenzen. In der weiteren Suche mit relevanten
Schlüsselwörtern für die in den jeweiligen Kapiteln behandelten Themen beschränkten wir
uns auf Publikation, die explizit das Thema Kokain behandelten. Beiträge, deren Schwerpunkt nicht auf Kokain lag, wurden hinsichtlich der Relevanz der Ergebnisse in Bezug auf
Kokain gesichtet, blieben aber weitestgehend unberücksichtigt. In den Fällen, in denen aktuelle Literaturreviews vorlagen, wurde überwiegend auf eine Sichtung der in diesen Übersich-
18
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
ten behandelten Primärliteratur verzichtet. Hier konzentrierte sich die Suche insbesondere
auf die relevante Literatur, die zum selben Thema nach dem Erscheinen der Reviews publiziert wurden.
Die vorliegende Literaturübersicht bedient sich der narrativen, qualitativen Form der Aufbereitung und Zusammenfassung des Forschungsstandes ausgewählter Themen und nimmt
insbesondere Bezug auf bestehende Übersichten, da die Literatur ohne diese wertvollen
Reviews kaum zu bewältigen wäre. Die einzige Metaanalyse zur Therapie Kokainabhängiger, in der insgesamt 27 Studien auf ihre Effektstärke untersucht wurden, stammt von
Berglund, Thelander und Jonsson (2003). Aufgrund dieser aktuell vorliegenden metaanalytischen Ergebnisse wurde auf eine eigene Metaanaylse zur Wirksamkeit zur Therapie von
Kokainabhängigkeit verzichtet.
Die vorliegende Literaturübersicht widmet sich insbesondere den Themen der Verbreitung
von Kokainkonsum, Missbrauch und Abhängigkeit sowie den mit dieser Drogen verbundenen
Konsumentencharakteristiken (Kapitel 2), Konsummustern (Kapitel 3) und negativen Konsequenzen (Kapitel 4). Neben Risikofaktoren des Einstiegs in den Kokainkonsum (Kapitel 5)
werden Komorbidität (Kapitel 6) sowie Muster und Wirkungen des Mischkonsums von Kokain
und anderen psychoaktiven Substanzen (Kapitel 7) beleuchtet. Von hohem Interesse ist die
Wirksamkeit von Psychotherapie bei Kokainabhängigen. In Kapitel 8 werden klinische Studien zur Effektivität psychotherapeutischer Verfahren dargestellt und in Kapitel 9 wird ein
Überblick über den Stand der Wirksamkeit von Pharmakotherapie gegeben. Die wenigen
Ergebnisse zum Forschungsstand der Unterschiede zwischen behandelten und unbehandelten Kokainkonsumenten werden in Kapitel 10 behandelt. Abschließend wird unter dem Aspekt evidenz-basierter Ergebnisse auf Strategien der Prävention von Kokainkonsum und
kokainbezogene Störungen eingegangen (Kapitel 11).
Literatur
Berglund, M., Thelander, S. & Jonsson, E. (Eds.) (2003). Treating Alcohol and Drug Abuse: An Evidence Based
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Einleitung
19
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21
2
Epidemiologie des Kokainkonsums
Alexander Hose und Ludwig Kraus
2.1
Einleitung
Kenntnisse über Umfang und Verbreitung des Konsums psychoaktiver Substanzen sind notwendige Voraussetzungen suchtspezifischer Maßnahmen. Die Epidemiologische Forschung
über Entstehung und Ursachen substanzbezogener Störungen in der Bevölkerung liefert mit
ihren Ergebnissen die Grundlage für die Bedarfsplanung (Prävention und Therapie) sowie für
die Optimierung von Versorgungssystemen. Für die Abschätzung der Verbreitung von Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit bestimmter psychotroper Substanzen werden in der Regel Zufallsstichproben in bestimmten Populationen erhoben. Aufgrund der relativ geringen
Verbreitung des Kokainkonsums in der Bevölkerung benötigt man aber zur Untersuchung
von Konsumentencharakteristiken Studien in spezifischer Populationen. Die folgende Übersicht zur Konsumprävalenz stützt sich auf verfügbare nationale und internationale Literatur
über Studien in der Allgemeinbevölkerung, zieht aber die im Internet zur Verfügung gestellten Übersichten mit in die Auswertung ein. Für die Übersicht zu Konsummuster und Charakteristiken der Konsumenten stützen wir uns auf Originalarbeiten und Übersichtsartikel insbesondere von Studien, deren Ergebnisse sich auf Stichproben von Konsumenten oder Klienten in therapeutischer Behandlung beziehen.
2.2
Verbreitung des Kokainkonsums
2.2.1 Lebenszeiterfahrung
Die Prävalenz der Konsums psychoaktiver Substanzen in der Bevölkerung wird in der Regel
mit Hilfe von Bevölkerungssurveys geschätzt. In Deutschland gaben in der Epidemiologischen Suchtstudie 2000 (Kraus & Augustin, 2001) insgesamt 2,8% der befragten 18- bis 59Jährigen an, jemals in ihrem Leben Kokain konsumiert zu haben, der Prävalenzwert für 2003
beträgt 3,0% (Kraus, Semmler & Augustin, 2004). Vergleichbare Studien in Großbritannien
im Jahr 2000 (British Crime Survey; Ramsay et al., 2001) und den Niederlanden im Jahr
2001 (Abraham, Kaal & Cohen, 2002) ermittelten höhere Lebenszeitprävalenzwerte für die
16- bis 59-jährige Bevölkerung in Großbritannien (5%) sowie die über 12-Jährige Bevölkerung in den Niederlanden (2,9%).
Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (2003) veröffentlichte in
ihrem Jahresbericht 2003 die Ergebnisse der jüngsten Erhebungen zum Lebenszeitkonsum
von Kokain in der 15- bis 64-jährigen Bevölkerung in allen Ländern der EU. Es zeigt sich,
dass Finnland (0,6%) und Schweden (1,0%), aber auch Portugal (0,9%) und Griechenland
(1,3%) die EU-Länder mit der bezogen auf den Lebenszeitkonsum geringsten Verbreitung
von Kokain in der Bevölkerung sind. Zusammen mit Deutschland liegen die weiteren zentraleuropäischen EU-Länder Frankreich (2,2%), Dänemark (2,5%, 16 bis 64 Jahre) und die Nie-
22
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
derlande (3,6%) sowie Italien (3,3%; 15 bis 44 Jahre) im europäischen Mittelfeld. Als Ausnahme unter den skandinavischen Ländern ist auch Norwegen mit einem Lebenszeitprävalenzwert von 2,2% hier zu finden. Nach Großbritannien erweist sich Spanien mit 4,9% kokainerfahrenen Personen in seiner Bevölkerung als das Land mit dem zweitgrößten Verbreitungsgrad dieser Droge innerhalb der EU (vgl. Tabelle 2-1).
In den USA hat die Verbreitung von Kokainkonsum in der Bevölkerung seit langem weltweit
das stärkste Ausmaß (United Nations Office on Drugs and Crime, 2003). Die Daten hierzu
werden regelmäßig im Rahmen des jährlich durchgeführten „National Survey on Drug Use
and Health (NSDUH)“ erhoben. Für das Jahr 2000 wurde in den USA in der Bevölkerung ab
12 Jahre eine Lebenszeitprävalenz von 11,2% festgestellt (Office of Applied Studies, 2001).
Auch für Kanada wird im Vergleich zu Europa eine weit höhere Erfahrung mit Kokain in der
Bevölkerung ab 18 Jahren (6,4%) berichtet (Adlaf & Ialomiteanu, 2001).
Für einige Ländern der anderen Kontinente liegen ebenfalls Studien vor, die Auskunft über
das Ausmaß des Drogenkonsums und somit meistens auch des Kokaingebrauchs geben. So
wurden in den klassischen Anbaugebieten der Coca-Pflanze Anfang der 90er Jahre ähnlich
wie in Europa große repräsentative Bevölkerungsssurveys durchgeführt. Montoya und Chilcoat (1996) verglichen in einer Übersichtsstudie die zwischen 1990 und 1992 erhobenen
Prävalenzwerte des Kokain- bzw. Kokainderivatekonsums in den Ländern Bolivien, Kolumbien, Ekuador, Peru und Venezuela. Die Lebenszeitprävalenz des Gebrauchs von Kokain in
diesen Ländern variiert zwischen 0,9% und 1,8%, unter Hinzunahme des Konsums von Coca-Paste nimmt die Prävalenz bis auf 3,0% zu.
Auch für den australischen Kontinent liegen vergleichbare Zahlen vor. Dort wird für das Jahr
2001 die Lebenszeitprävalenz des Kokainkonsums für die gesamte Bevölkerung ab 14 Jahren mit 4,4% angegeben (Australian Institute of Health and Welfare, 2003). Der gleiche Prävalenzwert wurde im Rahmen des 1998 National Drug Survey auch für die 15- bis 45-Jährige
Bevölkerung Neuseelands ermittelt (New Zealand Health Information Service, 2001).
In Asien wurde ein großer epidemiologischer Survey zum Gebrauch illegaler Drogen in
sechs Hochrisiko-Regionen in China (Hao et al., 2002) durchgeführt, bei dem lediglich 0,2%
der Befragten angab, jemals im Leben Kokain konsumiert zu haben (vgl. Tabelle 2-2).
Epidemiologie des Kokainkonsums
23
Tabelle 2-1: Übersicht über Lebenszeit- und 12-Monats-Prävalenzen aus nationalen Studien in Europa
Studie
Land
Jahr
Lebenszeit
Alter
Kraus & Augustin, 2001
1)
1)
Kraus & Augustin, 2004
Kokkevi et al., 2000
2)
Ramsay et al., 2001
1)
Condon & Smith, 2003
1)
Abraham, Kaal & Cohen,
2)
2002
Pardo, 2001
1)
EMCDDA, 2002, 2003
2)
Jahr
%
12-Monate
Alter
%
Deutschland
2000
18-59
2,3
2000
18-59
0,8
Deutschland
2003
18-59
3,0
2003
18-59
0,8
Griechenland
1998
12-64
0,2
Großbritannien
2000
16-59
5,0
2000
16-59
2,0
Großbritannien
2002/03
2002/03
16-59
2,1
Niederlande
2001
12+
2,9
2001
12+
0,9
Spanien
1999
15-64
3,1
1999
15-64
1,5
Belgien
1994
18-65
0,5
Dänemark
2000
16-64
2,5
2000
16-34
2,0
Deutschland
2000
18-59
2,3
2000
18-34
1,9
Finnland
2000
15-64
0,6
2000
15-34
0,5
Frankreich
2002
15-64
2,2
2000
15-34
0,5
Griechenland
1998
15-64
1,3
1998
15-34
1,0
Großbritannien
2003
16-59
5,2
2000
16.34
3,3
1998
18-34
2,6
1997/98
15-34
1,4
Irland
Italien
2001
15-44
3,3
Niederlande
2001
15-64
3,6
Luxemburg
1998
15-64
0,2
Norwegen
1999
15-64
2,2
1999
15-34
1,0
Portugal
2001
15-64
0,9
2001
15-34
0,6
Schweden
2000
15-64
1,0
2000
15-34
0,0
Spanien
2001
15-64
4,9
1999
15-34
2,7
1) nur Kokain; 2) jede Form von Kokain
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
24
Tabelle 2-2: Übersicht über Lebenszeit- und 12-Monats-Prävalenzen aus nationalen Studien außerhalb Europas
Studie
Land
Jahr
Lebenszeit
Alter
Office of Applied Studies, 2001
Office of Applied Studies, 2003
Adlaf & Ialomiteanu, 2001
1)
1)
2)
12-Monate
%
Alter
%
USA
2000
12+
11,2
12+
1,5
USA
2002
12+
14,4
12+
2,5
Kanada
2000
18+
6,4
18+
1,2
Bolivien
1990
10-25
0,9
1)
Ekuador
1990
10.65
1,2
1)
/ 1,4
3)
Kolumbien
1992
12-60
1,5
1)
/ 1,5
3)
Peru
1990
16-48
0,8
3)
Venezuela
1992
18+
1,8 / 0,8
China
1996
15-
0,2
Australian Institute of Health and
2)
Welfare, 2003
Australien
2001
14+
4,4
14+
1,3
New Zealand Health Information
1)
Service, 2001
Neuseeland
1998
15-45
4,4
15-45
1,1
Montoya & Chilcoat, 1996
Hao et al., 2002
2)
1) nur Kokain; 2) jede Form von Kokain 3) Kokapaste
1)
3)
Epidemiologie des Kokainkonsums
25
2.2.2 Aktueller Konsum
Neben der Lebenszeiterfahrung wird in Bevölkerungssurveys der Konsum in den letzten 12
Monaten als Indikator für die aktuelle Verbreitung erhoben. Wie sich zeigt, ist der aktuelle
Konsum weit seltener als die Lebenszeitprävalenz. Für Deutschland wird für die erwachsene
Bevölkerung im Jahr 2000 wie auch im Jahr 2003 eine 12-Monats-Prävalenz von 0,8% angegeben (Kraus & Augustin, 2001; Kraus, Semmler & Augustin, 2004). Da der erhobene
Gesamtwert in den Niederlanden mit 0,9% auf die Bevölkerung ab 12 Jahren bezogen ist,
dürfte die Prävalenz in der Erwachsenenbevölkerung etwas höher sein (Abraham, Kaal &
Cohen, 2002). Deutlich höher ist der aktuelle Konsum in Großbritannien, den 2,1% der 16bis 59-Jährigen berichten (Condon & Smith, 2003).
Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (2002) verglich in ihrem
Jahresbericht 2002 den aktuellen Kokainkonsum unter jungen Erwachsenen im Alter zwischen 15 und 34 Jahren auf der Basis der jüngsten Erhebungen in den jeweiligen Ländern.
Geordnet nach dem Ausmaß des Konsums gibt dieser Bericht folgende Prävalenzwerte an:
Großbritannien 3,3%, Spanien 2,7%, Irland 2,6%, Dänemark 2%, Deutschland 1,9%, Niederlande 1,4%. In den anderen Ländern wurde entweder kein vergleichbarer Wert erhoben oder
er liegt bei 1% oder geringer, wie etwa in den skandinavischen Ländern (vgl. Tabelle 2-1).
Insbesondere in den USA (1,5%; ab 12 Jahre) und Kanada (1,2%; ab 18 Jahre) weisen die
aktuellen Konsumprävalenzen im Vergleich zur Lebenszeiterfahrung (USA: 11,2%; Kanada:
6,4%) weit geringere Werte auf (Office of Applied Studies, 2001; Adlaf & Ialomiteanu, 2001).
Gleiches gilt für Australien (1,3%, ab 14 Jahren) und Neuseeland (1,1%, 15 bis 45 Jahre). In
diesen beiden Ländern sind jeweils ein Viertel der Lebenszeitkonsumenten von Kokain auch
aktuelle Konsumenten (Australian Institute of Health and Welfare, 2003; New Zealand Health
Information Service, 2001) (vgl. Tabelle 2-2).
Insgesamt weisen Übersichten aus dem Bericht „Global Illicit Drug Trends“ der Vereinten
Nationen (United Nations Office on Drugs and Crime, 2003) zur weltweiten Verbreitung des
Kokainkonsums darauf hin, dass das Hauptverbreitungsgebiet von Kokain die Industrienationen der westlichen Welt, insbesondere die Staaten Nordamerikas sind.
2.2.3 Alter und Geschlecht
Die Epidemiologische Suchtstudie 2000 (Kraus & Augustin, 2001) weist für den Lebenszeitkonsum unter den 25- bis 29-Jährigen mit 5,2% die höchste Prävalenzrate auf, bezüglich der
12-Monatsprävalenz erreichen die 21- bis 24-Jährigen mit 2,3% den höchsten Prävalenzwert. Die Lebenszeiterfahrung ist unter den 21- bis 24-Jährigen mit 4,2% und den 30- bis
39-Jährigen mit 3,0% noch recht ausgeprägt, die Altersklasse mit dem zweithöchsten aktuellen Konsumwert sind die 18- bis 20-Jährigen mit 2,2%.
26
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Die Ergebnisse des jüngsten British Crime Surveys (Condon & Smith, 2003) weisen ebenfalls auf eine größere Verbreitung des aktuellen Kokainkonsums unter den Jugendlichen und
jungen Erwachsenen (4,7%; 16 bis 24 Jahre) hin. Die Prävalenz aktuellen Konsums bei den
25- bis 36-Jährigen liegt bei 3,7%. Ein ähnliches Bild zeigt sich in den Niederlanden. Auch
hier sind sowohl beim Lebenszeitkonsum mit 8,6% als auch beim aktuellen Konsum mit
1,6% die 20- bis 24-Jährigen die am stärksten kokainkonsumierende Altersgruppe (Abraham, Kaal & Cohen, 2002). In Spanien werden die höchsten Lebenszeitprävalenzen bei den
10- bis 34-Jährigen berichtet: zwischen 7,1% und 7,9% der 20- bis 24-, 25- bis 29- und 3034-Jährigen Männer haben schon einmal Kokain genommen, bei den Frauen sind es in den
gleichen Altersgruppen zwischen 2,6% und 3.2% (Pardo, 2001). Trotz ebenfalls erhöhter
Werte bei den jungen Erwachsenen sind die Anteile der Kokainlebenszeiterfahrung bei den
18- bis 24-Jährigen (2,2%) und 25- bis 35-Jährigen (2,7%) in Griechenland im Vergleich zu
den anderen Ländern etwas niedriger (Kokkevi et al., 2000).
Nach den aktuellsten Erhebungen in den USA aus dem Jahr 2002 wird für 12- bis 17-Jährige
ein Lebenszeitprävalenzwert von 2,7% und in der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen jungen Erwachsenen eine Lebenszeitprävalenz von 15,4% berichtet. In der Altersgruppe der
26- bis 49-Jährigen hat fast jeder Vierte (24%) schon einmal Kokain konsumiert. In den letzten 12 Monaten berichteten 2,1% der 12- bis 17-Jährigen und 6,7% der 18- bis 25-Jährigen
über zumindest einmaligen Kokainkonsum. Bei den 26- bis 34-Jährigen waren dies 3,6%
(Office of Applied Studies, 2003).
Eine Ausnahme der bisher dargestellten Tendenz, dass die Prävalenzen für den aktuellen
Kokainkonsum unter den noch jüngeren Erwachsenen bis etwa zum 25. Lebensjahr in allen
dargestellten Ländern am ausgeprägtesten sind, bilden die südamerikanischen Länder. Hier
wird übereinstimmend festgestellt, dass aktueller Kokainkonsum unter den 30- bis 39Jährigen am Häufigsten auftritt (Montoya & Chilcoat, 1996).
Die Epidemiologische Suchtstudie 2000 (Kraus & Augustin, 2001) und der US-amerikanische
National Survey on Drug Use and Health 2002 (Office of Applied Studies, 2003) weisen jeweils für die in ihrem Rahmen befragten Personen ab 18 Jahren (Deutschland begrenzt bis
59 Jahre) bezüglich ihres Kokainkonsums ein fast identisches Geschlechterverhältnis auf. In
beiden Ländern kommen bezogen auf die Lebenszeitprävalenz auf jeweils eine erhobene
kokainerfahrene Konsumentin 1,6 Männer, aktueller Kokainkonsum findet sich bei jeweils
mehr als doppelt so vielen Männern als Frauen (Deutschland: 2,2:1; USA: 2,3:1). In Großbritannien beträgt das Verhältnis Männer zu Frauen in Bezug auf die Lebenszeitprävalenz 2,3
und hinsichtlich der aktuellen Prävalenz 3,0 (Ramsay et al., 2001). Ein ähnliches Verhältnis
der Prävalenz der Lebenszeiterfahrung von Kokain bei Männern zu Frauen findet sich in
Spanien und Griechenland. Auf eine Frau, die Kokain zumindest schon einmal genommen
hat, kommen in Griechenland 2,3 und in Spanien 2,1 Männer mit Kokainerfahrung (Kokkevi
et al., 2000; Pardo, 2001). Für die Länder der südamerikanischen Andenregion wird relativ
übereinstimmend ein hoher Anteil männlicher Kokain- und Coca-Pastekonsumenten mit einem Verhältnis von 8:1 angegeben (Montoya & Chilcoat, 1996).
Epidemiologie des Kokainkonsums
27
2.2.4 Trends des Kokainkonsums
Die Beschreibung von Konsumtrends erfordert eine kontinuierliche und methodisch vergleichbare Erfassung von Prävalenzdaten. Derartige Informationen liegen nur für wenige
Länder vor. In Deutschland konnte auf der Grundlage von wiederholten Bevölkerungssurveys bei Jugendlichen und Erwachsenen über einen Zeitraum von bis zu 23 Jahren eine nur
geringe Zunahme der Kokain-Lebenszeiterfahrung bei insgesamt deutlicher Zunahme der
Gesamtdrogenerfahrung festgestellt werden (Kraus, Semmler & Augustin, 2004). Nach einem Zunahme der Kokain-Lebenszeitprävalenz in Westdeutschland zwischen 1980 und
1997 in der Altersgruppe der 12- bis 17-Jährigen und 18- bis 24-Jährigen, ist die Prävalenz
ab 1997 wieder leicht gefallen, während sie bei den 25- bis 34-Jährigen zwischen 1997 und
2003 unverändert geblieben ist und bei den 35- bis 54-Jährigen sogar leicht zugenommen
hat. Ingesamt zeigte sich bei den 18- bis 24-Jährigen Westdeutschen zwischen 1980 und
2003 eine Zunahme von 0,6% auf 4%. In Ostdeutschland ist die Prävalenz der Kokainerfahrung seit 1990 insbesondere in den Altersgruppen der 18- bis 24-Jährigen und den 25- bis
34-Jährigen leicht aber kontinuierlich gestiegen.
Mittelfristige Konsumtrends für Kokain sind aus Großbritannien bekannt. Die 12-MonatsPrävalenz der 16- bis 29-Jährigen Briten stieg zwischen 1994 und 2000 von 1,2% auf 4,9%.
Die 12-Monats-Prävalenz der 16- bis 59-Jährigen ist zwischen 1996 und 2000 um fast das
Dreifache von 0,6% auf 1,7% gestiegen. Die Prävalenzen des aktuellen Kokainkonsums der
jungen Erwachsenen mit der größten Veränderungsdynamik bezüglich ihres Drogenkonsums
als auch die der gesamten Population sind für das Jahr 2000 signifikant höher als noch bei
den Erhebungen aus den Jahren 1994, 1996 und 1998 (Ramsay et al., 2001). In den seither
durchgeführten Studien des British Crime Surveys für die Jahre 2001/02 und 2002/03 bleiben die Prävalenzen des aktuellen Kokainkonsums in Großbritannien auf dem Niveau des
Jahres 2000 (Condon & Smith, 2003). In den Niederlanden zeigt sich insgesamt zwischen
1997 und 2001 nur eine leichte Zunahme aktueller Kokainerfahrung von 0,6% auf 0,9%. Bei
den 16- bis 19-Jährigen wird ein Zunahme von 2,3% auf 2,7% berichtet, bei den 20- bis 24Jährigen nahm sie von 3,9% auf 8,6% zu (Abraham, Kaal & Cohen, 2002).
Trends des Kokainkonsums werden ebenfalls für Spanien und Griechenland berichtet. Während in Spanien zwischen 1995 und 1999 keine Veränderungen in den Prävalenzen des Kokainkonsums zu beobachten sind (Pardo, 2001), ist in Griechenland die Lebenszeitprävalenz
in der Allgemeinbevölkerung zwischen 12 und 64 Jahren von 0,2% in 1984 auf 1,1% in 1998
gestiegen. Dies betraf insbesondere die Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen (Kokkevi et al.,
2000).
Für den australischen Kontinent liegen beginnend mit 1991 Trenddaten für den Kokainkonsum vor. Der aktuelle Konsum bewegte sich dort bis 1993 (0,5%) auf relativ niedrigem Niveau, verdoppelte sich im Jahr 1995 und erreichte im Jahr 1998 mit 1,4% eine fast dreifache
Prävalenz. Dieser auf etwa durchschnittlichem europäischem Niveau liegende Wert wurde
im Zuge der Erhebung für das Jahr 2001 mit 1,3% in etwa gehalten (Australian Institute of
Health and Welfare, 2003). Ähnliche Tendenzen werden auch aus Neuseeland gemeldet.
28
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Hier stieg der aktuelle Kokainkonsum der 15- bis 45-Jährigen Bevölkerung zwischen 1990
und 1998 von 0,4% auf 1,1% (New Zealand Health Information Service, 2001).
Die langfristige Konsumtendenz für Kokain in der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen USAmerikaner zeigen, dass die Kokain-Lebenszeiterfahrung während der 70er und frühen 80er
Jahre stetig zunahm und 1984 mit 17,9% einen Höhepunkt erreichte. Zwischen 1984 und
1996 fiel diese Rate auf 10,1%, stieg aber bis zum Jahr 2002 wiederum auf 15,4% an (Office
of Applied Studies, 2003). Schätzungen der Anzahl der Neueinsteiger in den USA zeigen,
dass die Inzidenz zwischen 1974 und 1982 explosionsartig zunahm, die Anzahl von Neukonsumenten aber seither relativ stabil ist (Everingham, Rydell & Caulkins, 1995).
Fasst man die Konsumtrends in den einzelnen Ländern zusammen, lässt sich insgesamt
eine Zunahme vor allem in der Altersgruppe der jungen Erwachsenen feststellen. In jüngster
Zeit sind sowohl in Europa als auch in den USA wieder leichte Zunahmen des Kokainkonsums zu verzeichnen.
2.2.5 Verbreitung von Kokainkonsum in spezifischen Populationen
Wie aus Bevölkerungssurveys hervorgeht, ist der aktuelle Konsum in der allgemeinen Bevölkerung relativ gering verbreitet. Studien in spezifischen Populationen wie unter Jugendlichen,
in städtischen Ballungsgebieten, in der Partyszene, in der offenen Drogenszene oder bei
Strafgefangenen zeigen jedoch, dass Kokainkonsum insbesondere im Zusammenhang mit
dem Konsum anderer Drogen eine Rolle spielt.
Kokainkonsum unter Schülern und Jugendlichen
Studien unter Jugendlichen sind in Bezug auf die Drogenerfahrung alterssensitiv. Internationale Vergleiche lassen sich daher auch nur mit standardisierten Instrumenten für bestimmte
Teilpopulationen durchführen. Mit der Europäischen Schülerbefragung zu Alkohol und anderen Drogen (ESPAD), die seit 1995 alle vier Jahre durchgeführt wird, steht für Schülerinnen
und Schüler einer bestimmten Alterskohorte ein solches Instrument zur Verfügung. Im Rahmen der ESPAD-Studie wurden 1999 mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens Daten
zum Substanzgebrauch bei 15- bis 16-Jährigen Schülern in 30 Europäischen Ländern erhoben (Hibell et al., 2000). Im Durchschnitt berichteten 2% der Schülerinnen und Schüler von
einem zumindest einmaligen Gebrauch von Kokain. Die Prävalenzwerte schwanken zwischen 1% und 3% (Skopije, Griechenland, Irland, Italien, Lettland und Großbritannien). Die
höchste Prävalenz findet sich bei den Schülerinnen und Schülern in den Niederlanden (4%).
Deutschland nahm erst 2003 zum ersten Mal an der ESPAD Studie teil. Der durchschnittliche Prävalenzwert für die an der Studie beteiligten sechs Bundesländer (Bayern, Berlin,
Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen) beträgt bezogen auf die
Lebenszeit 2,8% und in den letzten 12 Monaten 1,8% (Kraus et al., 2004). Smart und Ogborne (2000) erweitern in Ihrer Übersicht zur Drogenprävalenz unter Schülern die Ergebnisse der ESPAD Studie von 1995 (Hibell et al., 1997) um die USA, Kanada, Australien, die
Türkei (Istanbul), Zimbabwe und Mexiko. Die Lebenszeitprävalenzen der Kokainerfahrung
Epidemiologie des Kokainkonsums
29
Mitte der 1990 Jahre sind mit Ausnahme der USA (5%) erwartungsgemäß niedrig. Eine weitere Ausnahme stellen Schülerinnen und Schüler in Wales mit 4% Lebenszeiterfahrung von
Kokain dar. Diese Übersichten zur Kokainprävalenz in den 1990er Jahren zeigen zum einen
die relativ geringe Verbreitung von Kokain unter Schülern, zum anderen sind im fünf Jahresvergleich keine Veränderungen im Sinne einer signifikanten Zunahme der Verbreitung der
Kokainerfahrung unter Schülern zu beobachten.
Williams und Parker (2001) folgten einer Stichprobe von 700 14-Jährigen Jugendlichen in
England, die 1991 erstmals befragt und mit 18 und 22 Jahren nachbefragt wurden. Wie sich
zeigte blieb das Konsumverhalten der Kohorte im Beobachtungszeitraum zwischen 18 und
22 Jahre in Bezug auf den Tabak-, Alkohol- und den Drogenkonsum insgesamt relativ konstant. Deutliche Änderungen ergaben sich jedoch im Kokainkonsum. Die Lebenszeiterfahrung erhöhte sich insgesamt von 5,7% auf 24,6% und die Prävalenz in den letzten 30 Tagen
von 1,5% auf 7,0%. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern waren in dieser Kohorte
nur gering.
Nur wenige Studien wie die Prävalenzstudie in Amsterdam und die Monitoring the Future
Studie des National Institute on Drug Abuse in den USA bieten die Möglichkeit der Beobachtung von zeitlichen Trends bei Jugendlichen. In Amsterdam stehen Querschnittsbefragungen
seit 1987 und in den USA seit 1985 zur Verfügung. Abraham, Kaal und Cohen (2003) stellen
für die Altersgruppe der 12- bis 15-Jährigen zwischen 1987 und 2001 keine Veränderung
fest. Kokainerfahrung ist in dieser Altersgruppe so gut wie nicht vorhanden. Dagegen weisen
die Prävalenzwerte der 16- bis 19-Jährigen Jugendlichen und der 20- bis 24-Jährigen jungen
Erwachsenen auf einen zunehmenden Trend der Kokainerfahrung hin. Zwischen 1987 und
2001 ist die Kokainerfahrung bei den 16- bis 19-Jährigen von 2,3% auf 4,5% und die der 20bis 24-Jährigen von 6,2% auf 12,9% gestiegen. Trendanalysen bei 18- bis 19-Jährigen Schülern (12th grade) in den USA weisen dagegen eine umgekehrten Trend auf (Johnston, OMalley & Bachman, 2003). In dieser Altersgruppe zeigt sich zwischen 1985 und 2002 ein
deutlicher Rückgang der Kokainerfahrung von 13,1% auf 5%.
Großstädtische Ballungsgebiete
Perkonigg und Kollegen (1997) erhoben im Rahmen einer prospektiven epidemiologischen
5-Jahresstudie an Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 14 bis 24 Jahren aus
dem Raum München unter anderem die Konsumprävalenzen verschiedener illegaler psychotroper Substanzen. Unter den 3.021 Befragten dieser Studie wurde bezüglich Kokain
eine Lebenszeiterfahrung von 4% ermittelt (Männer: 5%, Frauen: 3,1%). Mindestens fünfmal
im Leben konsumierten 1,2% der Befragten Kokain (Männer: 1,8%, Frauen: 0,7%). Im Vergleich dazu berichtet eine nationale Studie in Deutschland mit einer Stichprobe von 3.000
Jugendlichen im Alter zwischen 12- und 25 Jahren eine Lebenszeiterfahrung für Kokain von
2% (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2001). Die Daten der Studie „Early Developmental Stages of Psychopathology“ (Perkonigg et al., 1997) wurden in einer weiteren
Studie einem internationalem Vergleich von insgesamt sieben Regionen aus sechs Ländern
bezüglich der Prävalenzen und des Einstiegsalters in den jeweiligen Substanzkonsum unter-
30
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
zogen (Vega et al., 2002). Mit einer Lebenszeitprävalenz (bei einem Konsum von mehr als
fünfmal im Leben) von 10,1% (15-54 Jahre) ist der Konsum von Kokain demnach sowohl in
den USA. als auch in der ausgewählten US-Kommunen Fresno County mit 9,6% (18-59 Jahre) deutlich verbreiteter als in Europa (Niederlande: 1,1% (18-64 Jahre), München: 1,2% (1424 Jahre)). Von einer mehr als fünfmaligen Kokainkonsumerfahrung berichteten in Sao Paolo (Brasilien) 4,8% (18-64 Jahre) und in Ontario (Kanada) 2,6% (15+ Jahre) der Befragten. In
Mexiko City wurde mit 0,5% (18-65 Jahre) der in diesem Vergleich mit Abstand geringste
Kokainkonsum ermittelt.
Trendvergleiche im großstädtischen Raum liegen nur für Amsterdam vor (Abraham, Kaal &
Cohen, 2003). Die Prävalenzwerte der Kokainerfahrung von Erwachsenen zeigen zwar einen
deutlichen Zuwachs Anfang der 1990er Jahre, bleiben aber im weiteren Verlauf relativ stabil.
Insgesamt liegen aber die Werte weit über dem Prävalenzniveau nationaler Studien in der
Allgemeinbevölkerung. In der letzten Erhebung 2001 berichtete von den 20- bis 30-Jährigen
in etwa jeder zehnte über Erfahrung mit Kokain, bei den 30- bis 50-Jährigen hat in etwa jeder
Sechste zumindest einmal im Leben Kokain genommen.
Verbreitung in der „Party- bzw. Technoszene“
Eine spezifische Szene, die stark mit Drogengebrauch und -missbrauch assoziiert wird, ist
die „Techno-Party-Szene“ (Tossmann, 1997). Sie wird zwar weitestgehend mit dem Aufkommen von Ecstasy als der klassischen Partydroge in Verbindung gebracht, aber auch hier
lässt sich vermehrter Kokainkonsum finden. Von den von Tossmann, Boldt und Tensil (2001)
befragten 3.503 Besuchern von Technoveranstaltungen aus sieben europäischen Metropolen gaben 68,3% der Madrilenen, 59,6% der Amsterdamer und 21,3% der Prager an, schon
jemals in ihrem Leben Kokain konsumiert zu haben. Die Prävalenzwerte für die Städte Berlin, Rom, Wien und Zürich bewegen sich im Bereich von ca. 30 bis 40%. Eine interessante
Perspektive eröffnen die Autoren, indem sie die Ergebnisse ihrer Studie zur Verbreitung des
Kokainkonsums in den jeweiligen lokalen Techno-Party-Szenen vergleichbaren Erhebungen
zum Drogenkonsum in den jeweiligen Kommunen gegenüberstellen. Für die Städte Amsterdam und Zürich ergab sich abhängig von der jeweiligen Altersgruppe eine etwa sechs- bis
zehnfach höhere Kokain-Lebenszeitprävalenz in dieser Szene als in der allgemeinen Bevölkerung. In Berlin, wo dieser Vergleich mit der repräsentativen Stichprobe der 12- bis 25Jährigen der Drogenaffinitätsstudie (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 1998)
gezogen wird, stehen 31% Erfahrene in der Partyszene 2% Kokainerfahrenen in der vergleichbaren Altersgruppe in der Allgemeinbevölkerung in Berlin West bzw. weniger als 0,5%
in Berlin Ost gegenüber.
Eine Befragung von Besuchern von Technoveranstaltungen in der französischsprachigen
Schweiz (Ayer, Gmel & Schmid, 1997) ergab, dass unter den Ecstasyerfahrenen dieser Population Kokain nach Cannabis die am zweithäufigsten konsumierte illegale Droge und unter
Hinzunahme von Alkohol und Tabak die insgesamt am vierthäufigsten konsumierte psychoaktive Substanz ist. Insgesamt gaben 30,8% der befragten Technoanhänger an, in den letzten 12 Monaten Kokain konsumiert zu haben.
Epidemiologie des Kokainkonsums
31
Degenhardt, Barker und Topp (2004) verglichen mit Daten einer nationalen Studie aus dem
Jahr 2001 das Konsumverhalten aktueller Ecstasykonsumenten mit dem Ecstasyunerfahrener. Von den 14- bis 19-Jährigen aktuellen Ecstasykonsumenten berichteten 22% und von
den 20- bis 29-Jährigen aktuellen Ecstasykonsumenten 30% im letzten Jahr auch Kokain
genommen zu haben. Die Anteile bei den Ecstasyunerfahrenen lagen dagegen bei 0,6% (14bis 19-Jährige) und 1,3% (20- bis 29-Jährige).
Kokainkonsum von Abhängigen anderer Substanzen
Wie aus einer Reihe von Untersuchungen hervorgeht, weisen insbesondere Heroin- und Alkoholabhängige einen hohen Anteil an Kokainkonsum auf. Leri und Kollegen (2003) berichten in ihre Literaturübersicht eine hohe Prävalenz des Konsums von Kokain bei nicht behandelten Heroinabhängigen (je nach Studie zwischen 30% und 80%) sowie bei substituierten
Heroinabhängigen (zwischen 50% und 73%), wobei in dieser Population der Beigebrauch
von Alkohol, Cannabis, Benzodiazepinen und Tabak gleichfalls hoch ist. Unter neu in eine
Behandlung aufgenommenen Alkoholabhängigen hatten 40% im letzten Jahr einen Kokainkonsum (Walsh et al., 1991). Von den in der Suchthilfestatistik 1999 für Deutschland dokumentierten ambulanten Behandlungen weisen 50,6% der Fälle mit der Diagnose Abhängigkeit oder schädlicher Gebrauch von Opiaten auch eine Kokaindiagnose Abhängigkeit oder
schädlicher Gebrauch auf, allerdings nur 7,7% der Fälle mit der Diagnose Abhängigkeit oder
schädlicher Gebrauch von Alkohol (Strobl, Lange & Zahn, 2000) (vgl. Kapitel 6).
Verbreitung in der „offenen Drogenszene“
Eine Gruppe, in der eine starke Verbreitung von Kokainkonsum festgestellt wurde, sind spezielle „User-Szenen“, die oft mit bestimmten Örtlichkeiten verbunden sind. Thiel et al. (2000)
untersuchten die Verbreitung und die Konsummerkmale von Kokain in der offenen Hauptbahnhofszene in Hamburg. Sie stellten fest, dass innerhalb der letzten 24 Stunden 63% der
befragten Drogenkonsumenten (N=292) auch Kokain zu sich nahmen. Die Drogenkonsumenten konnten vier Konsummuster-Typen zugeordnet werden. 35% der Befragten konsumierten Kokain und Heroin, 31% waren reine Heroinkonsumenten, 19% betrieben einen polyvalenten Drogenkonsum und 14% nahmen Kokain und Methadon. Kokainkonsumenten
hatten im Vergleich zu Nicht-Kokainkonsumenten früher mit dem Konsum von Heroin begonnen. Vergleichswerte hierzu liegen aus einer Studie von Korf et al. (1995) vor, der für das
gleiche Milieu zu einem früheren Zeitpunkt eine Prävalenz von 35% berichtete. In der aktuellsten Erhebung, in der Verthein und Mitarbeiter (2001) Personen aus dieser Szene befragten, die zudem niederschwellige Drogenhilfeeinrichtungen in Anspruch nahmen (N=616),
wurde für den Gebrauch von Kokain ein 24-Stunden-Prävalenzwert von 74% ermittelt. Erstaunlich hoch war der Anteil von Crackkonsumenten mit 22%. Die Autoren stellten fest,
dass im Vergleich zu früheren Studien ein Anwachsen des Kokainkonsums in der offenen
Hamburger Drogenszene beobachtet werden kann.
32
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Verbreitung unter Strafgefangenen
In einigen Ländern, in denen ein Drogen-Monitoring auch schwerpunktmäßig unter kriminologischen Aspekten durchgeführt wird, wurden auch Studien zur Verbreitung von Kokainkonsum unter Verhafteten bzw. Strafgefangenen durchgeführt. 1997 wurden im Zuge der Einführung des Arrestee Drug Abuse Monitoring Programms (ADAM) in Großbritannien Urinanalysen und Befragungen unter Häftlingen von fünf großen Haftanstalten zur Erhebung ihres
aktuellen Drogenkonsums sowie ihrer diesbezüglichen Lebenszeiterfahrung durchgeführt
(Bennett, 1998). Auf Kokainkonsum zurückzuführende positive Urintestergebnisse konnten in
einer Spannbreite von 1% (Sunderland) bis zu 27% (London und Manchester) festgestellt
werden. Auffallend hierbei ist, dass das Ausmaß positiver Urinproben mit der Größe der
Haftanstalt zunimmt. Als Ergebnis der Befragung berichtete der Autor, dass 36% der Häftlinge angaben, schon einmal in ihrem Leben Kokain konsumiert zu haben.
Eine nur auf Befragungen basierende Erhebung zur Verbreitung von Kokainkonsum unter
3.142 in England oder Wales in Gefängnissen einsitzenden Personen (Boys et al., 2002)
kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass in diesem Milieu Kokainkonsum weitaus verbreiteter
ist als in der Allgemeinbevölkerung. Auch Mason und Kollegen (1997) beziffern in ihrer Erhebung das Verhältnis der Verbreitung von Kokainkonsum unter britischen Strafgefangenen
und der Allgemeinbevölkerung mit etwa 3:1. Insgesamt gaben 45,9% der Befragten bei Boys
und Kollegen (2002) an, jemals im Leben Kokain konsumiert zu haben, allerdings nur 24,3%
von diesen Lebenszeitkonsumenten hatte diese Droge auch schon im Gefängnis zu sich
genommen, was im Vergleich zu dieser Rate von über 60% bei Heroin- oder Cannabiskonsumenten auffallend wenig ist. Auf der anderen Seite zeigt diese Studie aber auch, dass
Kokain zu den Substanzen gehört, die neben Heroin am häufigsten zum ersten Mal im Gefängnis konsumiert wird. 38,2% der auch im Gefängnis Kokain konsumierenden Befragten
hatte diesen Konsum auch dort begonnen und insgesamt machte fast ein Zehntel der kokainerfahrenen Gefängnisinsassen ihre erste Konsumerfahrung mit dieser Droge an diesem
Ort. Unter 80 männlichen Insassen eines griechischen Gefängnisses ermittelten Fotiadou
und Kollegen (2004) 11 Personen (13,8%) mit Kokainkonsumerfahrung. Bei acht (10% der
Gesamtstichprobe) von diesen konnte auch eine Missbrauchs- und bei drei (3,8% der Gesamtstichprobe) eine Abhängigkeitsdiagnose gestellt werden.
Im Rahmen des Drug Use Monitoring Projektes in Australien (DUMA) wurde die Verbreitung
des Drogenkonsums unter „polizeilich Festgesetzten“ auf der Grundlage von Befragungen
und Urintests untersucht (Makkai & McGregor, 2003). Für die Region Sydney wurde für das
Jahr 2002 ein Kokainprävalenzwert von 9% (Gefängnis Bankstown) bzw. 3% (Gefängnis
Parramatta) ermittelt. Diese Daten spiegeln auch schnelle Entwicklungen und Veränderungen in den Prävalenzen wider. In einer vergleichbaren Stichprobe aus dem Jahr 2001 betrug
die Kokainprävalenz für die Insassen dieser beiden Gefängnisse noch 18% bzw. 12%.
Ein ganz ähnlicher Ansatz mit vergleichbaren Ergebnissen wird in Südafrika verfolgt. Im
Rahmen des South African Community Epidemiology Network on Drug Use Projektes
(SACENDU) wurde auf der Basis verschiedenster Datenquellen (Behandlungsdaten von
Epidemiologie des Kokainkonsums
33
Drogenhilfezentren und psychiatrischen Einrichtungen, Surveys und Urintests von Häftlingen) versucht, sich einen Überblick über die Verbreitung und die Konsummuster von illegalen Drogen zu machen. Die Untersuchung unter den Häftlingen zeigte positive Urinproben für
Kokainkonsum bei 3,3% in Kapstadt und 4,9% in Johannesburg (Parry et al., 2002).
Alle Studien zur Verbreitung von Kokainkonsum unter Strafgefangenen weisen auf eine im
Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich höhere Verbreitung dieser Droge in diesem
Milieu hin.
2.3
Prävalenz von Missbrauch und Abhängigkeit
Schätzungen der Prävalenz von Kokainmissbrauch und -abhängigkeit nach den diagnostischen Kriterien des ICD bzw. DSM liegen auf nationaler Ebene so gut wie nicht vor. Dies ist
zum einen mit der geringen Prävalenz des Kokainkonsums zu erklären und einem nur geringen Einsatz der entsprechender diagnostischer Instrumente in Bevölkerungssurveys. Zum
anderen ist bekannt, dass mit den in Surveys verwendetet Stichprobenmethoden problematische Konsumenten in nur geringem Umfang erreicht werden. Erhebungen im Rahmen des
National Household Surveys on Drug Abuse 2002, in dem die diagnostischen Kriterien des
DSM-IV zur Anwendung kamen, zeigen, dass gut ein Viertel (25,2%) der aktuellen Kokainkonsumenten in den USA von dieser Substanz auch abhängig sind oder missbräuchlichen
Konsum betreiben. Bezogen auf alle Befragten entspricht das einem Prävalenzwert von
0,6%, wobei aktuelle Kokainabhängigkeit bei 0,4% und aktueller missbräuchlicher Konsum
bei 0,2% diagnostiziert wurde (Office of Applied Studies, 2003).
In Deutschland wurde im Jahr 1995 das Probierverhalten sowie das Auftreten (erster) Missbrauchs- und Abhängigkeitsmerkmale illegaler psychotroper Substanzen in einer regionalen
Stichprobe bei jugendlichen und jungen Erwachsenen (14- bis 24 Jahre) in München untersucht (Perkonigg et al., 1997). Unter den 3.021 mittels persönlicher Interviews und unter Anwendung der M-CIDI Diagnostik Befragten dieser Studie wurde bei 0,3% Kokainmissbrauch
und bei 0,3% Kokainabhängigkeit festgestellt. Bezüglich des Missbrauches ergab sich ein
Verhältnis Männer zu Frauen von 2,0, bei Abhängigkeit von 2,5.
Chen und Kandel (2002) stellen in ihrer Untersuchung auf der Basis der zusammengefassten Datensätze der US-amerikanischen National Household Surveys on Drug Abuse von
1991 bis 1993 bei 2.349 aktuellen Kokainkonsumenten geschlechts- und ethnizitätsbezogene Unterschiede in der Kokainabhängigkeit fest. Die Abhängigkeitsprävalenz betrug in dieser
Stichprobe aktueller Kokainkonsumenten insgesamt 11,6% (Männer: 10,6%, Frauen:
13,6%). Sie setzt sich zusammen aus einem Wert von 9,8% (Männer: 9,2%, Frauen: 10,8%)
unter weißen, 12,8% (Männer: 12,1%, Frauen: 14,4%) unter spanischstämmigen und 22,1%
(Männer: 18,7%, Frauen: 28,7%) unter afroamerikanischen Befragten. In einer ebenfalls multiethnischen Stichprobe bestehend aus alkoholabhängigen Männern in therapeutischer Behandlung bestätigte sich die hohe Abhängigkeitsrate von Kokain unter Afroamerikanern
(Caetano & Schafer, 1996). Während unter den weißen Alkoholabhängigen nur 18% auch
34
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
kokainabhängig waren, waren dies unter den aus Mexiko stammenden 30% und unter den
afroamerikanischen 64%.
In einem detaillierten Review von Tierstudien, klinischen Studien, regionalen Studien und
Bevölkerungssurveys zeigten Erickson und Alexander (1989), dass das Abhängigkeitspotential von Kokain im allgemeinen überschätzt wird, denn lediglich 5 bis 10% derjenigen, die
jemals Kokain probiert haben, entwickelten einen häufigen Konsum von mindestens einmal
in der Woche oder mehr. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass Selbstangaben zu Kokainkonsum und Kokainabhängigkeit auf Grund der Tendenz zum „Undereporting“ wenig
generalisierbar sind (Anthony & Petronis, 1989).
2.4
Charakteristik von Kokainkonsumenten
Soziodemographische Charakteristika
Gorelick, Montoya und Johnson (1998) verglichen soziodemographischen Charakteristika
von Kokainkonsumenten in medikamentös gestützter Behandlung (Pharmakotherapie) mit
denen einer Stichprobe aus den US-amerikanischen National Comorbidity Surveys (NCS)
(Anthony et al., 1994). Die Stichprobe der pharmakotherapeutisch Behandelten bestand aus
1.802 Klienten aus 68 zwischen 1983 und 1993 publizierten Studien. Die NCS-Stichprobe
bestand aus 135 aus den Surveys zwischen 1990 und 1992 ausgewählten Personen, die
mindestens ein kokainbezogenes Problem hatten und schon einmal eine Drogenbehandlung
in Anspruch genommen hatten. Obwohl nur wenige der für die Metaanalyse herangezogenen Studien alle Angaben zu den insgesamt sechs untersuchten soziodemographischen
Variablen (Durchschnittsalter, Geschlecht, Ethnizität, beruflicher Status, Einkommen, Bildungsstand) enthielten, ergab sich doch ein relativ kohärentes Bild. In beiden Stichproben
waren die Klienten im Durchschnitt etwa 30 Jahre alt (Pharmakotherapie (PT): 32,1, NCS:
30,9 Jahre), der Frauenanteil betrug in der PT-Stichprobe etwa ein Viertel (24,3%) und in der
NCS-Stichprobe etwa ein Drittel (34,4%). Es fand sich ein hoher Arbeitslosenanteil von etwa
der Hälfte (PT: 51,1%) bzw. einem Drittel (NCS: 32,3%) der Befragten. Der Bildungsstand
war in beiden Stichproben hoch, insgesamt 95% der Befragten hatten mindestens einen
Highschool-Abschluss. Der größte Unterschied zwischen beiden Stichproben fand sich hinsichtlich der Ethnizität. Während sich in der Substichprobe aus dem NCS nur 5,6% Afroamerikaner befanden, waren dies in der Stichprobe der medikamentös behandelten Kokainkonsumenten 48,6%. Die Autoren führten das auf eine mögliche Selektion spezifischer soziodemographischer Gruppen und Erhebungsregionen der dieser Metaanalyse zu Grunde gelegten Studien zurück. Zudem wird die seit Anfang der 1990er Jahre zu beobachtende soziodemographische Verschiebung hin zu einem größeren Anteil von Afroamerikanern und
Arbeitlosen unter den Kokainkonsumenten mit dem vermehrten Aufkommen von Crack erklärt.
Wong und Mitarbeiter (2002) konzentrierten sich in ihrer Befragung von 188 ambulant behandelten Kokainabhängigen auf geschlechtsspezifische soziodemographische Unterschiede. Unter den befragten kokainabhängigen Frauen fanden sich mehr Arbeitslose und Sozial-
Epidemiologie des Kokainkonsums
35
hilfeempfängerinnen als in der männlichen Vergleichsstichprobe. In dieser Studie berichteten
die Frauen zudem bei Behandlungsbeginn eine geringere Dauer regulären Kokainkonsums,
sie waren seltener wegen ihrer Kokainabhängigkeit schon einmal in Behandlung und hatten
geringere wöchentliche finanzielle Ausgaben für ihren Konsum. Zudem konnte bei ihnen eine
geringere Häufigkeit von Alkoholkonsum vor Behandlungseintritt und auch seltener eine
Cannabisabhängigkeit festgestellt werden. Der Behandlungserfolg der Therapie wurde allerdings nicht durch das Geschlecht der Teilnehmer beeinflusst.
Powis und Mitarbeiter (1996), die ebenfalls eine geschlechtsspezifische Differenzierung in
ihrer Stichprobe von 150 nicht in Therapie befindlichen Kokainkonsumenten vornahmen,
fanden unter Männern Diebstahl oder Dealen als häufige Einnahmequellen, Frauen erhielten
oft finanzielle Unterstützung von ihren Familien oder Partnern. Prostitution spielte als Einnahmequelle unter den kokainkonsumierenden Frauen dieser Studie, im Gegensatz zu fast
allen Studien über crackkonsumierende Frauen, keine Rolle. Auch unter derzeit nicht in Therapie befindlichen Kokainkonsumenten gaben Männer häufiger schon bestehende Therapieerfahrung an als Frauen.
Trinkoff, Ritter und Anthony (1990) untersuchten an 14.333 Personen aus der zwischen 1981
und 1984 durchgeführten Epidemiologic Catchment Area Study (ECA) alters- und geschlechtsspezifischer Einflussfaktoren auf den Kokainkonsum. Sie fanden Kokainkonsum
von mehr als fünfmal im Leben öfter bei Männern, Weißen, jüngeren Erwachsenen bis 34
Jahre und Personen mit in dieser Studie als nicht normgerecht definierten Lebensumständen. Es wurden auch der Bildungs- und Berufsstatus untersucht. Im Gegensatz zu Männern
hatten Frauen in Vollzeitbeschäftigung wesentlich höhere Prävalenzraten als teilzeitbeschäftigte oder arbeitlose Frauen. Als zweite Gruppe mit höheren Kokainprävalenzraten zeigten
sich junge Erwachsene, die ihre Highschool-Ausbildung abbrachen oder nur geringe Schulabschlüsse erreichten. Eine Einteilung des für Kokainkonsum anfälligen Personenkreises in
zwei Untergruppen ergab eine Gruppe junger männlicher Erwachsener, die sich durch einen
unkonventionellen Lebensstil auszeichnen und häufig Schulabbrecher sind, und eine Gruppe
hoch ausgebildeter, in beruflicher Verantwortung stehender 25- bis 35-Jähriger. Die Autoren
vermuten, dass in der ersten Gruppe Devianz als zentrales Merkmal mit Kokainkonsum in
Zusammenhang steht, in der zweiten Gruppe Erlebnisorientierung und Stressbewältigung.
Gfroerer und Brodsky (1993) verglichen häufige, seltene und Nicht-Kokainkonsumenten des
US-amerikanischen National Household Survey on Drug Abuse des Jahres 1991. Sowohl die
häufigen als auch seltenen Kokainkonsumenten waren im Vergleich zu den Nichtkonsumierenden öfter männlich, unverheiratet, besaßen seltener einen Collegeabschluss, waren häufiger arbeitslos und hatten öfter keine Krankenversicherung. Allerdings ähnelten in einigen
Punkten die seltenen Kokainkonsumenten soziodemographisch mehr den Nichtkonsumenten
als den häufigen Konsumenten. So war der Anteil von Afroamerikanern und spanischstämmigen Amerikanern nur unter den häufigen Kokainkonsumenten stark erhöht. Auch fand sich
in dieser Gruppe ein überdurchschnittlicher Anteil an Großstadtbewohnern und Personen mit
einem Schulabschluss unterhalb des Highschool-Niveaus sowie ein überdurchschnittlicher
36
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Anteil an Sozialhilfeempfängern. Bei häufigen und seltenen Kokainkonsumenten wurden im
Gegensatz zur Allgemeinbevölkerung öfter deviante Verhaltensweisen und Therapieerfahrungen aufgrund psychischer oder Drogenprobleme festgestellt. Dagegen wich der allgemeine Gesundheitszustand beider Gruppen von Kokainkonsumenten nicht von dem der Allgemeinbevölkerung ab.
Auch im deutschen Sprachraum wurden in einer Reihe von Studien soziodemographische
Charakteristika von Kokainkonsumenten untersucht. Tossmann (2001) fand in einer Auswertung einer Berliner Teilstichprobe von Technoparty-Besuchern keine nennenswerten Unterschiede in Bezug auf soziale Auffälligkeiten zwischen kokainerfahrenen und kokainunerfahrenen Befragten. Kokainerfahrene waren im Durchschnitt mit 22,2 Jahren allerdings um etwa
zwei Jahre älter als Kokainunerfahrene. Zudem war der Frauenanteil unter den Kokainunerfahrenen deutlich höher und Frauen waren deutlich häufiger noch in schulischer Ausbildung.
Drogenkonsum fand in dieser Population häufig nur als freizeit- bzw. partybezogener Gelegenheitskonsum statt, so dass abhängige Konsummuster in diesem Milieu eher eine Ausnahme darstellt.
Tossmann (2001) analysierte zudem die Klientendaten der Berliner ambulanten Therapieeinrichtung KOKON und stellte für Heroin- und Kokainkonsumenten unterschiedliche sozialbiographische Profile fest. So wiesen Kokainkonsumenten ein vergleichsweise besseres Bildungs-, Ausbildungs- und soziales Integrationsniveau auf. Entsprechend einer Binnendifferenzierung der untersuchten Kokainkonsumenten zeigten Crackkonsumenten ähnliche sozialbiographische Muster wie Heroinkonsumenten. In einem Vergleich von nicht in Therapie
befindlichen Heroin- und Kokainkonsumenten konnten diese Befunde allerdings nur zum Teil
bestätigt werden (Powis et al., 1996). Bezüglich des Ausbildungsniveaus, gemessen am
Durchschnittsalter der Beendigung einer Vollzeitausbildung, fand sich kein Unterschied zwischen den befragten 408 Heroin- und 150 Kokainkonsumenten. Allerdings konnte auch hier
ein wesentlich höheres soziales Integrationsniveau der Kokainkonsumenten im Vergleich zu
Heroinkonsumenten, gemessen an einer wesentlich niedrigeren, wenn auch für sich genommen noch hohen Arbeitslosenrate und einer wesentlich selteneren Inanspruchnahme
von Sozialhilfe bestätigt werden.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die soziodemographische Beschreibung von
Kokainkonsumenten als „jung, weiß und männlich“ allenfalls als erster Orientierungspunkt
gelten kann. Auffallend ist der in einer Vielzahl von Studien berichtete gute Ausbildungsstatus der Kokainkonsumenten, der sich allerdings nur partiell auch in einem guten beruflichen
Status widerspiegelt. So fand sich in den Studien von in Behandlung befindlichen Kokainkonsumenten (Gorelick, Montoya & Johnson, 1998; Wong et al., 2002) ein hoher Anteil Arbeitsloser, während dies im Rahmen des ausgewerteten Bevölkerungssurveys (Trinkoff, Ritter & Anthony, 1990) nicht der Fall war. Es zeigt sich zudem, dass Kokainkonsum szenespezifisch und insbesondere in Bezug auf die Konsummotivation sowie die Konsumhäufigkeit
Epidemiologie des Kokainkonsums
37
differenziert betrachtet werden muss. Ähnliches gilt für die Geschlechtsspezifität des Kokainkonsums. Zudem führt die zunehmende Verbreitung von Crack als Droge eines spezifischen
subkulturellen Milieus zu einer weiteren Differenzierung.
Psychische Charakteristika von Kokainkonsumenten
Johnson, Tobin und Cellucci (1992) untersuchten mit Hilfe des Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) Persönlichkeitsprofile von Kokain- und Alkoholkonsumenten, die um
eine stationäre Behandlung nachsuchten. Die Autoren konnten kein bestimmtes Persönlichkeitsprofil von Kokainkonsumenten entdecken, fanden aber unter den befragten Kokainkonsumenten eine Gruppe mit einer antisozialen Persönlichkeitsstruktur. Ihr Verhalten war geprägt durch geringe Impulskontrolle, geringen Respekt gegenüber sozialen Regeln und eine
geringe Therapiebereitschaft. Eine zweite unter Kokainkonsumenten vorherrschende Persönlichkeitsstruktur, mit entsprechend anderen Behandlungsanforderungen, war die zwanghafte Persönlichkeit mit ängstlichen und depressiven Symptomen (vgl. auch Sanchez, Thomas & Morales, 2000). Im Gegensatz zu den Personen mit antisozialer Persönlichkeitsstruktur, die in ihrem Kokainkonsum eine weitere Verstärkung ihrer hohen Erregbarkeit suchen,
versuchen diese Personen, mit dem Konsum von Kokain ihre Antriebslosigkeit zu überwinden. Insgesamt konnte etwa zwei Drittel der Befragten einem dieser beiden Persönlichkeitsprofilen zugeordnet werden (Johnson, Tobin & Cellucci, 1992).
Eine genaue Charakterisierung der MMPI-Untertypen von Kokainkonsumenten nahmen
Craig und Olson (1992) an 104 in stationärer Behandlung befindlichen Kokainabhängigen
vor. Sie fanden ebenfalls zwei Persönlichkeitsprofile, von denen das eine neben sehr starken
antisozialen Zügen der Persönlichkeit vor allem auch narzisstische Anteile hatte. Personen
mit diesem Profil zeichneten sich neben den für antisoziale Persönlichkeiten oben erwähnten
Verhaltensweisen durch manipulative, oberflächliche und selbstbezogene soziale Umgangsformen aus. Das zweite Profil war neben dem ebenfalls häufigen Auftreten antisozialer Züge
durch eine Angst- und Depressionssymptomatik gekennzeichnet. Unter Personen mit diesem
Profil konnte eine Vielzahl weiterer möglicher psychologischer Abweichungen und psychiatrischer Symptome gefunden werden, wie unorganisiertes Denken, geringes Urteilsvermögen,
Entfremdung und Zurückweisung von Peers, vorurteilsbehaftetes, zurückgezogenes und
aggressives Verhalten, schnell auftretendes Stressempfinden, geringe Ich-Kontrolle sowie
hypochondrische und paranoide Züge.
Griffin und Kollegen (1989), die in ihrer Stichprobe von 95 männlichen und 34 weiblichen
stationär behandelten Kokainkonsumenten ebenfalls diese beiden grundsätzlichen Störungsmuster vorfanden, weisen die antisoziale Persönlichkeitsstruktur unter Kokainkonsumenten eher Männern, die mehr depressive eher Frauen zu. Luthar und Kollegen (1993)
fanden, dass depressive Kokainabhängige eine höhere Sozialkompetenz als solche mit einer
antisozialen Persönlichkeitsstruktur aufweisen. Weibliche Kokainabhängige haben insgesamt
eine geringere Sozialkompetenz als männliche, und ein höheres Maß an unangepasstem
Verhalten. Powis und Kollegen (1996) stellten fest, dass Frauen Kokain häufiger mit stimulierender Konsummotivation in öffentlichen Umgebungen, wie z.B. auf Partys oder in Pubs zu
38
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
sich nahmen, während Männer eher alleine oder nur mit ihrem Partner zu Hause Kokain
konsumierten.
Gunnarsdottir und Kollegen (2000) untersuchten ebenfalls die psychische Struktur von Kokainkonsumenten. Sie kamen in ihrer Stichprobe von 18 wegen ihrer Drogenprobleme in
stationärer Behandlung befindlichen männlichen Veteranen zu dem Ergebnis, dass es unter
den Kokainkonsumenten in Anlehnung an Khantzian (1985) eine Gruppe gibt, die Kokain zur
Selbstmedikation einsetzten. Diese Patienten wählten ihre Drogen nicht zufällig aus, sondern
nach der von ihnen selbst wahrgenommenen oder eingeschätzten Wirkung dieser Drogen
auf ihre psychischen Probleme und negativen emotionalen Zustände. Als zweite Gruppe
fanden die Autoren eine Gruppe von Erlebnisorientierten (Sensation Seekers), die mit ihrem
Konsum das Ziel der Erzeugung positiver Stimmungszustände verfolgten. Unterschiede zwischen den beiden Gruppen fanden sich allerdings nur in Bezug auf ein höheres Maß an
Ängstlichkeit in der Selbstmedikationsgruppe, nicht aber in Bezug auf depressive Störungsmuster. Dennoch war in der Selbstmedikationsgruppe innerhalb des linken Frontallappens
ein nachweislich geringerer Blutfluss zu finden, ein für Depressive typisches Symptom veränderter Hirnaktivität.
Die allein auf Kokain bezogene Spezifizität der Persönlichkeitsstrukturen wird auch in Frage
gestellt. Greene und Kollegen (1993) fanden keine grundlegenden Unterschiede bezüglich
der Ausprägung der MMPI-Profile von in stationärer Therapie befindlichen Kokain-, Marihuana- und Alkoholpatienten. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Johnson, Tobin und Cellucci
in ihrem Vergleich von Kokain- und Alkoholpatienten (1992). Auch Craig (2000) fand in seinem Vergleich der Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen unter Kokain- und Heroinabhängigen jeweils fast identische Muster, mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung als weitaus
am häufigsten auftretenden Störung, gefolgt von schizoiden, passiv-aggressiven und depressiven Störungsmustern. In anderen Studien wurde ein höheres Ausmaß an psychischen
Störungen (Depression, Angststörungen, antisozialer Persönlichkeitsstörung und der Vermeidenden Persönlichkeitsstörung) unter stationär behandelten Kokainabhängigen mit Polykonsum im Vergleich zu Kokainabhängigen ohne Polykonsum festgestellt (Cunningham et
al., 1993; Skinstad & Swain, 2001). Die Schätzungen bezüglich des Auftretens von Persönlichkeitsstörungen bei stationär behandelten Kokainkonsumenten liegen nach Skinstad und
Swain (2001) zwischen 30 und 75%.
Fast in alle Studien, die gemäß der Übersicht von Craig (2000) zwischen 1986 und 2000 das
Auftreten von Persönlichkeitsstörungen unter Kokainkonsumenten erhoben (Weiss & Mirin,
1986; Yates et al., 1989; Kleinman et al., 1990; Weiss et al., 1993; Kranzler et al., 1994; Barber et al., 1996; Craig, 2000) konnte ein signifikant häufiges Auftreten von ASPD festgestellt
werden. Als weitere in dieser Reihe von Studien jeweils auffällig mit Kokainkonsum assoziierte psychische Störungen ließen sich die Borderline-Störung (Weiss & Mirin, 1986; Kranzler
et al., 1994; Craig, 2000), die paranoide Störung (Weiss & Mirin, 1986; Kranzler et al., 1994),
die histrionische Störung (Weiss & Mirin, 1986; Yates et al., 1989), die narzisstische Störung
(Yates et al., 1989; Kranzler et al., 1994), die abhängige Störung (Yates et al., 1989; Craig,
Epidemiologie des Kokainkonsums
39
2000), die passiv-aggressive (Kleinman et al., 1990; Craig, 2000) sowie die vermeidende
Störung (Kranzler et al., 1994; Craig, 2000) finden. In der hier abgehandelten Reihe von Studien ließ sich nur bei Yates und Kollegen (1989) ein kompulsives Störungsmuster sowie ein
schizoides Störungsmuster finden. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass in vielen dieser Studien verschiedene Messinstrumente zur Erfassung der einzelnen Störungsmuster verwendet wurden und zudem diesen Studien unterschiedliche Populationen mit unter Umständen auch schon diesbezüglich sehr unterschiedlichen psychischen Charaktermerkmalen zu Grunde liegen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass unter Kokainkonsumenten eine Vielzahl von
psychischen Merkmalen und Störungen zu finden sind. So konnte für viele Konsumenten
eine antisoziale oder depressive Symptomatik feststellt werden (Johnson, Tobin & Cellucci,
1992; Craig & Olsen, 1992). Gunnarsdottir und Kollegen (2000) zeigten, dass diesen psychischen Profilen erlebnisorientierte oder selbstmedikative Konsummotivationen zu Grunde
liegen könnten. Die psychischen Charakteristika von Kokainkonsumenten müssen darüber
hinaus geschlechtsspezifisch betrachtet werden.
2.5
Verbreitung des Crackkonsums
Crack ist eine Substanz, die aus der Grundsubstanz Kokain-Base durch Beimischung von
Backpulver und Wasser aufgekocht („gestreckt“) wird. Das Endprodukt, der Stein, wird nicht
mehr wie Kokain gesnifft, sondern geraucht. In Deutschland wie in anderen europäischen
Ländern ist Crack bisher nur marginal verbreitet. In den USA spielt diese Droge allerdings
sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung wie auch in der fachlichen Diskussion eine Rolle. In
der öffentlichen Wahrnehmung haben sich bestimmte Mythen um Crack gebildet, wie seine
angeblich epidemische Verbreitung und die besonders schweren negativen Folgen des Konsums dieser Substanz (Crackbabys, Crackkids). Dazu gehört die weit verbreitete Annahme,
Crackkonsum führe zwangläufig zu Gewalt und erzeuge eine sofortige Abhängigkeit (Haasen
und Krausz, 2001; Haasen und Springer, 2002). In Publikationen, die bestehende epidemiologische Befunde über die Verbreitung von Crack zusammenfassen und bewerten, wird allerdings eher auf die im Vergleich zur öffentlichen und medialen Wahrnehmung geringe tatsächliche Verbreitung von Crack in den meisten Ländern hingewiesen, wie etwa in Kanada
(Cheung & Erickson, 1997) oder Australien (Mugford, 1997).
Für die Aussagen zu Folgen und Gewalt liegen bei genauer Betrachtung des wissenschaftlichen Kenntnisstandes ebenso keine eindeutigen Befunde vor. Zwar besteht für die Kinder
Crack konsumierender Mütter ein erhöhtes Risiko für negative Folgen, eine direkte Teratogenität, die zu einer zwangsläufigen Behinderung mit langjähriger Verhaltensauffälligkeit und
Lernbehinderung des Kindes führt, ist jedoch nicht nachgewiesen. Die in einer Reihe von
Studien berichteten Effekte lassen sich indirekt mit sozialen und Gesundheitsfaktoren erklären (vgl. Frank et al., 2001). Auch die fast zwangsläufige Gewaltausübung durch Crackkonsumenten bedarf einer differenzierten Betrachtung. Eine Reihe von Studien stellt einen Zusammenhang zwischen Crackkonsum und Gewalt fest (vgl. Chermack & Blow, 2002; Deni-
40
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
son, Paredes & Booth, 1997), wobei sich der im Vergleich zu anderen Substanzen wesentlich höhere Anteil von Verbrechen im Zusammenhang mit Crack in der Regel auf Kriminalstatistiken stützt (Haasen et al., 2002). Wie unter anderem Reinarman und Levine (1997)
zeigen konnten, ist dieser Anteil aber eher auf den Handel mit Crack zurückzuführen und
weniger auf das Verhalten der Konsumenten. Zudem wird darauf hingewiesen, dass Crackkonsumenten den Einstieg in eine kriminelle Karriere in den allermeisten Fällen schon vor
dem Einstieg in den Crackkonsum vollzogen haben (Inciardi & Pottieger, 1991).
Auch die sofort abhängigmachende Wirkung von Crack kann in dieser Pauschalität wissenschaftlich nicht bestätigt werden. Wie Hassen und Kollegen (2002) zusammenfassend darstellten, geht aus epidemiologischen Studien hervor, dass nur ein geringer Teil derjenigen,
die jemals Crack genommen haben, Crack täglich konsumiert. Der Anteil Crackabhängiger
wird auf etwa 5 bis 10% derjenigen geschätzt, die jemals Crack konsumiert haben. Zudem
lässt sich das im Vergleich zu Kokain vermutete höhere Abhängigkeitspotential für Crack
alternativ mit einer sozialen Selektion der Konsumenten erklären (Reinarman & Levine,
1997).
2.5.1 Verbreitung und Trends
In vielen Surveys wird Crackkonsum zusammen mit dem Kokainkonsum erhoben, so dass
die Datenlage zu Crack ungenauer, undifferenzierter und bruchstückhafter ist als zu Kokain.
In den Veröffentlichungen zum Substanzkonsum in den USA wird bei Prävalenzangaben
zwischen Kokain- und Crackgebrauch unterschieden, Angaben zu Missbrauch oder Abhängigkeit und demographische Charakteristika finden sich nur für Kokain unter Einbeziehung
von Crack (Office of Applied Studies, 2003). Auch die Europäische Beobachtungsstelle für
Drogen und Drogensucht (EBDD, 2003) gibt in ihren tabellarischen Übersichten der Drogenkonsumprävalenzen aus den einzelnen epidemiologischen Ländersurveys die Substanz Kokain immer gemeinsam mit Crack an.
Die Daten der aktuellsten deutschen Epidemiologischen Suchtstudien (Kraus & Augustin,
2001; 2004) weisen insgesamt geringe, allerdings im Zeitvergleich zwischen den Erhebungen 2000 und 2003 bezüglich des Lebenszeitkonsums (0,1% bzw. 0,4%) und bezüglich des
12-Monats-Konsums (0,0% bzw. 0,1%) leicht zunehmende Prävalenzwerte für Crackkonsum
auf. In Großbritannien hatte im Jahr 2000 1% der 16- bis 59-Jährigen Bevölkerung angegeben, jemals in ihrem Leben Crack konsumiert zu haben, auch die Prävalenz des aktuellen
Konsums lag dort mit 0,3% wesentlich höher als in Deutschland (Ramsay et al., 2001). Der
Prävalenzwert für den aktuellen Konsum dieser Droge gemäß der neuesten britischen Erhebung für den Erhebungszeitraum 2002/03 stellt mit 0,2% allerdings keine signifikante Veränderung im Vergleich zum Jahr 2000 dar (Condon & Smith, 2003).
In den USA wird für das Jahr 2002 ein Lebenszeitprävalenzwert von 3,6% und ein 12Monats-Prävalenzwert von 0,7% für den Konsum von Crack in der Bevölkerung ab 12 Jahren berichtet (Office of Applied Studies, 2003). Im Vergleich zu den beiden vorangegange-
Epidemiologie des Kokainkonsums
41
nen Jahren, in denen der entsprechende Vergleichswert für den Lebenszeitkonsum 2,8%
(2001) bzw. 2,4% (2000) und für den aktuellen Konsum 0,5% (2001) bzw. 0,3% (2000) betrug, sprechen die Daten für eine zunehmende Tendenz des Crackkonsums.
Im Drogenbericht des Australian Institute of Health and Welfare (2003) wird Crackkonsum
nicht erwähnt. Mugford (1997) macht für das im Vergleich zu den USA weitgehende Fehlen
von Crack in Australien vor allem soziostrukturelle Unterschiede wie den Verstädterungsgrad, die Verteilung und die Struktur des Wohlfahrts- und Drogenregulierungssystems in
Australien verantwortlich. Ähnliche Motive werden auch für das in Kanada im Vergleich zu
den USA wesentlich geringer ausgeprägte Crackproblem angegeben (Cheung & Erickson,
1997). In einer Befragung von 1.041 Erwachsenen aus der Region Ontario konnte beispielsweise für Crackkonsum nur ein Lebenszeitprävalenzwert von unter einem Prozent ermittelt
werden (Adlaf, Smart & Canale, 1991). Für Neuseeland wird für das Jahr 1998 ein Lebenszeitprävalenzwert von 0,8% und ein 12-Monats-Prävalenzwert von 0,2% berichtet (New Zealand Health Information Service, 2001).
2.5.2 Verbreitung in spezifischen Populationen
Crackkonsum wird angesehen als „Randphänomen“ des Kokainkonsums und Bestandteil
eines polyvalenten Drogengebrauchs einer gesundheitlich und sozial verelendeten Gruppe
von Drogenkonsumenten (Stöver, 2001). Eine Übersichtsstudie zum Vergleich von Prävalenzen des Crackkonsums in der Bevölkerung und in spezifischen Hochrisikogruppen zeigt
aber auch ein hohes Ausmaß an Crackkonsum unter Schülern, Kokainkonsumenten, Polykonsumenten sowie Straßenkindern (Smart, 1991). Wie der Blick auf neuere Studien zeigt,
hat sich Crackkonsum vor allem auch unter afroamerikanischen Ghettobewohnern verbreitet
(Davis et al., 2003; Tortu et al., 1998; Wohl et al., 1998).
Daten des US-amerikanischen National Household Survey on Drug Abuse aus dem Jahr
1999 (Wright & Pemberton, 2004) zeigen, wie eng in den USA die Zugehörigkeit zur afroamerikanischen Ethnie mit dem leichten Zugang und damit auch einem erhöhten Risiko für
Crackkonsum verbunden ist. Während in dieser Erhebung insgesamt 28,4% der befragten
Weißen angab, leicht oder sehr leicht an Crack gelangen zu können, waren dies unter den
Schwarzen 49,8%. In der für Drogenkonsum besonders gefährdeten Altersgruppe der 18- bis
25-Jährigen machten sogar 59,8% der befragten Afroamerikaner diese Angabe.
Stöver (2001) zieht in seiner Bestandsaufnahme des Crackkonsums in Deutschland Studien
heran, die eine hohe Verbreitung von Crackkonsum in der Hamburger offenen Drogenszene
(Thane & Thiel, 2000) und von Besuchern von Drogenkonsumräumen (Degkwitz & Verthein,
2000) berichten. Eine Befragung von insgesamt 292 Drogenkonsumenten in der Hamburger
offenen Drogenszene ergab, dass 63% von diesen innerhalb der letzten 24 Stunden Kokain
konsumiert hatten. Dieser Anteil lag fast doppelt so hoch wie in einer fünf Jahre zuvor durchgeführten Untersuchung. 58% der Kokainkonsumeinheiten wurden gespritzt, 39% als Crack
oder Freebase geraucht und 3% geschnupft (Thiel et al., 2000). Demzufolge hatte etwa jeder
42
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Vierte der Drogenkonsumenten dieser Stichprobe innerhalb der letzten 24 Stunden Crack
oder Freebase konsumiert.
Eine in Toronto/Kanada durchgeführte Befragung von 145 Straßenkindern im Alter von bis
zu 24 Jahren ergab, dass 46% von diesen schon Crackkonsumerfahrung hatte, 39% aktuelle
Konsumenten waren und 6% diese Substanz täglich konsumierte (Smart & Adlaf, 1991). In
Sao Paulo/Brasilien gaben 1993 36% von 565 befragten Straßenkindern an, jemals im Leben Crack konsumiert zu haben und 11% sogar mindestens wöchentlich (Noto et al., 1994).
Eine Erhebung unter 254 hochdelinquenten Jugendlichen mit einem Durchschnittsalter von
14,7 Jahren in Miami/USA ermittelte bezüglich des Crackkonsum sogar einen Prävalenzwert
von 95,5% und einen aktuellen Konsum von 87,3%, definiert als mindestens dreimaliger
Konsum pro Woche innerhalb der letzten drei Monate, 39,4% der Personen dieser Stichprobe waren afroamerikanischer Ethnizität (Inciardi & Pottieger, 1991).
2.5.3 Charakteristika von Crackkonsumenten
Wie schon im Zusammenhang mit der Verbreitung des Crackkonsums in spezifischen Populationen dargestellt, findet dieser Konsum weitestgehend im Kontext verschiedener subkultureller Milieus statt. Somit finden sich auch Angaben über soziodemographische Charakteristika dieser Gruppen kaum in großen Bevölkerungsstichproben, sondern in epidemiologischen Studien in spezifischen Populationen. Wohl und Kollegen (1998) ermittelten in einer
Stichprobe HIV- oder AIDS-infizierter afro-amerikanischer Frauen eine Lebenszeitprävalenz
des Crackkonsums von 50%. Insgesamt zeichneten sich die Frauen durch sehr hohe Arbeitslosigkeit (88%), einen hohen Anteil der Unterstützung durch Sozialhilfe (86%), ein sehr
geringes jährliches Einkommen sowie den Status einer alleinerziehenden Mutter (64%) aus.
Im Vergleich zu HIV-infizierten Frauen anderer Ethnien hatten diese Frauen häufiger wechselnde Sexualpartner, häufiger weitere Geschlechtskrankheiten und ein weit größerer Anteil
unter Ihnen prostituierte sich. Die Wahrscheinlichkeit dieser Frauen, jemals in ihrem Leben
Crack konsumiert zu haben, war im Vergleich zu den anderen Ethnien um das fünffache erhöht.
Einen interessanten Einblick in geschlechts- und gesundheitsverhaltensbezogene Charakteristika von 1.434 städtischen (East Harlem, New York) Crackkonsumenten lieferten Tortu
und Kollegen (1998). Die Autoren stellten fest, dass die Inhaftierungsrate männlicher Crackkonsumenten wesentlicher höher war die von Crackkonsumentinnen (83% bzw. 58%; mindestens einmal im Leben), zudem bestritten die befragten Männer ihren Lebensunterhalt
meist auch über illegale Aktivitäten (41%), darunter insbesondere Drogenhandel (17%), während von den befragten Frauen neben der öffentlichen Fürsorge Prostitution mit 29% als die
zweithäufigste Haupteinkommensquelle genannt wurde. Zudem waren die Männer dieser
Stichprobe häufiger obdachlos (25%) und alleinlebend (39%). Unter den Befragten beiderlei
Geschlechts konnte außerdem ein sehr hoher Verbreitungsgrad verschiedener Geschlechtskrankheiten festgestellt werden. Etwa ein Viertel der Crackkonsumentinnen und konsumenten war HIV-positiv.
Epidemiologie des Kokainkonsums
2.5.4
43
Konsummuster
Eine dem Crackkonsum häufig nachgesagte Folge ist seine kompulsive und abhängigmachende Wirkung. In einer kanadischen Studie, in der die Autoren die Crackkonsumenten in
Bezug auf ihre Konsumfrequenz typologisierten, wurde festgestellt, dass lediglich etwa ein
Drittel der Crack-Lebenszeitkonsumenten als Dauerkonsumenten definiert werden konnte.
Mehr als die Hälfte der Befragten waren inaktive Konsumenten, die zwar mindestens einmal
im letzten Jahr, allerdings nicht innerhalb des letzten Monats Crack zu sich genommen hatten. 14% der Befragten dieser Stichprobe berichteten von keinem Konsum innerhalb des
letzten Jahres (Cheung, Erickson & Landau, 1991).
Ein spezielles Konsummuster tritt bei Crackkonsumenten im Zustand des Craving auf. Es
wird nahezu ununterbrochen geraucht, solange die finanziellen Möglichkeiten ausreichen.
Eine solche intensive Konsumphase (Binge) kann wenige Stunden bis einige Tage andauern, in denen der Konsument etwa alle 15 bis 20 Minuten eine Pfeife raucht, alle anderen
Tätigkeiten vernachlässigt und dabei weder schläft, isst oder mit anderen Menschen kommuniziert. Vor dem Hintergrund dieser Konsummuster entstanden die so genannten Crackhäuser, in denen sich nur der Crackdealer von einem Crackkonsumenten zum anderen bewegt. Der exzessiven Konsumphase folgt eine Phase der physischen Erschöpfung und Depressivität (Crash), in der der Konsument je nach Länge des Binge bis zu 48 Stunden durchschläft. Die Zeitspanne zwischen solchen Konsumphase kann zwischen wenigen Tagen bis
Wochen andauern (Haasen et al., 2002). In einer Studie konnte eine hohe Korrelation zwischen dem Ausmaß der Depressivität in der Crash-Phase und der Intensität des HighGefühls festgestellt werden (Uslaner et al., 1999).
Crackkonsum, der in Bezug auf die Übertragung von HIV und anderer sexuell übertragbarer
Krankheiten als Risikoverhalten gesehen werden kann, ist Thema zahlreicher Studien. Kim
et al. (1992) untersuchten eine Stichprobe von 50 psychiatrisch stationär behandelten
Crackkonsumenten und fanden zwei unterschiedliche Muster. Während eine Gruppe zunehmendes sexuelles Desinteresse und Dysfunktion zeigte, entwickelte sich in der anderen
Gruppe vermehrt promiskuitives Verhalten mit der Folge, dass sich in dieser Gruppe auch
mehr sexuell übertragbare Krankheiten ausbreiteten. Mahler et al. (1994) fanden bei den von
ihnen untersuchten stationär behandelten Alkoholikern, dass Crackerfahrung in keinem statistischen Zusammenhang mit einem positiven HIV-Test stand. Ein im entsprechenden Milieu
häufig auftretende Verhaltensweise ist das „Sex für Crack“-Phänomen, das beschreibt, dass
Crack wegen seiner schnellen und direkten Wirkung von Freiern häufig direkt als Bezahlung
eingesetzt wird. Der Sexualverkehr findet somit häufig ungeschützt und mit wechselnden
unbekannten Partnern statt, so dass die Gefahr der Übertragung von HIV und anderer sexuell übertragbarer Krankheiten dementsprechend hoch ist. Dennoch kann Crac kkonsum nicht
als genereller Indikator für HIV-riskantes Verhalten gesehen werden, da mit Ausnahme spezieller Verhaltensweisen Crackkonsum nicht zwangsläufig zu einem riskanten Sexualverhalten führt (Longshore & Anglin, 1995).
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
44
2.6
Schlussfolgerung
Kokain hat in den USA in den 1980er Jahren eine erhebliche Ausbreitung erfahren, die sich
im Verlauf der 1990er Jahre jedoch deutlich abgeschwächt hat. Surveydaten zum Konsum
von Kokain und/oder Crack in Europe und in anderen Weltregionen weisen trotz geringfügig
zunehmender Prävalenzen auf keine Epidemie hin. In der überwiegenden Mehrheit der Europäischen Länder haben maximal 3% der Allgemeinbevölkerung Erfahrung mit Kokain, in
Australien und Neuseeland etwa 4%, in Kanada 6%, in den USA 14% und in den anderen
Regionen der Welt unter 2%. Trotz der geringen Verbreitung des Kokainkonsums in der Allgemeinbevölkerung lassen sich in den Industrienationen dennoch in bestimmten Szenen der
jugendlichen Subkultur (Partyszene), unter Opiat- und Alkoholabhängigen, bei Jugendlichen
im Großstadtmilieu sowie bei Strafgefangenen erhöhte Prävalenzwerte mit steigender Tendenz beobachten. Kokain wird aber in der Regel nicht als Droge erster Wahl konsumiert.
Kokainkonsumenten weisen überwiegend polyvalente Konsummuster auf, so dass eine klare
Abgrenzung des Kokainkonsums im Hinblick auf Konsumentencharakteristika kaum möglich
ist. Aufgrund der geringen Prävalenz des Konsums liegen so gut wie keine Schätzungen der
Anzahl von Personen vor, die nach den Kriterien des ICD (Internationale Klassifikation der
Krankheiten; WHO, 1992) oder DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer
Störungen; Saß et al., 1998) als abhängig gelten oder Kokain missbrauchen. Die wenigen
vorliegenden Ergebnisse stammen aus regionalen epidemiologischen Studien und weisen
erwartungsgemäß geringe Prävalenzwerte auf.
Studien, die Charakteristika von Kokainkonsumenten untersuchten, berichten, dass der
Frauenanteil in etwa ein Viertel beträgt und Kokainkonsumenten im Vergleich zu NichtKonsumenten eher jünger, unverheiratet, ohne Schulabschluss und häufiger arbeitslos waren. In amerikanischen Studien fällt unter den Kokainkonsumenten der hohe Anteil ethnischer Minderheiten auf. Geringe Unterschiede zeigten sich jedoch zwischen jungen Erwachsenen mit und ohne Kokainerfahrung in Befragungen von Technopartybesuchern zwischen
jungen Erwachsenen mit und ohne Kokainerfahrung. Die Vielzahl unterschiedlicher Szenen,
in denen Kokain konsumiert wird, macht deutlich, dass Kokainkonsum szenespezifisch und
insbesondere in Bezug auf die Konsummotivation differenziert betrachtet werden muss. Untersuchungen zu psychischen Charakteristika ergaben vor allem bei behandelten Kokainkonsumenten Hinweise auf eine antisoziale Persönlichkeit sowie eine gehäuftes Auftreten
von Angst- und Depressionsstörungen. Die Evidenz in Bezug auf soziodemographische Unterschiede sowie Unterschiede im psychischen Störungsbild zwischen Kokainkonsumenten
und Nicht-Konsumenten ist allerdings gemischt.
Crack spielt in Europa in der Allgemeinbevölkerung so gut wie keine Rolle. Es findet sich
allerdings auch hier in spezifischen Populationen insbesondere bei Heroinkonsumenten der
offenen Drogenszene. Aufgrund der geringen Prävalenz dieser Gruppe gibt es kaum spezifische Studien zu Gebrauch und Gebrauchsmuster.
Epidemiologie des Kokainkonsums
2.7
45
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51
3
Konsummuster des Kokaingebrauchs
Ludwig Kraus
3.1
Einleitung
Unter Konsummustern versteht man in erster Linie die unterschiedlichen Präferenzen der
Einnahme von Kokain sowie unterschiedliche Formen des multiplen Konsums und die jeweils damit verbundenen Risiken. Im vorliegenden Übersichtskapitel werden aber auch geschlechtsspezifische Unterschiede des Kokainkonsums und Hintergründe eines kontrollierten
Konsums betrachtet. Aufgrund der relativ geringen Prävalenzraten des aktuellen Konsums
von 1-2% der Allgemeinbevölkerung eignen sich epidemiologische Surveys zum Substanzkonsum in der Bevölkerung nicht für die Untersuchung spezifischer Verhaltensweisen bei der
Einnahme von Kokain. Zur Untersuchung von Konsummustern müssen daher Studien an
bestimmten Konsumentenpopulationen herangezogen werden. Diese Populationen können
aus Kokainabhängigen in Behandlung, unauffälligen Konsumenten ohne Kontakt zum Hilfesystem oder Risikogruppen wie HIV infizierte Drogenkonsumenten bestehen.
Die geringe Prävalenz bestimmter Formen des Drogenkonsums (Abhängigkeit) sowie die
aufgrund der Illegalität des Drogenkonsums prinzipielle soziale Unsichtbarkeit und Verborgenheit des Phänomens, führte zu einer Reihe methodischer Probleme bei der Rekrutierung
von Stichproben von Drogenkonsumenten. Traditionelle Surveymethoden mit zufälliger Auswahlwahrscheinlichkeit der Mitglieder der Population von Drogenkonsumenten erreichen bei
hohem Aufwand nur wenige Drogenkonsumenten, die aus den oben genannten Gründen in
der Regel nicht repräsentativ sind für das Kollektiv der Drogenkonsumenten. Zur Auswahl
von Drogenkonsumenten kommt daher in vielen Studien als nicht zufallsgesteuertes Verfahren das sogenannten Schneeballverfahren zur Anwendung (vgl. Biernacki & Waldorf, 1981;
Goodman, 1961). In diesem Verfahren werden bekannte Drogenkonsumenten gebeten, drogenkonsumierende Freunde und Bekannte für eine Befragung im Rahmen der wissenschaftlichen Studie zu identifizieren. Ausgehend von unterschiedlichen Startpunkten (bekannte
Konsumenten) werden über diese Bezüge verschiedene Ketten mit unterschiedlichen Verzweigungen erzeugt und man erhält eine Stichprobe von bekannten und unbekannten Drogenkonsumenten.
Neben Originalarbeiten greifen wir in dieser Übersicht auf Arbeiten zurück, die den Stand der
Forschung im jeweiligen Forschungsgebiet zusammenfassen. In einer umfassenden Studie
und Übersichtsarbeit zu formellen und informellen Kontrollmechanismen des Kokainkonsum
stellte Decorte (2000) die Ergebnisse einer Stichprobe unauffälliger Kokainkonsumenten vor
dem Hintergrund der Ergebnisse einer Reihe von regionalen Kokainstudien dar. Decorte rekrutierte mit Hilfe des Schneeballverfahrens eine Stichprobe von 111 Kokainkonsumenten. In
dieser Stichprobe waren 79% ohne Kontakt zu einer Behandlungseinrichtung, 48% wiesen
keine Verurteilung auf und 73% berichteten keine illegalen Aktivitäten. Die von Decorte in
seiner Untersuchung berücksichtigten Studien sind in Tabelle 3-1 im Überblick dargestellt. In
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
52
einer 2002 publizierten Literaturübersicht fassen Schippers und Cramer den Forschungsstand zum kontrollierten Konsum von Kokain und Heroin zusammen. Wir gehen in diesem
Überblick insbesondere auf die Ergebnisse zum kontrollierten Kokainkonsum ein.
Tabelle 3-1: Regionale Studien zum Kokainkonsum (Quelle: Decorte, 2000, S. 11)
Ort
Autoren
1)
1.
Miami
Chitwood & Morningstar (1985)
2.
Toronto
Erickson et al. (1994)
3.
Australia
Mugford & Cohen (1989, 1994)
4.
San Francisco
Waldorf et al. (1991)
2)
3) 4)
5)
6)
Amsterdam
Cohen (1989)
6.
Scotland
Scottish Cocaine Research Group (1993, 1996)
7.
Toronto
Erickson et al. (1994)
9.
Turin
Barcelona
10. Rotterdam
11. Amsterdam
12. Amsterdam
1)
2)
3)
4)
5)
6)
7)
8)
9)
10)
11)
12)
13)
2)
1980-81
75
7) 8)
111
1986-87
73
1986-88
267
1987
160
1989-90
133
1989-90
100
9)
1990-91
100
10)
1990-91
153
1990-91
110
Merlo et al. (1992)
Diaz et al. (1992)
N
1983
5.
8.
Datenerhebung
Bieleman & De Bie (1992)
11)
Cohen & Sas (1993)
12)
1991
64
Cohen & Sas (1995)
13)
1991
108
Chitwood, D.D & Morningstar, P.C. (1985). Factors which differentiate cocaine users in treatment from
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Konsummuster des Kokaingebrauchs
3.2
53
Applikation
Decorte (2000) berichtete, dass in der Antwerpen-Stichprobe von 111 Kokainkonsumenten
99% Kokain intranasal konsumiert hatten, 89% gaben an, Kokain jemals geraucht zu haben,
72% den Freebase Gebrauch, 23% hatten es gegessen, 27% berichteten vom Gebrauch
durch Einreiben der Genitalien, und 24% hatten es i.v. gespritzt. Im Vergleich zu den anderen Studien lagen die Lebenszeitprävalenzen in der Antwerpen-Stichprobe mit Ausnahme
von „Schnupfen“, das die am weitesten verbreitete Applikationsform darstellte, für die anderen Applikationen wesentlich höher. In den beiden Amsterdam-Studien war Freebasing mit
18% bzw. 30% (Cohen, 1989; Cohen & Sas, 1995) wesentlich seltener, in Toronto (1983er
Stichprobe) gaben 93% an, Kokain gewöhnlich zu schnupfen, 5% injizierten es in der Regel
und 2% rauchten es (Erickson et al., 1994). Für Rotterdam berichteten Bieleman und De Bie
(1992) bei 75% intranasalen Gebrauch, bei 21% i.v. Konsum und bei 28% Freebasing. Für
die anderen Studien liegen keine detailierten Prävalenzen vor, es wird aber deutlich, dass in
allen Studien Schnupfen von Kokain die am häufigsten präferierte Applikationsform darstellt
und weniger als ein Viertel der Befragten Kokain jemals injiziert hat. Die Angaben zur Applikationsform in der Zeit mit dem höchsten Kokainkonsum zeigen, dass in dieser Periode in
der Antwerpen-Stichprobe 58% Kokain schnupften, 23% Freebasing und 28% i.v. Gebrauch
angaben und nur 1% Kokain geraucht hat. Orale Einnahme und Applikation an Genitalien
wurden nicht genannt. Decorte (2000, S. 157) weist darauf hin, dass die hohen Werte für
Freebasing in Antwerpen auf eine regionale Besonderheit hindeuten, die sich mit Unterschieden im Kokainmarkt (hoher Crackanteil) bzw. der Eigenherstellung von Freebase erklären lassen. Gleichzeitig könnte es aber in jüngster Zeit mit einer generellen Zunahme des
Freebasing in Europe zusammenhängen.
Hando, Flaherty und Rutter (1997) untersuchten das Konsumverhalten von Kokainkonsumenten in Sydney und Melbourne (Australien) mit Hilfe von Schlüsselpersonen (aktuelle und
ehemalige Kokainkonsumenten, Dealer, Drogenberater sowie andere Personen mit Kontakt
zu Kokainkonsumenten). Die insgesamt 26 Schlüsselpersonen berichteten, dass in Konsumentenkreisen mit geringem soz ialökonomischen Status i.v. Konsum die bevorzugte Applikation darstellte, während in Konsumententenkreisen mit hohem sozialökonomischen Status
die Mehrheit Kokain schnupfte und nur wenige Kokain injizierten oder Freebasing betrieben.
Analysen des Übergangswahrscheinlichkeiten in der Applikationsform im Verlauf der Kokainkarriere weisen in der Gesamtstichprobe der Antwerpen-Studie (Decorte, 2000) auf ein konstantes Applikationsverhalten zwischen dem ersten Jahr regelmäßigen Konsums und der
Periode des höchsten Konsums hin. Bei 34% lag ein Übergang zu einem anderen Einnahmeverhalten vor. Von den Konsumenten, die im ersten Jahr regelmäßigen Kokainkonsums
angaben zu „schnupfen“, wechselten 24% zu Freebasing und 11% zu i.v. Konsum. Interessanterweise bestanden die meisten Übergänge von der Zeit höchsten Konsums bis zum Interviewzeitpunkt (53% der Stichprobe) in einem Wechsel zu Abstinenz oder zu „Schnupfen“.
Dunn und Laranjeira (1999) befragten 295 aktuelle oder ehemalige Kokain- oder Crackkonsumenten mit Kontakt zum Drogenhilfesystem bzw. Patienten, die stationär wegen Kokain-
54
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
abhängigkeit oder HIV-Infektion im Bezirk Sao Paulo (Brasilien) behandelt wurden, nach ihren Konsumgewohnheiten. Ihre Kokainkarriere hatten 87% der Befragten mit „Schupfen“
begonnen und 74% änderten im Laufe ihrer Karriere ihr Einnahmeverhalten: 68% wechselten zu Rauchen und 20% zur i.v. Einnahme. Die Hälfte aller Übergänge fand in den ersten
drei Jahren nach Konsumbeginn statt. Als Risikofaktoren für Applikationsübergänge wurden
ein frühes Einstiegsalter, eine hohe Konsumfrequenz in Zeiten exzessiven Konsums, Konsumbeginn durch Schnupfen oder Injizieren, geringer Schulerfolg und Erfahrung mit einer
Reihe anderer Substanzen identifiziert. Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass Übergänge zwischen Applikationsformen häufig waren und in der Regel Übergänge zu Applikationsformen mit einem höheren Abhängigkeitspotential und höherem HIV Risiko stattfanden. In
einer Untersuchung von Strafgefangenen mit Kokain- und/oder Crackkonsum in Los Angeles
(Kalifornien) fanden Shaw und Hser (1999), dass Konsumenten, die ihren Konsum mit Kokain begannen, mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Crack-Konsum überwechselten als nur
Kokain zu nehmen. Irwin et al. (1996) untersuchten 1.220 Crackkonsumenten und fanden,
dass Crackkonsumenten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu i.v. Konsum überwechseln, um die
von Crack verursachten Entzugssymptome zu lindern. Personen, die Crack rauchten und
später Heroin injizierten, waren gekennzeichnet durch einen höheren Crackkonsum und eine
längere Crackkarriere als Crackraucher, die nicht injizierten.
Decorte (2000) weist drauf hin, dass Kokainkonsum einerseits unweigerlich zu i.v. Konsum
führt, dass aber andererseits i.v. Konsum nicht über die ganze Zeit einer Kokainkarriere bestehen muss. Wie sich zeigt sind einige der nicht i.v. Applikationsformen relativ stabil über
die Zeit. Unter Einbeziehung der Variable „Kontakt zum Drogenhilfesystem“ wird deutlich,
dass i.v. Kokainkonsumenten mit höherer Wahrscheinlichkeit zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer
Karriere eine Therapie anstrebten. Daraus kann geschlossen werden, dass diejenigen Konsumenten, die über das Drogenhilfesystem erreicht werde, ein unkontrolliertes und problematisches Konsumverhalten aufweisen.
3.3
Multipler Drogengebrauch
Decorte (2000) berichtete für die Antwerpen-Stichprobe Prävalenzen des Konsums anderer
psychoaktiver Substanzen. Insgesamt gaben 96% den Konsum von Tabak, alle den Konsum
von Cannabis und Alkohol, 86% den Konsum von LSD und 63% den Konsum von Opiaten
an. Jeweils jeder Zweite hat Erfahrung mit Hypnotika und Sedativa. Obwohl in der Präferenz
sehr ähnlich waren die Prävalenzwerte in den beiden Studien in Amsterdam etwas niedriger.
Hier gaben 96% (98%) den Konsum von Tabak an gefolgt von Cannabis (91/94%), Alkohol
(90/97%), LSD (37/41%) und Opiaten (36/41%). Jeweils etwa jeder Vierte berichtete Erfahrung mit Hypnotika (26/27%) und Sedativa (25/31%) (Cohen, 1989; Cohen & Sas, 1995).
Vergleiche mit den anderen Studien (Tabelle 3-1) zeigen insgesamt, dass die Lebenszeitprävalenzen des Konsums von Alkohol und Tabak jeweils am höchsten sind, die Prävalenz von Cannabis in allen Studien sehr hoch ist, die Erfahrungswerte mit LSD mit Ausnahme der beiden Amsterdam Stichproben und der Turin Stichprobe jeweils über 80% liegen
und die Werte für Opiate, Sedativa, und Hypnotika jeweils geringer sind als die für Cannabis,
Konsummuster des Kokaingebrauchs
55
Amphetamine, MDMA und LSD. Die Daten dieser Studien weisen insgesamt auf ein ähnliches Muster der Drogenpräferenz hin.
Informationen über den kombinierten Konsum von Kokain und anderen Substanzen finden
sich ebenfalls bei Decorte (2000). Am häufigsten wurde Tabak (93%), Alkohol (80%) und
Cannabis (80%) mit Kokain kombiniert. Etwa jeder Vierte Befragte gab einen häufigen kombinierten Konsum von Sedative, Hypnotika, Opiaten, Amphetaminen und MDMA an. Die
Rangreihe kombinierten Konsums in Antwerpen war nahezu identische mit den in den Am sterdamer Stichproben gefunden Prävalenzen kombinierten Konsums von Kokain und anderen Substanzen (Cohen, 1989; Cohen & Sas, 1995). Vergleiche mit anderen Studien (vgl.
Tabelle 3-1) weisen deutlich in die Richtung, dass Kokain selten als einzelne Substanz, sondern in der Regel in Kombination mit anderen Substanzen, bevorzugt mit Alkohol, Cannabis
oder Heroin eingenommen wird. Während Kokain und Alkohol komplementäre Eigenschaften
aufweisen, wird Cannabis häufig als Entspannungsdroge nach exzessivem Konsum von Kokain und Alkohol verwendet. Demgegenüber wird Kokain insbesondere in Phasen hohen
Konsums mit Opiaten, Sedativa und Hypnotika kombiniert (zur Funktionalität kombinierten
Konsums vgl. Kapitel 7). Für Sydney und Melbourne zeigen die Ergebnisse von Hando, Flaherty und Rutter (1997) nach den Urteilen von Schlüsselpersonen einen polyvalenten Drogenkonsum von Kokainkonsumenten, der allerdings bei Konsumenten mit niedrigem sozioökonomischen Status Heroin mit einschließt, während Konsumenten mit hohem sozioökonomischen Status den Beikonsum von Alkohol bevorzugen aber kombinierten Konsum von
Kokain und Heroin vermeiden. Shaw und Hser (1999) berichteten über ihre Stichprobe von
strafgefangenen Kokain- und Crackkonsumenten, dass Konsumenten, die sowohl Kokain als
auch Crack konsumierten, höhere Konsumniveaus aufwiesen und schwerer Abhängigkeitsstörungen bei beiden Substanzformen entwickelten.
Bieleman et al. (1993) kommen in Ihrer Untersuchung des Kokainkonsums in Barcelona,
Rotterdam und Turin zu dem Schluss, dass Kokain keine Droge ist, die andere Drogen ersetzt, sondern wie keine andere in Kombination insbesondere mit Alkohol, Cannabis, Amphetaminen und Heroin genommen wird. Die Autoren unterscheiden zwischen vier Typen
von Kokainkonsumenten: Kokainkonsumenten, die Heroin nehmen und in der Regel aus der
Heroinszene stammen, bezeichnen sie als den Poly-Drogen Typ. Diese Gruppe entwickelt
schwere individuelle Störungen und verursacht gesellschaftliche Probleme. Die Mehrheit der
Konsumenten in ihrer Stichprobe nimmt jedoch kein Heroin, diese Gruppe lässt sich in den
Freizeit-, den Instrumental- und den Kokain-Typen unterscheiden. Während der Freizeit-,
und der Instrumental-Typ Kokain nur gelegentlich als Freizeitaktivität oder zum Zweck der
Energie- und Konzentrationssteigerung nimmt, in der Regel gesellschaftlich gut integriert ist,
auch andere legale und illegale Substanzen konsumiert, weitgehend den Kokainkonsum
kontrollieren kann und keine Probleme entwickelt, ist eine Minderheit (der Kokaintyp) mit
allen Folgen eines abhängigen Verhaltens auf Kokain fixiert.
Eine qualitative Befragung zu den Vor- und Nachteilen kombinierten Konsums erbrachte,
dass die Konsumenten eine klare Vorstellungen und auch informelle Regeln darüber haben,
56
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
welche Drogen kombiniert werden können und welche nicht kombiniert werden sollten. Als
vorteilhaft wurde die Kombination von Kokain mit Alkohol (44%), Cannabis (40%) und Opiaten (22) bezeichnet, als nachteilig stuften 23% die Kombination mit Alkohol ein, 18% die
Kombination mit MDMA und 15% die Kombination mit Opiaten (Decorte, 2000).
Gleichzeitiger und kombinierter Konsum von Kokain und anderen Substanzen ist unter Kokainabhängigen weit verbreitet. Wiseman und McMillan (1996) stellten bei 88% der stationär
behandelten Kokainabhängigen einen Konsum von Alkohol fest. Kokainmissbraucher, die
nach ambulanter Therapie nachsuchten, und nicht behandelte Kokainkonsumenten wiesen
mit mehr als 60% ähnlich hohe Raten einer Lebenszeitdiagnose Alkoholabhängigkeit auf.
Carrol, Rounsaville und Bryant (1993) fanden in einer Stichprobe behandelter Kokainabhängiger eine Rate von 62% mit Lebenszeitdiagnose Alkoholabhängigkeit (aktuell Alkoholabhängigkeit 29%). Ein vergleichbare Gruppe unbehandelter Kokainkonsumenten wies mit
68% eine etwas höhere Rate der Lebenszeitdiagnose Alkoholabhängigkeit auf und ebenfalls
eine aktuelle Alkoholabhängigkeit von 29%. Higgins und Kollegen (1994) berichteten in ihrer
Stichprobe abhängiger Kokainklienten eine Prävalenz der Lebenszeitabhängigkeit von 75%
und Heil, Badger und Higgins (2001) fanden diese duale Anhängigkeitsdiagnose bei 61%
ihrer kokainabhängigen Klienten. Im Vergleich mit Behandelten und unbehandelten Heroinabhängigen lagen die Prävalenzraten der Alkoholabhängigkeit bei Kokainabhängigen um
das zweifache höher (Carrol, Rounsaville & Bryant, 1993).
Auch bei intravenös konsumierenden Drogenabhängigen wurden hohe Werte eines Konsums von Kokain und Heroin festgestellt. In einer Stichprobe i.v. applizierender Drogenkonsumenten berichteten 66% von Heroin-, 76% von Kokain- und 58% von Kokain- und Heroinkonsum (Schütz et al., 1994). Lauzon und Kollegen (1994) fanden in einer Stichprobe intravenös konsumierenden Kokainkonsumenten etwa 50%, die über einen regelmäßigen Heroinkonsum berichteten. Leri und Kollegen (2004) untersuchten eine Stichprobe von 1.111
i.v. Drogenkonsumenten, die sich zum Zeitpunkt der Befragung nicht in Behandlung befanden und stellten einen Anteil von 15% fest, die angaben, sowohl Kokain als auch Heroin intravenös zu konsumieren. Obwohl die pharmakologischen Ursachen für den kombinierten
Konsum kaum untersucht sind, weisen verschiedene Studien darauf hin, dass Kokain zum
einen den erwünschten Heroineffekt verstärkt und zum anderen Entzugssymptome abschwächt (Leri, Bruneau & Stewart, 2003, vgl. Kapitel 6). Die Vielzahl der Studien zum Begleitkonsum von Kokain in unterschiedlichen Populationen – Heroinkonsumenten (Leri, Bruneau & Stewart, 2003; Thiel et al., 2000; Homann et al., 2000; Verthein et al., 2001), Alkoholkonsumenten (Walsh et al., 1991), Ecstasykonsumenten (Ayer, Gmel & Schmid, 1997;
Tossmann, Boldt & Tensil, 2001) und Cannabiskonsumenten (Kemmesis, 2000) – weisen
auf eine Vielzahl von Szenen hin, in denen Kokain eine Rolle als Begleitsubstanz spielt (vgl.
Abschnitt 2.2.5). Decorte (2000) kommt daher auch zu dem Ergebnis, dass Kokain in unterschiedliche Subkulturen von Drogenkonsumenten mit unterschiedlichen Gebrauchsmustern
und Funktionen eingebunden ist, so dass weder von einer „Kokainszene“ noch von dem „Kokainkonsumenten“ gesprochen werden kann.
Konsummuster des Kokaingebrauchs
3.4
57
Geschlechtsspezifische Unterschiede
Geschlechtsspezifische Unterschiede könnten ein Rolle spielen in Bezug auf Behandlungsmaßnahmen sowie für die Prävention. Kosten et al. (1993) untersuchten Konsummuster in
einer Stichprobe von 72 ambulant behandelten Klienten mit Kokainmissbrauch in den letzten
12 Wochen vor Behandlungsbeginn. Während Männer eine intranasale Einnahme bevorzugten (51%), bestand die bevorzugte Einnahmenform bei Frauen im Freebasing (53%). Intravenöse Einnahme wurde von 23% der Männer aber nur von 5% der Frauen berichtet. Keine
Unterschiede fanden sich im Kostenaufwand für den Kokainkonsum im letzten Jahr, Frauen
konsumierten jedoch in den letzten 30 Tagen an mehr Tagen, berichteten über einen längeren Zeitraum von Kokainproblemen und kürzere Abstinenzperioden und in Bezug auf andere
Drogen missbrauchten sie Heroin über einen längeren Zeitraum als Männer, die dagegen
länger über einen Missbrauch von Alkohol berichteten. In der Stichprobe von Griffin et al.
(1989), die geschlechtsspezifische Unterschiede von 129 Kokainabhängigen in stationärer
Behandlung untersuchten, konnten keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen in
Bezug auf die Einnahmeform festgestellt werden. Beide Geschlechter bevorzugten eine
intranasale Einnahme (67%), gefolgt von Freebasing (19%) und i.v. Konsum (14%). Frauen
begannen ihre Drogenkarriere jedoch signifikant früher als Männer und waren jünger als sie
das erste Mal um Behandlung nachfragten. Männer in dieser Stichprobe berichteten über
eine längere Drogenkarriere und exzessiveren Konsum als Frauen. Vergleichbar mit den
Ergebnissen von Kosten et al. (1993) hatten Frauen deutlich weniger Lebenszeitdiagnosen
für Alkoholabhängigkeit. In Übereinstimmung mit diesen Ergebnissen berichten Erickson und
Murray (1989) in ihrer repräsentativen Untersuchung von 111 Kokainkonsumenten mit einer
Konsumfrequenz von mindestens einmal in den letzten drei Jahren, dass Frauen früher mit
dem Drogenkonsum begannen als Männer. Keine wesentlichen Unterschiede zeigten sich
zwischen den Geschlechtern darin, wo und wann Kokain konsumiert wurde. Weiterhin fanden die Autoren keine Unterschiede in der Konsumfrequenz in den letzten 12 Monaten bzw.
letzten 30 Tagen, wobei Männer deutlich höhere Lebenszeitfrequenzen auswiesen.
In einer Stichprobe von 150 Kokain- und 408 Heroinkonsumenten fanden Powis et al. (1996)
ebenfalls, dass weibliche Kokainkonsumenten seltener Kokain injizierten und früher mit dem
Drogenkonsum angefangen hatten. Weiterhin berichtete die Autoren, dass Frauen mit größerer Wahrscheinlichkeit Kokain als Freizeitdroge benutzten und im Vergleich zu Männern eher
auf Parties oder in Pubs als alleine oder in Gesellschaft mit anderen zu Hause konsumierten.
Auch Weiss und Kolleginnen (1997) stellten in ihrer geschlechtsspezifischen Follow-up Studie bei 101 stationär behandelten kokainabhängigen Patienten fest, dass Frauen früher mit
dem Drogenkonsum begannen und ein höherer Anteil von Frauen (56,8%) Kokain intranasal
konsumierte. Die Unterschiede im i.v. Konsum waren dagegen relativ gering (Frauen: 10,8%;
Männer: 12,5%). Keine Unterschiede fanden sich in der Dauer des Kokainkonsums.
Erickson und Murray (1989) untersuchten neben Konsummustern auch geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf die Anziehungskraft und die Risikowahrnehmung von Kokain und die Art akuter und chronischer Folgen des Konsums. Die Autoren schließen aus
den insgesamt nur geringen Geschlechtsunterschieden in ihrer Studie sowie den von ihnen
58
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
referierten früheren Studien, dass die Aufmerksamkeit, die Kokainkonsum von Frauen erfährt, sich nicht aus den nur marginalen Unterschieden erklärt, sondern zurückzuführen sei
auf kulturelle Stereotypen. Diskutiert werden geschlechtsspezifische Rollenerwartungen in
Anlehnung an die Analyse kultureller Stereotypen bei weiblichen Alkoholikern (Fillmore,
1984). Nach der Theorie differentieller Geschlechtsrollen bedrohen insbesondere erfolgreiche Frauen das Konzept traditioneller Rollenverteilung. Ausgegangen wird von der Hypothese, dass sich die Anfälligkeit von Karrierefrauen für Kokainabhängigkeit aus dem hohen
Stresspotential erklärt, das mit dem Versuch einer weiblichen Adaptation an die männliche
Arbeitswelt ergibt. Nach den Autorinnen stellt die Botschaft, Kokainabhängigkeit sei der Preis
für ein deviantes berufsbezogenes Verhalten, eine Warnung an alle Frauen dar (Erickson &
Murray, 1989).
3.5
Kontrollierter Konsum
Zinberg (1984), der sich in einer Reihe von Studien mit dem Phänomen nicht abhängigen
Drogenkonsums beschäftigte, kritisiert den vorherrschenden Forschungsansatz, der jeglichen Drogenkonsum von vorne herein als missbräuchliches Verhalten bezeichnet, und damit
eine rationale Auseinandersetzung mit dem Thema unterlaufen hat. Ein Reihe von Studien
legt nahe, dass beispielsweise der Konsum von Heroin nicht notwendigerweise zu Abhängigkeit und dysfunctionalem Verhalten führen muss (Blackwell, 1983; Haves & Schneider,
1992; Robins et al., 1979). Robson und Bruce (1997) konnten zeigen, dass es sich bei Drogenkonsumenten (Amphetamine, Kokain, Heroin) mit und ohne Kontakt zum Drogenhilfesystem um zwei unterschiedliche Populationen handelt, wobei die ‚verborgene’ Population der
Konsumenten in der Regel keine Drogenprobleme hatte. Während in der Kontaktgruppe 20%
nur Stimulantien konsumierte, waren dies in der Gruppe ohne Kontakt drei Viertel der Fälle.
Die beiden Gruppen unterschieden sich nur unwesentlich im Alter, im Geschlecht und der
Länge der Drogenkarriere.
In den wenigsten Studien zum Konsum illegaler Drogen wird jedoch zwischen einem moderaten und/oder exzessiven und damit problematischen Konsum unterschieden. Auch fehlt
der Variabilität der Konsummuster insgesamt eine klare Begrifflichkeit, was den Umgang und
die Unterscheidung in abhängigen und nicht abhängigen oder kontrollierten und unkontrollierten Konsum erschwert (Schippers & Cramer, 2002). Als Definition des Begriffs „kontrollierter Konsum“ schlagen Schippers und Cramer vor, dass es sich dabei um einen Konsum
handelt, „der nicht in nennenswertem Maße mit persönlichen Zielen kollidiert und durch
Selbstkontrollregeln gesteuert wird, die explizit sind oder explizit gemacht werden können“
(Schippers & Cramer, 2002 S. 72). Da in den meisten Studien Selbstkontrollregeln nicht erhoben werden, wird implizit davon ausgegangen, dass es sich bei einem Konsum, der hinsichtlich Menge und Häufigkeit reduziert und der nicht mit persönlichen und sozialen Problem einhergeht, um kontrollierten Konsum handelt. Umgekehrt kann bei häufigem Konsum
und insbesondere hohen Konsummengen von einem unkontrollierten Konsum ausgegangen
Konsummuster des Kokaingebrauchs
59
werden. Kontrolle steht für die Möglichkeit, ein Verhalten jederzeit zu Unterbrechen, während
Unkontrolliertheit im Wesentlichen den Kontrollverlust und die Unfähigkeit meint, ein bestimmtes Konsummuster zu unterbrechen.
Zinberg (1984) geht davon aus, dass ein Verständnis von Drogenerfahrung eine Analyse der
Droge, der Persönlichkeit des Konsumenten (set) und der sozialen Umstände (setting) des
Konsums erfordert. Eine Kontrolle des Konsums sei erst durch die Entwicklung sozialer Bezüge, insbesondere dem Aufstellen von Sanktionen und Regeln möglich. Drogenkonsum ist
eng verbunden mit Wertvorstellungen und Regeln sowie mit ritualisiertem Verhalten. Soziale
Kontrolle findet in unterschiedlichen Gruppen statt, sei es in der Gesellschaft als Ganzes
oder in unterschiedlichen sozialen Gruppierungen, sie drückt sich aus in Gesetzen oder in
weniger expliziten Regeln, die nur auf bestimmte Gruppierungen oder bestimmte Situation
zutreffen. Die meisten dieser Regeln sind informell und die wenigsten existieren in Form expliziter Regeln. Konsumenten betrachten diese normativen Vorstellungen mehr als Teil ihrer
Persönlichkeit denn als gelernte soziale Regeln.
Zinberg verglich 99 Opiatkonsumenten, die ihren Konsum kontrollieren konnten, mit 35 sogenannten zwanghaften Opiatkonsumenten. Kontrollierter Konsum war definiert als regelmäßiger aber nicht abhängiger Konsum. Die Kontrollgruppe bestand aus Abhängigen, die
mehr konsumierten. Die beiden Gruppen unterschieden sich nicht in der Art des Drogenkonsums und den negativer Auswirkungen des Drogenkonsums, die kontrollierten Konsumenten
reagierten aber signifikant weniger häufig auf negative Folgen mit erneutem Konsum. Ihr
Drogenkonsummuster unterschied sich deutlich von den zwanghaften Konsumenten dadurch, dass sie in der Lage waren, Opiate zu besitzen ohne sie zu nehmen. Keine oder nur
marginale Unterschiede zwischen den Gruppen zeigten sich in Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale. Deutliche Unterschiede fanden sich insbesondere im sozialen Setting. Kontrollierte Konsumenten hatten mehr Freunde und unter diesen Freunden waren häufiger Nichtkonsumenten. Zudem verfügten die kontrollierten Konsumenten signifikant häufiger über selbst
aufgestellte Regeln, die den Konsum minimierten. Zinberg schloss daraus, dass Drogenkonsum neben den psychologischen Merkmalen des Konsumenten in hohem Maße durch Werte
und Verhaltensregeln sowie durch ritualisierte Verhaltensmuster bestimmt wird (Zinberg,
1984).
Bestätigung fanden Zinbergs Schlussfolgerungen in Verhaltensstudien von Kokainkonsumenten aus den 1980er Jahren in Toronto (Erickson et al., 1994) und San Francisco (Waldorf, Reinarmen & Murphy, 1991), sowie in neueren Europäischen Studien in Amsterdam
(Cohen, 1989; Cohen & Sas, 1993; 1995), Antwerpen (Decorte, 2000; 2001) sowie in Barcelona, Rotterdam und Turin (Bieleman et al., 1993). Bei den in den beiden Amsterdamer Studien untersuchten erfahrenen, aber unauffälligen Kokainkonsumenten konnte in der Mehrzahl nur ein geringer Konsum festgestellt werden, und Phasen anhaltend hoher Konsummengen waren äußerst selten. Die Untersucher fanden Hinweise darauf, dass erfahrene
Konsumenten, verbunden mit Phasen der Abstinenz, dazu tendierten, ihren Konsum zu verringern, und dass sie ihren Konsum vornehmlich auf soziale Funktionen abstimmten. Es
60
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
zeigte sich, dass sie negative Folgen durch eine Reihe von Regeln zu verhindern wussten. In
erster Linie beschränkten sie ihren Kokainkonsum (1) auf bestimmte Situationen und emotionale Zustände, in denen die Wirkung erwartungsgemäß positiv sein würde, und (2) auf
maßvolle Mengen. Bemerkenswert erscheint, dass keine der von den Forschern beobachteten Kontrollstrategien auf das Einwirken von externen Einrichtungen der sozialen Kontrolle
zu beruhen schien. Die untersuchten Konsumenten waren sozial integriert und verstanden
es, hohe Konsummengen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu negativen Konsequenzen
führen, zu vermeiden. Die Autoren schlussfolgern, „dass es eher das Vertrauen auf die Mechanismen der Selbstkontrolle und der informellen sozialen Kontrolle und nicht vornehmlich
äußere, institutionelle Kontrollmechanismen wie die strafrechtliche Verfolgung war, was die
überwiegende Mehrheit dieser Konsumenten davon abgehalten hat, den Risiken des Kokainmissbrauchs zu erliegen“ (Cohen & Sas, 2001, S. 73). Nach Meinung der Autoren zeigen
diese Studien, dass Kokainkarrieren, die mitunter über zehn Jahre dauern, nicht unweigerlich
in zwanghaftem und destruktivem Konsum enden oder zu Abhängigkeit führen müssen, auch
wenn die möglichen Folgen des Kokainkonsums nicht zu verharmlosen sind.
Decorte (2001) analysierte in seiner ethnographischen Studie die qualitativen Aussagen der
Befragten zur subjektiven Wahrnehmung von kontrolliertem und unkontrolliertem Konsum.
Aus den Angaben der Konsumenten geht hervor, dass es sich beim Konsum und den wahrgenommen Kontrollmechanismen um dynamische Prozesse in Abhängigkeit von Situation,
Kontext, Ereignis, Zeit und Drogenkarriere handelt. Die Ergebnisse unterstützen die Theorie
von Zinberg über die Rolle von Verhaltensregeln und Ritualen bei der Selbstregulierung des
Drogenkonsums. Die von den Befragten berichteten informellen Regeln kontrollierten Konsums betreffen Aktivitäten, die Priorität haben sollten, Personen, mit denen man (nicht) zusammen konsumieren sollte, die Häufigkeit, mit der man Kokain in einer bestimmten Zeit
nehmen sollte, Beziehungen mit Nicht-Konsumenten, die angemessene Stimmung beim
Konsum, geeignete und ungeeignete Substanzen, mit denen Kokain kombiniert oder nicht
kombiniert werden kann, die Einnahmeform, die Dosis, die Vermeidung der Erregung der
Aufmerksamkeit der Polizei, das Wie und Wo des Erwerbs von Kokain, Strategien des Umgangs mit finanziellen Problemen und des Prüfens der Kokainqualität. Der Prozess der
Selbstregulierung und der Fähigkeit kontrollierten Konsums wurde von den Befragten als
kontinuierlicher Lernprozess beschrieben. Der Lernprozess lässt sich in Anlehnung an Becker (1966) mit drei Schritten beschreiben; „Erlernen der Technik“, „Lernen, die Effekte
wahrzunehmen“ und „Lernen, die Effekte zu genießen“. Weiterhin gab es Hinweise darauf,
dass die soziale Definition des Drogenkonsums und ihrer Nutzer in Form der offiziellen Drogenpolitik einen der wesentlichsten externen Einflussfaktoren auf die Selbstregulierung des
Drogenkonsums darstellt.
Kaplan, Bieleman und TenHouten (1992) untersuchten 58 „unauffällige“ Kokainkonsumenten
ohne Kontakt zum Drogenhilfesystem mit dem Ergebnis, dass sich gelegentliche und schwere Konsumenten insbesondere in Hinblick auf den sozialen Kontext unterschieden. Der sozialen Kontext von gelegentlichen Konsumenten war dadurch gekennzeichnet, dass (1) Kokainkonsum in einer Vielzahl wechselnder Settings stattfand und (2) die Sozialkontakte mit
Konsummuster des Kokaingebrauchs
61
anderen Kokainkonsumenten nicht ausschließlich mit Kokainkonsum verbunden waren. Die
sozialen Kontakte von kompulsiven Kokainkonsumenten waren dagegen deutlich auf den
Kokainkonsum eingeschränkt.
Schippers und Cramer (2002) kommen in ihrer Übersicht zu dem Ergebnis, dass es eine
Gruppe von Personen gibt, die im Sinne einer medizinischen, sozialen und strafrechtlichen
Unauffälligkeit Kokain kontrolliert konsumieren. Diese wenn auch kleine Gruppe von Personen zeichnet sich durch ein risikobewusstes und regelorientiertes Konsumverhalten aus, das
weder als Vorstufe zur Abstinenz noch als Zwischenstadium zur Abhängigkeit aufgefasst
werden kann. Die Autoren schätzten den Anteil kontrolliert konsumierenden Personen illegaler Drogen auf mindestens ein Promille der Allgemeinbevölkerung. Nach den Autoren widersprechen diese Befunde dem weit verbreiteten Urteil, insbesondere der Konsum von Heroin
und Kokain führe unmittelbar zu Abhängigkeit, zu psychischen und somatischen Schäden
und zu sozialer Verendung. Auch wenn keine expliziten Studien zur Spontanremission bei
Kokainabhängigkeit vorliegen, zeigen Untersuchungen amerikanischer Kriegsteilnehmer des
Vietnamkriegs überraschende Remissionsraten. Robins, Helzer und Davis (1975) berichten,
dass in ihrer Stichprobe von 943 Vietnamveteranen weniger als 1% vor ihrem Einsatz in
Vietnam Heroinabhängig waren und 20% in Vietnam Abhängigkeit entwickelten. Acht- bis
zwölf Monate nach Rückkehr hatte sich die Abhängigkeitsrate auf das Ausgangsniveau reduziert. Eine Follow-up Untersuchung nach 25 Jahren, die 69% der Ausgangsstichprobe
(N=1227) von drogenpositiven und -negativen Kriegsveteranen sowie einer Kontrollstichprobe ziviler Personen erreichte, zeigte eindrucksvoll die Heilungsmöglichkeiten von Drogenkonsumenten (Price, Risk & Spitznagel, 2001). Die Autoren stellten fest, dass die meisten
Drogenkonsumenten in der Beobachtungszeit nur einen einzigen Aufhörversuch hatten und
die Mehrheit derjenigen mit Abstinenzversuchen keine traditionelle Drogenbehandlung in
Anspruch nahm. Spontanheilung war eher die Regel als die Ausnahme. Die geringste Rate
einer Spontanremission wurde allerdings für die Gruppe von Opiatabhängigen beobachtet.
Spontanheilung wird auch für ehemalige Alkoholabhängige berichtet. Bischof und Kollegen
(2001) fanden in einer repräsentativen Stichprobe im Lübecker Raum einen Anteil von 84%
ehemaliger Alkoholanhängiger, die zu einem moderaten und sozial unauffälligen Trinkverhalten remittierten.
3.6
Schlussfolgerung
Untersuchungen in Stichproben von Kokainkonsumenten weisen übereinstimmend auf eine
überwiegend intranasale Applikationsform hin. Unterschiede in der Applikationsform in Abhängigkeit der sozialen Schichtzugehörigkeit mit bevorzugter i.v. Einnahme in Kreisen mit
geringerem sozioökonomischen Status werden aus Australien berichtet. Studien, die sich mit
den Übergängen verschiedener Applikationsformen im Verlauf der Drogenkarriere beschäftigen, zeigen, dass Konsumenten häufig zwischen den Einnahmeformen wechseln, in der Regel aber Wechsel zu Applikationsformen mit höherem Abhängigkeitspotential stattfinden, so
dass es unweigerlich zu einem i.v. Konsum kommt. Dennoch wird darauf hingewiesen, dass
i.v. Konsum nicht über die ganze Zeit einer Drogenkarriere bestehen muss.
62
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Multipler Drogenkonsum ist bei Kokainkonsumenten eher die Regel als die Ausnahme. Am
häufigsten wird der Konsum von Tabak, Alkohol und Cannabis berichtet, auch der Konsum
anderer illegaler Substanzen wie Amphetamine, Opiate, Hypnotika oder MDMA werden häufig beobachtet. Die Einnahme kann dabei sequenziell oder gleichzeitig zur Verstärkung der
erwarteten Wirkung erfolgen. Die bei Kokainkonsumenten beobachtete Polyvalenz des Konsums sowie der bei Klienten mit anderen substanzbezogenen Störungen zu beobachtende
Begleitkonsum von Kokain machen deutlich, das Kokain in unterschiedliche Subkulturen von
Drogenkonsumenten mit unterschiedlichen Gebrauchsmustern und Funktionen eingebunden
ist. Aufgrund dieser vielseitigen Anwendung von Kokain kann weder von einer „Kokainszene“
noch von dem „Kokainkonsumenten“ gesprochen werden.
Einige Studien berichten geschlechtsspezifische Unterschiede, die jedoch in Abhängigkeit
der Stichprobe variieren. Ingesamt wurde i.v. Konsum von Kokain unter Frauen weit seltener
beobachtet als unter Männern. In behandelten Stichproben konnte auch festgestellt werden,
dass Frauen früher in den Konsum einstiegen und in einem jüngeren Alter um Therapie
nachsuchten, während Männer eine längere Drogenkarriere und einen exzessiveren Konsum
berichteten. Ebenso waren zusätzliche Diagnosen einer Alkoholabhängigkeit bei Frauen seltener als bei Männern.
Studien, die der Frage nach einem kontrollierten Kokainkonsum nachgingen, kamen zu dem
Ergebnis, dass es einer Gruppe von Kokainkonsumenten gelingt, ihren Konsum zu kontrollieren, und sie es versteht, negative Folgen durch eine Reihe von Regeln zu verhindern. In erster Linie beschränkten sie ihren Kokainkonsum auf bestimmte Situationen und emotionale
Zustände, in denen sie eine positive Wirkung erwarten und auf maßvolle Mengen. Als Hintergründe für kontrollierten Konsum werden Mechanismen der Selbstkontrolle und der informellen sozialen Kontrolle genannt. Die Ergebnisse unterstützen die Theorie von Zinberg
über die Rolle von Verhaltensregeln und Rituale bei der Selbstregulierung des Drogenkonsums.
Konsummuster des Kokaingebrauchs
3.7
63
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67
4
Körperliche und psychische Folgen des Kokainkonsums
Claudia Semmler und Alexander Hose
4.1
Einleitung
Zu den bedeutendsten Eigenschaften des Kokains zählt, dass es ein starkes Psychostimulans mit ausgeprägten Verstärkungseigenschaften ist, die Blutgefäße verengt und lokal anästhesierend wirkt (Julien, 1997). Kurz- und langfristig ergeben sich aus der pharmakologischen Wirkung des Kokain verschiedene Effekte auf psychische und körperliche Bereiche.
Die entstehenden Komplikationen sind allerdings dosisabhängig und können nicht immer
ausschließlich auf den Kokainkonsum zurückgeführt werden (Haasen et al., 2002), da die
meisten Kokainkonsumenten zusätzlich andere Substanzen wie z. B. Opiate oder Alkohol
(Carroll, Rounsaville & Bryant, 1993; Geschwinde, 1996; Leri, Bruneau & Stewart, 2003;
Pennings, Leccese & Wolff, 2002; Thiel et al., 2000; Kapitel 7) konsumieren und es deswegen einen exklusiven Kokainkonsum kaum gibt. Im folgenden werden zuerst körperliche und
anschließend psychische Folgen des Kokainkonsums berichtet.
4.2
Der Kokainrausch
Der Kokainrausch verläuft in drei Phasen mit den folgenden Symptomen (Geschwinde, 1999;
Hähnchen & Gastpar,1999): Die erste Phase (euphorische Phase, kick, rush) dauert etwa 30
Minuten und ist durch eine euphorische Grundstimmung gekennzeichnet. Rede- und Aktivitätsdrang sowie Kontakt- und Risikofreudigkeit sind erhöht und das Selbstbewusstsein gesteigert, während die Kritik- und Urteilsfähigkeit vermindert ist. Es treten Größenphantasien
und Omnipotenzgefühle auf. Somatische Symptome sind das Ansteigen von Blutdruck, Blutzuckerspiegel und Atemfrequenz. Der Puls ist beschleunigt (Tachykardie). Hyperthermien
bei gleichzeitigem subjektiven Kältegefühl können vorkommen. Die zweite Phase (Rauschstadium) dauert ein bis zwei Stunden. Es ist durch Angst und Misstrauen sowie illusionäre
Verkennungen gekennzeichnet. Später können sogar psychotische Zustände mit Wahn- und
Beziehungsideen sowie Halluzinationen auftreten. Die dritte Phase ist das Erschöpfungsstadium (crash), das durch Erschöpfung, depressive Symptome, körperliche Niedergeschlagenheit und einem erhöhten Schlafbedürfnis bei gleichzeitiger Unfähigkeit zu schlafen und Agitation gekennzeichnet ist. Oft wird ein neuer Rauschzustand angestrebt, der zu einem erneuten Kokaintrip (cocaine-binge) führen kann.
4.3
Körperliche Folgen
Der Kokainkonsum hat kurzfristige und langfristige körperliche Auswirkungen (Haasen et al.,
2002). Kurzfristige somatische Folgen ergeben sich wegen einer akuten und oft zu hohen
68
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Kokaineinnahme, was zu einer akuten Kokainintoxikation führen kann (Haasen et al., 2002).
Langfristige Auswirkungen entstehen durch eine chronische Einnahme.
4.3.1
Symptome der akuten Kokainintoxikation
Die akute Kokainintoxikation (ICD-10 F14.0; Dilling, Mombour & Schmidt, 1993) kann mit und
ohne Komplikationen verlaufen. Ohne Komplikationen entspricht sie dem Kokainrausch. Treten Komplikationen auf, können folgende Symptome zu beobachten sein: Durch die Reduktion der Krampfschwelle durch Kokain können epileptische Krampfanfälle, Hirninfarkte und
Hirnblutungen hervorgerufen werden (Haasen et al., 2002; Hähnchen & Gastpar, 1999).
Zentralnervöse Symptome sind Tremor, Hyperemesis und Hyperpyrexie, Symptome des
peripheren Nervensystems sind Harn- und Stuhlretention, muskuläre Verkrampfungen und
Erröten. Ateminsuffizienz kann auftreten und sogar zum Atemstillstand führen (Haasen et al.,
2002). Andere somatische Komplikationen sind Nieren- und Leberversagen (Volcy et al.,
2000).
Durch die vasokonstriktorische Wirkung des Kokains können Herzbeschwerden mit Brus tschmerzen, schwere Herzrhythmusstörungen, Hypertonus und plötzliche Herzinfarkte auftreten (Feldman et al., 1999; Gamouras et al., 2000; Haasen et al., 2002; Hähnchen & Gastpar,
1999; Hollander, Brooks & Valentine 1998; Inyang, Cooper & Hodgkinson, 1999; Mittleman
et al., 1999; Mo et al., 1999). Die Cardia-Studie (Braun, Murray & Sidney, 1997) untersuchte
den Langzeiteffekt des Zusammenhanges zwischen Kokainkonsum und kardiovaskulären
Erkrankungen, konnte diesen aber nicht bestätigen. Diese Beziehung blieb auf akute Effekte
begrenzt.
4.3.2
Symptome bei chronischem Kokainkonsum
Aufgrund der lokalanästhesierenden Wirkung des Kokains werden Verletzungen nicht wahrgenommen und können sich deswegen verschlimmern (Haasen et al., 2002). Durch die Unterdrückung des Hungergefühls und soziale Marginalisierung können Symptome von Mangelernährung auftreten. Weitere Symptome sind neurokognitive Defizite wie z.B. Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen (Haasen et al., 2002), Pankreaskarzinome (Duarte et al.,
1999) und ischämische Kolitis (Linder et al., 2000).
Die tiefgreifendste Folge des Kokainkonsum sind Todesfälle oder tödliche Unfälle. Ruttenber
und Kollegen (1997) berichteten von einer deutlichen Zunahme der Todesfälle durch das
kokaininduzierte Erregungsdelirium (cocaine-induced excited delirium, EDDs) in Florida zwischen 1979 und 1990. Das Delirium beginnt mit dem akuten Einsetzen einer Paranoia, gefolgt von bizarrem und extrem gewalttätigen Verhalten, das oft nur mit (äußerem) Zwang
eingegrenzt werden kann. Als neuropsychiatrische Symptome des Deliriums werden Wahrnehmungsstörungen, ein Zustand dauernder wachsamer „Alarmbereitschaft“ und Vorsichtigkeit, Desorientierung und kognitive Beeinträchtigungen erwähnt. Körperlich wird dieser Zustand begleitet von Hyperthermie, Mydriasis und autonomer Instabilität. Der mögliche To-
Körperliche und psychische Folgen des Kokainkonsums
69
deseintritt geschieht sehr plötzlich und ist oft die direkte Folge eines Atemkollapses (Mendoza & Miller, 1992).
Häufiger treten Todesfälle durch die nicht beabsichtige Überdosierung von Kokain auf (zur
Symptomatik vgl. Nevin, 2002). Eine Analyse aller 1.986 in New York zwischen 1990 und
1992 durch nicht beabsichtige Überdosierung aufgetretenen Drogentodesfälle (Tardiff et al.,
1996) ergab, dass in Dreiviertel aller Fälle Kokain, oft in Kombination mit Opiaten und Ethanol, die zum Tode führende Substanz war. Nur bei 5% aller an einer Drogenüberdosis Verstorbenen konnte kein Kokain nachgewiesen werden. Warmes oder heißes Wetter stellt einen besonderen begünstigenden Faktor für den möglichen Todeseintritt infolge überdosierten Kokainkonsums dar (Marzuk et al., 1998).
4.4
Psychische Folgen
Kokain und Crack bewirken angenehme Gefühle („high“) mit einer deutlichen Zunahme des
Selbstwertgefühls und führt zu Euphorie und einer Erhöhung des Energiegefühls, der Aufmerksamkeit, der sensorischen und sexuellen Wahrnehmung sowie des Selbstvertrauens
(Haasen et al., 2002). Reduziert werden hingegen der Appetit und das Schlafbedürfnis bzw.
es findet eine Verschiebung des Schlaf-Wach-Rhythmus statt (Shaner et al., 1998). Übererregung, Schwatzhaftigkeit und affektive Instabilität, ähnlich dem Zustand manischer Personen, sind weitere deutliche Anzeichen für direkt unter Kokaineinfluss stehende Patienten
(Mendoza & Miller, 1992). Allerdings können auch Zustände mit Angst, Misstrauen, egozentrischen Verhaltensweisen sowie dysphorisches und anorektisches Verhalten und Wahnvorstellungen auftreten (Haasen et al., 2002).
Das durch Kokain bedingte Auftreten von Panikattacken konnte in einer Längsschnittstudie
eindeutig als Folge des Kokainkonsums nachgewiesen werden. Anthony und Kollegen
(1989) zeigten anhand der Daten der US-amerikanischen Epidemiologic Catchment Area
(ECA)-Studie an einer Stichprobe von 5.896 Kokainkonsumenten, dass die Ausprägung dieses Zusammenhangs durch die Variablen Geschlecht, Familienstand, Berufsstatus, Depression und starken Alkoholkonsum beeinflusst wird. Interessanterweise war die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Panikattacken für die Personen am größten, die keinen zusätzlichen Marihuanakonsum berichteten.
Einige Kokainkonsumenten, insbesondere unerfahrene Konsumenten, erfahren Kontrollverlustempfindungen, die verbunden sind mit intensiven Gefühlen drohender Schicksalsschläge,
tiefer Panik und Hoffnungslosigkeit. Auch Wahnpsychosen wurden bei zwei Drittel aller chronischen Kokainkonsumenten beobachtet (Satel et al., 1991; Satel, Southwick & Gawin,
1991). Diese treten insbesondere im Zuge langandauernder und intensiver Einnahmephasen
(„binges“) auf (Gawin & Ellinwood, 1990). Kokaininduzierte Psychosen sind in der akuten
Phase nicht von denen paranoid Schizophrener zu unterscheiden, weichen von diesen aber
entwicklungsgeschichtlich und toxikologisch leicht ab. Wahnvorstellungen paranoid Schizophrener sind oft nachhaltiger und schwerwiegender als die von Kokainkonsumenten, wäh-
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
70
rend Kokainkonsumenten eher dazu neigen, täuschende visuelle Phänomene wahrzunehmen (Mitchell & Vierkant, 1991). Die Wahnvorstellungen dieser beiden Gruppen sind insgesamt allerdings so ähnlich, dass sie diagnostisch kaum unterschieden werden können (Denison et al., 1998). Auch Shaner und Kollegen (1998) weisen darauf hin, dass die psychotischen Symptome die Diagnostik der zugrunde liegenden Suchtstörung erschweren. Diese
Schwierigkeit stellt insbesondere für die Notfallpsychiatrie ein Problem dar (Mendoza &
Miller, 1992).
Aus neuropsychiatrischer Sicht fällt im Zusammenhang mit den häufig auftretenden psychotischen Störungen, wie z.B. optische, olfaktorische oder taktile Halluzinationen auf, dass Kokainintoxikierte nicht an Denkstörungen wie dem Fehlen des Abstraktvermögens oder des
linearen Denkvermögens leiden (Mendoza & Miller, 1992). Bei der taktilen Halluzination, die
oft von Kokainkonsumenten berichtet wird, werden Ameisen, Wanzen andere Kleintiere oder
Kokainkristalle unter der Haut gespürt (cocaine-bugs, Dermatozoen-Wahn).
Auch das Aggressivitätsniveau von Personen, die in einem Experiment unter direktem Kokaineinfluss standen, war bei Konsumenten mit einer hohen Dosis im Vergleich zu Konsumenten mit einer niedrigen Dosis und Placebokonsumenten deutlich erhöht (Licata et al.,
1993). Aus neuropsychopharmakologischer Sicht wurde für diesen Zusammenhang die
Hypothese aufgestellt, dass Kokain die Hemmung aggressiver Impulse reduziert und damit
ursächlich zur Entstehung von Aggression bei Kokainkonsumenten beiträgt (Davis, 1996).
4.5
Entzugssyndrom
Bis in die 80er Jahre wurde angenommen, dass Kokain ein hauptsächlich psychologisches
Abhängigkeitspotential besitzt. Klassische Konstrukte zum Drogenmissbrauch, wie z.B. Entzugssymptomatik, Abhängigkeit und Toleranzentwicklung, wurden auf Kokain nicht angewendet. Das steht auch im Zusammenhang damit, dass Kokainentzug sich nicht in speziellen oder universell beobachtbaren körperlichen Symptomen widerspiegelt. Die sukzessive
Veränderung dieser Ansicht kann anhand der Entwicklung der diagnostischen Kriterien des
DSM (Diagnostic and Statistic Manual for Mental Health) nachvollzogenen werden. Während
der DSM-III (American Psychiatric Association, 1980) nur Kokainmissbrauch als diagnostische Kategorien beinhaltete, wird ab DSM-III (American Psychiatric Association, 1987) Kokainabhängigkeit diagnostiziert. Es wurde auch ein Kokainentzugssyndrom mit Symptomen
wie Depression, Irritierbarkeit, Angst, Ermüdung, Schlaflosigkeit oder dauerndes Schlafbedürfnis (Hypersomnie) und psychomotorischer Agitiertheit aufgenommen. Im DSM-IV (American Psychiatric Association, 1994) wurden weitere kokainspezifische Entzugssymptome
wie gesteigerter Appetit, eine psychomotorische Verlangsamung und Albträume eingearbeitet. Allerdings hält die Kontroverse um die Charakteristika des Kokainentzuges immer noch
an. Nach Denison und Kollegen (1998) ist das auf viele, vor allem methodische Gründe zurückzuführen (vgl. hierzu auch Satel et al., 1991; Satel, Southwick & Gawin, 1991; Weddington et al., 1990).
Körperliche und psychische Folgen des Kokainkonsums
71
Gawin und Kleber (1986) stellten ein Modell über die komplexen Zusammenhänge und Interdependenzen der Entzugssymptome und ihre zeitabhängige Entwicklung bis hin zur Kokainabstinenz auf. Dieses Modell gliedert den langwierigen Prozess des Kokainentzuges bis
hin zur Abstinenz in die Phasen „Zusammenbruch/Crash“ (9 Stunden bis 4 Tage nach dem
Konsum), „Entzug“ (eine bis 10 Wochen nach dem Konsum) und „Löschungsphase“ (unbestimmte Dauer). In diesen Phasen können jeweils andere Entzugssymptome auftreten, deren
Bewältigung oder Nichtbewältigung darüber entscheidet, ob der Konsument in seinem Entzugsprozess zur Abstinenz fortschreitet oder einen Rückfall erleidet.
Die Crashphase ist von einer tiefen Depression, Erschöpfung, Hypersomnolenz und Hyperphagie geprägt. Vermehrt treten Suizidgedanken oder -versuche auf (Gawin & Ellinwood,
1990). Kokainkonsum konnte sogar als Risikofaktor für Suizidversuche identifiziert werden
(Kelly, Cornelius & Lynch, 2002). Kokainkonsum führt insgesamt zu einer Reduzierung der
REM-Schlafphasen, ein Effekt, der sich mit der Zeit verstärkt (Watson et al., 1992). Oft nehmen Kokainkonsumenten weitere Substanzen wie Alkohol oder Beruhigungsmittel zu sich,
um die Symptome in der Crashphase zu mildern. Die Crashphase endet von selbst und bedarf keiner eigenen Behandlung. Sie trägt offenbar nicht zu chronischen Rückfällen oder zur
Abhängigkeit bei, sondern nur zur Verlängerung der intensiven Einnahmephasen (binges;
Gawin & Kleber, 1986).
Die Entzugsphase zeichnet sich durch eine dysphorische und dyshedonische Stimmung aus,
welche häufig als erstes Anzeichen einer starken neuerlichen Begierde nach Kokain (Craving) angesehen werden kann. In einer Studie mit 244 eine Behandlung beginnende Kokainkonsumenten mit einer mindestens einwöchigen Kokainabstinenz berichteten 90% der Befragten das Auftreten von mindestens einem von 27 Entzugssymptomen (Gawin, Khalsa &
Anglin, 1992). Eine Faktorenanalyse ergab vier Faktoren: Ängstlichkeit-Irritierbarkeit,
Dysthymia, körperliche Beschwerden und Anergie. Margolin, Avants und Kosten (1996) untersuchten die Abfolge der Symptome in der Crash- und Entzugsphase in einer Längsschnittstudie mit 100 methadonsubstituierten Kokainabhängigen und fanden vier Faktoren in
einem Zeitraum von 24 Stunden. Symptome in der frühen Crashphase waren Psychotizismus und Nervosität, die während der ersten drei Stunden nach dem Kokainbinge auftraten.
Es folgten Schlaf und Hungergefühle sowie Nervosität und Depressivität.
Kokainmissbrauchende Personen beschreiben oft eine Verbesserung ihrer verminderten
Fähigkeit, Freude zu empfinden (Anhedonie) innerhalb von Tagen oder Wochen, wenn sie
ihre Abstinenz aufrecht erhalten können (Gawin, 1991). Es sind einige Einflussfaktoren auf
Stärke und Dauer der Symptome der Entzugsphase bekannt (Denison et al., 1998). So hängen sie teilweise von der Intensität des vorhergehenden Kokainkonsums ab. Bereits bestehende psychische Störungen können die Entzugssymptomatik verstärken. Die Verfügbarkeit
von Drogen und eine drogenkonsumierende Umwelt beeinflussen ebenfalls die dargestellten
Effekte (Satel, Price et al., 1991; Satel, Southwick & Gawin, 1991; Weddington et al., 1990).
72
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Der Beginn der dritten, nicht mehr vom Auftreten akuter Symptome geprägten Phase nach
Beendigung des Kokainkonsums, der Löschungsphase, kann als Einstieg in eine echte,
dauerhafte Abstinenz verstanden werden (Denison et al., 1998). Sie ist von unbestimmter
Dauer (Hähnchen & Gastpar, 1999). Es treten Kokaincravings als konditionierte Reaktionen
auf gelernte Reize auf (Gawin & Kleber, 1986; Hähnchen & Gastpar, 1999). Solche gelernten
Reize können vielfältig sein, z. B. positive oder negative Gefühlszustände, spezifische soziale Kontakte, Umgebungen oder Ereignisse, Konsum psychotroper Substanzen, interpersonale Konflikte oder mit in Drogen Zusammenhang gebrachten Objekte (z. B. weißer Puder,
Spritzen etc.) (Denison et al., 1998). Die konditionierten Hinweisreize variieren interindividuell je nach den Konsumgewohnheiten der Konsumenten.
Tierstudien haben gezeigt, dass Kokain eine der stärksten verstärkenden Substanzen darstellt und deshalb einen ausgeprägten konditionierenden Effekt hat. Die Intensität des Cravings kann deswegen auch Monate oder Jahre nach dem letzten Konsum noch immens sein
(Gawin & Kleber, 1986 in Denison et al., 1998). Studien an stationär behandelten Kokainkonsumenten konnten den beschriebenen phasenhaften Entzug nicht bestätigen (Hähnchen
& Gastpar, 1999). Vielmehr klingt das Entzugssyndrom kontinuierlich nach mehreren Wochen ab (Hähnchen & Gastpar, 1999; Satel et al., 1991b).
4.6
Folgen pränataler Kokainexposition
Eine häufig untersuchte Frage im Zusammenhang mit den Folgen des Kokainkonsums ist
die nach den möglichen Schädigungen am Fetus und an Neugeborenen durch pränatale
Kokainexposition. Auch diesbezüglich wird in der Literatur von einer Vielzahl von körperlichen Folgeerscheinungen berichtet, aber auch psychische Beeinträchtigungen im Kindesalter werden des Öfteren mütterlichem Kokainkonsum während der Schwangerschaft zugeschrieben.
Die auffällige Forschungsintensität nach den Folgen pränataler Kokainexposition ist aus medizinischer und vor allem gesellschaftlicher und sozialpsychologischer Sicht erklärbar.
Schätzungen aus den 90er Jahren gingen davon aus, dass in den USA landesweit etwa
4,5% der Neugeborenen einem Kokainkonsum ihrer Mütter ausgesetzt waren (Phelps & Cox,
1993). Schätzungen für Innenstadtbezirke einiger amerikanischer Großstädte gehen von
einem Anteil von bis zu 50% aus (Dow-Edwards, 1991). Dabei muss das Ende der 80er Jahre in den USA entstandene „soziale Konstrukt“ der Crack-Babys beachtet werden. Es wurde
weitestgehend ungeprüft davon ausgegangen, dass die pränatale Kokainexposition zu einer
Behinderung des Kindes führt, die sich durch langjährige Verhaltsauffälligkeiten und Lernbehinderung auszeichnen würde (Lyons & Rittner, 1998; Haasen et al., 2002). Neben dieser
inhaltlichen Voreingenommenheit sind es allerdings auch methodische Probleme, die die
präzise wissenschaftliche Beleuchtung dieses Themas erschweren. Wie Phelps und Cox
(1993) berichten, ist es nahezu unmöglich, ein geeignetes Messverfahren zur genauen Erfassung der Schwere und des genauen zeitlichen Ablaufes des Drogenkonsums, der einer
Schädigung vorausgeht, zu entwickeln. Des weiteren erschweren konfundierende Variablen
Körperliche und psychische Folgen des Kokainkonsums
73
wie der Konsum weiterer Suchtstoffe kausale Schlussfolgerungen. Zudem lassen sich psychosoziale Effekte, die sich aus dem Lebensstil oder dem sozioökonomischen Status der
Mütter ergeben, kaum kontrollieren. Nicht zuletzt sind methodische Mängel sowie das Fehlen
von Längsschnittstudien ein Grund für die limitierte Interpretierbarkeit der Studienergebnisse.
Eine Methode, die Effekte vieler verschiedener Einflussfaktoren zu kontrollieren, besteht in
der Durchführung von Tierversuchen. Hier werden die Versuchsobjekte nur den Stoffen bzw.
Bedingungen ausgesetzt, deren Folgen es zu untersuchen gilt. In einer Literaturübersicht hat
Dow-Edwards (1991) Forschungsergebnisse zur Frage des Einflusses von Kokain auf die
Fötusentwicklung aus klinischen Kontrollstudien und Tierversuchen auf ihre Übereinstimmung untersucht. Übereinstimmende und positive Befunde ergaben sich in Bezug auf Faktoren, die mit dem Kokainkonsum der Mutter während der Schwangerschaft im Zusammenhang standen. Dazu zählten eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit für Mangelernährung
und Placentaablösung sowie eine höhere Rate von Totgeburten. Als mögliche Effekte mütterlichen Kokainkonsums auf die Fötusentwicklung wurden bei Tieren und Menschen intrauterine Wachstumsverzögerung, Abnahme des Geburtsgewichtes und der Kopfgröße, genitale Missbildungen und Frühgeburt bestätigt. Als potentielle neurologische Folgen mütterlichen Kokainkonsums wurden übereinstimmend abnorme Reaktivität, abnorme sensorische
Funktionen und Zustandsorientierung berichtet.
Hulse und Kollegen (1997) untersuchten in einer Metaanalyse mit fünf Studien den möglichen kausalen Einfluss mütterlichen Kokaingebrauchs auf das niedrige Geburtsgewicht der
Neugeborenen. Sie schlossen nur Studien ein, die Nikotinkonsum als weiteren möglichen
Einflussfaktor statistisch kontrollierten. Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass sich pränatale Kokainexposition unabhängig vom Nikotinkonsum negativ und signifikant auf das Geburtsgewicht von Neugeborenen auswirkte. Ebenfalls auf der Grundlage einer Metaanalyse
kommen Frank und Kollegen (2001) zu dem Schluss, dass es trotz gewisser Risiken durch
den pränatalen Kokainkonsum keinen Hinweis für eine direkte Teratogenität dieser Substanz
gibt. Die in der Literatur beschriebenen Effekte seien indirekt über soziale und andere Gesundheitsfaktoren zu erklären.
Phelps und Cox (1993) fassen ebenfalls die Ergebnisse zu möglichen Folgen pränataler Kokainexposition aus klinischen wie Tierversuchsstudien zusammen, beziehen jedoch auch
Studien zu verhaltens- und entwicklungsbezogenen Folgen bei Kindern jenseits des Neugeborenenstadiums mit ein. Die Autoren bestätigen zwar die oben dargestellten Befunde weitestgehend, kommen aber zu dem Schluss, dass die meisten Symptome, sofern sie nicht
zum Tod des Fötus führten, kurzlebig und vergänglich sind. Als mögliche, in späteren Entwicklungsstufen des Kindes auftretende und weniger vergängliche Schäden wurden unter
anderem mangelnde Interaktionsfähigkeit mit der Umgebung, Schwierigkeiten mit der Stimulusverarbeitung, und während des zweiten Lebensjahrs auch Probleme mit der feinmotorischen Kontrolle und Selbstorganisation genannt. Für die späteren Lebensjahre werden mangelndes Spielverhalten mit Gleichaltrigen oder alleine in unstrukturierter Umgebung und
mangelnde Reaktivität auf Bezugspersonen als Folgen von pränataler Kokainexposition be-
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
74
richtet. Weiterhin werden Konzentrationsmängel, Zerstreutheit, und ab dem 3. bis 4. Lebensjahr auch Hyperaktivität sowie Aufmerksamkeitsdefizite und Verzögerungen in der Sprachentwicklung pränatalem Kokainkonsum zugeschrieben.
4.7
Schlussfolgerung
Kokain ist ein starkes Psychostimulans, die sowohl psychische als auch physische Funktionen und das Verhalten beeinflusst. Kurzfristig führt Kokain zu einem dreiphasigen Kokainrausch mit verschiedenen psychischen und physischen Symptomen. Wird Kokain in zu hoher
Dosis konsumiert kann dieser Kokainrausch in eine akute Kokainintoxikation mit Kompliaktionen (ICD-10 F14.02) übergehen. Langfristig bewirkt der Kokainkonsum psychische Schäden mit depressiven Symptomen, Angstanfällen und einem eigenbezüglichen Denken. Zudem treten körperliche Schädigungen auf, vor allem am Herz-Kreislauf- und dem zerebrovaskulären System. Sind solche Schädigungen festzustellen, wird der schädliche Gebrauch
von Kokain nach ICD-10 (F14.1) diagnostiziert. Kommen weitere Symptome über mindestens ein Jahr hinzu, liegt eine Kokainabhängigkeit (ICD-10 F14.2) vor. Wird Kokain nicht
mehr zugeführt, tritt ein Entzugssyndrom (ICD-10 F14.3) auf. Wird Kokain während der
Schwangerschaft konsumiert, hat das negative Auswirkungen auf den Schwangerschaftsverlauf und den Fetus.
Körperliche und psychische Folgen des Kokainkonsums
4.8
75
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79
5
Risikofaktoren des Kokainkonsums
Alexander Hose und Ludwig Kraus
5.1
Einleitung
Die Entwicklung des Konsumverhaltens psychoaktiver Substanzen wird als ein prozesshaftes Geschehen angesehen, das sich im Kindes- und Jugendalter in verschiedenen Stadien
vollzieht (Wills et al., 1996). Der Erstgebrauch von Tabak und Alkohol beginnt ab dem zehnten Lebensjahr mit einer Hochrisikophase zwischen dem 12ten und 16ten Lebensjahr (Lieb
et al., 2000). Das Risiko für die Ausbildung regelmäßiger und missbräuchlicher Konsummuster steigt ab dem 13ten Lebensjahr an (Holly et al., 1997; Nelson & Wittchen, 1998). Mit der
Einnahme illegaler Substanzen, zunächst Cannabis, wird zwischen dem 13ten und 14ten
Lebensjahr begonnen. Andere illegale Drogen werden erst nach dem 14ten Lebensjahr probiert (Perkonigg et al., 1997).
Als eines der wesentlichen Konzepte in der Risikoforschung sei auf das Konzept der Vulnerabilität hingewiesen. Es besagt, dass es personenbezogene Risikofaktoren wie bestimmte
biologisch-genetische, physiologische und psychologische Eigenschaften gibt, deren Auftreten eine Verletzlichkeit des Individuums gegenüber bestimmten kritischen äußeren Einflüssen zur Folge haben kann. Er wird davon ausgegangen, dass unter bestimmten sozialen
Konstellationen die Wahrscheinlichkeit des Drogenkonsums für ein Individuum, das ein oder
mehrere solcher Vulnerabilitätsfaktoren aufweist, höher ist als für ein weniger verletzliches
Individuum. Es wird angenommen, dass dabei weniger die Qualität der Risikofaktoren entscheidend ist als die Quantität ihres Auftretens im Sinne einer Kumulation.
Um einen Einflussfaktor ätiologisch als Bedingung für Substanzgebrauch im Allgemeinen
und für Kokaingebrauch im Besonderen zu identifizieren und ihn somit als Risikofaktor definieren zu können, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Er muss nachweisbar
zeitlich vor dem Einstieg in den Konsum der entsprechenden Droge auftreten und statistisch
das Risiko für das Auftreten dieses Konsums erhöhen (Kraemer et al., 1997). Für die zur
Identifizierung von Risikofaktoren anzuwendende Methodik ergibt sich daraus, dass nur prospektiv gewonnene Daten eine wirkliche sichere Auskunft darüber geben können, ob ein
beobachteter Einflussfaktor auf den Substanzkonsum zeitlich gesehen diesem voran ging,
gemeinsam mit diesem auftrat oder diesem folgte. Die in Studien zum Substanzkonsum häufig verwendeten retrospektiven Befragungen können durch Gedächtniseffekte beeinträchtigt
sein und die mit Querschnittsstudien gewonnenen Daten können zeitliche und somit kausale
Zusammenhänge nicht eindeutig identifizieren. Ergebnisse dieser Art von Studien können
das Verhältnis des untersuchten Faktors zum Substanzmissbrauch meist nur als Assoziation
angeben, obwohl sich dieser Faktor unter Anwendung einer entsprechenden Methodik als
Risikofaktor oder als Folge des Substanzmissbrauchs erweisen könnte.
80
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Im Folgenden wird ein Überblick über Ergebnisse der Risikofaktorenforschung gegeben, die
allgemein für alle psychoaktiven Substanzen zutreffen und als gesichert angesehen werden
können. Um die empirische Evidenz und die inhaltliche Bedeutung dieser Risikofaktoren für
den Einstieg in den Kokainkonsum abzuschätzen, werden diese Ergebnisse um Einzelstudien und soweit vorhanden um Übersichtsstudien zu kokainspezifischen Risikofaktoren ergänzt. Die Übersichtsarbeit von Petraitis et al. (1998) veranschaulicht die Bandbreite möglicher Prädiktoren für den Konsum illegaler Drogen. Die Autoren werteten in diesem Review
die Ergebnisse prospektiver Längsschnittstudien aus. In den 58 herangezogenen Originalstudien konnten sie 384 Ergebnisse identifizieren, die sie nach drei möglichen Einflusstypen
(soziale, einstellungsbezogene und intrapersonale) und vier Einflussebenen (direkte, proximale, distale und mittelbare) unterschieden. Die Einflussebenen beschreiben eine Abstufung
personen- oder umweltbezogener Variablen mit einem unmittelbaren Effekt auf den Substanzgebrauch bis hin zu Einflussfaktoren, denen ein indirekter Einfluss über Moderatorvariablen zugeschrieben wird.
5.2
Risikofaktoren des Drogenkonsums
Petraitis und Kollegen (1998) kommen in ihrer Übersicht der empirischen Ergebnisse zu folgenden Schlussfolgerungen. Der Konsum illegaler Substanzen folgt so gut wie immer auf ein
anderes problematisches Verhalte wie dem Konsum von Tabak oder Alkohol oder auf ein
delinquentes Verhalten, das von Schulschwänzen bis zur Beteiligung an schweren Verbrechen reichen kann. Zweitens wird aus den Ergebnissen deutlich, dass dem Substanzkonsum
in der Regel kognitive Prozesse vorangehen. Ein Einstieg in den Konsum illegaler Drogen
findet nur selten statt, ohne dass der Betroffenen zunächst davon ausgeht, dass der zu erwartende persönliche Gewinn des Konsums die konkreten Kosten überwiegt. Diese Überzeugung ergibt sich aus der Annahme, dass Drogen von Anderen bewusst und zielgerichtet
konsumiert würden. Drittens geht dem Drogenkonsum der Kontakt mit einem Personenkreis
voraus, in dem Drogen konsumiert werden. Als empirisch weniger gesichert, aber sehr wahrscheinlich, gilt die Annahme, dass die Identifikation mit den Einstellungen und Verhaltensweisen dieser Gruppe der für den Konsum ausschlaggebende Grund ist. Jugendliche Drogenkonsumenten haben in der Regel Freunde, die Drogen nehmen und Drogenkonsum positiv bewerten. Viertens besteht ein hoher Zusammenhang zwischen Drogenkonsum und Devianz, so dass dem Drogenkonsum häufig Kontakte mit sozial abweichenden Gleichaltrigen
vorausgehen. In geringerem Ausmaß besteht eine Assoziation zwischen Drogenkonsum und
einer geringen Bindung zu oder Auflehnung gegen Religion, Schule und Familie. In höherem
Maße bestätigt als intrapsychische Risikofaktoren für illegalen Drogenkonsum gelten eine
mangelnde Gefühlskontrolle sowie eine im sozialen Kontext extrovertierte und aggressive
Persönlichkeit. Schließlich konnten die Autoren in ihrem Review keine signifikante Häufung
ängstlich-depressiver und von geringem Selbstbewusstsein geprägter Personen unter den
Konsumenten illegaler Drogen finden. Auch anderen als allgemeingültig angenommenen
Risikofaktoren für den Einstieg in den Konsum illegaler Drogen, wie dem Fehlen elterlicher
Strukturvorgaben, dem Fehlen elterlicher emotionaler Zuwendung oder einer nicht intakten
Risikofaktoren des Kokainkonsums
81
Familienstruktur kommt nur eine geringe oder eine eher langfristig wirkende prädiktive Bedeutung zu.
Auch die Ergebnisse aus Übersichtsarbeiten zu weniger kontrollierten Studien bestätigen
intrapersonale (biologisch-genetische Faktoren, Persönlichkeit/Temperament, Problemverhalten und psychopathologische Störungen) und interpersonale bzw. soziale Faktoren
(Familie/traditionelle Einrichtungen, Freundeskreis, sozioökonomischer Status, kritische Lebensereignisse) als Einflussfaktoren des Drogenkonsums (Hawkins, Catalano & Miller, 1992;
Stacy, Newcomb & Bentler, 1992; Sullivan & Farrell, 2002; Swadi, 1999; Wills et al., 1996).
5.2.1 Intrapersonale Faktoren
Dass biologisch-genetische Faktoren für Drogenkonsum (Tsuang et al., 1996) und für Kokainkonsum im Besonderen als Dispositionen Bedeutung besitzen, gilt als unbestritten. Allerdings wird ihnen in älteren Studien eher die Rolle als Verstärker zwischen der Phase des
„experimentellen“ Gebrauchs und dem problematischen Konsum zugeschrieben (Brower &
Anglin, 1987). Ebenso nachgewiesen wurde der Einfluss von bestimmten Persönlichkeitseigenschaften und Temperamentausprägungen auf den Konsum und Missbrauch psychoaktiver Substanzen. Dies betrifft Eigenschaften wie kognitive Motivation, Sensation Seeking,
Impulsivität und Aggressivität, die mit einer verminderten Verhaltenskontrolle einhergehen
(Stacy, Newcomb & Bentler, 1991; Newcomb, 1997). Auch antisoziales Verhalten ist hier zu
nennen, das je nach Ausprägung bzw. Definition auch als Problemverhalten oder als psychopathologische Störung aufgefasst werden kann. Diese Faktoren wurden sowohl allgemein für Konsum und Missbrauch illegaler Dogen (Petraitis et al., 1998) als auch für Konsum
und Missbrauch von Kokain als Risikofaktoren empirisch bestätigt (Brower & Anglin, 1987;
Denison et al., 1998).
Dem Faktor Problemverhalten von Konsumenten illegaler Substanzen lassen sich mehrere
Phänomene zuordnen. Ein viel diskutiertes Thema in diesem Zusammenhang ist, inwieweit
der Konsum einer bestimmten psychoaktiven Substanz als Risikofaktor für den Konsum einer weiteren Substanz angesehen werden kann. Als gesichert gilt, dass ein früher Einstieg in
den Gebrauch einer psychoaktiven Substanz mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zur Aufrechterhaltung und Intensivierung der Einnahme dieser Substanz führt (Grant & Dawson, 1997).
Gleichzeitig erhöht sich das Risiko, den Konsum auf andere, stärkere Substanzen auszudehnen (Kandel & Yamaguchi, 1993; von Sydow et al., 2002). Brower und Anglin (1987)
stellten fest, dass der vorherige Gebrauch anderer Drogen, seien es Alkohol, Zigaretten oder
Cannabis, das Risiko für einen späteren Kokainkonsum erhöht. Schulversagen wird sowohl
als allgemeingültiger (Hawkins et al., 1992; Swadi, 1999) wie auch als kokainspezifischer
Risikofaktor (Brower & Anglin, 1987) betrachtet. Allerdings wiesen Brower und Anglin (1987)
darauf hin, dass schulischer Misserfolg eine häufige Folge des Kokainkonsums ist.
Das Auftreten psychischer Störungen gilt sowohl für den Drogenkonsum wie für den Kokainkonsum als Risikofaktor. Leider liegen zu diesem Thema kaum längsschnittliche Studien vor,
82
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
auf deren Basis entschieden werden könnte, welche psychischen Störungsmuster als Risikofaktoren, welche als Folgen und welche als gleichzeitig auftretend verstanden werden können. Kontrovers diskutiert werden Affektstörungen wie Angst und Depression (Swadi, 1999).
Depression ist als Teil der Entzugssymptomatik von Kokain eine Folge des Konsums, tritt
aber auch als komorbides Störungsmuster bei einem Teil von Kokainkonsumenten auf. Die
empirische Befundlage lässt keine eindeutigen Schlüsse zu, ob Depression auch ein Risikofaktor für Kokainkonsum ist, obwohl bei vielen Kokainkonsumenten angenommen werden
kann, dass schon vor ihrem Einstieg in den Kokainkonsum eine depressive Symptomatik
vorlag (Brower & Anglin, 1987; Denison et al., 1998).
Die im Kindes- und Jugendalter auftretende Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
(ADHS) wird im Zusammenhang mit einer erhöhten Vulnerabilität für späteren Substanzkonsum diskutiert (Hawkins et al., 1992; Swadi, 1999). Ergebnisse von Längsschnittsstudien
legen nahe, dass es sich bei ADHS nicht um einen Risikofaktor für den Einstieg in den Konsum psychoaktiver Substanzen handelt (Milberger et al., 1997). Auch die Studienübersicht
von Adam, Döpfner und Lehmkuhl (2002) kommt zu dem Schluss, dass das Vorliegen einer
ADHS-Diagnose allein noch keinen Risikofaktor für Substanzgebrauch und -missbrauch bzw.
Kokainkonsum darstellt (Brower & Anglin, 1987; Denison & Kollegen, 1998). Haasen und
Kollegen (2002) wiesen auf die Komorbidität von posttraumatischen Belastungsstörungen
und Kokainmissbrauch als möglichen Risikofaktor hin, ähnliches gilt für die ebenfalls nicht
selten gleichzeitig mit Kokainmissbrauch auftretende Borderline- und narzisstische Störungen.
5.2.2 Interpersonale Faktoren
Die familiäre Situation (u.a. Trennung der Eltern), der Erziehungsstil (u.a. negative Kommunikation), das Familienklima (u.a. geringe emotionale Nähe) und der Substanzkonsum der
Eltern wurden als Risikofaktoren für den Substanzgebrauch bei Kindern und Jugendlichen
identifiziert (Hawkins et al., 1992; Stacy, Newcomb & Bentler, 1992; Sullivan & Farrell 2002;
Swadi, 1999). Allerdings wurde die Stärke dieses Einflusses auf späteren illegalen Substanzkonsum als eher gering und wenn, dann als langfristig wirkend eingeschätzt (Petraitis
et al., 1998). Brook, Nomura und Cohen (1989), die den Einfluss von sozialen Umgebungsvariablen, Schule, Peers und Familie auf den Drogenkonsum untersuchten, fanden, dass
Familie und Peers einen direkten Einfluss auf den Drogenkonsum hatten, während soziale
Umgebungsvariablen indirekt über Schule, Peers und Familie wirkten und die Peers Mediatoren für Schuleinflüsse waren. Weiterhin berichteten Brook et al. (1990), dass der Drogenkonsum von älteren Brüdern, den Eltern und den Peers einen unabhängigen Einfluss auf den
Drogenkonsum der jüngeren Brüder hatte, wobei der Einfluss der Peers und der älteren Brüder stärker war als der der Eltern. Brower und Anglin (1987) erwähnten in ihrer Übersicht nur
eine Studie, die einen familiären Zusammenhang auch kokainspezifisch bestätigte. Neben
der Familie, gelten auch Schule und Kirche als traditionelle Einrichtungen, die Kinder und
Jugendliche an sich binden und somit zur Internalisierung konventioneller Werte beitragen.
Lehnen sie eine Bindung an diese Institutionen ab, besteht im Allgemeinen ein höheres Risi-
Risikofaktoren des Kokainkonsums
83
ko für den Gebrauch psychoaktiver Substanzen (Newcomb & Earleywine, 1996). Brower und
Anglin (1987) fanden in ihre Übersicht drei Studien, die berichteten, dass eine schwache
religiöse Einbindung mit Kokainkonsum korreliert.
In allen vorliegenden Übersichtsarbeiten wurde übereinstimmend Substanzkonsum im
Freundeskreis als der stärkste Prädiktor für den Einstieg in den Konsum psychoaktiver Substanzen bestätigt (Hawkins et al., 1992; Petraitis et al., 1998; Swadi, 1999; Sullivan & Farrell,
2002). Freunde beeinflussen die Einstellung gegenüber Drogen, dienen als Verhaltensmodelle, bieten Verstärkung für das Verhalten an und erhöhen die Verfügbarkeit der Substanzen (Sullivan & Farrell, 2002). Diesem Faktor wird auch für den Einstieg in den Kokainkonsum eine hohe Relevanz zugeordnet (Brower & Anglin, 1987).
Ein weiterer, dem Bereich der interpersonalen bzw. sozialen Faktoren zuzuordnender Risikofaktoren für den Gebrauch psychoaktiver Substanzen ist der sozioökonomische Status.
Hawkins und Kollegen (1992) beschrieben die Befundlage hierzu als uneindeutig. Nur im
Zusammenhang mit ausgeprägter Armut oder weiterem Problemverhalten bekommt dieser
Faktor Bedeutung. Wie Wills und Kollegen (1996) darstellten, wirkt der sozioökonomische
Status indirekt z.B. über die Qualität des Erziehungsstils. Die Uneinheitlichkeit der Evidenz
spiegelt sich auch in Studien wieder, die die Wirkung auf den Kokaingebrauch untersuchten.
So verwiesen Brower und Anglin (1987) darauf, dass der sozioökonomische Status gemessen am Ausbildungsstand der Eltern für Kokainkonsumentinnen eine signifikante Einflussvariable sei. Dieser Zusammenhang konnte in anderen Studien für Kokainkonsumenten nicht
bestätigt werden. Ebenso uneindeutig ist die Evidenz für die Hypothese, das persönliche
Einkommen bedinge Kokainkonsum. Zusammenfassend lässt sich zur Wahrscheinlichkeit
eines bedingenden Einflusses des sozioökonomischen Status auf Kokaingebrauch feststellen, dass der sozioökonomische Status von Kokainkonsumenten in der Regel als nicht gering bezeichnet werden kann. Auf keinen Fall ist er so schlecht, um im oben genannten Sinne in Form von ausgeprägter Armut einen kausalen Einfluss entfalten zu können. Wie aber
auch gezeigt wurde, unterscheiden sich Crackkonsumenten im sozioökonomischen Status
deutlich von Kokainkonsumenten. Bei der Entwicklung des Crackkonsums dürfte diesem
Risikofaktor eine wesentlich stärkere Bedeutung zukommen.
Der kausale Einfluss kritischer Lebensereignisse wie der Tod von Bezugspersonen oder
Missbrauchserlebnisse auf den Einstieg in Drogenkonsum wird oft vermutet. Drogenkonsumenten berichten auch häufiger von solchen Erlebnissen als Nichtkonsumenten (Swadi,
1999; Sullivan & Farrell, 2002). Allerdings kommt insbesondere bei dieser Fragestellung das
Fehlen entsprechender Längsschnittstudien zum Tragen, da wie bereits erwähnt die Ergebnisse aus retrospektiven Befragungen zu kritischen Lebensereignissen starken Verzerrungen
unterworfen sind. In den vorliegenden Übersichten zu kokainspezifischen Risikofaktoren
werden keine Studien zu diesem Thema erwähnt (Brower & Anglin, 1987). Für Crackkonsumentinnen liegen allerdings mehrere Studien vor, die den Einfluss dieses Risikofaktors untersuchten (Bassel et al., 1996; Bayatpour, Wells & Holford, 1992; Freeman, Collier & Parillo,
2002; Young & Boy, 2000).
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
84
5.3
Intrapersonale Risikofaktoren
Genetische Faktoren
Die beobachtbare familiäre Häufung von Substanzgebrauch und -missbrauch ist neben den
gleichen Umweltbedingungen für die einzelnen Familienmitglieder auch auf genetische Veranlagungen zurückzuführen. Ad optionsstudien zur Alkoholabhängigkeit zeigen, dass für
Adoptivkinder eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Ausbildung einer Alkoholabhängigkeit
besteht, wenn deren biologische Eltern Alkoholiker sind, aber nicht, wenn bei den Adoptiveltern alkoholbezogene Störungen vorliegen (Cloninger et al., 1986; Bohman et al., 1987). Die
genetische Disposition zu dem Gebrauch anderer psychoaktiver Substanzen wurde in Familienstudien (Rounsaville et al., 1991; Dinwiddie & Reich, 1993; Merikangas et al., 1998; Bierut et al., 1998), Zwillingsstudien (Grove et al., 1990; Tsuang et al, 1996; van de Bree et al.,
1998; Tsuang et al., 1998; Kendler & Prescott, 1998a; Kendler & Prescott, 1998b; Kendler,
Karkowski & Prescott, 1999; Jang et al., 1995) und Adoptionsstudien (Cadoret et al., 1995;
1996) untersucht. Die Ergebnisse weisen übereinstimmend darauf hin, dass das Ris iko für
Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen erheblich von genetischen Faktoren beeinflusst ist.
Kendler et al. (1998b; 2000) und van de Bree et al. (1998) konnten diese Befunde auch für
Kokain sowohl bei Frauen als auch bei Männern nachweisen. Starker Konsum, Missbrauch
und Abhängigkeit von Kokain wiesen mit zunehmender Störung auf genetische Faktoren hin.
Bei Kokainmissbrauch oder -abhängigkeit bei Männern wurden durch den Faktor Vererbung
76% der Varianz erklärt (van de Bree et al., 1998). Bei Kokainkonsum besteht dagegen ein
geringerer genetischer Einfluss, die erklärte Varianz betrug bei Männern 39%.
Die Ergebnisse belegen damit klar, dass Umweltfaktoren, denen Familienmitgliedern in gleichem Maße ausgesetzt sind, einen wesentlich größeren Einfluss auf den Kokain- bzw. Drogenkonsum haben als auf die Entwicklung einer Substanzabhängigkeit. Als beeinflussende
Umgebungsvariablen werden genannt der Wohnort (O’Malley et al., 1991; Warner et al.,
1995), ökonomische Faktoren (Smart & Murray, 1983), Drogenverfügbarkeit (Arnao, 1990,
Newcomb & Felix-Ortiz, 1992; MacCoun & Reuter, 1997), Altersgenossen (Kandel, 1985;
Luthar et al., 1992) und Familienfaktoren (Newcomb & Bentler, 1988; Needle, Su & Doherty,
1990).
Einstiegsalter und Erfahrung mit anderen Drogen
Studien, die sich mit der Gateway-Hypothese beschäftigen, konnten zeigen, dass (1) Cannabiskonsumenten ein erhöhtes Risiko aufweisen, den Drogenkonsum fortzusetzen, (2)
Cannabiskonsumenten, die früh mit dem Drogenkonsum beginnen, ein erhöhtes Risiko für
den Konsum anderer Drogen haben, (3) Jugendliche nur selten mit dem Konsum anderer
Drogen vor dem Cannabiskonsum beginnen und (4) die Häufigkeit und Intensität des Cannabiskonsums das Risiko für den Beginn des Konsum anderer Drogen erhöht (Blaze-Temple
& Lo, 1992; Fergusson & Horwood, 2000; Fergusson, Horwood & Swain-Campbell, 2002;
Kandel, Yamaguchi & Chen, 1992; Yamaguchi & Kandel, 1984; Yu & Williford, 1992). Wei-
Risikofaktoren des Kokainkonsums
85
terhin liegen ein Reihe von Belegen vor, die einen Zusammenhang zwischen frühem Einstieg
in den Drogenkonsum und substanzbezogenen Störungen (Brook et al., 2002; McGee et al.,
2000; Robins & Przybeck, 1985; Schumann et al., 2000), inadäquatem Rollenverhalten
(Bachmann et al., 1997), Schulmisserfolg (Lynskey et al., 2003) sowie Delinquenz (Fergusson & Horwood, 1997) feststellten.
Die empirischen Befunde legen nahe, dass es sich bei dem festgestellten Zusammenhang
zwischen Drogenkonsum, Progression und Risiko für weiteren Drogenkonsum nicht um einen deterministischen Ansatz handelt, so dass eine bestimmte Drogeneinnahme nicht unmittelbar und notwendigerweise zu einer Progression des Konsums führen muss. In der Beantwortung der Frage nach dem Kausalzusammenhang zwischen dem Drogenkonsum in seiner
zeitlichen Abfolge bzw. einem frühen Einstieg und der Progression oder dem Einstieg in andere Drogen finden sich jedoch unterschiedliche Positionen (Kandel & Chen, 2000; Morral et
al., 2002; Parry & Mandell, 1995). Die empirischen Befunde lassen sich sowohl in die Richtung eines drogenspezifischen Effektes interpretieren als auch in die Richtung eines Moderatoreffektes vermittelt durch andere Prozesse wie Eigenschaften der Person (Motivation, Neigung, frühkindliche Erfahrungen), Einflüsse von Gleichaltrigen oder Umweltfaktoren wie Verfügbarkeit, Schule, Nachbarschaft oder Sozialstruktur. Solowij und Grenyer (2002) schlagen
auf der Basis der widersprüchlichen Befunde eine differenzierte Betrachtung der negativen
Effekte vor, die je nach Alter, den individuellen Eigenschaften und den Umwelteinflüsse unterschiedlich ausfallen können.
Obwohl sich die Mehrheit der Studien, die sich mit der Gateway-Hypothese beschäftigen auf
Cannabis beziehen, liegen auch in Bezug auf den Kokainkonsum eine Reihe von Studien
vor. Kandel und Yamaguchi (1993) stellten in der Untersuchung ihres Stufenmodells fest,
dass Crack in der zeitlichen Reihe der Drogenerfahrung nach Kokain die Droge darstellt, mit
der am letzten Erfahrung gemacht wurde. Auch Fagan und Chin (1991) berichteten, dass der
Konsum von Alkohol, Marihuana, und geschnupftem Kokain oft dem Crackkonsum vorausgeht. In Übereinstimmung mit der Gateway-Hypothese berichteten Miller und Volk (1996),
dass wöchentliche Cannabiskonsumenten ein um das zehnfache erhöhtes Risiko aufwiesen,
innerhalb des nächsten Jahres mit dem Kokainkonsum zu beginnen. Darüber hinaus stellten
sie für eine Reihe von psychosozialen Faktoren nur eine geringe prädiktive Valenz fest.
Wagner und Anthony (2002) machten dagegen deutlich, dass die beobachteten Übergänge
zwischen Tabak-, Alkohol-, Cannabis- und Kokainkonsum eher die Wege in den Drogenkonsum beschreiben als dass sie die Mechanismen erklären, die diesen Übergängen zugrunde
liegen. In ihrer eigenen Studie kamen sie zu dem Ergebnis, dass der beobachtete Zusammenhang zwischen den Drogenstadien mit der Expositionswahrscheinlichkeit zusammenhängt. In ihrer Stichprobe war die Gelegenheit für den Konsum von Kokain assoziiert mit
früherem Cannabiskonsum. Unter denjenigen, die Gelegenheit zu Kokainkonsum hatten, war
das Risiko Kokain auch zu konsumieren für diejenigen mit früherem Cannabiskonsum höher
als für diejenigen, die keine Cannabiserfahrung hatten. Die Autoren schlossen daraus, dass
Drogenkonsum auf einer bestimmten Stufe verbunden ist mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eines Drogenangebots für Drogen der nächsthöheren Stufe. Vergleichbare Ergebnisse
86
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
wurden für die Übergänge in den Konsum von Cannabis, Halluzinogene und Heroin gefunden (Van Etten & Anthony, 1999).
Perry und Mandell (1995) identifizierten eine Reihe von psychosozialer Faktoren, die in Zusammenhang standen mit dem Übergang zum Kokainkonsum. Im Vergleich zu Drogenkonsumenten ohne Kokainkonsum erwiesen sich männliches Geschlecht, Risikoverhalten und
Drogenkonsum der Peergruppe als Risikofaktoren für den Übergang vom Cannabis- in den
Kokainkonsum.
Psychische Charakteristika
Ein Reihe von Studien konnte einen Zusammenhang zwischen Depression und Kokainkonsum feststellen (Field, Diego & Sanders, 2001; Weiss et al., 1992). Unklar ist nach wie vor
die Richtung des Zusammenhangs. Castro, Newcomb und Bentler (1988) prüften in einer
Längsschnittstudie an einer Stichprobe von 654 Jugendlichen die Selbstmedikationshypothese (Depressivität ist ein Vorläufer von Kokainkonsum) und die Hypothese, dass Kokainkonsum bestimmte psychische Störungen verursacht. Die Ergebnisse weisen auf keinen
Zusammenhang zwischen erhöhter Depressivität im Jugendalter und späterem Kokainkonsum hin. In Bezug auf die umgekehrte Hypothese fanden sie, dass intensiver Kokainkonsum
ein höheres Risiko für die Entwicklung depressiver Störungen, eingeschränkter Motivation
und von Gesundheitsproblemen darstellte als häufiger aber weniger intensiver Kokainkonsum.
In einer Reihe von Arbeiten wird ein Zusammenhang zwischen Drogenkonsum, Impulsivität
und Aggression berichtet (Brady et al., 1998). Ebenso ist die Inzidenz antisozialer Persönlichkeitsstörungen bei Drogenabhängigen assoziiert mit Impulsivität und Aggression (Möller
et al., 2001). Nach wie vor unklar ist jedoch die Art des Zusammenhangs zwischen Drogenkonsum und Impulsivität (Moss & Lynch 2001; Sullivan & Rudnik-Levin, 2001), Verhaltensstörungen (Lynskey & Hall, 2001), sowie Aggression (Brook et al., 1992; Reinherz, 2000).
Studien bei Kokainabhängigen weisen auf einen Anteil von 10-30% mit ADHS-Störung hin
(Carroll & Rounsaville, 1993; Levine et al., 1998; Clure et al., 1999). Zudem haben Kokainabhängige mit einer ADHS-Störung ein erhöhtes Risiko für Antipersönlichkeitsstörungen und
Verhaltensstörungen (Levin et al., 1998). Horner, Scheibe und Stine (1996) schlossen, dass
ADHS-Störungen, die sich im Erwachsenenalter fortsetzen, einen Risikofaktor für Kokainkonsum darstellen. Moeller und Kollegen (2002) fanden in Ihrer Untersuchung, dass Impulsivität bei Kokainabhängigen unabhängig war vom gleichzeitigen Auftreten von Persönlichkeitsstörungen und Aggression.
Ball, Carroll und Rounsaville (1994) stellten in ihrer klinischen Stichprobe fest, dass Kokainabhängige mit einem hohen Sensation Seeking Wert im Vergleich zu Kokainabhängigen mit
einem niedrigen Score mehr Symptome von Kokainmissbrauch und mehr psychosoziale Beeinträchtigungen aufwiesen, sowie mit höherer Wahrscheinlichkeit Polykonsumenten waren,
früher mit dem Drogenkonsum begannen und früher Missbrauchssymptome entwickelten.
Risikofaktoren des Kokainkonsums
5.4
87
Interpersonale Risikofaktoren
Sozial Umgebung
Crum, Lillie-Blanton und Anthony (1996) untersuchten in einer Längsschnittstudie an 1.416
Stadtbewohnern mit mittlerer Schulbildung den Einfluss negativer Umgebungsvariablen auf
die Exposition des Kokainangebots und stellten fest, dass für Jugendliche, die in Stadtteilen
mit der höchsten sozialen Benachteiligung lebten, die Wahrscheinlichkeit, Kokain angeboten
zu bekommen, um das 5,6fache höher war als für Jugendliche in Stadtteilen mit einem hohen sozialen Status. Die Autoren schließen, dass soziale Umgebungsvariablen in direktem
Zusammenhang stehen mit der Gelegenheit zum Konsum von Kokain. Die Hypothese der
Verfügbarkeit als Risikofaktor für Kokainkonsum wird von Schroeder und Kollegen (2001)
bestätigt. Die Autoren differenzierten jedoch zwischen sozialen Netzwerken (individuelle Beziehungen auf der Mikroebene) und sozialen Umgebungsvariablen (Makroebene). Die Autoren folgten in einer Längsschnittuntersuchung 342 Erwachsenen, die Drogen injizierten, über
ein Jahr. Wie sich zeigte hatten beide Ebenen eine signifikanten Einfluss auf den Konsum
von Kokain und Heroin. Das individuelle soziale Netzwerk war jedoch ein stärkerer Prädiktor
für fortgesetzten i.v. Konsum von Kokain oder Heroin als die Höhe von drogenbezogenen
Verurteilungen in der Umgebung der Befragten. Dieser Befund bestätigt die Ergebnisse einer
Übersicht von Davis und Tunks (1990), die in ihrer Literaturübersicht zu dem Ergebnis kommen, dass die Effekte von Faktoren der Mikroebene wie Altersgenossen und Familie einen
stärkeren Einfluss auf Drogenkonsum haben als die Effekte der Makroebene wie Schule und
Gemeinde bzw. Stadtteil. Qualitative Interviews mit kokainerfahrenen Methadonpatienten
über die Art von Situationen, die Kokainkonsum auslösen, ergaben jedoch, dass Verfügbarkeit den höchsten Reiz auslöste, gefolgt von einem Kokainangebot und der Verfügbarkeit
von Geld zum Kauf von Kokain (Kirby et al., 1995).
Sexueller Missbrauch
Bayatpour, Wells und Holford (1992) untersuchten eine Kohorte schwangerer Teenager in
einem Kliniksetting und stellten fest, dass diejenigen Jugendlichen, die in ihrer Kindheit physisch oder psychisch missbraucht wurden, ein signifikant höheres Risiko für Cannabis- und
Kokainkonsum sowie für Suizidalität hatten, und zwar vor bekannt werden der Schwangerschaft. El-Bassel und Kollegen (1996) beleuchteten die Wirkungen psychologischer Traumata wie den Verlust frühkindlicher Obhut oder ein Leben als Straßenkind auf den Crackkonsum bei einer Stichprobe von 158 inhaftierten Frauen. Unter statistischer Kontrolle möglicher
weiterer Einflussvariablen wurde festgestellt, dass für diejenigen Frauen, die einen frühkindlichen Verlust erlitten hatten, eine um mehr als dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit bestand,
später regelmäßig Crack zu konsumieren als für untraumatisierte Frauen. Ein Zusammenhang zwischen sexuellem oder körperlichem Missbrauch oder elterlichem Alkoholmissbrauch
und regulärem Crackkonsum konnte in dieser Studie jedoch nicht gefunden werden (ElBassel et al., 1996). Freeman, Collier und Parillo (2002) sahen dagegen in ihrer Befragung
von 1.478 Frauen einer Hochrisikogruppe, die mindestens einmal in ihrem Leben Crack konsumiert hatten, sexuellen Missbrauch jeglicher Form vor dem 18. Lebensjahr als Risikofaktor
an. Auch waren in der Studie von Young und Boyd (2000) Crack konsumierende afroamerikanische Frauen mit einem sexuellen Trauma im Vergleich zu untraumatisierten Frauen von
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
88
mehr verschiedenen Drogen abhängig, ohne jedoch insgesamt mehr verschiedene Drogen
zu konsumieren. Zudem suchten die sexuell traumatisierten Frauen wegen gesundheitsbezogenen Folgen ihres Drogenkonsums signifikant häufiger Krankenhäuser, Notaufnahmen
und Therapieeinrichtungen auf und waren nachlässiger in der Fürsorge für ihre Kinder als die
Kontrollgruppe.
5.5
Schlussfolgerung
Die für den Drogenkonsum allgemein diskutierten intrapersonalen (biologisch-genetische
Faktoren, Persönlichkeit/Temperament, Problemverhalten und psychopathologische Störungen) und interpersonale bzw. soziale Risikofaktoren (Familie/traditionelle Einrichtungen,
Freundeskreis, sozioökonomischer Status, kritische Lebensereignisse) gelten uneingeschränkt auch für den Kokainkonsum. Untersuchungen des Einflusses negativer Umgebungsvariablen auf die Exposition des Kokainangebots zeigen, dass soziale Umgebungsvariablen in direktem Zusammenhang stehen mit der Gelegenheit zum Konsum von Kokain.
Einer differenzierten Betrachtung sozialer Netzwerke (individuelle Beziehungen auf der Mikroebene) und sozialer Umgebungsvariablen (Makroebene) zufolge haben zwar beide Ebenen eine signifikanten Einfluss auf den Konsum von Kokain. Das individuelle soziale Netzwerk erwies sich jedoch als ein stärkerer Prädiktor für fortgesetzten i.v. Konsum von Kokain
als die Höhe von drogenbezogen Verurteilungen in der Umgebung der Befragten. Faktoren
der Mikroebene wie Altersgenossen und Familie scheinen einen stärkeren Einfluss auf Drogenkonsum zu haben als die Effekte der Makroebene wie Schule und Gemeinde bzw. Stadtteil.
Untersuchungen zum häufig festgestellten Zusammenhang zwischen Depression und Kokainkonsum bestätigen keinen Zusammenhang zwischen erhöhter Depressivität im Jugendalter und späterem Kokainkonsum. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass insbesondere intensiver Kokainkonsum ein höheres Risiko für Depressivität, eingeschränkter Motivation und
von Gesundheitsproblemen darstellt. In Bezug auf den viel diskutierten Zusammenhang zwischen Drogenkonsum, Impulsivität, Aggression und Persönlichkeitsstörungen weisen die
Ergebnisse auf einen von Persönlichkeitsstörungen und Aggression unabhängigen Einfluss
von Impulsivität auf Kokainkonsum hin.
Mit Hilfe von Zwillingsstudien konnten genetische Faktoren für Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit von Kokain nachgewiesen werden. Der Einfluss genetischer Faktoren auf den
Kokainkonsum ist jedoch wesentlich geringer als auf die Entwicklung von Kokainmissbrauch
und -abhängigkeit. Die generell gegen die Gateway-Hypothese vorgebrachten Einwände,
dass für den Übergang von einer zur anderen Droge nicht die Droge per se verantwortlich
ist, sondern andere Moderatorvariablen, werden unterstützt durch Ergebnisse, die einen Zusammenhang zwischen den Drogenstadien und der Expositionswahrscheinlichkeit feststellten. Drogenkonsum auf einer bestimmten Stufe ist verbunden mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eines Drogenangebots für Drogen der nächsthöheren Stufe. Die für den Kokainkonsum gefundenen Ergebnisse des Einflusses erhöhter Exposition konnten für die Übergänge
in den Konsum von Cannabis, Halluzinogene und Heroin bestätigt werden.
Risikofaktoren des Kokainkonsums
5.6
89
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Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
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95
6
Komorbidität bei Personen mit einer kokainbezogenen Diagnose
Claudia Semmler
6.1
Einleitung
In den letzten Jahren wurde eine extensive Forschung über das gemeinsame Auftreten von
Störungen durch Drogenkonsum und psychischen Störungen betrieben (Regier et al., 1990),
denn Komorbidität unter Drogenabhängigen ist kein seltenes Phänomen (z. B. Galanter,
Castaneda & Ferman, 1988; Günther et al., 2000; Krausz, Degkwitz & Verthein, 1998). Auch
Personen mit durch Kokain hervorgerufenen psychischen oder Verhaltensstörungen leiden
oft unter anderen psychischen Störungen. Im folgenden wird zuerst Kormorbidität definiert,
und Ursachen für Schwankungen in den Komorbiditätsraten werden aufgezeigt. Im sich anschließenden Überblick über Komorbidität zwischen Kokainmissbrauch bzw. -abhängigkeit
und psychischen Störungen werden zuerst die Komorbiditätsraten epidemiologischer Studien
vorgestellt und dann die von Studien mit Behandeltenstichproben.
6.2
Definition Komorbidität
Komorbidität im engen Sinne liegt vor, wenn verschiedene Störungen bei einer Person zeitlich gemeinsam auftreten (Feinstein, 1970). Dieses Verständnis von Komorbidität im Sinne
des zeitgleichen Auftretens von mindestens zwei unterschiedlichen Störungen kann durch
die Ausdehnung des Zeitrahmens, in dem die Störungen auftraten, erweitert werden, zum
Beispiel auf eine 4-Wochen-Komorbidität oder 6-Monats-Komorbidität. Das weiteste Verständnis von Komorbidität betrifft die Lebenszeit-Komorbidität. Hier müssen lediglich zwei
oder mehrere Lebenszeitdiagnosen für spezifische Störungen vorliegen (Maier, Franke &
Linz, 1999). Es wird also nicht mehr gefordert, dass die Störungen zeitgleich oder in einem
bestimmten zeitlichen Rahmen gemeinsam auftraten, sondern auch ein sukzessives Erkranken an verschiedenen Störungen ist erlaubt (Maier, Franke & Linz, 1999). Ein direkter Vergleich von Komorbiditätsraten verschiedener Studien ist nur dann sinnvoll, wenn die gleiche
Definition von Komorbidität (d. h. der gleiche zeitliche Bezugsrahmen) zugrunde gelegt wurde.
Komorbidität im Zusammenhang mit substanzbezogenen Störungen wird im allgemeinen als
das gemeinsame Auftreten einer Störung durch den Konsum psychotroper Substanzen (ICD10 Kapitel F1; Dilling, Mombour & Schmidt, 1993), hier also Kokain (ICD-10 F14), und einer
psychischen Störung definiert (z. B. Günther et al., 2000; Krausz, 1994). Diesem Verständnis
wurde hier gefolgt (für das komorbide Erkranken an zwei oder mehreren substanzbezogenen
Störungen vgl. Kapitel 7).
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
96
6.3
Schwankungen der Komorbiditätsraten
Prävalenzangaben für komorbide Erkrankungen weisen teilweise enorme Bandbreiten auf.
Zum einen ist das auf das Verwenden unterschiedlicher Stichproben zurückzuführen (Regier
et al., 1990), wie z. B. Bevölkerungsstichproben oder Behandeltenstichproben bzgl. psychischer Erkrankungen, Alkoholmissbrauch bzw. -abhängigkeit oder bzgl. Störungen durch illegale Drogen. Bereits 1946 gab Berkson zu bedenken, dass Personen mit mehreren Störungen eher eine Behandlung aufsuchen als Personen mit nur einem Störungsbild. Deswegen
sind im Behandlungssetting eher komorbid erkrankte Personen anzutreffen als außerhalb
dieses Settings, was die “wahre” Komorbidität verzerrt (Berkson‘s Bias). Verschiedene Prävalenzangaben für komorbide Erkrankungen können zum anderen durch das Zugrundelegen
unterschiedlicher Zeitspannen bedingt sein (4-Wochen- vs. 6-Monats- vs. LebenszeitKomorbidität). Ein weiterer Grund für Schwankungen in den Komorbiditätsraten ist die Verwendung unterschiedlicher diagnostischer Interviews und diagnostischer Kriterien (Grant,
1995; Marlowe et al., 1995).
6.4
Epidemiologische Studien
In den USA wurden drei große epidemiologische Studien zur Komorbidität durchgeführt. In
zwei Studien werden Komorbitätsraten für Personen mit einer kokainbezogenen Störung
berichtet (Epidemiologic Catchment Area (ECA) Study, Regier et al., 1990; National Longitudinal Alcohol Epidemiologic Survey, NLAES, Grant et al., 1994). In dem National Comorbidity
Survey (NCS; Kessler et al., 1994) werden nur Angaben für Alkohol und andere Drogen gemacht. Aus diesem Grund können keine Ergebnisse aus dieser Studie berichtet werden.
6.4.1
Die ECA-Studie
In der Epidemiologic Catchment Area (ECA) Study (Regier, 1990) wurden die zwischen 1980
und 1984 erhobenen Daten von 20.291 Personen ausgewertet (vgl. Tabelle 6-1). Diese Personen stammen z. T. aus der allgemeinen Bevölkerung, z. T. waren sie institutionalisiert, so
dass es sich also nicht um eine reine Bevölkerungsstichprobe handelt. 76,1% der Personen
mit einer Lebenszeit-Prävalenz für Kokainmissbrauch nach DSM-III (American Psychiatric
Association, 1980) litten mindestens einmal in ihrem Leben an einer psychischen Störung
(Lebenszeit-Komorbidität). Das Odds Ratio im Vergleich zu Personen ohne diese kokainbezogene Diagnose lag bei 11,3. Für spezifizierte Störungen ergaben sich für Personen mit
einer Lebenszeit-Kokainmissbrauchsdiagnose nach DSM-III (American Psychiatric Association, 1980) die folgenden Lebenszeit-Prävalenzen und Odds-Ratios (jeweils im Vergleich zu
Personen ohne Kokaindiagnose): Schizophrenie: 16,7% (OR: 13.2), affektive Störungen:
34,7% (OR: 5.9), Angststörungen: 33,3% (OR: 11.0), antisoziale Persönlichkeitsstörung:
42,7% (OR: 29.2) und Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit: 84,8% (OR: 36.3). Dabei waren nur die Odds Ratios für das Vorliegen irgendeiner psychischen Störung und eines Alkoholmissbrauchs bzw. einer Alkoholabhängigkeit signifikant (p < .001).
Komorbidität bei Personen mit einer kokainbezogenen Diagnose
Tabelle 6-1:
Studie
97
Übersicht über epidemiologische Studien
N
Stichprobe
Diagnosekriterien
Kokainbezogene
Komorbidität bzgl.
Störung
ECA;
20.291
Bevölkerungs-
Diagnostic Interview Schedule (DIS),
Kokainmissbrauch
mindestens eine illegale Störung
(DSM-III)
Schizophrenie
Regier et al.
stichprobe und insti- DSM-III
(1990)
tutionalisierte Stich-
Affektive Störungen
proben
Angststörungen
Antisoziale Persönlichkeitsstörung
Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit
NLAES;
Grant (1995)
42.862
Bevölkerungs-
Alcohol Use Disorders and Associated
Kokainmissbrauch
stichprobe
Disabilities Interview Schedule
oder Kokainabhän-
(AUDADIS)
gigkeit (DSM-IV)
Major Depression
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Tabelle 6-2:
98
Übersicht über Studien mit Behandeltenstichproben
Studie
N
Art der Behandlung
Diagnosekriterien
Kokainbezogene
Störung
Marlowe et al. (1995) 100
ambulant
Structured Clinical Interview for DSM-III-R- Kokainmissbrauch
Patient Edition (SCID-P); SCID-II for per(3%), Kokainabhänsonality disorders
gigkeit (97%) (DSMIII-R)
New Haven Diagnostic Study;
Schottenfeld et al.
(1993)
298
behandlungssuchend (ambulant und
stationär)
Schedule for Affective Disorders and
Schizophrenia-Lifetime ve rsion;
Research Diagnostic Criteria (RDC)
Kokainmissbrauch
oder Kokainabhängigkeit (RDC)
Weiss et al. (1988)
149
stationär
DSM-III
Kokainmissbrauch
(DSM-III)
Malow et al. (1989)
74
stationär
Structural Clinical Interview for DSM-III-R
(SCID)
Kokainabhängigkeit
(DSM-III-R)
Weiss et al. (1993)
50
stationär
Modifikation des Structured Clinical Interaktuelle Kokainabview for DSM-III-R Personaliy Disorders zur hängigkeit (DSM-IIIErfassung von Achse-II-Störungen nach
R)
DSM-III-R
Komorbidität bzgl.
Substanzstörungen
Affektive Störungen
Angststörungen
Psychotische Störungen / Schizophrenie
Esstörungen
Persönlichkeitsstörungen
Affektive Störungen
Angststörungen
Antisoziale Persönlichkeitsstörung
ADHS
Schizophrenie und schizoaffektive Störungen
Alkoholbezogene Störungen
Affektive Störungen
Angststörungen
Antisoziale Persönlichkeitsstörung
ADHS
Esstörungen
Achse-I-Störungen (DSM-III)
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Antisoziale Persönlichkeitsstörung
Persönlichkeitsstörungen
Komorbidität bei Personen mit einer kokainbezogenen diagnose
6.4.2
99
Kokainbezogene Diagnosen und Major Depression: Der NLAE Survey
Das gemeinsame Erkranken an einer Major Depression und substanzbezogenen Störungen
stand oft im Mittelpunkt des Forschungsinteresses (Grant, 1995). Bei Drogenbehandelten
konnte oftmals auch eine Major Depression festgestellt werden (z. B. Meyer, 1986; Ross,
Glaser & Germanson, 1988). Dagegen wurde bei Patienten mit einer Major Depression weitaus seltener eine substanzbezogene Störung diagnostiziert (z. B. El-Guebaly, 1990). Sanderson, Beck und Beck (1990) geben beispielsweise an, dass weniger als 10% der Patienten
mit einer Major Depression auch an substanzbezogenen Störungen erkrankten.
Im folgenden werden die Komorbiditätsraten zwischen Kokainmissbrauch bzw. -abhängigkeit
und einer Major Depression aus dem National Longitudinal Alcohol Epidemiologic Survey
(NLAES; Grant et al., 1994) berichtet. Die angegebenen Komorbiditätsraten beruhen auf
Bevölkerungsdaten, nicht auf Behandeltenstichproben.
Grant (1995) untersuchte die Komorbidität zwischen drogenbezogenen Störungen und Major
Depression anhand des NLAES (vgl. Tabelle 6-1). 42.862 Personen, die mindestens 18 Jahre alt waren, in den USA lebten und nicht institutionalisiert waren, wurden in einem face-toface Interview befragt. Die Stichprobe war nach soziodemographischen und geographischen
Merkmalen geschichtet. Schwarze und junge Erwachsene (18-29 Jahre) waren überrepräsentiert. Über das Alcohol Use Disorders and Associated Disabilities Interview Schedule
(AUDADIS, Grant & Hasin, 1992), ein vollstruktriertes psychiatrisches Interview, wurden
DSM-IV-Diagnosen (American Psychiatric Association, 1994) für Substanzstörungen und
Major Depression gestellt. Um die Komorbidität für verschiedene Zeitspannen anzugeben,
wurde Major Depression für die letzten 12 Monate und die Lebenszeit diagnostiziert.
Tabelle 6-3 gibt die Prävalenzen für das Vorliegen einer Major Depression und kokainbezogener Diagnosen für die Gesamtstichprobe, Männer und Frauen sowie zwei Altersstufen (1829 Jahre, 30 Jahre und älter) für die letzten 12 Monate (nur Gesamt), den Zeitraum vor dem
letzten Jahr und die Lebenszeit wieder. Fast 10% der Stichprobe litten mindestens einmal in
ihrem Leben unter einer Major Depression, im letzten Jahr etwas mehr als 3% und vor dem
letzten Jahr fast 8%. Frauen erkrankten öfter als Männer und Jüngere öfter als Ältere an einer Major Depression. Lebenszeitlich und vor dem letzten Jahr hatten Männer höhere Prävalenzen für Kokainmissbrauch und -abhängigkeit sowie für beide Diagnosen zusammen als
Frauen. Ebenso waren diese Prävalenzraten für Jüngere höher als für Ältere.
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
100
Tabelle 6-3:
Diagnose
Prävalenzen für Major Depression, Kokainmissbrauch und -abhängigkeit für
verschiedene Gruppen und Zeitfenster (NLAES; Grant, 1995)
Gruppe
Letztes Jahr
Vor dem letzten
Lebenszeit
Jahr
%
SE
%
SE
%
SE
3,33
0,10
7,73
0,16
9,86
0,18
6,85
0,23
8,64
0,26
Frauen
8,54
0,21
10,99
0,23
18-29
10,38
0,33
14,28
0,39
6,84
0,18
8,38
0,19
1,55
0,07
1,66
0,07
Major
Gesamt
Depression
Männer
Jahre
30+ Jahre
Kokain-
Gesamt
0,23
0,03
missbrauch
Männer
2,10
0,12
2,24
0,13
oder
Frauen
1,04
0,07
1,12
0,07
abhängigkeit
18-29
2,51
0,18
2,74
0,19
1,23
0,07
1,30
0,07
0,61
0,86
0,04
0,08
0,64
2,24
0,04
0,13
Frauen
1,04
0,07
1,12
0,07
18-29
2,51
0,18
2,74
0,19
1,23
0,07
1,30
0,07
0,94
0,05
1,02
0,06
Jahre
30+ Jahre
Kokainmissbrauch
Gesamt
Männer
0,09
0,02
Jahre
30+ Jahre
Kokain-
Gesamt
0,14
0,02
abhängigkeit
Männer
1,24
0,09
1,35
0,10
Frauen
0,66
0,05
0,72
0,06
18-29
1,59
0,13
1,75
0,14
0,51
0,03
0,78
0,06
Jahre
30+ Jahre
Tabelle 6-4 zeigt die Komorbitätsraten für Major Depression und kokainbezogene Diagnosen
für die Gesamtstichprobe für die letzten 12 Monate, den Zeitraum vor dem letzten Jahr und
die Lebenszeit. Ein Prozent der Personen, die im letzten Jahr an einer Major Depression
litten, hatten eine kokainbezogene Störung im Vergleich zu 0,2% der Personen ohne Major
Depression. Das Risiko, eine Kokaindiagnose zu haben, ist demnach bei den Personen mit
einer Major Depression fast fünfmal höher als bei Personen ohne diese aktuelle depressive
Störung (OR = 4,90). Die korrespondierenden Odds Ratios für Kokainmissbrauch oder abhängigkeit bei Personen mit einer Major Depression im Vergleich zu Personen ohne Major
Depression lagen zwischen vier und fünf (vgl. Tabelle 6-4).
Komorbidität bei Personen mit einer kokainbezogenen diagnose
Tabelle 6-4:
101
Prävalenzen, Odds Ratios und Konfidenzintervalle für die Komorbidität von
Major Depression und Kokainmissbrauchs bzw. -abhängigkeit für die Gesamtstichprobe für drei Zeitfenster (NLAES; Grant, 1995)
Zeitfenster
Major
Keine Major
Depressi on
Depression
%
SE
%
SE
OR
KI
0,99
0,22
0,20
0,03
4,90
2,80-8,59
Kokainmissbrauch
0,38
0,10
0,08
0,02
4,38
1,81-10,57
Kokainabhängigkeit
0,62
0,20
0,12
0,02
5,25
2,56-10,73
Vor dem letzen Jahr
Kokainmissbrauch oder -
5,93
0,47
1,18
0,07
5,27
4,32-6,45
2,20
0,32
0,48
0,04
4,68
3,32-6,61
5,74
0,39
1,21
0,07
4,96
4,14-5,95
Kokainmissbrauch
2,11
0,26
0,48
0,04
4,51
3,31-6,15
Kokainabhängigkeit
3,63
0,31
0,74
0,05
5,07
4,06-6,33
a
b
Letzes Jahr
Kokainmissbrauch oder abhängigkeit
abhängigkeit
Kokainmissbrauch
Kokainabhängigkeit
Lebenszeit
Kokainmissbrauch oder abhängigkeit
a
b
Odds Ratio.
95% Konfidenzintervall. Da kein Konfidenzintervall den Wert eins einschliesst, sind alle Odds Ratios
signifikant.
Die Odds Ratios für das Vorliegen einer Kokaindiagnose bei an einer Major Depression erkrankten Personen im Vergleich zu Personen ohne Major Depression wurde für Männer und
Frauen und zwei Altersstufen (18-29 Jahre, 30 Jahre und älter) für den Zeitraum vor dem
letzten Jahr und die Lebenszeit in Tabelle 6-5 dargestellt. Die Beziehung zwischen Kokainmissbrauch oder -abhängigkeit war bei den 30-Jährigen und Älteren durchgängig größer als
bei den 18- bis 29-Jährigen. Solch klares Bild ergab sich nicht für Männer und Frauen. Die
Odds Ratios für Männer waren nur unwesentlich größer als die der Frauen. Davon ausgenommen sind die Lebenszeit-Komorbidität von Major-Depression und Kokainabhängigkeit.
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
102
Tabelle 6-5:
Odds Ratios und Konfidenzintervalle für die Komorbidität von Major Depression und Kokainmissbrauch bzw. -abhängigkeit nach Geschlecht und Alter im
Zeitraum vor dem letzten Jahr und die Lebenszeit (NLAES; Grant, 1995)
Zeitfenster
Männer
a
Vor dem letzen Jahr
Kokainmissbrauch oder -
OR
KI
5,95
4,54-
abhängigkeit
Kokainmissbrauch
Frauen
b
a
OR
KI
4,96
3,71-
7,81
5,54
3,58-
5,88
4,27-
a
3,95
2,39-
KI
4,02
2,98-
5,50
3,86-
30+ Jahre
a
2,68
1,56-
KI
5,80
4,427,62
6,08
4,59
4,79
7,84
3,35-
b
OR
5,43
6,52
8,09
b
OR
6,65
8,56
Kokainabhängigkeit
18-29 Jahre
b
3,949,39
5,39
6,83
3,927,43
Lebenszeit
Kokainmissbrauch oder -
5,28
abhängigkeit
Kokainmissbrauch
4,12-
5,23
6,75
5,05
3,38-
5,13
3,806,93
3,60
6,86
4,34
7,54
Kokainabhängigkeit
3,982,764,087,84
5,50
4,78
2,59
6,81
5,66
2,721,61-
7,02
5,86
4,18
4,15
2,97-
4,313,958,69
5,09
5,80
a
b
Odds Ratio.
95% Konfidenzintervall. Da kein Konfidenzintervall den Wert eins einschliesst, sind alle Odds Ratios
signifikant.
6.5
Komorbidität bei Behandeltenstichproben
3,776,86
Es gibt eine Reihe von Studien, die die Komorbidität zwischen Kokainmissbrauch bzw. abhängigkeit und verschiedenen psychischen Störungen bei sich in Behandlung befindenden
Personen untersuchen. Im folgenden werden die Designs verschiedener Komorbiditätsstudien vorgestellt (vgl. Tabelle 6-2). Im Anschluss daran werden Komorbitätsraten zu affektiven, Angst- und Persönlichkeitsstörungen, psychotischen Störungen, dem Aufmerksamkeits/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) und Essstörungen berichtet.
6.5.1
Studien
Marlowe und Kollegen (1995) untersuchten 68 Männer und 32 Frauen, die an einer intensiven ambulanten Kokainbehandlung teilnahmen. Die Mehrheit (Frauen und Männer jeweils
97%) war aktuell kokainabhängig nach DSM-III-R (American Psychiatric Association, 1987),
und nur wenige wiesen eine DSM-III-R-Missbrauchsdiagnose (American Psychiatric Association, 1987) für Kokain auf (jeweils 3%). Diagnosen wurden anhand des Structured Clinical
Interview for DSM-III-R-Patient Edition (SCID-P; Spitzer et al., 1990a) und dem SCID-II for
personality disorders (Spitzer et al., 1990b) gestellt. 91 Personen waren Schwarze, acht waren Weiße und eine Person war spanischer Herkunft. Das mittlere Alter lag bei 32,2
Komorbidität bei Personen mit einer kokainbezogenen diagnose
103
(SD: 6,8). Die Probandinnen und Probanden wiesen eine durchschnittliche Ausbildungszeit
von 11,8 Jahren auf (SD: 1,7). Der Großteil war arbeitslos (90%) und ein beträchtlicher Teil
obdachlos (25%). Etwa zwei Drittel der Behandelten war Single (N = 65), 23 Personen waren
geschieden oder getrennt lebend, und 12 waren verheiratet.
Schottenfeld, Carroll und Rounsaville (1993) untersuchten komorbide Erkrankungen an behandlungssuchenden Kokainkonsumenten der New Haven Diagnostic Study, die von der
Arbeitsgruppe um Rounsaville (1991) durchgeführt wurde. Jeweils 149 Personen suchten
eine ambulante bzw. eine stationäre Behandlung auf. Diagnoserelevante Informationen wurden über das Schedule for Affective Disorders and Schizophrenia-Lifetime Version (Endicott
& Spitzer, 1978) erhoben und anhand der Research Diagnostic Criteria (RDC; Spitzer & Williams, 1986) bewertet. Alle Patienten hatten eine Diagnose für Kokainmissbrauch oder Kokainabhängigkeit nach RDC und keine Lebenszeit-Opiatabhängigkeit. Psychiatrische Symptome wurden nur als solche gewertet, wenn zwischen ihrem Auftreten und dem letzten Drogenkonsum mindestens 10 Tage lagen, um Konfundierungen mit drogeninduzierten und Entzugssymptomen zu vermeiden. Die Stichprobe wies folgende soziodemographische Merkmale auf: Das mittlere Alter lag bei 28 Jahren, 69% der Probanden waren männlich und 64%
Weiße, 76% kamen aus unteren sozialen Schichten, und 72% waren single, getrennt lebend
oder geschieden. Der Missbrauch von Drogen begann durchschnittlich mit 18,6 Jahren. Ambulant und stationär Behandelte unterschieden sich nicht signifikant in psychiatrischen Störungen.
Weiss und Kolleginnen (1988) untersuchten die Psychopathologie von 442 wegen ihres Drogenkonsums stationär behandelten Personen. Davon waren 149 Personen wegen ihres Kokainmissbrauchs, 230 wegen ihrer Opiatabhängigkeit und 63 wegen ihrer Abhängigkeit von
zentralnervös dämpfenden Stoffen in Behandlung. Diagnosen wurden nach DSM-III (American Psychiatric Association, 1980) gestellt. Fragen zur Soziodemographie und zum Drogenkonsum wurden anhand eines selbstkonstruierten Selbstbeurteilungsfragebogen mit 275
Items beantwortet. Familienbezogene Daten wurden über ein persönliches Interview mit
Verwandten des ersten Grades gesammelt. Die soziodemographischen Merkmale der Personen mit Kokainmissbrauch und der Abhängigen stimmten überein. Das mittlere Alter lag
bei 30 Jahren, 74% waren männlich, 95% Weiße, 36% waren verheiratet und 23% getrennt
lebend oder geschieden. Etwa 30% waren Fachkräfte oder in leitender Funktion, 59% arbeiteten mehr als 20 Stunden pro Woche.
Malow und Kolleginnen (1989) untersuchten das Vorliegen von Persönlichkeitsstörungen bei
117 männlichen Patienten, die wegen ihrer Kokainabhängigkeit (N = 74) oder Opiatabhängigkeit (N = 43) stationär behandelt wurden. Die Kokainabhängigen gaben Kokain als Droge
ihrer Wahl an, erfüllten die DSM-III-R Diagnosekriterien (American Psychiatric Association,
1987) für Kokainabhängigkeit im Monat vor der stationären Aufnahme, nahmen Kokain mindestens im letzten Jahr und hatten niemals eine Abhängigkeitsdiagnose nach DSM-III-R
(American Psychiatric Association, 1987) für andere Substanzen außer Alkohol und Cannabis.
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
104
Sie waren durchschnittlich 32 Jahre alt (SD: 5,6). Die Mehrheit war schwarz (78,4%). Diagnosen für Substanzabhängigkeit und Persönlichkeitsstörungen wurden nach dem Structural
Clinical Interview for DSM-III-R (SCID; Spitzer & Williams, 1986) gestellt.
Weiss und Mitarbeiterinnen (1993) untersuchten an 50 Personen mit einer aktuellen Kokainabhängigkeit nach DSM-III-R (American Psychiatric Association, 1987) die Prävalenzen für
verschiedene Persönlichkeitsstörungen. Al le Probanden wurden wegen ihrer Kokainabhängigkeit stationär behandelt. Über ein Selbstbeurteilungsfragebogen aus 138 Items wurden
soziodemographische und konsumrelevante Daten erhoben. Achse-II-Störungen nach DSMIII-R (American Psychiatric Association, 1987) wurden anhand einer Modifikation des Structured Clinical Interview for DSM-III-R Personaliy Disorders (SKID-II, Spitzer, Williams & Gibbon, 1987) diagnostiziert. Die Stichprobe bestand vor allem aus weißen (88%), männlichen
(58%) und erwerbstätigen Personen (70%). Der Kokainkonsum dauerte durchschnittlich 8,5
Jahre. Frühere stationäre Behandlungen fanden etwa 1,3mal statt. Weitere substanzbezogene Störungen hatten 86%. Eine Diagnose für Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit wiesen 70% der Stichprobe auf, davon hatten 43% (15 Personen) eine dritte Substanzstörung.
6.5.2
Komorbiditätsraten
Affektive Störungen
Das komorbide Erkranken an affektiven Störungen wurden in drei der berichteten Studien
untersucht (Marlowe et al., 1995; Schottenfeld et al., 1993; Weiss et al., 1988). Die Komordibitätsraten sind in Tabelle 6-6 für zwei Zeitfenster (aktuell vs. Lebenszeit) dargestellt. Auffällig sind die erheblichen Schwankungen der berichteten Komorbiditätsraten zwischen den
Studien. Die höchsten Prävalenzen berichten Schottenfeld und Kollegen (1993). Am höchsten sind für alle Studien die Lebenszeit-Prävalenzen für Major Depression und Zyklothymia/Hyperthymia, bei den aktuellen Prävalenzen die für Zyklothymia/Hyperthymia und Hypomanie. Übereinstimmend mit dem immer wieder replizierten Befund fanden Marlowe und
Kollegen (1995), dass Frauen häufiger an einer Major Depression erkrankten als Männer.
Frauen erkrankten ebenfalls öfter an Dysthymia (primärer und sekundärer Typ), während
kokainmissbrauchende bzw. kokainabhängige Männer häufiger unter einer bipolaren Störung
litten.
Komorbidität bei Personen mit einer kokainbezogenen Diagnose
Tabelle 6-6:
105
Komorbidität mit affektiven Störungen (%)
Zeitfenster
Studie
Aktuell
Lebenszeit
Marlowe et
Marlowe et
Marlowe et
Schotten-
Marlowe et
Marlowe et
Marlowe et
Schotten-
Weiss et al.
al. (1995)
al. (1995)
al. (1995)
feld et al.
al. (1995)
al. (1995)
al. (1995)
feld et al.
(1988)
Gesamt
Männer
Frauen
Gesamt
Gesamt
Mäner
Frauen
Gesamt
Gesamt
11
7
19
26,6
13
9
22
61,5
26,8
Major depression
2
1
3
4,7
4
3
6
30,5
8,7
Zyklothymia/
-
-
-
19,9
-
-
-
19,9
11,4
2
1
3
-
2
1
3
-
-
4
0
13
-
4
0
13
-
-
Manie
-
-
-
0
-
-
-
3,7
-
Hypomanie
-
-
-
20
-
-
-
7,4
Bipolare Störungen
-
-
-
-
-
-
-
-
4,7
Bipolare Störung,
1
1
0
-
1
1
0
-
-
2
3
0
-
2
3
0
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
2,0
(1993)
Stichprobe
Gesamt
(1993)
Hyperthymia
Dysthymia (primärer
Typ)
Dysthymia (sekundärer
Typ)
manisch
Bipolare Störung NOS
(Bipolar II)
Atypische Depression
Die Angabe von Dezimalstelle variierte von Studie von Studie.
Wurden für eine Störung keine Prävalenzen berichtet (leere Zellen), wurde die entsprechende Störung nicht in der Studie erfasst.
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Tabelle 6-7:
106
Komorbidität mit Angststörungen (%)
Zeitfenster
Studie
Aktuell
Lebenszeit
Marlowe et
Marlowe et
Marlowe et
Schotten-
Marlowe et
Marlowe et
Marlowe et
Schotten-
Weiss et al.
al. (1995)
al. (1995)
al. (1995)
feld et al.
al. (1995)
al. (1995)
al. (1995)
feld et al.
(1988)
(1993)
Stichprobe
(1993)
Gesamt
Männer
Frauen
Gesamt
Gesamt
Mäner
Frauen
Gesamt
Gesamt
Gesamt
Panikstörung
8
-
4
-
16
-
15,7
0,3
8
4
16
22,1
1,7
Panikstörung mit Ago-
2
3
0
-
2
3
0
-
-
1
0
3
-
1
0
3
-
-
4
1
9
3,7
4
1
9
7,0
0,7
Phobie
-
-
-
11,7
-
-
-
13,4
-
Agoraphobie mit Panik-
-
-
-
-
-
-
-
-
0,7
Einfache Phobie
1
0
3
-
1
0
3
-
0,7
Zwangsstörung
1
1
0
-
1
1
0
-
-
raphobie
Panikstörung ohne Agoraphobie
Generalisierte Angststörung
attacken
Die Angabe von Dezimalstelle variierte von Studie von Studie.
Wurden für eine Störung keine Prävalenzen berichtet (leere Zellen), wurde die entsprechende Störung nicht in der Studie erfasst.
Komorbidität bei Personen mit einer kokainbezogenen Diagnose
107
Angststörungen
In den gleichen Studien, in denen affektive Störungen untersucht wurden, wurden auch Prävalenzen für die Komorbidität mit Angststörungen berichtet (vgl.Tabelle 6-7). Auch hier
schwanken die angegebenen Komorbiditätsraten erheblich. Wiederum geben Schottenfeld
und Kollegen (1993) die höchsten Prävalenzen an. Bei der Untersuchung von Marlowe und
Kollegen (1995) stimmen die aktuellen und Lebenszeit-Komorbiditätsraten überein. Je nach
dem, was in den verschiedenen Studien erfasst wurde, sind unterschiedliche Störungen am
häufigsten vertreten. Weiss und Kolleginnen fanden für die generalisierte Angststörung, Agoraphobie mit Angstattacken und einfache Phobie durchgängig Prävalenzen unter einem Prozent. Sowohl aktuell als auch lebenszeitlich war das komorbide Erkranken an einer Phobie in
der Studie von Schottenfeld und Kollegen (1993) am häufigsten, bei Marlowe und Kollegen
(1995) dagegen das Erkranken an der generalisierten Angststörung für die Gesamtstichprobe. Differenziert nach Geschlecht ergab sich (Marlowe et al., 1995), dass Frauen öfter unter
einer Panikstörung ohne Agoraphobie, generalisierter Angststörung und einfacher Phobie
litten. Männer hingegen erkrankten öfter zusätzlich an einer Panikstörung mit Agoraphobie
und einer besessen-zwanghaften Störung. Dies galt sowohl aktuell als auch für die Lebenszeit.
Persönlichkeitsstörungen
Die Erfassung der Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen (Achse-II-Störungen nach
DSM) bringt einige methodische Schwierigkeiten mit sich. Um Komorbiditätsraten zu
bestimmen, müssen bleibende Persönlichkeitszüge von solchen unterschieden werden, die
im Zusammenhang mit dem Konsum psychotroper Substanzen stehen. Das ist vermutlich
einer der Gründe, warum die Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen nicht systematisch
untersucht wurde. Davon ausgenommen ist die antisoziale Persönlichkeitsstörung, die einzige Persönlichkeitsstörung, die regelmäßig im Forschungsinteresse stand (Marlowe et al.,
1995).
Weiss und Mitarbeiterinnen (1993) setzen die Forderung nach der Trennung von substanzbezogenen Symptomen und Persönlichkeitszügen in ihrer Studie um. Durch eine Modifikation des Structured Clinical Interview for DSM-III-R Personaliy Disorders (SKID-II, Spitzer,
Williams & Gibbon, 1987) war es möglich zu unterschieden, ob die erfragten Persönlichkeitszüge nur während des Drogenkonsums, während Konsum- und konsumfreier Phasen, nur in
konsumfreien Phasen oder im allgemeinen nie auftraten. Von den 50 Patienten hatten 37
(74%) mindestens eine Störung auf Achse-II des DSM-III-R (American Psychiatric Assocication, 1987). Tabelle 6-8 zeigt, wie viele Persönlichkeitsstörungen zu welchen Konsumphasen
diagnostiziert wurden. Die häufigsten Störungen waren antisoziale, Borderline-, histrionische
und paranoide Persönlichkeitsstörung.
Mehr als eine Persönlichkeitsstörung hatten 62% (23 Personen). Die durchschnittliche Diagnosenanzahl unter den Patienten mit mindestens einer Persönlichkeitsstörung lag bei 2,9.
Lediglich ein Patient hatte eine Diagnose nur unter Drogenkonsum, und nur in konsumfreien
Zeiten wurden acht Patienten als persönlichkeitsgestört diagnostiziert. 28 der 37 als persön-
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
108
lichkeitsgestört diagnostizierten Patienten hatten eine durch Drogenkonsum und Abstinenz
durchgängige Diagnose, das entspricht 73 der 106 vergebenen Diagnosen für eine Persönlichkeitsstörung. Kein einziger Patient hatte eine Persönlichkeitsstörung in drogenfreien Zeiten und eine andere während des Drogenkonsums.
Tabelle 6-8:
Anzahl der Persönlichkeitsstörungen nach DSM-III-R bei 50 Kokainabhängigen (Studie: Weiss et al., 1993)
Diagnosekriterien erfüllt
Persönlichkeitsstörung
Nur unter
Nur in kon-
Unter Drogen-
Drogen-
sumfreien
konsum und
konsum
Phasen
in konsum-
Nie
freien Phasen
Antisozial
Borderline
2
1
6
1
11
16
31
32
Hitrionisch
1
2
13
34
Paranoid
1
3
11
35
Vermeidend
1
8
2
39
Narzisstisch
1
1
6
42
Passiv-aggressiv
1
0
7
42
Zwanghaft
0
2
2
46
abhängig
0
0
4
46
Schizotypal
0
2
2
47
Schizoid
0
0
0
50
Gesamt
8
25
73
Nach dieser Studie treten Persönlichkeitsstörungen ungeachtet aktueller Konsummuster relativ stabil auf. Allerdings müssen verschiedene methodische Schwachpunkte in Betracht
bezogen werden. Zum einen steht der SCID-II (Spitzer, Williams & Gippon, 1987) unter Verdacht, Persönlichkeitsstörungen fälschlicherweise zu oft zu diagnostizieren (Weiss et al.,
1993). Zum zweiten ist nach Weiss und Kolleginnen (1993) die Validität der Angaben der
Kokainabhängigen in Selbstbeurteilungsfragebögen zweifelhaft: Viele Patienten konsumierten über viele Jahre hinweg Drogen, so dass die letzte drogenfreie Zeit schon lange zurück
lag. Andere Personen hatten zwar Abstinenzphasen, aber diese Phasen reichten nicht aus,
um Persönlichkeitsveränderungen in Richtung eines nicht abhängigen Zustandes zu erreichen. Auch unbewusste Rationalisierungsprozesse der Patienten können die Antwort verzerrt haben: Personen, die nicht zum Beenden des Drogenkonsums motiviert waren, könnten ihre Persönlichkeitseigenschaften und ihren Drogenkonsum fälschlicherweise als voneinander unbeeinflusst wahrgenommen haben (Weiss et al., 1993).
Marlowe und Kollegen (1995) erfassten in ihrer Studie eine Reihe von Persönlichkeitsstörungen. Die Komorbiditätsraten sind in Tabelle 6-9 dargestellt. Fast drei Viertel der Probanden
hatten eine aktuelle oder lebenszeitliche Persönlichkeitsstörung. Etwa ein Drittel der Studienteilnehmer hatte sogar mehr als eine Diagnose für Persönlichkeitsstörungen. Am häufigsten
Komorbidität bei Personen mit einer kokainbezogenen Diagnose
109
wurden Persönlichkeitsstörungen aus dem Cluster B (dramtisch/emotional) diagnostiziert.
Männer erhielten wesentlich öfter die Diagnose der antisozialen und narzisstischen Persönlichkeitsstörung (Lebenszeit), während Frauen signifikant öfter an einer BorderlinePersönlichkeitsstörung erkrankt waren (Lebenszeit).
Tabelle 6-9:
Prävalenz (%) von SCID-basierten Lebenszeit-Diagnosen für Persönlichkeitsstörungen unter Personen mit einer aktuellen Kokaindiagnose (N = 100); (Studie: Marlowe et al., 1995)
Gesamt
Männer
Frauen
> 1 Persönlichkeitsstörung
35
37
31
> 1 Cluster
28
26
31
Cluster A (exzentrisch)
28
28
28
Paranoid
21
24
16
Schizotypisch
7
6
9
Schizoid
4
3
6
Cluster B (dramatisch/emotional)
Antisozial
53
23
49
32
63
3
Borderline
22
9
50
Narzisstisch
17
24
3
Histrionisch
2
1
3
Cluster C (ängstlich)
24
25
22
Passiv-aggressiv
7
9
3
Vermeidend-selbstunsicher
6
6
6
Zwanghaft
5
6
3
Dependent
3
3
3
In drei weiteren Studien wurde die Komorbidität mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung
nach DSM und RDC und in einer Studie mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung erfasst.
Die Prävalenzen sind in Tabelle 6-10 wiedergegeben, die zum Vergleich auch die Ergebnisse der Arbeitsgruppe um Marlowe (1995) zeigt. Die RDC-Kriterien zur Diagnostik einer antisozialen Persönlichkeitsstörung sind strenger als die DSM-Kriterien, was sich in den deutlich
höheren Prävalenzen für das Vorliegen einer antisozialen Persönlichkeitsstörung nach DSM
widerspiegelt. Wie bereits in den Komorbiditätsraten für affektive und Angststörungen sichtbar wurde, sind die von Schottenfeld und Kollegen berichteten Prävalenzen deutlich höher
als die der anderen Studien.
110
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Tabelle 6-10: Komorbiditätsraten für antisoziale und Borderline-Persönlichkeitsstörung
Zeitfenster
Studie
Aktuell
Lebenszeit
Schottenfeld
Schotten-
et al. (1993)
feld et al.
Malow et al. Weiss et al.
Marlowe et
(1989)
(1988)
al. (1995)
(1993)
Antisoziale Persönlichkeits-
7,7
7,7
-
-
_
störung (RDC)
Antisoziale Persönlichkeits-
32,9
32,9
12
16,1
23
-
-
6
-
22
störung (DSM)
Borderline (DSM)
Schizophrenie
In der New Haven Diagnostic Study (Schottenfeld et al., 1993) war aktuell keine Person an
einer Schizophrenie erkrankt. Mindestens einmal im gesamten Leben litten 0,3% an einer
Schizophrenie. Eine aktuelle schizoaffektive Störung wurde bei 0,3% der Stichprobe diagnostiziert, eine entsprechende Lebenszeit-Diagnose erhielten 1%.
Schottenfeld und Kollegen (1993) geben zu bedenken, dass die geringen Prävalenzraten für
Schizophrenie und schizoaffektive Störungen nicht etwa so niedrig seien, weil Personen mit
einer Kokaindiagnose selten daran erkrankten oder gar Kokain einen protektiven Faktor darstelle, sondern weil schizophrene Patienten im Allgemeinen nicht im Rahmen von Drogenbehandlungen behandelt werden. Amerikanische Studien an schizophrenen Patienten dokumentieren eine Rate für Kokainmissbrauch zwischen 12 und 15 Prozent (Mueser et al.,
1990; Negrete et al. 1986; Richard, Liskow & Perry, 1985; Siris et al., 1988).
Studien aus Deutschland kommen im Allgemeinen aus dem Behandeltensetting. Lambert
und Mitarbeiter (1997) untersuchten 222 schizophrene Patienten aus Hamburg, die alle zusätzlich Suchtmittel konsumierten. Lediglich 11 Personen (10%) nahmen Kokain und zwar in
Kombination mit Cannabis. In einer anderen deutschen Studie wurden 444 Patienten mit
einer Polytoxikomanie auf das Vorliegen einer schizophrenen Störung (ICD-10 F2; Dilling,
Mombour & Schmidt, 1993) untersucht (Löhrer et al., 2002). An einer Erkrankung aus dem
schizophrenen Formenkreis litten 278 Patienten, keine solche Erkrankungen wiesen 166
Personen auf. Von den komorbid erkrankten Personen nahmen 84,5% (235 Personen) Kokain, von den nicht-komorbid Erkrankten nur unwesentlich mehr (89,1%, 148 Personen).
Beide Gruppen unterschieden auch kaum im Einstiegsalter für den Kokainkonsum (Polytoxikomane mit einer schizophrenen Störung: 19,6 (SD: 5,7), Polytoxikomane ohne eine schizophrene Störung: 20,3 (SD: 4,5)). Zu beachten ist, dass das Ziel beider Studien nicht Schätzung von Komorbiditätsraten war, sondern die Untersuchung komorbid erkrankter Personen.
Deswegen können hieraus keine Prävalenzangaben für das gemeinsame Auftreten einer
kokainbezogenen Störung und einer schizophrenen Störung abgeleitet werden. Weiterhin
sollte beachtet werden, dass beide Studien die Komorbidität aus unterschiedlichen Perspek-
Komorbidität bei Personen mit einer kokainbezogenen Diagnose
111
tiven untersuchten: In der einen Studie wurde erfasst, wieviele Schizophrene u. a. Kokain
nehmen (Lambert et al., 1997), in der anderen wie viele Polytoxikomane mit einem Kokainkonsum eine schizophrene Erkrankung aufweisen (Löhrer et al., 2002).
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Schottenfeld und Kollegen (1993) fanden, dass 34,9 % der behandlungssuchenden Kokainkonsumenten lebenszeitlich an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
litten. In der Studie von Weiss und Kolleginnen (1988) waren von den 149 Personen mit einem aktuellen diagnostizierten Kokainmissbrauch sieben Personen an der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (residualer Typ) erkrankt (4,7%). Acht Personen (5,4%) litten unter einer
atypischen Impulskontroll-Störung.
Essstörungen
Das komorbide Erkanken an Essstörungen wurde nur selten untersucht. Die Arbeitsgruppe
um Weiss (1988) fand eine Komorbiditätsrate mit Bulimia nervosa von 1,3%. Marlowe und
Kollegen (1995) berichten, dass 2% der Gesamtstichprobe, 1% der Männer und 3% der
Frauen mit einer kokainbezogenen Diagnose an Bulimia nervosa litten.
6.6
Schlussfolgerung
Es gibt zahlreiche Studien zur Komorbidität bei Kokainkonsumenten, allerdings beziehen
sich nur wenige auf Stichproben, die nicht im Zusammenhang mit Drogenberatungen bzw. behandlungen rekrutiert wurden. Studien mit Probanden aus dem Behandlungssetting unterliegen dem Berkson’s Bias, so dass die Prävalenzangaben zur Komorbidität nach oben verzerrt sind.
Ein direkter Vergleich der an Behandeltenstichproben gewonnenen Komorbiditätsraten mit
denen der ECA-Studie (Regier, 1990) und des NLAES (Grant, 1995) ist nicht möglich, da
sich die Komorbiditätsangaben auf verschiedene Gruppen beziehen. In der ECA-Studie wird
angegeben, wieviele der kokainmissbrauchenden Personen eine komorbide Störung aufweisen. Die Odds Ratios werden in Bezug auf den Anteil der Personen angegeben, die Kokain
nicht missbrauchen, aber an einer spezifizierten psychischen Störung leiden. Außerdem basieren die Angaben der ECA-Studie nicht ausschließend auf der allgemeinen Bevölkerung.
Grant (1995) hingegen berichtet, wie viel Prozent der an einer Major Depression erkrankten
Personen Kokain missbrauchen oder kokainabhängig sind. Die Odds Ratios in dieser Studie
beziehen sich auf den Vergleich dieser Gruppe mit Personen ohne eine Diagnose für Major
Depression, aber einer Diagnose für Kokainmissbrauch bzw. -abhängigkeit. Dagegen wird in
den Studien mit Behandeltenstichproben berichtet, wie viel Prozent der behandlungssuchenden oder sich bereits in Behandlung befindenden Kokainkonsumenten eine komorbide Störung aufweisen. Odds Ratios wurden nicht berichtet.
112
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Die Komorditätsraten der Behandeltenstichproben variieren zum Teil erheblich. Die Arbeitsgruppe um Schottenfeld (1993) berichtet die höchsten Prävalenzen. Das kann verschiedene
Ursachen haben. Zum einen handelt es sich zwar um Behandeltenstichproben, aber die
Probanden befinden sich in unterschiedlichen Phasen ihrer Drogentherapie. Schottenfeld
und Kollegen (1993) untersuchten Behandlungssuchende, Weiss und Kolleginnen (1993 und
1998) stationär Behandelte. Die Gruppe um Marlowe (1995) nutzte eine Stichprobe mit Personen in ambulanter Behandlung. Die Ergebnisse die Studie von Malow und Kolleginnen
(1989) sind vor allem durch Größe und Zusammensetzung der Stichprobe eingeschränkt.
Besonders problematisch ist, dass es sich nur um männliche Probanden handelt, die darüber
hinaus an einer bestimmten Drogenbehandlung teilnahmen. Sie waren reine Kokainkonsumenten und entsprechen damit nicht der Realität, da Kokainkonsum selten exklusiv erfolgt
(vgl. Kapitel 3). Zum anderen diagnostizierten Schottenfeld und Kolleginnen (1993) einen
Kokainmissbrauch oder eine Kokainabhängigkeit nach RDC, während in den anderen Studien verschiedene Versionen des DSM (DSM-III, DSM-III-R, DSM-IV; American Psychiatric
Association, 1980, 1987, 1994) eingesetzt wurden (vgl.Tabelle 6-2). Die Abhängigkeitsdiagnostik im DSM entwickelte sich mit den verschiedenen Versionen. Im DSM-III (American
Psychiatric Association, 1980) tauchte erstmals Kokainmissbrauch als diagnostische Kategorie auf. Erst ab DSM-III-R (American Psychiatric Association, 1987) wird Kokainabhängigkeit
diagnostiziert. Deswegen wurde in den Studien, die mit den Kriterien des DSM-III arbeiteten
(ECA, Regier et al., 1990; Weiss et al., 1988) nur Kokainmissbrauch diagnostiziert. Aber
nicht nur die Diagnostik der kokainbezogenen Störungen variierte, sondern auch die Diagnostik der psychischen Störungen (vgl. Tabelle 6-2). Auch dadurch wird die Variation der
Komorbiditätsraten bedingt.
Trotz methodischer Unterschiede zwischen den einzelnen Studien belegen alle Untersuchungen eindrucksvoll das Phänomen der Komorbidität unter kokainmissbrauchenden oder
kokainabhängigen Personen. Besonders ausgeprägt sind Erkrankungen an affektiven,
Angst- und Persönlichkeitsstörungen. Wodurch diese Komorbidität hervorgerufen wird, ist
allerdings noch weitestgehend unklar. Die beiden wichtigsten Erklärungsansätze stehen in
direktem Widerspruch: Der eine Erklärungsansatz geht davon aus, dass eine zugrundeliegende psychische Störung eine sich sekundär entwickelnde Drogenkarriere bedingt. Dies
nimmt zum Beispiel die Selbstmedikations-Hypothese an (Khantzian, 1985). Die andere
Theorie postuliert, dass durch den Drogenkonsum psychische Störungen hervorgerufen
werden, wie z. B. eine Cannabispsychose (Täschner, 1983).
Unabhängig von der die Komorbidität bewirkenden Kausalrichtung ist die Berücksichtigung
der Komorbidität in Forschung, Diagnostik und Behandlung von nicht zu unterschätzender
Relevanz. Um Drogenberatungen oder -behandlungen so effektiv wie möglich zu gestalten,
müssen komorbide psychische Erkrankungen identifiziert werden und im Behandlungssetting
Berücksichtigung finden (Marlowe et al., 1995). Die Behandlung komorbid erkrankter Personen geschieht allerdings oftmals nur unzureichend und mangelhaft (Drake et al., 1994; Günther et al., 2000).
Komorbidität bei Personen mit einer kokainbezogenen Diagnose
6.7
113
Literatur
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ed.). Washington, DC: American Psychiatric Association.
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Substanzmissbrauch: Ein Überblick. In M. Krausz & T. Müller-Thomsen (Hrsg.), Komorbidität. Therapie von
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117
7
Wirkungen des Mischkonsums
Sabine Kunz-Ebrecht
7.1
Einleitung
Polydrogenkonsum hat schwerwiegende Folgen für die Gesundheit und die psychosoziale
Entwicklung. Epidemiologische Daten belegen eine weite Verbreitung des multiplen Konsums. Ein besonderes Problem stellt der Mischkonsum von Alkohol und Kokain bzw. Heroin
und Kokain bei Entzug und Entwöhnung dar, da die wechselseitigen pharmakologischen
Effekte nur unzureichend bekannt sind und aus diesem Grunde die pharmakologische Behandlung erschwert ist. Eine clusteranalytische Untersuchung der offenen Drogenszene in
Hamburg fand zwei Gruppen von Kokainkonsumenten: eine mit zusätzlichem primären Heroinkonsum und eine Gruppe mit multiplen Substanzgebrauch und hohem Alkoholanteil
(Verthein et al., 2001). Im folgenden werden verschiedene Aspekte des gleichzeitigen Konsums von Kokain und Alkohol bzw. Heroin dargestellt.
7.1.1 Konsum von Alkohol und Kokain
Die Kombination von Alkohol und Kokain ist bei Drogenkonsumenten sehr beliebt, da sowohl
der High-Effekt von Kokain verstärkt wird als auch die unangenehmen Auswirkungen beim
Nachlassen der Droge abgeschwächt werden. So berichten doppelt soviele Alkoholabhängige auch Kokain zu konsumieren im Vergleich zu Nicht-Alkoholabhängigen (Heil, Badger &
Higgins, 2001). Umgekehrt berichten 60% der Kokain/Crack Patienten Alkohol zu trinken, um
die nachlassende Wirkung des Kokains leichter ertragen zu können (Magura & Rosenblum,
2000). Der Entzug war einer Studie von Castaneda und Kollegen (1995) zufolge tatsächlich
leichter bei denjenigen, die Alkohol und Kokain konsumiert hatten im Vergleich zu denjenigen, die „nur“ einen Alkoholentzug durchführten. Insgesamt lässt sich feststellen, dass sowohl Alkoholkonsum den Kokainkonsum erhöht als auch Kokainkonsum den Alkoholkonsum.
In einem Review Artikel (Pennings, Leccese & Wolff, 2002) wurden diese Effekte auf der
Grundlage einer Literaturrecherche mit MEDLINE, the Science citation index/Web of science
und Toxline dargestellt. Die Ergebnisse werden im folgenden zusammengefasst.
7.1.2 Effekte auf kognitive und psychomotorische Fähigkeiten
Negative Effekte des Mischkonsums von Alkohol und Kokain auf das Gedächtnis wurden in
zwei Studien gefunden. Tabasco-Minguillan und Kollegen (1990) fanden einen größeren Gedächtnisverlust bei den Konsumenten beider Substanzen im Vergleich zu ausschließlichen
Kokainkonsumenten. Eine umfangreichere Studie an Gefängnisinsassen ergab, dass Mischkonsumenten signifikant schlechtere Testergebnisse hinsichtlich des Kurz- und des Langzeitgedächtnisses erzielten im Gegensatz zu denjenigen, die nur eine der Substanzen konsumierten (Selby & Azrin, 1998). In dieser Studie wurde auch gezeigt, dass die Mischkon-
118
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
sumenten schlechter hinsichtlich visumotorischer Tests abschnitten als die EinzelKonsumenten. Bei abstinenten ehemaligen Crack- bzw. Crack- und Alkoholabhängigen wurden keine Unterschiede in einer neuropsychologischen Testbatterie gefunden (Di Sclafani et
al., 1998).
Verschiedene Laboruntersuchungen haben gezeigt, dass durch Alkohol bedingte psychomotorische Verlangsamung sowie Lerndefizite von Kokain antagonisiert werden, da Kokain unter anderem den Sedierungseffekt von Alkohol aufhebt (Higgins et al., 1992, 1993; Easton &
Bauer, 1997). Die antagonisierenden Effekte beruhen zum Teil darauf, dass Al kohol gefäßerweiternd und Kokain dagegen gefäßverengend wirkt. Dies erklärt auch die verstärkte
Wahrnehmung des „High“-Gefühls bei kombinierter Intoxikation. Die stärkere Intensität des
„High“-Gefühls bei Mischkonsum konnte mittels EEG-Aufzeichnungen bestätigt werden
(Mannelli et al., 1993). Eine Verlängerung und Verstärkung des „High“-Gefühls trat jedoch
nur auf, wenn zuerst Alkohol und anschließend Kokain konsumiert werden.
7.1.3 Psychische und somatische Effekte
Eine Studie ergab, dass Mischkonsumenten nicht mehr psychiatrische Probleme entwickeln
als diejenigen, die nur eine Substanz konsumieren (Salloum et al., 1996). Anderen Studien
zufolge zeigten alkoholabhängige Kokainkonsumenten mehr psychische Probleme als Kokainkonsumenten ohne Alkoholabhängigkeit (Carroll, Rounsaville & Bryant, 1993; Heil, Badger & Higgins, 2001). Umgekehrt fanden sich bei Kokainabhängigen, die auch Alkohol konsumierten, 58%, die einen Suizidversuch unternommen hatten, im Gegensatz zu 35% bei
den Alkoholabhängigen (Roy, 2001).
Die Mehrzahl der Studien (Farré et al., 1993, 1997; Foltin et al., 1993; Mannelli et al., 1993;
McCance-Katz et al., 1993, McCance-Katz, Kosten & Jatlow, 1998a) berichtet, dass bei Alkohol- und Kokainkonsum bis zu 30% höhere Blut-Kokain-Werte gefunden werden als bei
Kokainkonsum allein. Dies scheint durch die kompetitive Inhibition kokainabbauender Esterasen durch Alkohol bedingt zu sein (Jatlow et al., 1996, Cami et al., 1998). Sowohl Kokain
als auch Alkohol führen zu einer Erhöhung der Herzrate. In Kombination scheint dieser Effekt
noch größer zu sein, allerdings nur wenn Alkohol 25-45 Minuten vor Kokain konsumiert wird.
Nachdem Kokain allein bereits zu schwerwiegenden cardiotoxischen Störungen führen kann,
bedeutet die Kombination von Alkohol mit Kokain ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko. Wird
zuerst Kokain und anschließend Alkohol konsumiert, ergeben sich keine Effekte auf die
Herzrate (Foltin & Fischman, 1989).
Bei Mischkonsum von Alkohol und Kokain wird unabhängig von der Reihenfolge in der Leber
Kokaethylen produziert. Die Plasmawerte von Kokain und Kokaethylen zeigen hohe Korrelation (Signs et al., 1996). Kokaethylen könnte für die erhöhte Herzrate eine Rolle spielen sowie für das stärkere „High“-Gefühl. Kokaethylen hat ähnliche, wenn auch schwächere toxikologische Effekte wie Kokain und kann von Versuchspersonen bei intravenöser Injektion nicht
Wirkungen des Mischkonsums
119
von Kokain unterschieden werden (Jatlow et al., 1991; Landry, 1992; Jatlow et al., 1996;
Cami et al., 1998).
7.1.4 Effekte auf das psychosoziale Verhalten
Obwohl Kokain die sedierenden Effekte von Alkohol antagonisiert, bietet dies keinen Schutz
vor den fatalen Folgen des Mischkonsums im Straßenverkehr wie Daten aus den USA
(Budd, Muto & Wong, 1989) und Spanien belegen (Del Rio & Alvarez, 2001). Es wird auch
diskutiert, ob der Mischkonsum die Gewaltbereitschaft erhöht. Pharmakologische Effekte der
Substanzen betreffen die Erhöhung der extraneuronalen Dopamin- und Serotonin-Spiegel,
was zu einer mangelnden Impulskontrolle und somit gewalttätigem Verhalten führen kann.
Tatsächlich wurde eine erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Gewalttat bei Veteranen mit Mischkonsum (40%) als bei Veteranen mit ausschließlichem Kokainkonsum (26%) gefunden (Denison, Paredes & Booth, 1997). Diese Art von Studien hatten jedoch keine Vergleichsgruppen, so dass eine erhöhte Gewaltbereitschaft durch den Alkoholkonsum allein nicht ausgeschlossen werden kann (Vanek et al., 1996; Heil, Badger & Higgins, 2001). Eine einzige gut
kontrollierte Studie hat ergeben, dass Individuen mit Mischkonsum dreimal so häufig Gewaltvorstellungen hatten als diejenigen mit reinem Alkoholkonsum und fünfmal so häufig als diejenigen mit reinem Kokainkonsum (Salloum et al., 1996).
7.2
Konsum von Heroin und Kokain
Der Mischkonsum von Heroin und Kokain ist bei Opioidabhängigen weit verbreitet und kann
gleichzeitig oder unabhängig voneinander stattfinden. Der Konsum beider Substanzen
(„Speedball“) findet entweder als gleichzeitige Injektion als Mixtur statt oder wird hintereinander injiziert (Leri, Bruneau & Stewart, 2003). Hasin und Kollegen (1988) fanden Kokainkonsum bei 92% der Heroinkonsumenten. Kosten und Kollegen (1986) fanden einen deutlichen
Anstieg der Prävalenzraten des Mischkonsums seit den 1970er Jahren. Ergebnisse einer
Untersuchung in Montreal zeigten, dass 50% der Kokainkonsumenten regelmäßig Heroin
injizieren (Lauzon et al., 1994). Die Gründe für wechselnden Konsum sind beispielweise der
hohe Preis und die kurze Halbwertszeit von Kokain.
Eine Studie an heroinabhängigen Polydrogenkonsumenten zeigte, dass ein hoher Grad an
zusätzlichem Kokainkonsum ein unabhängiger Prädiktor für ein schlechtes Behandlungsergebnis ist (Downey, Helmus & Schuster, 2000). Ein weiteres Problem besteht darin, dass es
bisher keine effektive pharmakologische Behandlung der Kokainabhängigkeit gibt. Die Behandlungen sind zudem erschwert, da ein großer Anteil der Mischkonsumenten vermehrt
komorbide psychopathologische Störungen aufweist (Leri, Bruneau & Stewart, 2003). Im
folgenden werden bisherige Ergebnisse zu Effekten des Mischkonsums von Heroin und Kokain zusammengefasst.
120
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
7.2.1 Neurobiologische Effekte von Kokain und Heroin
Beide Substanzen überwinden die Blut-Hirn-Schranke und wirken zentralnervös an unterschiedlichen Rezeptoren. Heroin wirkt auf Opioidrezeptoren und hat eine hohe Affinität für
den mu-Rezeptor, was Analgesie, Atemdepression, reduzierte gastrointestinale Motilität sowie Euphorie bewirkt. Kokain wirkt als Wiederaufnahmehemmer von Serotonin, Dopamin
und Noradrenalin und verstärkt somit die Dauer und Intensität der postsynaptischen Wirkung
dieser Neurotransmitter. Der lokalanästhetische Effekt des Kokains entsteht durch eine Blockade der Sodiumkanäle. Obwohl Kokain und Heroin sich pharmakologisch unterscheiden,
rufen beide bei Tieren und Menschen ein äußerst starkes Appetenzverhalten hervor. Diese
Verhaltenssteuerung erfolgt in erster Linie über eine Dopaminausschüttung im mesokortikalen Limbischen Belohnungssystem wie sie durch Kokain- und Heroinkonsum und auch durch
Alkohol ausgelöst werden kann. Weitere Verstärkereffekte entstehen durch Interaktionen mit
Neurotransmittersystemen wie z. B. dem GABAergen System (Leri, Bruneau & Stewart,
2003).
7.2.2 Zusammenhänge zwischen Mischkonsum von Heroin und Kokain und
Persönlichkeitsmerkmalen
Die Selbstmedikationshypothese besagt, dass Individuen bestimmte Substanzen konsumieren, um zugrundeliegende Stimmungsschwankungen oder psychische Erkrankungen zu behandeln. Aus diesem Grund wurden „reine“ Kokainkonsumenten mit Mischkonsumenten hinsichtlich ihrer Persönlichkeitsmerkmale verglichen. Mischkonsumenten erreichten höhere
Werte auf den Skalen Depression, Angst und ähnlichen Symptomen des MMPI als reine Kokainkonsumenten. Zudem waren sie charakterisiert durch schwerere psychopathologische
Merkmale und Fehlanpassungen im Vergleich mit den „reinen“ Kokainkonsumenten (Malow
et al., 1992). Es stellt sich bei diesen Ergebnissen natürlich immer die Frage, inwieweit hier
ein kausaler Zusammenhang angenommen werden kann und in welche Richtung dieser
geht, da der Konsum von Drogen generell die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen kann.
Es wurde auch berichtet, dass Opioidabhängige Kokain einsetzen, um die Einnahme von
Opioiden und damit die körperliche Abhängigkeit zu reduzieren. Diese Art der Selbstmedikation wird von Opioidabhängigen auch als eine Möglichkeit des Entzugs ohne Entzugserscheinungen von Opioiden gesehen, da das Kokain das „High“-Gefühl erhält und die Heroindosis dabei langsam reduziert werden kann (Hunt et al., 1984). Zusätzlich wurde in Tierversuchen gezeigt, dass Kokain die Effekte des Heroins erhöht. Es bestehen also aus pharmakologischer Hinsicht verschiedene Gründe für den Mischkonsum von Kokain und Heroin.
7.2.3 Psychische und somatische Effekte
Foltin und Fishman (1992) untersuchten den subjektiven Effekt von Heroin und Kokain und
fanden, dass Kokain allein eher als „stimulierend“ und Heroin allein als „sedierend“ bewertet
wird. Die Kombination beider Drogen ergab diese beiden typischen Gefühle, so dass die Au-
Wirkungen des Mischkonsums
121
toren zu dem Schluss kamen, dass der Mischkonsum keine qualitativ neuartigen Gefühle
erzeugt. Insgesamt zeigten eine Reihe von Tierversuchen, dass die Kombination beider
Substanzen zumindest in schw acher Dosierung ein höheres Abhängigkeitspotential hat, als
eine der Substanzen allein (Leri, Bruneau & Stewart, 2003).
Der sequentielle Konsum von Kokain und Heroin ist bei Heroinabhängigen weit verbreitet
und wirkt sich auf die Behandlung aus. Während der Behandlung mit Methadon berichten die
Patienten von sehr starken positiven Gefühlen nach der Injektion von Kokain (Foltin et al.,
1995; Preston et al., 1996). Diese Patienten zeigten zudem starke Anstiege der Herzrate.
Während der Behandlung mit Buprenorphin jedoch zeigten sich keine derartigen verstärkenden Effekte bei zusätzlichem Kokainkonsum. Tierstudien weisen darauf hin, dass Buprenorphin die verstärkenden Eigenschaften von Kokain reduziert (Comer et al., 1996) und auch
im Humanbereich hat sich gezeigt, dass während der Buprenorphinbehandlung der Kokainkonsum abnimmt (Foltin & Fischman, 1994; 1996). Insgesamt fahren jedoch die meisten Patienten während der Substitution mit Methadon oder Buprenorphin mit dem Kokainkonsum
fort, da Kokain die euphorischen Gefühle hervorruft, die vorher durch Heroin erzeugt worden
sind (Strug et al., 1985; Kosten, Rounsaville & Kleber, 1987).
7.2.4 Effekte auf das psychosoziale Verhalten
Aufgrund des enormen Kostenaufwands für Kokain und Heroin findet man eine hohe Beschaffungskriminalität und Prostitution bei den Konsumenten. Durch den „Binge“-Konsum,
das heißt es werden mehrere „Speedballs“ hintereinander injiziert und danach geschlafen,
sind die meisten der Abhängigen nicht in der Lage einen geregelten Tagesablauf zu gestalten. Abgesehen von den gesundheitlichen Folgen der Substanzen an sich, birgt der häufig
praktizierte Nadeltausch zusätzlich eine hohe Ansteckungsgefahr für Hepatitis und HIV.
7.3
Schlussfolgerung
Die höchste Mortalitätsrate aufgrund von Überdosierungen wurde bei Mischkonsum von Opiaten, Kokain und Alkohol gefunden (Coffin et al., 2003). Die pharmakologische Behandlung
gestaltet sich bei Mischkonsumenten sehr schwer, da es bislang noch kein geeignetes Medikament gibt. Wird nur die Opiatabhängigkeit bzw. die Alkoholabhängigkeit behandelt, so sind
die Prognosen für den Erfolg schlechter als bei „reinen“ Opiat- bzw. Alkoholabhängigen, da
der Kokainkonsum von den Patienten zum einen eingesetzt wird, um die Entzugserscheinungen zu mildern, und zum anderen weiterhin das „High“-Gefühl zu erzeugen. Aus diesem
Grund ist es umso wichtiger, geeignete psychologische und sozialtherapeutische Maßnahmen für multiple Konsumenten zu entwickeln und anzuwenden.
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
122
7.4
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125
8
Wirksamkeit von Psychotherapie
Ludwig Kraus und Irene Hüffer
8.1
Einleitung
In einer Literaturübersicht zu klinische Studien zur Effektivität psychotherapeutischer Ansätze aus den 1970er und 1980er Jahren kommen Rawson et al. (1991a) zu dem Schluss, dass
es bislang keine befriedigende Antwort auf die Frage nach der besten Therapie für Kokainabhängige gibt. Dennoch geben die Autoren auf der Grundlage der als wesentlich bei der
Beurteilung von Behandlungserfolg oder -misserfolg angesehenen Ergebnisvariablen (a)
Anteil der Personen, die das Behandlungsprogramm vollständig durchlaufen (Haltequote)
und (b) Kokainkonsum während der Behandlung gemessen mit Urinproben, allgemeine
Empfehlungen über die Wirksamkeit verfügbarer therapeutischer Strategien bei der Behandlung von Kokainabhängigen.
Rawson und Kollegen stellten zusammenfassend fest, dass (1) stationäre Kurzzeitprogramme von 4 Wochen relativ wirksam waren für Kokainabhängige aus der Mittelschicht. Diese
Ergebnisse sind aber kaum übertragbar auf Klienten aus der Unterschicht. (2) Therapeutische Wohngemeinschaften könnten ein Alternative darstellen, sind aber kostenaufwändig
und wenig geeignet für Klienten, die eine stationäre Langzeittherapie ablehnen. (3) Verhaltenstherapeutische Modelle waren bis dato nicht überprüft worden, galten aber als vielversprechende Ansätze, deren Evaluierung in kontrollierten experimentellen Bedingungen gerade begonnen hatte. (4) Integrierte ambulante Behandlungsansätze wurden ebenfalls für bestimmte Klienten, insbesondere solche aus der Mittelschicht als geeignet angesehen. (5)
Pharmakotherapie mit Desipramin reduzierte nachweislich die Abstinenzrate innerhalb der
ersten Therapiewochen. Die Evaluation anderer Pharmakotherapien stand jedoch noch aus.
(6) Andere nicht traditionelle Verfahren wurden als vielversprechende Elemente angesehen,
die eingebunden in ein Therapieprogramm durchaus wirksam sein könnten. (7) Das 12Schritte Programm erwies sich auch für Kokainklienten als wirksam. Widerstand gegen eine
Teilnahme stellen jedoch eine wesentliche Einschränkungen dar. (8) Bei der Evaluation klinischer Studien sollten neben den Ergebnisvariablen Haltequote und Kokainkonsum (Urinanalyse) insbesondere auch die Klientenzufriedenheit erfasst werden. Dies sollte genutzt werden
für den Aufbau eines evidenz-basierten Therapiesystems.
Dieser eher unbefriedigende Stand der Beurteilung der Wirksamkeit und insbesondere der
Frage, welche Therapie für welches Klientenprofil die wirksamste Behandlung darstellt, wird
im Folgenden mit Hilfe einer Literaturübersicht über kontrollierte Therapiestudien zur Behandlung von Kokainabhängigen, die im Zeitraum zwischen 1990 und 2003 publiziert wurden, nachgegangen. Die Studien, über die hier berichtet wird, wurden dahingehend ausgewählt, dass es sich um (1) experimentelle Studien zur Behandlung von Kokainabhängigen
handelt, (2) es sich bei der Therapie um eine Psychotherapie handelt und (3) relevante Ergebnisse zur Haltequote und zum Kokainkonsum berichtet werden. Psychotherapien in
126
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Kombination mit Pharmakobehandlung wurden nicht ausgeschlossen, während reine Phamakotherapien in Kapitel 9 zusammengefasst wurden. Kombinierte nicht experimentelle Studien wurden aufgenommen, wenn verschiedene Therapien verglichen wurden und die statistischen Voraussetzungen für einen quasiexperimentellen Vergleich gegeben waren.
8.2
Psychotherapeutische Verfahren
Analytische Psychotherapie (Supportive Expressive Psychotherapy)
Supportiv expressive Psychotherapie ist eine kurzfristige, zielgerichtete Therapie, die auf die
Behandlung von Heroin- und Kokainabhängige abgestimmt wurde (Luborsky, 1984). Die
zugrundeliegende psychoanalytische Theorie bezieht sich auf Veränderungen als auch Stabilität des Verhaltens, das als multifaktoriell determiniertes Ergebnis der Interaktion psychischer, körperlicher und kultureller Faktoren angesehen wird. Die im Individuum erlebnismäßig repräsentierten Interaktionen sind Ziel der Intervention. In allgemeinen und spezifischen
Verbesserungen der Hauptsymptome zeigen sich die offenkundigsten Veränderungen der
Persönlichkeit. Veränderungen müssen sich demnach in den psychischen Konflikten der
Person vollziehen. Diese Konflikte drücken sich in der Therapie als Beziehungskonflikte aus,
sie sind daher am ehesten nutzbar und therapeutisch zugänglich. Expressive Behandlungstechniken sind Deutungstechniken der Psychoanalyse, mit denen der Patient vorbereitet
wird, seine Gedanken und Gefühle auszudrücken. Es wird davon ausgegangen, dass unbewusste Faktoren das Verhalten determinieren und der Patient sein Erleben und Verhalten
besser verstehen und damit kontrollieren kann, wenn er mehr Einsicht über dieses Erleben
erlangt. Entscheidend für dieses Verständnis sind das Wiedererleben der wesentlichen früheren Beziehungsprobleme in der Beziehung zum Therapeuten (Übertragung). Die supportive Komponente der Therapie besteht einerseits in der Förderung des Verstehens, ergibt sich
aber insbesondere aus die Struktur der Behandlung, wie regelmäßige Sitzungstermine und
das gemeinsame Bemühen des Patienten und Therapeuten um die Herausarbeitung der
Behandlungsziele. Die supportiven Aspekte stellen unspezifische kurative Faktoren dar.
Durch diese unterstützenden Maßnahmen wird eine angenehme Atmosphäre geschaffen,
die es dem Klienten ermöglicht, offen über seine persönlichen Erlebnisse zu sprechen, die
Auswirkung der Droge und die damit verbundenen problematischen Gefühle und Verhaltensweisen zu analysieren und eine Lösung dieser Probleme ohne Drogen zu suchen.
Interpersonelle Psychotherapie (Interpersonal Psychotherapy)
Ursprünglich wurde die Interpersonelle Psychotherapie zur Behandlung von depressiven
Störungen entwickelt. Es handelt sich um eine kurze individuelle Intervention, die auf dem
medizinischen Modell psychischer Störungen basiert (Schramm, 1998). Die Hauptziele sind
dabei die Verminderung der Symptome, die durch die Substanzstörungen hervorgerufen
werden und die Verbesserung der sozialen Kompetenzen des Klienten. Die Therapie geht
vor allem auf die gegenwärtigen Probleme des Klienten im zwischenmenschlichen Bereich
ein und bietet Hilfestellung in Krisensituationen an. Darunter fallen z.B. Kummer, Unzufriedenheit über die eigene Rolle im sozialen Netzwerk oder Defizite im zwischenmenschlichen
Wirksamkeit von Psychotherapie
127
Bereich. Dem Therapeuten kommt bei dieser Therapie eine besonders verantwortungsvolle
Rolle zu.
Individuelle Drogenberatung (Individual Drug Counseling)
Die Individuelle Drogenberatung ist eine manualisierte kurzfristige Therapieform, die im
Rahmen der Collaborative Cocaine Treatment Studie des National Institute on Drug Abuse
entwickelt und eingesetzt wurde (Mercer & Woody, 1999; Crits-Christoph et al., 1999). Das
Modell der individuellen Drogenberatung basiert auf einem ambulanten Programm zur drogenfreien Behandlung von Opiatabhängigen in der Methadontherapie. Wesentlicher Bestandteil des Programms ist die Teilnahme der Klienten an einem 12-Schritte Programm der
Anonymen Alkoholiker (AA), Narcotics Anonymous (NA) oder Cocaine Anonymous (CA).
Weiterhin wurden verhaltenstherapeutische Ansätze der Rückfallprävention (Marlatt & Gordon, 1985) in dieses Programm integriert. Die Ziele der Therapie sind direkt auf ein Beenden
des Drogenkonsums und der Erholung von dessen Folgen ausgerichtet. Zusätzlich wird auf
verschiedene Lebensbereiche eingegangen, die durch den Drogenkonsum beeinträchtigt
wurden wie familiäre und soziale Beziehungen oder der Arbeitsplatz. Im Gegensatz zu analytischen Ansätzen, die langfristig auf kognitive und emotionale Aspekte der Persönlichkeit
abzielen, konzentrieren sich die Interventionen der individuellen Drogenberatung in erster
Linie auf kurzfristige aktuelle Verhaltensaspekte. Die Individuelle Drogenberatung vermittelt
dem Klienten Bewältigungsstrategien und Umgangsformen, die Drogenabstinenz fördern und
einen Rückfall vermeiden sollen. Dazu gehören insbesondere das Erlernen von unterstützenden Verhaltensweisen, wie z.B. das Vermeiden von Risikosituationen. Die Individuelle
Drogenberatung ist eng verknüpft mit dem 12-Schritte Programm von Selbsthilfegruppen und
ist oft Bestandteil eines umfangreicheren Therapieansatzes beispielsweise in Kombination
mit einer Familien- oder Paartherapie. Weiss und Kollegen (1996) konnten nachweisen, dass
Klienten, die aktiv an einem Selbsthilfeprogramm teilnahmen mit höherer Wahrscheinlichkeit
Kokainabstinenz erreichten und aufrecht erhielten als Klienten, die nicht an Selbsthilfegruppen teilnahmen.
Drogenberatung in der Gruppe (Group Drug Counseling)
Die Drogenberatung in der Gruppe ist ein manualisiertes Programm, das im Gegensatz zur
Individuellen Drogenberatung auf den unterstützenden Effekt einer Gruppe aufbaut. Das
Programm wurde ebenfalls im Rahmen der Collaborative Cocaine Treatment Studie des National Institute on Drug Abuse entwickelt und eingesetzt (Daley & Mercer, 2002; CritsChristoph et al., 1999). Die Drogenberatung in der Gruppe beschäftigt sich in erster Linie mit
dem Bewusstmachen der speziellen Probleme jedes Einzelnen und dem Erlernen von Strategien, die den Weg aus der Sucht erleichtern (z.B. Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie oder der Interpersonellen Psychotherapie). Außerdem wird in dieser Therapie Wert
darauf gelegt, dass die Teilnehmer Unterstützung in der Gruppe erfahren und sich gegenseitig Hilfe anbieten. Um diese Ziele zu erreichen sind u.a. Diskussionen zu speziellen Fragen
und Problemen in der Gruppe, Gruppeninteraktionen und Maßnahmen zur Entwicklung von
128
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
gesundheitsförderndem Verhalten, sowie der Umgang mit unproduktiven Reaktionen und
Verhaltensweisen Bestandteil der Therapie. Der Klient kann dabei neben der fachlichen Beratung von den persönlichen Erfahrungen anderer Teilnehmer profitieren. Zusätzlich wird
den Klienten der regelmäßige Besuch von Selbsthilfegruppen empfohlen, insbesondere von
solchen die nach dem 12-Schritte Modell der Anonymen Alkoholiker (AA, NA oder CA) arbeiten. Die Therapie ist in zwei Phasen unterteilt. In der ersten Phase läuft die Behandlung
streng nach einem Lehrplan, so dass sich jede einzelne Sitzung auch als Einstiegssitzung
eignet. In der zweiten Phase beschließen die Teilnehmer selbst das Schwerpunktthema der
nächsten Sitzung. Der Drogenkonsum wird mittels Urinproben überwacht.
Gemeindebezogener Therapieansatz (Community Reinforcement Approach)
Der Community Reinforcement Approach (CRA) wurde ursprünglich für die Therapie Alkoholabhängiger entwickelt und stellt eher ein Therapiepacket als eine singuläre therapeutische Maßnahme dar (Azrin, 1976; Azrin et al., 1994; Meyers & Miller, 2001). Der CR-Ansatz
stützt sich auf die Prinzipien der Lerntheorie, die davon ausgeht, dass der Konsum und
Missbrauch psychoaktiver Substanzen ein operantes Verhalten darstellt, das über die verstärkende Wirkung der Droge aufrechterhalten wird. Hintergrund dieses Zusammenhangs
bilden Beobachtungen an Tieren, die ohne Zwang psychoaktive Substanzen zu sich nehmen. Die Generalisierbarkeit der Effekte, die bei Änderungen der Drogenverfügbarkeit, der
Dosis oder von Umweltfaktoren in Abhängigkeit verschiedener psychoaktiver Substanzen bei
Menschen und Tieren gleichermaßen zu beobachten sind, weisen darauf hin, dass das Einnahmeverhalten und die Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen generell auf biologische Prozesse zurückzuführen ist.
Für die Behandlung von Kokainabhängigen wurde ein Ansatz entwickelt, der eine Behandlung über einen Zeitraum von 6 Monaten vorsieht und die Prinzipien des Kontingenz Managements (CM) (Bigelow et al., 1981) in den Community Reinforcement Approach (CRA) integriert (Higgins et al., 1991; Higgins, Budney & Bickel, 1994). Der CR-Ansatz mit Kontingenz Management sieht zusätzlich zum CR-Ansatz vor (1) eine regelmäßige Kontrolle des
Drogenkonsums mit Hilfe von Urinproben, (2) eine Verstärkung von Drogenabstinenz mit
Hilfe von Gutscheinen, die für den Erwerb bestimmter Waren verwendet werden können und
deren Wert mit der Anzahl aufeinanderfolgender negativer Urinproben zunimmt, (3) den Entzug von Verstärkern im Falle von positiven Urinproben, sowie (4) eine Verstärkung von nichtdrogenbezogenen Aktivitäten und Aspekten des CRA. Die Behandlung wird auf die Bedürfnisse des Klienten abgestimmt und findet nur in der Einzeltherapie Anwendung und soll
durch das Erlernen von Bewältigungsstrategien zu einer dauerhafter Abstinenz führen. Die
Ziele des Gemeindebezogenen Therapieansatzes sind langfristig ausgerichtet und sollen
bleibende Veränderungen in der Lebensweise des Klienten bewirken. Dazu gehören (1) die
Verbesserung der Familienbeziehungen, (2) der Aufbau von neuen sozialen Netzwerken, (3)
spezielle Unterstützung bei beruflichen Fragen und (4) der Aufbau von neuen Freizeitaktivitäten. Zudem beinhaltet dieser Therapieansatz eine medikamentöse, klinisch überwachte Behandlung mit Disulfiram, die den Alkoholkonsum von Klienten, die neben Kokain auch noch
Wirksamkeit von Psychotherapie
129
von Alkohol abhängig sind, reduzieren soll. Das Trinkverhalten dieser Klienten kann den
Konsum von Kokain fördern oder aufrechterhalten und muss somit gleichzeitig behandelt
werden. Die Verstärkung von Abstinenz und nicht drogenbezogener Aspekte soll die Motivation der Klienten aufrechterhalten und einen Ausgleich zu den persönlichen Verstärkern
schaffen, die mit dem Drogenkonsum in Verbindung gebracht werden.
Kognitive Verhaltenstherapie
In der kognitiven Verhaltenstherapie wird davon ausgegangen, dass Lernprozesse eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung und Beibehaltung von Drogenabhängigkeit spielen
(Beck et al., 1993; Bandura, 1977). Die gleichen Prozesse können Kokainabhängigen helfen,
ihren Konsum zu senken. Die kognitive Verhaltenstherapie wird insbesondere in der ambulanten Einzeltherapie eingesetzt. Sie kann außerdem mit einer medikamentösen Behandlung
kombiniert werden und schließt den Besuch von Selbsthilfegruppen nicht aus. Bestandteil
der kognitiven Verhaltenstherapie ist eine Überwachung des Drogenkonsums mittels Urinproben. Ziele der kognitiven Verhaltenstherapie sind unter anderem, die Steigerung der Abstinenzmotivation, die Vermittlung von abstinenzfördernden Verhaltensformen und die Akzeptanz von neutralen Verstärkern als Ersatz für jene, die mit dem Drogenkonsum in Verbindung
standen. Die kognitive Verhaltenstherapie bezieht auch das soziale Umfeld der Klienten mit
ein, so soll der Umgang mit persönlichen Krisen erlernt werden und eine Verbesserung der
zwischenmenschlichen Beziehungen sowie eine Verstärkung der sozialen Unterstützung
erreicht werden. In diesem Zusammenhang haben auch Bezugspersonen des Klienten die
Möglichkeit, an den Sitzungen teilzunehmen. Mit den Teilnehmern können so eigene Erfahrungen besprochen und individuelle Problemlösestrategien erarbeitet werden.
Rückfallprävention
Rückfallprävention gehört zu den kognitiven Verhaltenstherapien und wurde von Marlatt und
Gordon (1985) konzipiert. Sie wurde ursprünglich zur Behandlung Alkoholabhängiger entwickelt und später zur Therapie von Kokainabhängigen übernommen. Im Mittelpunkt der Rückfallprävention steht das Erlernen von Strategien, die das Erkennen und Ändern von problematischen Handlungsmustern ermöglichen. Rückfallprävention wird meistens in Form von
ambulanter Gruppentherapie angewandt. Strategien, die während der Therapie erlernt werden, sollen es dem Klienten erleichtern, Abstinenz zu erlangen und Hilfestellungen im Falle
des Rückfalls zu erhalten (Körkel, 2001; Körkel, Lauer & Schneller, 1995). Sie basieren auf
dem Prinzip der Selbstkontrolle, die bei den Teilnehmern gestärkt werden soll.
Die Behandlung gliedert sich in drei Phasen: Die Besinnungsphase, die Umsetzungsphase
und die Beibehaltungsphase. In der ersten Phase soll vor allem die Selbstsicherheit gesteigert werden, in der zweiten Phase geht es um die Steigerung der Selbstwirksamkeit, d.h. das
Erkennen von Risikosituationen und die Anwendung von Bewältigungsstrategien soll erlernt
werden, und die dritte Phase hat die Entwicklung von Selbstkontrollfähigkeiten und den richtigen Umgang in Versuchungssituationen zum Ziel. Um diese Ziele zu erreichen, wird zu-
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
130
nächst die Abstinenzmotivation gestärkt. Anschließend werden dysfunktionale, emotionale
und motivationale Schemata der Klienten aktiviert, um diese zu ändern. Zu den so neu erworbenen Fähigkeiten gehört z.B. die Früherkennung von und der richtige Umgang mit Craving und Hochrisikosituationen und die Verbesserung von Kommunikationskompetenzen.
Die Rückfallprävention geht sowohl auf die Anliegen Einzelner ein – es werden beispielsweise individuelle Rückfallmodelle erstellt – als auch auf die Bedürfnisse der Gruppe. Es werden
Gruppenkohärenz und Verantwortungsübernahme gestärkt und die gegenseitige Empathie
gesteigert.
Das Matrix-Modell
Dieses vom Matrix Institute in Los Angeles zur Behandlung von Kokainabhängigen entwickelte Modell, kombiniert Inhalte aus der Rückfallprävention, der Familien- und Gruppentherapie, der Individuellen Drogenberatung und von Selbsthilfegruppen (Rawson et al., 1995).
Das Matrix-Modell bietet außerdem Hilfe für Bezugspersonen an. Die Beziehung zwischen
Therapeut und Patient nimmt einen besonderen Stellenwert ein. Idealerweise ist diese direkt
und ehrlich aber nicht konfrontativ. Deshalb wird das Matrix-Modell nur in der Einzeltherapie
angewendet. Zu den Hauptzielen gehören die Vermittlung von kritischen Themen, welche die
Sucht oder den Rückfall betreffen, Beratung und Unterstützung von einem erfahrenen Therapeuten und der Aufbau eines sozialen Unterstützungssystems. Zudem wird der Besuch
von Selbsthilfegruppen gefördert. Der Kokainkonsum wird während der Behandlung mittels
Urintests überwacht.
8.3
8.3.1
Klinische Studien
Verhaltenstherapeutische Ansätze
Therapien, die auf verhaltenstherapeutischen Grundsätzen beruhen, haben in der Forschung
einen besonders hohen Stellenwert. In zahlreichen Studien wurde eine Vielzahl an unterschiedlichen Therapieformen auf dem Gebiet der behavioristischen und kognitivbehavioristischen Ansätze untersucht. Hierzu zählen verhaltenstherapeutische Modelle, die
mit Verstärkern arbeiten wie das gemeindenahe Verstärkermodel (Community Reinforcement Approach, CRA), kognitive verhaltenstherapeutische Modelle wie Rückfallprävention
und das Coping Skills Training ebenso wie integrierte kognitive Verhaltenstherapien nach
dem Matrix-Modell.
Verhaltenstherapie mit Verstärkern
Ansätze der Therapie Kokainabhängiger, die mit Verstärkern arbeiten, wurden erstmals 1982
in einer Studie von Anker und Crowley (1982) empirisch untersucht. In dieser Studie wurde
der Einfluss negativer Verstärker auf das Konsumverhalten geprüft. Trotz einer hohen Erfolgsrate bei denen, die die Therapie nicht abbrachen, wurde die hohe Selektivität des Ansatzes kritisiert, da 50% der Klienten die Therapie mit dem Argument abbrachen, der thera-
Wirksamkeit von Psychotherapie
131
peutische Ansatz der Bestrafung sei nicht akzeptabel. Es wurde bemängelt, dass die Annahme dieses Ansatzes, Klienten könnten mit dem Kokainkonsum aufhören, wenn sie nur
entsprechend hoch motiviert wären, im Gegensatz stand zur reellen Situation von Kokainkonsumenten, die sich gerade durch eine geringe Verhaltenskontrolle auszeichnen. Zudem
fanden in diesem Ansatz mit negativer Verstärkung Rückfälle keine Berücksichtigung (Rawson et al.,1991a).
Als wirkungsvoller erwiesen sich verhaltenstherapeutische Ansätze, die abstinentes Verhalten der Klienten beispielsweise mit Hilfe von Urinkontrollen positiv unterstützen. Anhaltspunkte hierfür fanden sich erstmals in zwei klinischen Vergleichsstudien, die Klienten in
Gruppendrogenberatung (Group Drug Counseling) mit Klienten eines verhaltenstherapeutischen Ansatzes auf der Grundlage des gemeindenahen Verstärkermodells (Community
Reinforcement Approach, CRA) verglichen. Letzterer sollte insbesondere das soziale Umfeld
und die berufliche Situation miteinbeziehen (Higgins et al.,1991; 1993). In der ersten Studie
wurde 28 Klienten wahlweise ein 12-Schritte Programm (Twelve Step Drug Counseling) oder
eine Verhaltenstherapie auf der Grundlage des gemeindenahen Verstärkermodells (CRA) in
Kombination mit Kontingenz Management angeboten. Die Verstärker bestanden aus Wertgutscheinen, die gegen Waren eingetauscht werden konnten. Im Vergleich zum 12-Schritte
Programm brachen weniger Klienten im CR-Ansatz die Therapie ab und gemessen mit
Urinproben blieben mehr Klienten über den Beobachtungszeitraum von 12 Wochen abstinent
(Higgins et al., 1991). Die Replikationsstudie von Higgins und Kollegen (1993) mit Zufallszuweisung der Therapiegruppen über einen Zeitraum von 24 Wochen zeigte vergleichbar positive Befunde für den verhaltenstherapeutischen Ansatz (vgl. Tabelle 8.1).
Zur Untersuchung des Einflusses von Verstärkern auf den Behandlungserfolg teilten Higgins
und Kollegen (1994a) 40 Kokainabhängige per Zufall einem verhaltenstherapeutischen CRAnsatz mit oder ohne Verstärker über einen Zeitraum von 24 Wochen zu. In den ersten 12
Wochen erhielt die Verstärkergruppe Gutscheine für jede negative Urinprobe, die dreimal
wöchentlich erhoben wurden. Der Wert der Gutscheine nahm mit jeder negativen Urinprobe
zu. In den Wochen 13 bis 24 wurden beide Gruppen ohne Verstärker behandelt. Die Vergabe von Verstärkern nach negativen Urinproben wirkte sich auf die Dauer abstinenter Perioden ebenso positiv aus wie auf die Subskalen des Addiction Severity Index zur psychischen
Verfassung und zum Drogenkonsum.
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Tabelle 8-1:
132
Verhaltenstherapeutische Ansätze mit Kontingenz Management
Studie
Design
Halte- Absti Kokainquote nenz Craving
Pys./
Psych.
Verbess.
Therapie
Dauer
Klienten
Higgins et al., 1991 28 Nicht randomisiert
CRA/CM vs
12-Schritte
12 Wo.
Kokain
+
+
Abhängigkeit von anderen Substanzen
außer Kokain war kein Ausschlusskriterium
Higgins et al., 1993 38 randomisiert
CRA/CM vs
12-Schritte
24 Wo.
Kokain
+
+
Abhängigkeit von anderen Substanzen außer Kokain und Opioiden war kein Ausschlusskriterium
CRA/CM
mit vs ohne Verstärker
24 Wo.
Kokain
+
+
+
Ergebnisse zu Abstinenz sind abhängig von
der Haltequote in den einzelnen Gruppen
CRA/CM vs
12 Schritte und
CRA ohne Verstärker
9 Mo.
12 Mo.
Kokain
+
+
–
Nachbefragung der Klienten aus Higgins et
al. (1993, 1994a) ein Jahr nach Beendigung
der Therapie
CVT Beratung
26 Sitmit/ohne Verstär- zungen
ker vs
Kontrollgruppe
Kokain/
Alkohol
+
–
Kokainabhängige, 57% mit schwerem Alkoholkonsum
12 Wo.
Opiate/
Kokain
+
Higgins et al.,
1994a
N
40 randomisiert
Higgins et al., 1995 78
Follow-up
Kirby et al., 1998
90 randomisiert
Silverman et al.,
1996
52 randomisiert
Silverman et al.,
1998
59 randomisiert
Kontingente vs 12 Wo.
nicht-kontingente
Verstärkung
Opiate/
Kokain
–
+
Higgins et al., 2000 70 randomisiert
CRA mit vs
24 Mo.
ohne Verstärkung
Kokain
–
+
Kontingente vs
nicht-kontingent
Verstärkung
Kommentar
Methadon substituierte Klienten mit Kokainkonsum
Kokainabhängigkeit wird allgemein beurteilt
und nicht nach DSM-III-R
+
Methadon substituierte Klienten mit Kokainkonsum
–
Kontingente Lotteriescheine und Gutscheine
mit steigendem Wert konnten in ihrer Wirkungsweise hinsichtlich Abstinenz nicht
unterschieden werden
Wirksamkeit von Psychotherapie
133
Tabelle 8-1: Fortsetzung
Studie
N
Design
Therapie
Dauer Klienten
Absti
HalteKokainnenz
quote
Craving
Pys./
Psych.
Verbess.
Kommentar
Higgins, Badger &
Budney, 2000
190 randomisiert
CRA mit vs ohne
Verstärkung
24 Wo.
Kokain
+
Vergleich mit Studie zur Raucherentwöhnung
(Schwartz, 1969) und Gewichtsreduktion
(McGuire et al., 1999)
Silverman et al.,
1999
29 randomisiert
Keine vs mittlere
vs.
hohe Verstärkung
9 Wo.
Opiate/
Kokain
+
Methadon substituierte Klienten mit Kokainkonsum
Kosten et al., 2003
170 randomisiert
DMI+CM/NCM
12 Wo.
vs.
Placebo+CM/NCM
Opiate/
Kokain
+
DMI+CM/NCM
vs.
Placebo+CM/NCM
12 Wo.
Opiate/
Kokain
+
Buprenorphin substituierte Klienten mit Kokainkonsum
Nachbefragung der Klienten aus Kosten et al.
(2003) sechs Monate nach Beendigung der
Therapie
Kosten, Poling & Oli- 75 randomisiert
veto, 2003
–
Buprenorphin substituierte Klienten mit Kokainkonsum
Silverman et al.,
2001
40 randomisiert
Therapeutischer
Arbeitsplatz
vs.
Kontrollgruppe
6 Mo.
Kokain/
Opiate
+
Ausschließlich schwangere Klientinnen in
Methadonbehandlung, Gutscheine für Abstinenz, Anwesenheit am Arbeitsplatz, Pünktlichkeit, Lernerfolg und Leistung
Higgins, Alessi &
Dantona, 2002
40 randomisiert
CM vs
Kontrollgruppe
6 Mo.
Opiate/
Kokain
+
Gutscheine für Abstinenz, Anwesenheit am
Arbeitsplatz und Leistung
+
Therapiegruppe im Vergleich besser als Kontrollgruppe
CRA
Gemeidebezogener Therapieansatz (Community Reinforcement Approach)
–
DMI
Keine Unterschiede zwischen den Gruppen
Desipramine
CM
NCM
CVT
Clinical Management
Nicht-Clinical Management
Kognitive Verhaltenstherapie
134
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Die langfristigen Effekte des CR-Ansatzes der Studien von Higgins und Kollegen (1993,
1994a) wurden durch Ein-Jahres-Katamnesen überprüft (Higgins et al., 1995). Die beiden
Kontrollbedingungen bestanden aus einem 12-Schritte Programm und CRA ohne Verstärker.
Daten standen für die Zeitpunkte sechs (Therapieende), neun und zwölf Monate nach Therapiebeginn zur Verfügung. Am erfolgreichsten erwies sich der CR-Ansatz in Kombination
mit Verstärkern (Gutscheine). Klienten, die dieser Behandlung zugewiesen wurden, nahmen
an mehr Sitzungen teil, hatten längere Perioden von Kokainabstinenz und beendeten die
Therapie im allgemeinen eher abstinent als in einer der Kontrollbedingungen. Weiterhin erlangten Klienten des CR-Ansatzes mit Verstärkern die besten Werte auf dem Addiction Severity Index und nahmen häufiger an dem Nachbehandlungsprogramm teil. Insgesamt waren
alle Therapiemodelle erfolgreich, der CR-Ansatz in Kombination mit Verstärkern hob sich
aber in der Intensität und Dauer der Wirkungsweise deutlich ab.
Kirby und Kollegen (1998) untersuchten Verstärkereffekte, indem sie 90 kokainabhängige
Erwachsene per Zufall auf die Behandlungsbedingungen einer verhaltenstherapeutischen
Beratung mit und ohne Verstärkung für negative Urinproben aufteilten. Die Gutscheingruppe
erhielt entweder Gutscheine, deren anfangs geringer Wert im Laufe der Therapie zunahm
(Gutscheingruppe I), oder Gutscheine mit hohem Wert, wobei sich die Anforderungen für den
Erhalt der Gutscheine im Verlauf der Therapie erhöhten (Gutscheingruppe II). Während sich
die Gutscheingruppe I mit zunehmendem Gutscheinwert nicht von der Kontrollgruppe ohne
Verstärkung unterschied, erreichte die Gutscheingruppe II mit zunehmender Anforderung für
den Erhalt eines Gutscheins eine im Durchschnitt deutlich längere Abstinenzdauer im Vergleich zur Gutscheingruppe I.
Silverman und Kollegen (1996) konnten in einem kontrollierten klinischen Versuch mit Opiatabhängigen in Methadonbehandlung, die vor Studienbeginn eine hohen Kokainkonsum hatten, nachweisen, dass Verstärker einen direkten Einfluss auf Kokainabstinenz hatten. Die
Klienten wurden entweder für negative Urinproben mit Gutscheinen belohnt, deren Wert mit
jeder negativen Probe zunahm, oder erhielten Gutscheine unabhängige von den Urinproben
(nicht kontingent). Bei vergleichbarer Abbruchrate in beiden Gruppen erreichte die Gruppe
mit kontingenter Verstärkung eine höhere Abstinenzquote als die nicht-kontingente Gruppe.
In der kontingenten Verstärkergruppe waren 50% bei Therapieende abstinent. Die Studie
bestätigte zwar die Wirksamkeit von Verstärkung auf Kokainabstinenz, ließ aber offen, ob die
Wirkung nach Absetzung der Verstärkung anhielt. Dieser Frage gingen Silverman und Kollegen (1998) in einer Folgestudie nach. Zudem untersuchten sie, ob sich im Vergleich zu einem Verfahren mit zunehmender Verstärkung (Higgins et al., 1994a; Silverman et al., 1996)
durch eine zusätzliche Verstärkung in der Anfangsphase der Behandlung der Anteil kokainabstinenter Klienten erhöhen ließ, und ob kontingente Verstärkung einen Einfluss hat auf den
Opiatkonsum, das Kokaincraving sowie den Lebensstil der Klienten. 59 Klienten wurden auf
die Bedingungen kontingente zunehmende Verstärkung, kontingente zunehmende Verstärkung mit zusätzlicher Anfangsverstärkung und nichtkontingente Verstärkung als Kontrolle
zufällig aufgeteilt. Im Vergleich zur Kontrollbedingung waren die Abstinenzraten in den beiden Kontingenzgruppen signifikant höher. Zusätzliche Verstärkung in der Anfangsphase
zeigte keinen additiven Effekt. Zudem zeigten sich signifikante Verbesserungen in den kon-
Wirksamkeit von Psychotherapie
135
tingenten Gruppen in Bezug auf Opiatkonsum, Kokaincraving und den Lebensstil. In der
Nachbefragung nach zwei Monaten ergab sich, dass nach Absetzen der Verstärkung ein
erheblicher Teil der mit Methadon substituierten Klienten rückfällig wurde. Ein Teil der Klienten zeigte jedoch auch nach zwei Monaten einen reduzierten Kokainkonsum sowie reduziertes Craving.
Einen Nachweis für die Wirksamkeit von Verstärkung durch Gutscheine für Klienten mit Primärdiagnose Kokainabhängigkeit lieferten Higgins und Kollegen (2000). Von 70 Klienten
eines ambulanten verhaltenstherapeutischen Programms über 24 Monate wurde eine Gruppe für negative Urinproben mit Gutscheinen verstärkt, während die andere Gruppe die Verstärkung unabhängig vom Ergebnis der Urinproben erhielt. Von den Klienten, deren abstinentes Verhalten durch Gutscheine verstärkt wurde, waren während der Therapie und nach
einem Jahr deutlich mehr abstinent als von den Klienten der Vergleichsgruppe. In einer weiteren Untersuchung von Higgins, Badger und Budney (2000) von 190 ambulant mit dem CRAnsatz mit und ohne Verstärker behandelten Klienten erwiesen sich beide Behandlungen als
prädiktiv für längere Abstinenz während und nach der Behandlung. In der Gruppe, die mit
Verstärker behandelt wurde, waren gegenüber der Kontrollbedingung die Anteile der Klienten, die während und sechs Monate nach der Behandlung nachhaltig abstinent waren, signifikant höher.
Die Ergebnisse einer höheren Behandlungseffektivität bei hohem Wert der Verstärkung (Kirby et al., 1998) und bei Erhöhung des Anforderungsniveaus wurden auch bei komorbiden
Klienten mit Kokain- und Opiatabhängigkeit (Silverman et al., 1999) bestätigt. Kosten und
Kollegen (2003) konnten ebenso zeigen, dass bei Klienten mit gleichzeitiger kokain- und opiatbedingter Störung ein zusätzliches Kontingenz Management zu einer medikamentösen
Behandlung mit Desipramin zu besseren Ergebnissen führte als eine Desipramin- oder Kontingenzbehandlung alleine. In einer Folgestudie untersuchten Kosten, Poling und Oliveto
(2003) den Einfluss zunehmender Anforderungen für den Erhalt von Verstärkern in einem
ambulanten verhaltenstherapeutischen Therapiesetting bei komorbiden Kokain- und Opiatabhängigen. Die Klienten, die an dem zwölfwöchigen randomisierten klinischen Versuch mit
Buprenorphin in Kombination mit Desipramin und/oder Kontingenz Management versus Placebo teilnahmen (Kosten et al., 2003), wurden in den folgenden 12 Wochen einer Kontingenzreduktionsphase unterzogen. Während in den Wochen 1 bis 12 in der Kontingenzgruppe der Gutscheinwert mit jeder negativen Urinprobe zunahm, wurde in den Wochen 13 bis
24 der Gutscheinwert konstant gehalten und die für einen Gutschein erforderliche Anzahl
negativer Urinproben kontinuierlich erhöht. Es zeigte sich, dass die Rate negativer Opiatund Kokain-Urinproben in der Reduktionsphase insgesamt abnahm. Der Rückgang war aber
nicht auf die Unterbrechung zunehmender Verstärkung, sondern auf die Zunahme der Anzahl negativer Urinproben für einen Gutschein zurückzuführen.
Silverman und Kollegen (2001) evaluierten ein neues therapeutisches Programm, das eine
Verstärkung von Abstinenz in ein Arbeitsplatzsetting integrierte. Die Bezahlung wurde als
Verstärker eingesetzt. In diesem Modell eines therapeutischen Arbeitsplatzes wurden Drogenabhängige aufgenommen und betreut. Die Bezahlung war an Abstinenz geknüpft und die
136
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Klienten mussten Drogenfreiheit nachweisen, um Zugang zum Arbeitplatz zu erhalten. 40
postpartum Frauen mit Kokain- und Opiatmissbrauch in Methadonbehandlung wurden in
eine therapeutischen Arbeitsplatzgruppe und eine Kontrollgruppe aufgeteilt. Die Arbeitsplatzgruppe konnte über einen Zeitraum von sechs Monaten von Montag bis Freitag an drei
Stunden arbeiten und wurde in Abhängigkeit von Abstinenz, Anwesenheit und Leistung täglich mit Gutscheinen bezahlt. Die Klientinnen mussten täglich Urinproben abgeben, die auf
Kokain und Opiate getestet wurden. Klientinnen mit negativen Urinproben wurden zur Arbeit
zugelassen und erhielten ein allgemeines und fachspezifisches Training. Zur Verstärkung
von Abstinenz, Anwesenheit und Verhalten wurde das Verfahren mit zunehmender Verstärkung verwendet, das in einer Reihe von Studien bei kokainabhängigen und komorbiden kokain- und opiatabhängigen Klienten zur Anwendung kam (Higgins et al., 1991, 1993; 1994a,
Silverman et al., 1996, 1998). Die Kontrollgruppe erhielt weiterhin die übliche Methadontherapie. Im Durchschnitt waren 45% der Klientinnen täglich anwesend. Im Vergleich zur Kontrollgruppe (33%) hatten Klientinnen der therapeutischen Arbeitsplatzgruppe nach sechs
Monaten signifikant höhere Abstinenzraten (59%).
Kognitive Verhaltenstherapie der Rückfallprävention und Coping Skills Training
Rückfallprävention (RP) wurde zunächst für alkoholabhängige Klienten entwickelt und erfolgreich eingesetzt. Später wurde dieser Ansatz an die Bedürfnisse kokainabhängiger Klienten
angepasst (Carroll, Rounsaville & Keller, 1991). Eine Vielzahl klinischer Studien zur Untersuchung der Effektivität von Rückfallprävention in der Therapie von subtanzbezogenen Störungen insbesondere von Tabakabhängigkeit zeigen positive Ergebnisse im Vergleich zu nicht
behandelten Kontrollgruppen. Weniger eindeutig sind die Ergebnisse im Vergleich zu anderen psychotherapeutischen Verfahren (Carroll, 1996). Carroll, Rounsaville und Gawin (1991)
beobachteten 42 erwachsene Kokainabhängige über einen Zeitraum von zwölf Wochen, die
zufällig den Interventionsgruppen Rückfallprävention und Interpersonelle Psychotherapie
zugewiesen wurden. Hinsichtlich der Abstinenz nach Beendigung der Therapie und zum
Nachbefragungszeitpunkt ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Interventionsgruppen. Zur differenzierten Untersuchung der Ergebnisse wurden die Teilnehmer in
verschiedene Merkmalsgruppen unterteilt. Klienten, die mit Rückfallprävention behandelt
wurden, erzielten bessere Ergebnisse, wenn sie starke Kokainkonsumenten oder psychisch
stark beeinträchtigt waren. Für Klienten mit geringerer Konsumintensität ergaben sich keine
signifikanten Effekte hinsichtlich einer bestimmten Intervention (vgl. Tabelle 8.2).
Wirksamkeit von Psychotherapie
Tabelle 8-2:
137
Kognitive Verhaltenstherapie der Rückfallprävention und Coping Skills Training
Halte- Absti- Kokain- Pys./Psych.
quote nenz Craving Verbess.
Studie
N
Design
Therapie
Dauer Klienten
Carroll, Rounsaville,
Gawin, 1991
42
randomisiert
RP vs. IPT
12 Wo.
Kokain
Wells et al. ,1994
110 randomisiert
RP
vs.
12-Schritte
12 Wo.
Kokain
-
-
Therapieergebnisse wurden mit Fragebögen ermittelt. Zur Überprüfung
dieser Ergebnisse konnten nur unz ureichende Urinproben der Klienten
herangezogen werden
Hoffman et al. ,1996
184 randomisiert
Intensive GT
vs.
Standard GT
4 Mo.
Kokain
+
-
Nachbefragung der Klienten, 12 Monate nach Beendigung der Therapie
Caroll et al. ,1994a
139 randomisiert RP/CM + Desipra- 12 Wo.
mine
vs.
RP/CM + Placebo
Kokain
+#
+#
Carroll et al. ,1994b
121 naturalistisch RP/CM + Desipra- 12 Wo.
mine
vs.
RP/CM + Placebo
Kokain
+
Nachbefragung der Klienten aus vo rheriger Studie, ein Jahr nach Beendigung der Therapie.
Einfluss anderer Therapien zum Befragungszeitpunkt kann nicht ausgeschlossen werden
McKay et al. ,1999
132 randomisiert
Kokain
+
Nachbefragung der Klienten aus McKay et al. (1997) zwei Jahre nach Beendigung der Therapie. Ausschließlich
männliche Klienten
Individuelle RP
vs.
GDB
12 Wo.
+#
-
+
+ ##
Kommentar
Geringer Stichprobenumfang
Grad der Abhängigkeit wurde nicht a
priori festgelegt.
Interaktionen zw. Psychotherapie und
Medikation und der Erwartungshaltung
der Klienten, können in dieser Studie
nicht ausgeschlossen werden
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Tabelle 8-2:
138
Fortsetzung
Studie
N
Design
Therapie
Dauer Klienten
Monti et al., 1997
145 randomisiert Coping Skills Trai- 1-3 Wo.
ning vs.
Kontrollgruppen
Kokain
Carroll et al., 1998
122 randomisiert
Kokain/
Alkohol
Crits-Christoph et al., 487 randomisiert
1999
Rawson et al., 1995
+
-
100 randomisiert
KVT/12-Schritte
12 Wo.
mit/ohne Disulfiram
vs.
Kontrollgruppe+Disulfiram
GDB+IBD / KVT /
SET
vs.
GDB
6 Mo.
Kokain
Matrix Modell
vs.
Kontrollgruppe
12 Mo.
Kokain
Therapiegruppe im Vergleich besser als Kontrollgruppe
Keine Unterschiede zwischen den Gruppen
# Klienten mit hohem Konsum
## Depressive Klienten
Halte- Absti- Kokain- Pys./Psych.
quote nenz Craving Verbess.
-
+
Auswertung der Daten von Klienten
nach drei Monaten, nachdem sie an
einer Therapie teilgenommen hatten
+
Klienten, die mit Disulfiram behandelt
wurden, erzielten häufiger und längere Abstinenz von Alkohol und Kokain.
In dieser Studie gab es keine Placebo Kontrollgruppe, die Kontrollgruppe
erhielt keine Medikation
KVT/
12-S
+
+
GDB+ GDB+
KVT
IBD
+
Kommentar
-
-
Die Studie umfasste mehrere Behandlungseinrichtungen an verschiedenen Orten. Ergebnisse zu Interaktionen mit psychischen Symptomen
sind in ihrer Aussage eingeschränkt,
da medikamentöse Behandlung bei
Klienten mit psychischen Störungen
ein Ausschlusskriterium war
-
Die Kontrollbedingung erwies sich
als unzureichend, da die gewählten
alternativen Behandlungsformen zu
heterogen waren
RP Rückfallprävention
IPT Interpersonelle Psychotherapie
CM
GDB
Clinical Management
Drogenberatung in der Gruppe
GT
KV
IDB
SET
Kognitive Verhaltenstherapie
Individuelle Drogenberatung
Supportiv-expressive Psychotherapie
Gruppentherapie
Wirksamkeit von Psychotherapie
139
In einer vergleichbaren Studie wurden die Effekte von Rückfallprävention und eines 12Schritte Programms (12-step recovery support) auf den Konsum von Kokain sowie Marihuana und Alkohol bei komorbiden Klienten untersucht (Wells et al., 1994). 110 Klienten wurden
zufällig auf beide Programme verteilt und über 12 Wochen in 17 Sitzungen behandelt. Beide
Therapiemodelle zeigten eine Reduktion des Kokainkonsums bei Therapieende und in einer
Nachbefragung nach sechs Monaten. Signifikante Effekte zwischen den Versuchsgruppen
ergaben sich weder in Bezug auf den Kokainkonsum noch in der Haltequote. Die Generalisierbarkeit beider Studien ist jedoch eingeschränkt. In der Therapiestudie von Carroll, Rounsaville und Gawin (1991) beendeten nur 55% der Klienten die Behandlung planmäßig. Wells
und Kollegen (1994) berichteten über einen Abbruch von 26% vor der ersten Behandlungssitzung.
Ein Studie, die Standard Gruppendrogenberatung mit einer intensiveren Behandlung in der
Gruppe unter verschiedenen Bedingungen untersuchte, zeigte ebenfalls keinen differentiellen Behandlungseffekt (Hoffman et al., 1996). Das Projekt Strategies to Enhance Cocaine
Treatment and Outpatient Retention (SECTOR) teilte 184 kokainabhängige Klienten, die
vorwiegend Crack konsumierten, zufällig auf die Gruppen Standard Gruppendrogenberatung
(zwei Sitzungen pro Woche) und intensivere Gruppendrogenberatung (fünf Sitzungen pro
Woche) auf. Während der vier-monatigen Behandlung wurden die Klienten in der intensiveren Form einem kognitiv verhaltenstherapeutischen Training mit dem Schwerpunkt auf Rückfallprävention durch Vermittlung von Coping Skills unterzogen. Innerhalb der beiden Bedingungen wurden die Klienten noch in die Gruppen a) ohne zusätzliche Behandlung, b) mit
zusätzlicher individueller Psychotherapie und c) mit zusätzlicher individueller Psychotherapie
und Familientherapie eingeteilt. Daten zum Drogenkonsum und andere Variablen wurden bei
Behandlungsbeginn, bei Behandlungsende und 12 Monate nach Behandlungsbeginn erfasst.
Urinproben wurden nicht erhoben. Insgesamt zeigten sich in allen Settings bei Behandlungsende ein reduzierter Kokain- und Alkoholkonsum sowie ein Rückgang illegaler Aktivitäten.
Differenzielle Effekte der Behandlungsbedingungen konnten nicht festgestellt werden. Allerdings zeigte sich, dass Klienten, die nach 12 Monaten rückfällig waren, weniger lang in Behandlung, weiblich und weniger gebildet waren und vor der Behandlung regelmäßig Kokain
nahmen.
In einer zweiten klinischen Kontrolluntersuchung verglichen Carroll und Kollegen (1994a)
Rückfallprävention versus Clinical Management mit Desipramin oder Placebo. Die an der
Studie teilnehmenden 139 kokainabhängigen Klienten wurden per Zufall den Untersuchungsbedingungen zugeteilt. Die Ergebnisse von 110 Klienten, die an mindestens zwei
Sitzungen teilgenommen hatten, zeigten keine signifikanten Haupteffekte in Bezug auf die
Haltequote oder den Kokainkonsum bei Therapieende nach 12 Wochen, wobei in allen
Gruppen signifikante Verbesserungen zu beobachten waren. Es zeigte sich jedoch, dass
mehr Schwerstabhängige in der Gruppe der Rückfallprävention länger in der Therapie gehalten werden konnten und gemessen an den wöchentlichen Urinproben eher abstinent waren.
Bei Patienten mit geringerer Schwere der Anhängigkeit zeigte sich der umgekehrte Effekt.
140
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Klienten mit diagnostizierter Depression erzielten dagegen höher Haltequoten und höhere
Abstinenzraten in der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Rückfallprävention.
In einer Nachbefragung wurden 121 Klienten aus der oben genannten Studie (Carroll et al.,
1994a) im Abstand von einem, drei, sechs und zwölf Monaten nachbefragt (Carroll et al.,
1994b). Für die gesamte Stichprobe wurden zwischen Behandlungsende und Follow-Up
nach 12 Monaten keine Änderungen in der Häufigkeit des Kokainkonsums festgestellt. Auch
zeigten diejenigen Klienten mit Abstinenzstatus bei Therapieende bessere Verläufe während
der Follow-Up Periode. Weiterhin zeigte sich, dass die Klienten in der Rückfallpräventionsgruppe 6 bis 12 Monate nach der Behandlung bessere Ergebnisse hinsichtlich der Häufigkeit
des Kokainkonsums und in Bezug auf kokainbezogene Problemskalen im Addiction Severity
Index erzielten, als solche, die mit Clinical Management behandelt wurden.
Die jüngste Untersuchung im Zusammenhang mit Rückfallprävention stellte eine Drogenberatung in der Gruppe und Rückfallprävention gegenüber (McKay et al., 1999). Dabei setzte
sich die Therapie aus Elementen der klassischen Drogenberatung in der Gruppe und dem
12-Schritte Programm (Twelve Step Drug Counseling) zusammen. Die 132 ausschließlich
männlichen Klienten, durchliefen zwei Therapiephasen. Die intensivere Phase erstreckte
sich über einen Zeitraum von fünf bis sechs Monaten, anschließend war eine Nachbehandlung von bis zu 18 Wochen möglich. Alle Teilnehmer wurden unabhängig davon, ob sie noch
in Behandlung waren oder bereits vorzeitig abgebrochen hatten, in regelmäßigen Abständen
befragt. Ein maßgeblicher Faktor für den Erfolg einer Therapie war die Dauer der Behandlung. Klienten, die länger in Therapie blieben, konnten deutliche Verbesserungen in den Bereichen Ausmaß des Drogenkonsums, psychischer Zustand, gesundheitlicher Zustand und
Arbeitssituation erzielen. Bei Teilnehmern mit diagnostizierter Alkoholabhängigkeit wirkte
sich eine längere Behandlungsdauer ebenfalls positiv auf den Konsum von Alkohol aus. Es
spielte dabei keine Rolle, ob die Klienten in Gruppentherapie oder Einzeltherapie behandelt
wurden. Kognitiv verhaltenstherapeutische Rückfallprävention führte allerdings zu besseren
Ergebnissen, wenn die Behandlung in Gruppensitzungen stattgefunden hatte. Sie erwies
sich auch als vorteilhaft für Klienten, die Abstinenz anstrebten, bei Beginn der Behandlung
noch regelmäßig Kokain konsumierten oder zusätzlich noch alkoholabhängig waren. Klienten, die zu Anfang der Studie bereits keinen regelmäßigen Kokaingebrauch mehr hatten oder
eine Konsumreduktion anstrebten, schnitten besser ab, wenn sie mit der Drogenberatung in
der Gruppe behandelt wurden.
Die Studie von Monti und Kollegen (1997) zielte auf die Untersuchung der Spezifität eines
Coping Skills Training zur Bewältigung riskanter Situationen bei kokainabhängigen Klienten
ab. Verglichen wurde Coping Skills Verhaltenstraining mit Entspannungs- und Meditationsinterventionen bei 108 Klienten, die an mehr als 50% der Sitzungen teilnahmen. Das Therapiesetting bestand aus einer 3-monatigen Therapiephase mit anschließender drei-monatiger
Follow-Up Periode. Das Coping Skills Training führte zu signifikant kürzeren und weniger
schweren Rückfällen als die Kontrollbedingung. Das Coping Skills Training erwies sich als
kokainspezifisch, da sich die beiden Behandlungsgruppen nicht unterschieden im Hinblick
Wirksamkeit von Psychotherapie
141
auf den Konsum von Alkohol oder andere Drogen. Der Kokainkonsum konnte aber erwartungsgemäß bei Klienten, die der Verhaltenstherapie zugewiesen wurden, stärker gesenkt
werden als bei Teilnehmern an der Kontrollintervention.
Carroll und Kollegen (1998) greifen in ihrer Studie die Problematik einer zusätzlichen Alkoholabhängigkeit bei kokainabhängigen Klienten sowie den Mangel an Evidenz für die Effektivität einer medikamentösen Behandlung (Kosten & McCance, 1996) bei Kokainabhängigkeit
auf. Sie wiesen 122 komorbide Alkohol- und Kokainklienten zufällig den Therapien kognitive
Verhaltenstherapie oder 12-Schritte Programm in Kombination mit Disulfiram bzw. Plazepo
zu. Als psychotherpeutische Kontrollbedingung diente die Gruppe, die mit Disulfiram in Kombination mit Clinical Management behandelt wurde. Wie sich zeigte hatte die Behandlung mit
Disulfiram unabhängig von dem jeweiligen psychotherapeutischen Programm einen positiven
Effekt auf die Haltequote sowie auf die Länge der Kokain- und Alkoholabstinenz. Im Vergleich zur psychotherpeutischen Kontrollbedingung nahm in den psychotherapeutischen
Gruppen mit Disulfiram der Kokainkonsum ab.
Kognitive Verhaltenstherapie
Die NIDA-Kokain-Therapiestudie (National Institute on Drug Abuse Collaborative Cocaine
Treatment Study) wurde mit dem Ziel initiiert, die Effizienz von Psychotherapie und Drogenberatung in der Behandlung Kokainabhängiger zu maximieren und spezifische Hypothesen
zur Interaktion zwischen Klient und Therapie zu evaluieren (Crits-Christoph et al., 1997). Die
multizentrisch angelegte Studie bestand aus einer 6-monatigen aktiven Therapiephase gefolgt von einer 3-monatigen Auffrischphase (Crits-Christoph et al., 1999). Von 2.197 Klienten
erfüllten 870 Klienten die Einschlusskriterien Hauptdiagnose Kokainabhängigkeit und gegenwärtigen Kokainkonsum, 870 begannen mit der Orientierungsphase und 487 schlossen
die erforderliche Anzahl an Terminen und Untersuchungen ab. Diese Klienten wurden zufällig den Behandlungen kognitive Verhaltenstherapie (KVT), psychodynamische Therapie
(Supportiv-expressive Therapie, SET), individuelle Drogenberatung nach dem 12-Schritte
Programm der Anonymen Alkoholiker und Gruppendrogenberatung zugeteilt (Crits-Christoph
et al., 1998). Die Therapien KVT, SET und individuelle Drogenberatung erfolgten jeweils in
Kombination mit Gruppendrogenberatung. Über die gesamten sechs Monate fanden wöchentlich 1,5 Stunden Gruppensitzungen statt. Die individuellen Therapien dauerten 50 Minuten und wurden zweimal pro Woche in den ersten 12 Wochen und einmal wöchentlich in
den Wochen 13 bis 24 durchgeführt. Während der Auffrischphase (Monate 7-9) wurden monatliche Einzelsitzungen durchgeführt. Als Kriterien für den Behandlungserfolg wurden Drogenkonsum, der Addiction Severity Index (ASI) und Urinkontrollen erhoben.
Alle Behandlungsgruppen zeigten eine signifikante Reduktion des Kokainkonsums. Klienten
in individueller Drogenberatung mit Gruppensitzungen reduzierten ihren Kokainkonsum jedoch erfolgreicher als Klienten der anderen Gruppen. Die Hypothese einer größeren Wirksamkeit von Psychotherapie gegenüber Gruppendrogenberatung für Klienten mit schweren
psychischen Störungen sowie die Hypothese einer Überlegenheit der kognitiven Therapie in
Kombination mit Gruppendrogenberatung gegenüber der psychodynamischen Psychothera-
142
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
pie (SET) bei Klienten mit antisozialen Persönlichkeitsstörungen konnten nicht bestätigt werden.
Kognitive Verhaltenstherapie als Bestandteil ambulanter gemeindenaher Therapieprogramme
Modelle kognitiver Verhaltenstherapie als integrierter Bestandteil von Individual-, Gruppenund Familientherapie wurden von Rawson und Kollegen (1995) experimentell untersucht.
Grundlage der Studie war das Matrix-Modell, in dem kognitiv verhaltenstherapeutische Ansätze der Rückfallprävention in ein individual-, gruppen- und familientherapeutisches Programm integriert waren. Eine erste Pilotstudie mit 83 kokainabhängigen Klienten, die in einem offenen Versuch eine Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe, eine stationäre Behandlung und eine ambulante 6-monatige Psychotherapie nach dem Matrix-Modell verglich, berichtete acht Monate nach Behandlungsende deutlich niedrigere Kokainkonsumraten für die
Klienten der Matrix-Therapie im Vergleich zur Selbsthilfegruppe und der stationären Behandlung (Rawson et al., 1991a; Rawson et al., 1985). In einem weiteren größeren offenen Versuch ohne Kontrollgruppe untersuchten Rawson und Kollegen (1991b) 486 Kokainabhängige
und stellten eine deutlichen Zusammenhang zwischen Behandlungsdauer und Kokainabstinenz während der 6-monatigen Behandlung fest. In der Kontrollstudie (Rawson et al., 1995)
wurden 100 Klienten mit geringem sozioökonomischen Status und primärem Crackkonsum
zufällig auf das Matrix-Modell und andere verfügbare Gemeindeinterventionen aufgeteilt.
Aufgrund der Heterogenität der Kontrollbehandlungen sowie der hohen Ausfallrate in den
Therapien konnten Analysen zur Behandlungseffizienz nicht durchgeführt werden. Der Zusammenhang zwischen Behandlungsdauer und Kokainkonsum bestätigte sich auch in dieser
Untersuchung. Bei 146 Klienten, die innerhalb des Matrixprogramms zusätzlich mit Desipramin oder Placebo behandelt wurden, zeigte sich ebenfalls dieser Zusammenhang. Trotz einer Vielzahl verschiedener Behandlungsmodelle mit integrierten kognitiv verhaltenstherapeutischen Komponenten wurde keines dieser Programme empirisch getestet (Rawson et al.,
1991a; Van Horn & Frank, 1998).
8.3.2
Psychodynamische Ansätze
In einer Übersicht über Behandlungsstrategien und ihre Wirksamkeit, die sich auf die Literatur der 1980er Jahre stützt, kommen Rawson und Kollegen (1991a), zu dem Schluss, dass
es bis zu diesem Zeitpunkt keine kontrollierten Studien über die Wirksamkeit psychodynamischer Therapieansätze gab. Trotz der bevorzugten Methode der klinischen Beobachtung
fanden psychodynamische Ansätze Beachtung bei empirischen Untersuchungen. Eingang in
klinische Therapiestudien fanden die Interpersonelle Psychotherapie (Rounsaville, Gawin &
Kleber, 1985; Schramm, 1998) sowie die Supportive Expressive Therapie (Luborsky, 1984).
In der oben beschriebenen Studie von Carroll, Rounsaville und Gawin (1991) wurden 42
kokainabhängige Klienten zufällig einer ambulanten Interpersonellen Psychotherapie (IPT)
oder einer kognitiv verhaltenstherapeutischen Rückfallprävention (RP) zugeteilt. Zum einen
war die Ausfallrate in der IPT-Gruppe höher und zum anderen zeigte sich, dass sich zwar die
beiden Therapien bezüglich der Klienten mit weniger schwerer Abhängigkeit und weniger
Wirksamkeit von Psychotherapie
143
schweren komorbiden psychiatrischen Störungen nicht unterschieden, die Klienten mit
schwererer Symptomatik in der IPT-Gruppe jedoch weniger häufig abstinent waren. Aufgrund dieser Ergebnisse wurde Interpersonellen Psychotherapie (IPT) insbesondere für (1)
Klienten mit geringerer Schwere der Abhängigkeit, (2) für Klienten, die andere therapeutische Verfahren ablehnen, (3) für Klienten, die auf andere Therapien nicht ansprachen, (4)
als Zusatz zu anderen Verfahren und (5) zur Unterstützung von Klienten nach Abstinenztherapie empfohlen (Rounsaville & Carroll, 1993). Die vorgelegten Befunde stützen sich allerdings nur auf eine Kurzzeitbehandlung mit IPT, leider fehlen Langzeituntersuchungen vollständig. Als ein weiterer psychodynamischer Ansatz wurde die Supportive Expressive Therapie (SET) in einer großangelegten randomisierten klinischen Studie mit anderen Therapieverfahren verglichen (Crits-Christoph et al., 1999). In dieser Untersuchung zeigte SET in
Kombination mit Gruppendrogenberatung vergleichbare Effekte wie die kognitive Verhaltentherapie mit Gruppendrogendrogenberatung und Gruppendrogenberatung alleine, zeigte
aber geringere Erfolge im Vergleich zur Individuellen Dogenberatung mit Gruppensitzungen.
8.3.3
Gemeindenahe stationäre Therapieprogramme
Die groß angelegt naturalistische Studie Drug Abuse Treatment Outcome Study (DATOS)
hatte zum Ziel, die Effektivität bestehender Programme zur Therapie Kokainabhängiger zu
evaluieren. Mit Hilfe einer großen repräsentativen Stichprobe von Klienten in verschiedenen
Therapiesettings sollten Patientenmerkmale, Behandlungsbedingungen und Therapieaktivitäten im Zusammenhang mit Ergebnissen aus Nachuntersuchungen untersucht werden
(Simpson et al., 1999). Ausgangspunkt der Studie war die Überlegung, dass die Problemlage
der Klienten in den verschiedenen Therapiesettings nicht gleich schwer ist. Die Klienten aus
den verschiedenen Therapieeinrichtungen wurden daher in Gruppen vergleichbarer Störungsschwere eingeteilt, so dass die Effektivität zunehmender Behandlungsintensität für
Klienten mit schweren Störungen untersucht werden konnte. Insgesamt wurden 10.010
Klienten in Einrichtungen erfasst. Von diesen wurden 4.229 für eine Nachbefragung ausgewählt, an der schließlich 2.966 (70,1%) teilnahmen. 1.605 Klienten, die nachbefragt wurden,
waren entweder stationär für eine Langzeittherapie in einer therapeutischen Wohngemeinschaft (mindestens sechs Monate), oder in einem 28 Tage dauernden Kurzzeitprogramm
untergebracht, oder nahmen an einer 6-monatigen ambulanten Drogenabstinenztherapie teil.
In der Langzeittherapie wurde individuelle und Gruppendrogenberatung, Sitzungen nach
dem 12-Schritte Programm, Arbeitsprogramme, berufliche Fortbildungen, sozial Unterstützung und graduelle Rehabilitation angeboten. Die stationäre Kurzzeittherapie bestand aus
dem 12-Schritte Programm, unterstützender Gruppendrogenberatung, Arbeits- und Familientherapie. Im ambulanten Setting wurde individuelle Drogentherapie, das 12-Schritte Programm und kognitive Verhaltenstherapie angeboten. Die Klienten waren Kokainabhängig
(96%) oder nahmen täglich Kokain (41%). Alle 1.605 Klienten wurden 12 Monate nach Behandlungsende nachbefragt.
Ingesamt zeigte sich nach 12 Monaten bei nur jedem Vierten ein Rückfall zu einem mindestens wöchentlichen Kokainkonsum. Zudem fand sich eine Reduktion der Kriminalität und des
144
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Alkoholkonsums. Die Rückfälle waren bei Klienten mit schweren Störungen und nach früher
Beendigung der Therapie signifikant häufiger. Die Behandlungsdauer zeigte keinen linearen
Zusammenhang mit Verhaltensänderungen. Zunehmende Effekte zeigten sich erst ab einer
Behandlungsdauer von mindestens drei Monaten. Wie zu erwarten war, fanden sich mehr
Klienten mit schwereren Störungen in den Einrichtungen mit Langzeittherapie. Klienten mit
geringer Schwere der Störung waren am seltensten rückfällig (15-20%). Unter den Klienten
mit mittlerem Störungsgrad war die Rückfallrate in den Langzeiteinrichtungen (ambulant oder
stationär) um die Hälfte niedriger als bei Klienten in Kurzzeittherapie. Für Schwerstabhängige bestand ebenfalls ein Zusammenhang zwischen Therapielänge und Behandlungserfolg.
Während 15% der Schwerstabhängigen, die 90 Tage oder länger in stationärer Langzeittherapien verbrachten, nach 12 Monaten wieder wöchentlich Kokain nahmen, wurden in der
ambulante Therapie 29% und in der Kurzzeittherapie 38% rückfällig. Die Autoren schlussfolgern, dass Patienten mit einem hohen Störungsgrad mit größerer Wahrscheinlichkeit von
einer stationären Langzeittherapie profitieren, während für Klienten mittleren Störungsgrads
längerfristige ambulante Therapien am geeignetsten und zudem kostengünstiger sind.
In der Follow-up Untersuchung nach einem weiteren Jahr berichteten die Klienten in stationärer Langzeit- oder Kurzzeittherapie und in ambulanter Drogenabstinenztherapie einen um
50% reduzierten wöchentlichen oder täglichen Kokainkonsum, wobei die Reduktion bei
Klienten, die länger als drei Monate in Behandlung waren, am deutlichsten ausfielen (Hubbard et al., 1997).
8.3.4
Andere Therapieprogramme
Avants und Kollegen (2000) wiesen 82 kokain- und opiatabhängige Klienten per Zufall der
Experimentalgruppe, die mit Akupunktur am Ohr behandelt wurde, und zwei Kontrollbedingungen zu. In den Kontrollbedingungen wurden den Klienten Nadeln außerhalb der Akupunkturpunke am Ohr injiziert oder ihnen wurden zur Entspannung spezielle Videos gezeigt.
Die Behandlung dauerte 40 Minuten und wurde täglich an allen Wochentagen über einen
Zeitraum von acht Wochen durchgeführt. Die jeweilige Behandlung erfolgte nach der täglichen Methadonvergabe. Den Klienten in den beiden „Nadel“-Gruppen war nicht bekannt, ob
es sich um Akupunktur oder „nur“ um die Injektion einer Nadel handelte. In der Akupunkturgruppe beendeten 46% die Therapie regulär, in der Nadel-Kontrollbedingung 63% und 81%
in der Kontrollgruppe mit Entspannung. Verlaufsanalysen aller Klienten über acht Wochen
zeigten signifikant höhere Effekte der Konsumreduktion von Kokain (gemessen an Urinproben) in der Akupunkturbedingung als in den beiden Kontrollbedingungen. Von den Klienten,
die die Behandlung regulär beendeten, waren im Vergleich zu den Kontrollgruppen signifikant mehr Klienten in der Akupunkturgruppe abstinent.
Wirksamkeit von Psychotherapie
8.4
145
Spezifische Klienten- und Therapiemerkmale
Kokainabhängige Klienten haben aufgrund unterschiedlicher sozialer Umfelder und Beeinträchtigungen, die oft mit dem Kokainkonsum einhergehen, wie z.B. psychische Störungen,
spezifische Bedürfnisse, die für eine erfolgreiche Therapie berücksichtigt werden müssen.
Studien, in denen die Wirkungsweise unterschiedlicher Behandlungsansätze untersucht wird
und deren Ziel eine Verbesserung und Weiterentwicklung von Therapiemöglichkeiten von
kokainabhängigen Klienten ist, beschäftigen sich auch mit Faktoren, die neben dem Konsumverhalten einen maßgeblichen Einfluss auf die erfolgreiche Behandlung eines Klienten
haben können. Wechselwirkungen mit bestimmten zusätzlichen Beeinträchtigungen, wie z.B.
Depressivität, können durch die Auswahl einer speziellen Therapieform mit einbezogen werden. Demzufolge scheinen einige Therapiearten speziell für die Behandlung bestimmter
Klientengruppen geeignet zu sein. Neben Klientencharakteristiken wie komorbide Störungen
hat sich insbesondere die Haltequote als wesentliches prognostisches Kriterium erwiesen.
Die Frage nach der Zuweisung von Klienten auf die für sie adäquaten und besten Therapiebedingungen wurde im Bereich der Alkoholtherapie bereits intensiv untersucht (Project
MATCH Research Group, 1997a, 1997b). In Bezug auf die Kriterien für eine Zuweisung von
Kokainklienten auf die für sie beste Therapie befindet sich die Forschung erst am Anfang.
Klientencharakteristiken
Personen, die Kokain ge- oder missbrauchen konsumieren in der Regel auch andere Substanzen wie Alkohol, Cannabis, oder Heroin. Umgekehrt weisen insbesondere Heroin- und
Alkoholabhängige einen hohen Anteil von Kokainkonsum auf (z. B. Carroll, Rounsaville, &
Bryant, 1993; Leri, Bruneau & Stewart, 2003; Pennings, Leccese & Wolff, 2002). Diese
Gruppen mit polyvalenten Konsummustern sind schwer therapierbar, sie brechen die Therapie vorzeitig ab oder setzten ihren Substanzkonsum während der Therapie fort. Die Abbruchquoten von Kokainabhängigen in ambulanten Therapiesettings werden im Durchschnitt
mit 55% angegeben (Gainey et al., 1993). Agosti, Nunes & Ocepeck-Welikson (1996) erreichten lediglich eine Haltequote von 69%. Therapieabbrecher waren in der Regel jünger,
weniger gebildet, sie hatten früher mit dem Substanzkonsum begonnen und gehörten ethnischen Minderheiten an (Agosti, Nunes & Ocepeck-Welikson, 1996, Gainey et al., 1993).
Hoffmann und Kollegen (1996) berichteten, dass diejenigen, die in den 12 Monaten nach
Therapieende regelmäßig Kokain nahmen, weniger häufig Therapieerfahrung hatten, weniger gebildet waren und häufiger vor Therapiebeginn regelmäßig Kokain nahmen.
Eine der umfangreichsten Studien, die Befunde zu Prädiktoren für den Therapieerfolg liefert,
ist die Untersuchung von Westhuis, Gwaltney und Hayashi (2001). Im Zeitraum von 19831992 überprüften sie die Daten von 3.602 Kokainabhängigen, die sich im Militärdienst befanden und an einer Therapie teilnahmen. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass auf der
Grundlage von einigen Klientenmerkmalen Aussagen über die Erfolgsaussichten einer Therapie gemacht werden können. Klienten, die unmittelbar vor Beginn einer Therapie einen
hohen Kokainkonsum aufwiesen, schnitten durchschnittlich schlechter ab als solche, die direkt zuvor abstinent waren. Bei Klienten mit mehrfachen Diagnosen verschlechterte sich e-
146
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
benfalls die Erfolgsaussicht. Die ethnische Zugehörigkeit der Teilnehmer ergab unterschiedliche Befunde. Weiße schnitten im Durchschnitt besser ab als Afroamerikaner, hatten aber
weniger Erfolg als Teilnehmer lateinamerikanischen Ursprungs. Diese Befunde sind im Zusammenhang zu betrachten, da sie von anderen Faktoren überlagert werden können und so
mehr oder weniger Bedeutsamkeit erlangen. Zudem waren die jeweiligen Behandlungsformen und deren Dauer sehr divergent, so dass die gefundenen Ergebnisse als sehr global
betrachtet werden müssen.
Klientenmerkmale, mit denen sich der Erfolg einer Therapie vorhersagen lässt, wurden in
zwei weiteren Studien nachgewiesen (Gainey et al.,1993; Siqueland et al., 2002). Teilnehmer dieser Untersuchungen, die alleinlebend, komorbid oder illegal aktiv waren, beendeten
die Therapie weniger oft als andere. Zu einem vorzeitigen Therapieabbruch neigten ebenso
jüngere Klienten, Klienten mit geringer Bildung, Arbeitslose und Angehörige ethnischer Minderheiten. Für die Erfolgsaussicht der Teilnehmer war zudem entscheidend, wie lange sie
schon Kokain konsumierten, welche Anwendungsweise sie bevorzugten und ob sie an der
Behandlung freiwillig oder in Folge einer gerichtlichen Auflage teilnahmen.
Ball (1995) konnten mit Hilfe clusteranalytischer Verfahren zwei Untergruppen von Kokainkonsumenten beschreiben. Ein Drittel der untersuchten Klienten wies einen hohen Anteil von
Risikofaktoren auf wie Störungen in der Familie und frühkindliches Problemverhalten, antisoziale Verhaltensweisen oder psychische Störungen. In einer explorativen Analyse untersuchten Higgins und Kollegen (1994b) Indikatoren des Therapieerfolgs bei den Teilnehmern ihrer
Therapiestudien (Higgins et al.,1991, 1993, 1994a), welche die jeweilige Therapie von 12
bzw. 24 Wochen vollständig durchlaufen hatten. Die Teilnahme wurde als erfolgreich bewertet, wenn die Klienten neun Wochen oder länger kokainabstinent waren. Dieses Kriterium
wurde von 28 der insgesamt 52 Klienten erfüllt. Als Indikatoren für einen Therapieerfolg bezeichneten die Autoren die Teilnahme einer Bezugsperson am Programm, die Konsumform
und die Ausprägungen auf dem Addiction Severity Index. Dabei schnitten jene Teilnehmer
besser ab, die einen niedrigeren Wert auf dem Addiction Severity Index aufwiesen, die intranasale Anwendung von Kokain bevorzugten oder eine Bezugsperson mit in die Therapie
einbezogen. Die Befunde stellen allerdings nur Anhaltspunkte für mögliche Einflussfaktoren
dar, da neben Überschneidungen der einzelnen Indikatoren auch individuelle Faktoren das
Ergebnis beeinflussten.
Um Faktoren frühzeitig erkennen zu können, die zu Kokainkonsum führen und damit die
Rückfall- und Abbruchwahrscheinlichkeit erhöhen, ließen Kirby und Kollegen (1995) Kokainkonsumenten in Methadonbehandlung verschiedene Situationen bewerten. Diese Selbsteinschätzungen ergaben, dass ein Zusammenspiel zwischen der eigenen Emotionslage, Reizen
die mit Kokain in Verbindung gebracht werden, Aktivitäten der Klienten sowie möglicherweise ungeeigneten Strategien zu Bewältigung von Reizsituationen, den Konsum von Kokain
erheblich begünstigen können. Unter den genannten Faktoren führten die Präsenz von Kokain oder Geld genauso wie Beschäftigungslosigkeit und Langeweile verstärkt zu Kokainkonsum. Dagegen erwies es sich als günstig für die Klienten, neue Freunde zu finden und
Wirksamkeit von Psychotherapie
147
Personen und öffentliche Plätze zu vermeiden, die mit dem Erwerb und Konsum von Kokain
in Zusammenhang gebracht wurden.
In einer klinischen Vergleichsstudie zwischen Gruppendrogenberatung und individueller
Rückfallprävention zeigte sich, dass die Ergebnisse beider Therapien in Bezug auf den Kokainkonsum abhängig waren von den Zielsetzungen der Klienten (McKay et al., 1999). Rückfallprävention war besser geeignet, wenn die Teilnehmer Abstinenz zum Ziel hatten, die Drogenberatung in der Gruppe hingegen wirkte sich positiver auf die Klienten aus, wenn diese
eine Reduktion des Kokainkonsums anstrebten. Gleichzeitig kokain- und alkoholabhängige
Klienten konnten ihren Alkoholkonsum in der Rückfallpräventionsbedingung deutlicher senken als Klienten in der Vergleichsgruppe, so dass sich für diese Klientengruppe Rückfallprävention generell besser auswirkte.
Reiber und Kollegen (2002) konnten feststellen, dass die Höhe des Drogenkonsums in den
letzten 30 Tagen vor Therapiebeginn die Variable darstellte, die neben den Ausgangwerten
des ASI und der Schwere der Kokainabhängigkeit den Therapieerfolg zu allen Zeitpunkten
der Therapie am besten voraussagte.
Dualdiagnose und Komorbidität
Wie bereits unter Klientencharakteristiken erwähnt, sind Personen die Kokain konsumieren
häufig auch von anderen Substanzen abhängig. Es ist eine besondere Herausforderung, den
speziellen Bedürfnissen von Mehrfachkonsumenten gerecht zu werden, da sich die Wirkung
verschiedener Substanzen gegenseitig beeinflusst und es zu unerwünschten Nebenwirkungen kommen kann, die ein zusätzliches Risiko darstellen. Zudem ist es für eine erfolgreiche
Kokaintherapie von Nachteil, wenn der Konsum anderer Substanzen weiterhin anhält, da
weiterbestehende Konsummuster das Erlangen von Abstinenz behindern oder die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall erhöhen.
Untersuchungen mit alkoholabhängigen und kokainabhängigen Klienten konnten diesen Befund bestätigen. Stationär behandelte alkohol- und kokainabhängige Klienten hatten schlechtere Werte zum Nachbefragungszeitpunkt, wenn Abstinenz als Erfolgskriterium gewählt wurde, als Klienten, die ausschließlich eine Diagnose für Alkoholabhängigkeit oder Kokainabhängigkeit erhalten hatten (Brower et al., 1994). Abstinenz wurde hierbei gruppenspezifisch
definiert und bedeutet Abstinenz von Alkohol für die Alkoholgruppe, Abstinenz von Kokain für
die Gruppe mit Kokainklienten und Abstinenz von beiden Substanzen in der Dualgruppe.
Generell waren Klienten, die bis zum Follow-Up abstinent blieben, älter als nicht-abstinente.
Vorhersagen zum Abstinenzverhalten ließen sich in dieser Studie am besten treffen, wenn
man die Stabilität der Wohnsituation in den einzelnen Gruppen berücksichtigte. Zu einem
ähnlich nachteiligen Ergebnis für Klienten mit Dualdiagnose kamen Schmitz und Kollegen
(1997). So konsumierten Klienten mit doppelter Diagnose häufiger Kokain, als ausschließliche Kokainkonsumenten. Des weiteren konnten sich reine Kokainkonsumenten im psychischen und sozialen Bereich, gemessen an den Skalen des ASI, deutlicher verbessern und
148
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
ihren Kokainkonsum stärker reduzieren, als Klienten mit Dualdiagnose. Der Alkoholkonsum
nahm in dieser Studie bei beiden Gruppen gleichermaßen ab.
Ein gegenteiliges Ergebnis zeigte sich in einem Vergleich zwischen 302 alkoholabhängigen
und nicht-alkoholabhängigen Kokainkonsumenten (Heil, Badger & Higgins, 2001). Klienten
mit Dualdiagnose hatten in dieser Untersuchung eine höhere Haltequote und eine höhere
Abstinenzrate als reine Kokainkonsumenten, sofern sie mit einem gemeindenahen Verstärkeransatz unter Einsatz kontingenter Gutscheine behandelt wurden. Waren die Teilnehmer
einer Kontrollbedingung zugeteilt worden, ergab sich ein gegensätzlicher Effekt. In diesem
Fall wiesen die nicht-alkoholabhängigen Kokainklienten eine höhere Haltequote und eine
höhere Abstinenzrate auf.
McLellan und Kollegen (1994) untersuchten in einem Zeitraum von drei Jahren ebenfalls
Klienten mit mehrfacher Abhängigkeit. Dabei handelt es sich um alkohol- und kokainabhängige Klienten in Methadonsubstitution, die an verschiedenen ambulanten oder stationären
Therapieprogrammen teilgenommen hatten. Bei primären Kokainkonsumenten fanden die
Autoren einige Faktoren, welche die Vorhersage des Kokainkonsums bzw. der sozialen Anpassung am Ende einer Therapie ermöglichen. Handelte es sich um Klienten, die sich zuvor
schon einer Behandlung unterzogen hatten oder um Teilnehmer, die eine zusätzliche Diagnose für Alkoholabhängigkeit hatten, waren die Aussichten Abstinenz zu erlangen, geringer
als bei anderen Klienten. Für eine Verbesserung der sozialen Anpassungsfähigkeit waren
die Faktoren aktuelle Arbeitssituation, psychischer Zustand und die therapeutischen Maßnahmen, die ein Klient während des Beobachtungszeitraums im Arbeitsbereich, zur Verbesserung des psychischen Zustands und zur Einschränkung der illegalen Aktivitäten, erhalten
hatte, maßgeblich.
In der Behandlung kokainabhängiger Klienten tritt neben der Dualdiagnose häufig das Phänomen der Beeinträchtigung Therapiesuchender durch psychische Störungen auf. Es ist
daher wünschenswert, die Klienten psychisch zu stabilisieren, um vor allem auch langfristige
Therapieerfolge ermöglichen zu können. Zahlreiche Studien haben in ihrer Auswertung speziell diesen Aspekt berücksichtigt. Die Forschergruppe um Carroll untersuchte mehrfach den
Einfluss bestimmter Psychotherapien auf psychisch beeinträchtigte Kokainkonsumenten. In
einer vergleichenden Studie zu Rückfallprävention und interpersonelle Psychotherapie wurde
der Einfluss von leichter und schwerer psychischer Beeinträchtigung auf den Therapieerfolg
untersucht (Carroll et al., 1991). Für beide Klientengruppen hatte Rückfallprävention positivere Auswirkungen auf den psychischen Zustand sowie auf die Reduktion des Kokainkonsums.
In der Folgestudie (Carroll et al., 1994a) zeigte sich, dass depressive Klienten, die der Rückfallpräventionsbedingung zugeteilt wurden, öfter an Sitzungen im Behandlungszeitraum teilnahmen, als solche, die mit Clinical Management behandelt wurden. Rückfallprävention
scheint dadurch speziell für depressive Klienten geeignet zu sein. In Bezug auf den Rückgang des Kokainkonsums ergaben sich unterschiedliche Ergebnisse. Klienten mit geringerem Kokainkonsum zeigten in der Clinical Management Behandlung eine höhere Reduktion
ihres Kokainkonsums, während dies für Klienten mit starkem Kokainkonsum in der Gruppe
Wirksamkeit von Psychotherapie
149
der mit Rückfallprävention behandelten der Fall war. Die positive Wirkung einer kognitiven
verhaltenstherapeutischen Rückfallpräventionsbehandlung auf den psychischen Zustand der
Klienten konnten von Carroll und Kollegen (1994b) bestätigt werden. Im Vergleich von Rückfallprävention und dem 12-Schritte Programm zeigten sich allerdings keine Unterschiede in
den Behandlungsergebnissen von psychisch beeinträchtigten Klienten (Wells et al., 1994).
Dabei verhielten sich die Therapieformen sowohl hinsichtlich des Kokainkonsums als auch
hinsichtlich der positiven Auswirkungen auf den psychischen Zustand ähnlich.
Die Kombination von Desipramin-Vergabe und kognitiver verhaltenstherapeutischer Rückfallprävention bei Kokainabhängigen mit einer zusätzlichen depressiven Störung zeigte eine
deutliche Reduktion der depressiven Störungen bei diesen Klienten. Der Effekt wurde der
antidepressiven Wirkung von Desipramin zugeschrieben. In Bezug auf die Reduktion des
Kokainkonsums erwies sich Desipramintherapie jedoch als ineffektiv, während Klienten in
der kognitiven Verhaltenstherapie ihren Kokainkonsum deutlich reduzierten und länger an
der Therapie teilnahmen. Ein differentieller Effekt zeigte sich dahingehend, dass von Psychotherapie kein Einfluss auf die depressive Symptomatik der Klienten ausging (Carroll, Nich &
Rounsaville, 1995).
In einer Studie von Ziedonis und Kosten (1991) mit depressiven Klienten, die kokain- und
opiatabhängig waren, erwies sich Pharmakotherapie ebenfalls als vorteilhaft. Auf eine zusätzliche psychotherapeutische Behandlung wurde hier verzichtet. Depressive Klienten, die
mit Amantadin oder Desipramin behandelt wurden, erzielten häufiger und länger Abstinenz
als Klienten der Placebogruppe. Klienten, die Pharmakotherapie erhielten zeigten eine deutliche Verbesserung hinsichtlich Kokaincraving, im Gegensatz zu depressiven Klienten in der
Placebo-Bedingung, bei denen das Verlangen nach Kokain zunahm. Im Hinblick auf die Haltequote zeigte die medikamentöse Behandlung allerdings keine Wirkung. Depressive Klienten konnten generell schwer in Behandlung gehalten werden und schnitten im Vergleich zu
nicht-depressiven Klienten in der Placebogruppe schlechter ab.
Die Forschergruppe um Higgins beschäftigte sich mit den Folgen von gemeindebezogenen
Therapieansätzen mit Einsatz von Verstärkern (Kontingenz Management) auf den Zustand
psychisch beeinträchtigter Klienten. Die Versuchsbedingung mit Kontingenz hatte dabei positive Effekte sowohl auf die Reduktion des Kokainkonsums als auch auf den psychischen
Zustand der Klienten (Higgins et al., 1993, 1994a, 1995). In einer Studie, in der Behandlungsvariablen eines hochstrukturierten kognitiven verhaltenstherapeutischen Programms
mit denen eines gering strukturierten verglichen wurden, erwiesen sich Klienten mit schweren psychische Störungen in der hochstrukturierten Behandlung als erfolgreicher im Hinblick
auf eine Reduktion relevanter Störungen sowie auf den Kokainkonsum (Thornton et al.,
1998).
In der Kokain-Therapiestudie des National Institute on Drug Abuse (NIDA) konnten dagegen
die Hypothese einer größeren Wirksamkeit von Psychotherapie gegenüber Gruppendrogenberatung für Klienten mit schweren psychischen Störungen sowie die Hypothese einer Über-
150
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
legenheit der kognitiven Therapie in Kombination mit Gruppendrogenberatung gegenüber
der psychodynamischen Psychotherapie (SET) bei Klienten mit antisozialen Persönlichkeitsstörungen nicht bestätigt werden (Crits-Christoph et al., 1999).
Therapiedauer und Therapieabbruch
Studien zum Zusammenhang zwischen Therapiedauer und Therapieerfolg weisen übereinstimmend darauf hin, dass die Länge der Zeit in Therapie positiv mit dem Therapieerfolg korreliert (Herbst, 1992; Hoffman et al., 1996; Rawson et al., 1995; Simpson et al., 1999; Thornton et al., 1998). Neben der Zeit, die der Klient in Therapie gehalten werden kann, spielen
auch die Häufigkeit der Therapiesitzungen (Kang et al., 1991) und die Strukturiertheit des
therapeutischen Settings (Thornton et al., 1998) eine Rolle. Therapien mit einer nur geringen
Frequenz von einmaligen wöchentlichen Therapiesitzungen berichten deutlich höhere Abbruchraten (Carroll, Rounsaville & Gawin, 1991, Kang et al., 1991, Wells et al., 1994) im
Vergleich zu Settings, mit häufigeren Sitzungen und erheblich mehr Struktur (Higgins, Budney & Bickel, 1994; Hoffman et al., 1996).
In der Studie von Higgins et al. (1991, 1993) nahmen Klienten häufiger bis zum Ende an der
Therapie teil, wenn sie mit gemeindebezogenen Therapieansätzen statt mit Therapie nach
den 12-Schritten oder klassischer Drogenberatung behandelt wurden. Höhere Haltequoten
werden berichtet in der Kombination von gemeindebezogenen Therapieansätzen mit Kontingenz Management (Higgins et al., 1994).
Im Zusammenhang mit der NIDA Collaborative Cocaine Treatment Study untersuchten Siqueland und Kollegen (1998) die Faktoren, die eine Vorhersage der Haltequote ermöglichen.
Die kokainabhängigen Klienten, darunter 52% mit diagnostizierter Abhängigkeit für eine weitere Substanz und 38% mit psychischen Störungen, wurden über einen Zeitraum von sechs
Monaten mit supportiv-expressiver Therapie, kognitiver Verhaltenstherapie oder individueller
Drogenberatung behandelt. In dieser Untersuchung wurde zwischen der Haltequote bis zum
Erscheinen zum Aufnahmeinterview, dem Erreichen einer Stabilisierungsphase und dem
Beenden der Therapie unterschieden. Unter den Teilnehmern, die vor dem Aufnahmeinterview ausschieden, befanden sich häufiger jüngere Konsumenten. Klienten mit unmittelbarem
Kokainkonsum vor Beginn der Behandlung und Angehörige ethnischer Minderheiten schnitten in der Stabilisierungsphase schlechter, Klienten mit höherer Bildung besser ab als der
Durchschnitt. Ähnliche Faktoren spielen auch bei der Vorhersage eines insgesamt erfolgreichen Therapieverlaufs eine Rolle. So zählten wiederum jüngere Klienten, Angehörige ethnischer Minderheiten, Klienten mit geringerer Bildung und Klienten mit hohem Kokainkonsum
unmittelbar vor Beginn der Therapie zu jenen Teilnehmern, die die Therapie häufiger abbrachen als andere.
Kleinman und Kollegen (1990, 1992) unterschieden zwischen Faktoren, die für einen sehr
frühen Therapieabbruch verantwortlich waren, und solchen, die zu einem späteren Therapieabbruch führten. In beiden Studien wurden Crackraucher und Kokainabhängige, darunter
89% Nikotinabhängige mit Familientherapie und individueller Psychotherapie behandelt. In
Wirksamkeit von Psychotherapie
151
der ersten Untersuchung war die Haltequote der Klienten, die nur zum Aufnahmeinterview
oder höchstens zu einer Sitzung kamen, von dem behandelnden Therapeuten abhängig
(Kleinman et al., 1990). Demzufolge waren auch die Ergebnisse zu den Faktoren, die bei
späteren Abbrechern eine Rolle spielten, von der Interaktion zwischen Klient und Therapeut
abhängig. Unter jenen Klienten, die in der Therapie gehalten werden konnten, nahmen weiße und jüngere Klienten am längsten teil. In der Folgestudie mit der gleichen Stichprobe kamen Kleinman et al. (1992) zu dem Ergebnis, dass Klienten mit höherer Bildung oder längerem und intensiveren Kokainkonsum eher zu wenigstens einer Sitzung kamen als andere.
Unter den späteren Abbrechern war für den Erfolg, gemessen an der Haltequote, wieder das
Alter und die Hautfarbe ausschlaggebend. Zudem erwies es sich für diese Klientengruppe
als vorteilhaft, wenn sie niedrige Werte auf dem SCL-90 erzielten, nicht depressiv waren und
noch keine Freiheitsstrafe erhalten hatten.
Mit dem Zusammenhang zwischen Nikotin- und Kokainkonsum und der Auswirkung auf die
Haltequote unter afroamerikanischen Klienten beschäftigten sich Patkar und Kollegen
(2003). Alle Klienten nahmen an einer ambulanten Therapie teil. Im Hinblick auf Abstinenz
und Haltequote erwies es sich als ungünstig, wenn die Teilnehmer zu Beginn der Therapie
hohe Werte im Fragerström Test für Nikotinabhängigkeit (FTND) aufwiesen, obwohl sie zu
diesem Zeitpunkt kein Kokain konsumierten. Diese Klienten konnten im Verlauf der Therapie
weniger negative Urinproben vorweisen und brachen die Therapie häufiger ab als Klienten,
die zu Beginn der Therapie abstinent waren und zudem niedrige FTND-Werte hatten. Waren
die Klienten zum Zeitpunkt des Therapiebeginns nicht abstinent, spielten die FTND-Werte
keine Rolle. Für die Haltequote ausschlaggebend waren des weiteren der Bildungsgrad der
Klienten, die Werte des ASI und die Ausprägung auf der Sensation Seeking Skala. Aussagen zur Abstinenz von Kokain nach Beendigung der Therapie konnten mittels FTND gemacht werden. Demnach waren starke Raucher weniger häufig abstinent als Klienten, die
einen geringeren Nikotinkonsum aufwiesen.
Eine Untersuchung mit 19 methadonsubstituierten Kokainabhängigen, die individuelle Drogenberatung erhielten und mit Gutscheinen für jede negative Urinprobe verstärkt wurden,
kam zu dem Ergebnis, dass Abstinenz über einen gewissen Zeitraum zu Beginn der Therapie den Verlauf einer Behandlung vorhersagen kann (Preston et al., 1998). Dabei wurden die
Ergebnisse einer vorhergehenden 5-wöchigen Behandlung mit der Abstinenzrate am Ende
der darauffolgenden zwölfwöchigen Therapie mit Verstärkern verglichen. Hierbei unterschieden Preston und Kollegen zwischen abstinenten Klienten, d.h. solchen, die in der fünfwöchigen Voruntersuchung Abstinenz über einen Zeitraum von fünf Wochen erreichten und jenen,
die eine geringere Zeit abstinent waren. In der Hauptuntersuchung konnten alle Klienten, die
während der Anfangsbehandlung abstinent waren, in Therapie gehalten werden. Bei allen
anderen lag die Haltequote bei 80%. Über den Zeitraum von Anfangsphase und Verstärkungsphase hinweg nahmen Klienten, die anfänglich als abstinent eingestuft wurden, weniger Kokain zu sich als Klienten, die das Kriterium für Abstinenz nicht erreicht hatten. Der
Opiatkonsum war hingegen bei beiden Gruppen gleich.
152
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Kombinationen von Psychotherapie und Pharmakotherapie erwiesen sich in den Studien von
Carroll und Kollegen als erfolgreicher als jede Form der Einzeltherapie. Die Zeitdauer, die
kokainabhängige Klienten regelmäßig in Therapie verbrachten, war deutlich länger, wenn sie
zusätzlich zu einer psychotherapeutischen Behandlung mit Desipramin behandelt wurden
(Carroll et al., 1994a). Desipramin in Kombination mit Clinical Management bewirkte auch die
größten Veränderungen in Richtung Kokainabstinenz, sofern die Klienten zu den weniger
starken Konsumenten zählten. Ebenso konnten Klienten, die gleichzeitig kokain- und alkoholabhängig waren, länger in der Therapie gehalten werden, wenn sie zu einer psychotherapeutischen Behandlung Disulfiram erhielten. Klienten, die mit Disulfiram behandelt wurden,
hatten längere Perioden der Kokainabstinenz als Klienten, die sich in einer reinen Psychotherapie befanden (Carroll et al., 1998).
Eine kontrollierte Untersuchung zur reinen Pharmakotherapie bei Kokainabhängigen (Moeller
et al., 2001) zeigte, dass eine Behandlung mit Buspiron keinen Effekt auf die Haltequote der
Klienten hatte. Es konnte jedoch ein Zusammenhang zwischen der Tendenz, die Therapie
abzubrechen, und der Impulsivität der Klienten hergestellt werden. Demnach neigten Klienten mit grundsätzlich höherer Impulsivität zu früherem und häufigerem Therapieabbruch.
Richard und Kollegen (1995) untersuchten die Wirkung von zusätzlichen therapeutischen
Maßnahmen zu einer kognitiven Verhaltenstherapie nach dem Matrix-Modell (Rawson et al.,
1990). Kokain- und crackabhängige Klienten erhielten zusätzlich Biofeedback, Akupunktur
oder Anticraving-Medikation (Desipramin). Wie sich zeigte, war die Intensität jeder der zusätzlichen Begleittherapien mit einer längeren Haltezeit verbunden, die wiederum mit negativen Urinproben bei der Nachbefragung im Zusammenhang stand. Direkte Effekte der zusätzlichen Begleittherapien auf den Drogenkonsum konnten nicht festgestellt werden.
Der Einfluss des Therapiesettings auf die Haltequote wurde in einer Studie mit kokainabhängen Klientinnen, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hatten, untersucht (Strantz & Welch,
1995). Verglichen wurde eine traditionelle ambulante Therapie mit einer intensiven tagesklinischen Betreuung. Klientinnen beendeten die Therapie häufiger, wenn sie in einer Tagesklinik intensiv behandelt wurden. Im Gegensatz dazu brachen kokainabhängige Mütter, die
ambulant behandelt wurden, die Therapie früher und häufiger ab. Für die Haltequote war
zudem ausschlaggebend, ob die Klientinnen ihre Kinder selbst betreuten oder diese in einer
Pflegefamilie lebten. Kokainabhängige Mütter, deren Kinder im eigenen Haushalt lebten,
blieben in der tagesklinischen Behandlung länger in Therapie. Hatten die Klientinnen jedoch
mehrere Kinder zu betreuen, so verringerte sich die Haltequote mit steigender Anzahl der
Kinder. Bei Klientinnen, die in dem weniger zeitaufwändigen ambulanten Therapiesetting
behandelt wurden, wirkte sich eine höhere Zahl an Kindern allerdings positiv auf die Haltequote aus. Eine weitere Studie mit kokainabhängigen Frauen (Roberts & Nishimoto, 1996)
konnte die positiven Auswirkungen einer intensiven tagesklinischen Behandlung auf die Haltequote bestätigen. Klientinnen, die dieser Bedingung zugeteilt wurden, nahmen länger an
der Therapie teil und beendeten diese häufiger als Frauen, die ambulant oder stationär behandelt wurden. Die beiden Vergleichsbedingungen zeigten keine unterschiedlichen Effekte
hinsichtlich der Haltequote.
Wirksamkeit von Psychotherapie
153
In wie weit eine Kokaintherapie, die besonders auf die Lebensbedingungen der Klienten zugeschnitten ist, die Abbruchquote verringern kann, wurde von Schumacher et al. (2000) und
McNamara et al. (2001) untersucht. In beiden Studien wurden kokainabhängige Obdachlose
mit psychischen Störungen zufällig den Bedingungen tagesklinische Verhaltenstherapie mit
und ohne kontingente Verstärkung durch Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten zugewiesen.
Schumacher und Kollegen (2000) konnten zeigen, dass die Klienten im Setting mit kontingenter Verstärkung an mehr Tagen zur Therapie kamen und auch mehr Veranstaltungen
besuchten als Teilnehmer der Vergleichsgruppe. In der Studie von McNamara et al. (2001)
fanden sich keine Unterschiede zwischen den beiden Bedingungen. Analysen zur Effektivität
der unterschiedlichen Behandlungsformen für bestimmte Klientengruppen, wobei zwischen
Teilnehmern mit rein substanzbezogenen Störungen und Klienten mit zusätzlichen psychischen Störungen unterschieden wurde, zeigten keine Unterschiede der Haltequote und der
Anzahl der Teilnehmer, die die Therapie erfolgreich beendeten.
Therapiesetting
Erfahrungen mit Selbsthilfegruppen oder die Kombination einer psychotherapeutischen
Maßnahme mit dem Besuch von Selbsthilfegruppen zeigen einen Effekt auf den Therapieerfolg. Weiss et al. (1996) stellten fest, dass diejenigen, die vor Therapiebeginn Selbsthilfegruppen besucht hatten, mit höherer Wahrscheinlichkeit während der Therapie abstinent
wurden als Personen, die keine Selbsthilfegruppen besucht hatten.
In einer randomisierten Vergleichsuntersuchung eines 6-monatigen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapieprogramms mit hoher und niedriger Intensität berichteten Rosenblum et al. (1998) in beiden Bedingungen von einer Reduktion des Kokainkonsums. Klienten
mit schwerem Kokainkonsum schnitten jedoch im intensiveren Programm besser ab. Eine
Studie zur Behandlungsintensität zeigte bei Wohnungslosen mit primärem Crac kkonsum
nach einem Jahr einen signifikant höheren Rückgang des Alkohol- und Kokainkonsums in
der Gruppe mit einer höheren Behandlungsintensität (Schumacher et al., 1995).
Untersuchungen zu den Effekten von stationären vs. ambulanten Therapien sind wenig eindeutig. Verglichen mit einer Kontrollgruppe zeigten in Wohngruppen betreute Kokainabhängige nach 2, 6 und 12 Monaten höhere Reduktionsraten im Kokainkonsum und eine höhere
Stabilität. In einem Vergleich zwischen einer tagesklinischen und einer stationären Behandlung zeigte sich im stationären Setting (63%) nach drei Monaten eine signifikant höhere Abstinenzraten als im tagesklinischen Setting (38%). Interessanterweise verschwanden die Effekte zwischen den beiden Gruppen nach sechs Monaten Behandlung. Obwohl die Gruppe
im tagesklinischen Setting eine höhere Abbruchrate aufwies, folgerten die Autoren, dass es
sich bei einer tagesklinischen Behandlung um die kostengünstigere Alternative handelt
(Schneider, Mittelmeier & Gadish, 1996).
In der DATOS-Studie, in der ambulante Methadontherapie, ambulant und stationär Langzeittherapie und Kurzzeittherapie verglichen wurden, zeigte sich nach 12 Monaten bei nur jedem
154
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Vierten ein Rückfall zu einem mindestens wöchentlichen Kokainkonsum. Die Rückfälle waren bei Klienten mit schweren Störungen und nach früher Beendigung der Therapie signifikant häufiger. Unter den Klienten mit mittlerem Störungsgrad war die Rückfallrate in den
Langzeiteinrichtungen (ambulant oder stationär) um die Hälfte niedriger als bei Klienten in
Kurzzeittherapie. Während 15% der Schwerstabhängigen, die 90 Tage oder länger in stationärere Langzeittherapien verbrachten, nach 12 Monaten wieder wöchentlich Kokain nahmen,
wurden in der ambulante Therapie 29% und in der Kurzzeittherapie 38% rückfällig. Die Autoren schlussfolgern, dass Patienten mit einem hohen Störungsgrad mit größerer Wahrscheinlichkeit von einer stationären Langzeittherapie profitieren, während für Klienten mittleren Störungsgrads längerfristige ambulante Therapien am geeignetsten und zudem kostengünstiger
sind (Simpson et al., 1999).
In der Untersuchung von Budde, Rounsaville und Bryant (1992) weisen die Ergebnisse in die
gleiche Richtung. Verglichen mit Patienten in einer ambulanten Einrichtung zeigten die Patienten, die stationär untergebracht waren, einen höheren Kokainkonsum sowie stärkere soziale und psychische Beeinträchtigungen. In einer Nachuntersuchungen nach einem Jahr
ergaben sich Unterschiede in die umgekehrte Richtung, woraus die Autoren auf eine bessere
Langzeitwirksamkeit stationärer Behandlungen schlossen.
8.5
Schlussfolgerung
Bisher hatte die interpersonelle Psychotherapie als eigenständiger Therapieansatz keinen
großen Erfolg in der Behandlung Kokainabhängiger gezeigt. Bessere Ergebnisse werden
erlangt, wenn interpersonelle Psychotherapie als Bestandteil eines umfangreicheren Therapieprogramms eingesetzt wird. Kontrollstudien mit Kokainabhängigen, die in der Experimentalgruppe mit einem Rückfalltraining behandelt wurden, zeigten in beiden Gruppen signifikante Rückgänge des Kokainkonsums (Carroll, Rounsaville & Gawin, 1991). In der Kontrollgruppe der mit IPT behandelten Abhängigen fanden sich jedoch höhere Rückfallraten und
Schwerstabhängige waren in der Gruppe mit Rückfalltraining in Bezug auf die Therapievariablen signifikant erfolgreicher. Rückfallpräventionstraining erwies sich als effektiv in der Behandlung von Substanzstörungen insbesondere von Alkoholabhängigkeit (Carroll, 1996).
Trotz signifikanter Reduktion des Kokainkonsums durch Rückfallprävention unterschieden
sich die Erfolgsquoten nicht wesentlich von den Kontrollgruppen (Carroll et al., 1994a; Wells
et al., 1994). Dennoch erwies sich Rückfallprävention insbesondere bei depressiven Patienten als erfolgreicher und Follow-up Untersuchungen zeigten eine verzögerte positive Wirkung in der Gruppe der mit Rückfallprävention Behandelten (Carroll et al.,1994a, 1994b).
Die Effektivität kontingenter Verstärkung auf eine Verbesserung der Haltequote und der Reduzierung bzw. Abstinenz von Substanzkonsum konnte nicht nur in der Behandlung von Kokainabhängigkeit sondern auch bei der Behandlung von Alkohol-, Cannabis-, Nikotin- und
Opiatabhängigen nachgewiesen werden (Azrin 1994; Berglund et al., 2003; Higgins, Alessi &
Dantona, 2002; Higgins, Budney & Bickel, 1994; Higgins, 1996; Higgins, 1999; Higgins et al.,
1999; Petry & Martin, 2002; Rawson et al., 1991a; Van Horn & Frank, 1998). In einer Meta-
Wirksamkeit von Psychotherapie
155
analyse zum Kontingenz Management (CM) in ambulanter Methadontherapie kommen Griffith et al. (2000) zu dem Ergebnis, dass eine CM-Intervention signifikant zu einer Reduzierung positiver Urinproben führte. Die gewichtete mittlere Effektstärke der 30 in die Analyse
eingegangenen Studien betrug 0,25. Als ein wesentlicher Faktor erwies sich die zeitliche
Unmittelbarkeit der Verstärkung. CM Interventionen waren zudem am effektivsten, wenn sich
die angestrebte Verhaltensänderung auf nur eine Droge konzentrierte. Kein Effekt zeigte sich
dagegen für die Art der Verstärkung (Zu- oder Abnahme der Dosierung, Take-Home Vergabe), die Dauer der Verstärkung und die Methadon Dosierung.
In einer Metanalyse zur Therapie von Kokainabhängigen berichteten Berglund, Thelander
und Jonsson (2003) von 27 Studien. Von den in diesen 27 Studien untersuchten Gruppen
konnten fünf einem supportiven (N=779), 21 einem verhaltenstherapeutischen (N=5151) und
neun einem psychotherpeutischen Ansatz (N=594) zugeordnet werden. Während die behavioralen Ansätze im Vergleich zu behandelten Kontrollgruppen insgesamt eine Effektstärke
von 0,24 aufwiesen, waren die Effekte in den supportiven und psychotherpeutischen Gruppen nicht signifikant. Die Effektstärken in den verhaltenstherapeutischen Gruppen waren
innerhalb der ersten sechs Wochen am höchsten (1-3 Monate: 0,36; 4-6 Monate: 0,30).
Die Integration des Kontingenz Managements (Bigelow, et al., 1981; Bigelow & Silverman,
1999) in den gemeindenahen Verstärkeransatz (Community Reinforcement Approach, CRA)
(Sisson & Anzrin, 1989) hat sich dabei insbesondere bei der Behandlung substanzbezogener
Störungen als wirkungsvoll erwiesen. Die Effektivität dieses Ansatzes zur Behandlung von
Kokainabhängigen kann als nachgewiesen angesehen werden (Higgins, Alessi & Dantona,
2002). Es ist davon auszugehen, dass dieser Ansatz auch in Zukunft weiter verbessert werden kann. Im Gegensatz zu anderen Therapieverfahren zur Behandlung kokainabhängiger
Klienten ist der Community Reinforcement Ansatz eine eigenständige Behandlungsform
geblieben, die Elemente anderer Modelle erfolgreich integrieren konnte.
In der NIDA-Kokain-Therapiestudie (National Institute on Drug Abuse Collaborative Cocaine
Treatment Study) zeigten alle Behandlungsgruppen (kognitive Verhaltenstherapie, psychodynamische Therapie (supportive-expressive therapy), individuelle Drogenberatung nach
dem 12-Schritte Programm in Kombination mit Gruppendrogenberatung) eine signifikante
Reduktion des Kokainkonsums. Die individuelle Drogenberatung mit Gruppensitzungen war
den beiden anderen Therapien jedoch in der Reduktion des Kokainkonsums und gemessen
an der Anzahl Tage mit Kokainkonsum im letzten Monat überlegen. In einem naturalistischen
Vergleich stationärer und ambulanter Therapien (Drug Abuse Treatment Outcome Study)
kommen Simpson und Kollegen (1999) zu dem Schluss, dass Patienten mit einem hohen
Störungsgrad mit größerer Wahrscheinlichkeit von einer stationären Langzeittherapie profitieren, während für Klienten mittleren Störungsgrads längerfristige ambulante Therapien am
geeignetsten und zudem kostengünstiger sind.
156
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Integrierte Pharmakotherapie und Psychotherapie
Studien und Übersichtsarbeiten zur Pharmakotherapie von Kokainabhängigen berichten
durchwegs enttäuschende Ergebnisse (Rawson et al., 1991a, Carroll, 1997). Während sich
in der Behandlung Opiat- und Alkoholabhängiger mit Hilfe von Pharmaka (Disulfiram, Naltrexon, Acamprosat, Methadon, LAAM, Buprenorphin) Erfolge abzeichnen, liegen keine positiven Befunde über die Wirksamkeit einer pharmakologischen Behandlung bei Kokainabhängigkeit vor (Rawson et al., 2000). In der groß angelegten DATOS Studie (Drug Abuse Treatment Outcome Study) erwiesen sich Methadon-Programme als im Wesentlichen ineffektiv
bezüglich der Reduktion des Kokainkonsums, was in Anbetracht der hohen Rate von Opiatabhängigen mit einer kokainbezogenen Störung insbesondere in den USA eine Herausforderung für die Methadonbehandlung darstellt (Hser, Anglin & Fletcher, 1998). In einer kontrollierten Untersuchung bei Kokainabhängigen mit Disulfiram, Lithium und Placebo über einen
Behandlungszeitraum von sechs Wochen erreichten zwar 59% der mit Disulfiram behandelten Patienten eine mindestens dreiwöchige Kokainabstinenz gegenüber 25% in der Lithiumgruppe und 17% in der Placebogruppe. Ein Drittel der Klienten verweigerte jedoch eine
Pharmakotherapie und 41% der Klienten, die mit Disulfiram behandelt wurden, erreichten zu
keinem Zeitpunkt eine Kokainabstinenz (Gawin et al., 1989).
Hinweise auf einen additiven Effekt einer Disulfiram Behandlung in Verbindung mit Psychotherapie kommt von der kontrollierten Studie von Carroll und Kollegen (1998). In diesem klinischen Versuch wurden 120 komorbide Kokain- und Alkoholabhängigen in fünf Gruppen
eingeteilt: Kognitive Verhaltenstherapie mit und ohne Disulfiram, 12-Schritte Programm mit
und ohne Disulfiram und einer Clinical Management Gruppe mit Disulfiram als Kontrolle. Unabhängig von der Art der Behandlung erhöhte eine Behandlung mit Disulfiram die Therapiehaltezeit. Zudem erreichen Klienten mit Disulfiram Behandlung signifikant längere Kokain-,
Alkohol- oder kombinierte Kokain- und Alkoholabstinenz im Vergleich zu Klienten ohne Disulfiram Behandlung. Eine Pilotstudie mit zusätzlicher Disulfiram Behandlung im Zusammenhang mit dem gemeindenahen Verstärkermodell (CR-Ansatz) zeigte ebenfalls bei Klienten
mit Disulfiram Behandlung um das zweifach niedrigere Raten in Bezug auf Alkoholkonsum
und positive Kokain-Urinproben (Higgins et al. 1991; Higgins, 1999). Diese Ergebnisse sind
insbesondere vor dem Hintergrund einer zusätzlichen Alkoholabhängigkeitsdiagnose bei
kokainabhängigen Klienten von über 60% (Higgins et al., 1994c) als positiv zu bewerten.
Spezifische Klienten- und Therapiemerkmale
Ein Vergleich von kokainabhängigen Klienten, die mit unterschiedlichen Therapieformen von
unterschiedlicher Dauer und Intensität behandelt worden waren, zeigte, dass bestimmte
Klientencharakteristiken die Erfolgsaussichten verschlechtern. Klienten, die dazu neigen, die
Therapie frühzeitig abzubrechen und infolgedessen ihren Kokainkonsum nur wenig verringern können, sind im Durchschnitt jünger, weniger gebildet und Angehörige ethnischer Minderheiten. Neben diesen individuellen Kriterien können aber auch äußere Faktoren, wie ein
Arbeitsplatz oder gesetzliche Auflagen entscheidend für den Therapieerfolg sein. Abgesehen
von diesen allgemeinen Klientenmerkmalen verschlechtert sich die Aussicht auf einen erfolgreichen Verlauf der Therapie erheblich, wenn Klienten neben dem regelmäßigen Konsum
Wirksamkeit von Psychotherapie
157
von Kokain eine Abhängigkeitsdiagnose für weitere Substanzen haben. Belege, dass der
gemeindenahe Verstärkeransatz mit kontingenten Gutscheinen für Klienten mit Dualdiagnose besser geeignet ist als andere, fanden sich bislang nur in einer einzigen Studie (Heil,
Badger, Higgins, 2001).
Kokainabhängige mit komorbiden psychischen Störungen sind im Vergleich zu Klienten ohne
psychische Beeinträchtigung benachteiligt. Für einige Therapieformen konnten aber für komorbide Klienten positive Effekte auf die Abstinenzrate, die Haltequote sowie den psychischen Zustand nachgewiesen werden. So berichteten mehrere Studien von Therapieerfolgen, wenn Klienten mit psychischen Störungen mit Rückfallprävention behandelt wurden. Die
Behandlung mit gemeindebezogenen Therapieansätzen führte bei komorbiden Klienten
ebenfalls zu positiven Ergebnissen. Zudem bewirkte eine zusätzliche Behandlung mit Psychopharmaka, dass komorbide Klienten häufiger Abstinenz erlangten als Klienten, die stattdessen ein Placebo verabreicht bekamen. Dieses Ergebnis zeigte sich aber auch, wenn auf
eine zusätzliche Psychotherapie verzichtet wurde.
In ambulanten Therapiesettings beträgt die Abbruchquote von Kokainabhängigen durchschnittlich 55%. Eine Therapie kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, den
Klienten über einen Mindestzeitraum in der Therapie zu halten. Ein zentrales Ziel in der Erforschung von Kokaintherapien ist es daher, Mittel zu finden, die ein vorzeitiges Abbrechen
der Behandlung verhindern. Dabei spielt die Therapieform, das Therapiesetting, eine begleitende Pharmakotherapie und die Analyse von speziellen Bedürfnissen bestimmter Klientengruppen eine entscheidende Rolle. Studien zu verschiedenen Therapiesettings zeigten, dass
eine höhere Behandlungsintensität häufiger zu besseren Therapieergebnissen führt. Allerdings sind die Ergebnisse der Untersuchungen beeinflusst von der Erreichbarkeit eines bestimmten Klientels. Viele kokainabhängige Klienten sind eher bereit, sich einer weniger zeitaufwändigen ambulanten Therapie zu unterziehen, als einer stationären Behandlung. So
haben ambulante Therapien aufgrund ihrer Reichweite häufig einen Vorteil, wenn es darum
geht, eine langfristige Behandlung anzubahnen. Ambulante Therapien erwiesen sich zudem
bei der Behandlung von Klienten mit mittleren psychischen Störungen als geeigneter als stationäre Therapien. Der höhere Kostenaufwand bei stationären Behandlungen ist bei Patienten mit hohem Grad an psychischen Störungen gerechtfertigt.
Berglund, Thelander und Jonsson (2003) konnten in ihrer Metaanalyse nur geringe Effekte
der von ihnen untersuchten Ansätze auf die Haltequote feststellen. In Abhängigkeit des Beobachtungsintervalls waren in den meisten Bedingungen die Haltequoten in den Experimentalbedingungen (Supportive Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Psychotherapie)
schlechter als in den Kontrollbedíngungung. Ingesamt zeigten lediglich die psychotherapeutischen und dabei insbesondere familientherapeutische Ansätze gute Effekte auf die Haltequote bis zu einem Jahr in Behandlung.
158
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Zusammenfassend zeigen alle Studien eine Reduzierung des Substanzkonsums und Verbesserungen in anderen wesentlichen Bereichen, auch wenn die Abbruchquoten im Durchschnitt sehr hoch sind. Als wesentliche Rolle bei der Behandlung Kokainabhängiger erwies
sich die Struktur der Therapie. Die Intensität therapeutischer Interventionen und die Kontrolle
in Form von Urintests sind dabei wesentliche Aspekte (Mercer & Woody, 2002). Interessanterweise zeigen Kombinationen von therapeutischen Verfahren (Gruppen- und Einzeltherapie, Psycho- und Pharmakotherapie) oder die Einbindung bestimmter Ansätze in das Therapieprogramm wie das 12-Schritte Programm oder Familien- und Paartherapie in den jeweiligen therapeutischen Ansatz die besseren Ergebnisse. Zukünftige vergleichende Untersuchungen mit dem Ziel, Kokainabhängige der für sie am besten geeigneten Therapie zuzuführen, werden diese kombinierten Therapien berücksichtigen müssen.
Wirksamkeit von Psychotherapie
8.6
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167
9
Wirksamkeit von Pharmakotherapie
Sabine Kunz-Ebrecht
9.1
Einleitung
Durch Missbrauch und Abhängigkeit von psychotropen Substanzen verändern sich Neurotransmittersysteme, wodurch es bei Fehlen der Substanz zu Craving und körperlichen
Entzugssymptomen kommt. Seit Ende der 1970er Jahre ist bekannt, dass chronischer Kokainmissbrauch eine Veränderung der Sensititvät der Katecholaminrezeptoren bewirkt. Diese
Empfindlichkeitsveränderung zeigt sich als gesteigerte Toleranz, die wiederum eine Dosissteigerung nach sich zieht. Kokain führt zu einer erhöhten Freisetzung sowie zu einer
Blockade der Wiederaufnahme vor allem von Dopamin, aber auch von Noradrenalin und
Serotonin. Auf der Grundlage dieser Forschungsergebnisse zur Neuroadaptation wurden
verschiedene pharmakologische Substanzen entwickelt und bei der Behandlung Kokainabhängiger eingesetzt. Das langfristige Ziel dabei ist, die jeweiligen Rezeptoren zu besetzen
ohne den euphorisierenden und damit verhaltensverstärkenden Effekt der Droge zu erzeugen (Substitution). Eine weitere Möglichkeit pharmakologischer Behandlung ist die Erleichterung beim Entzug sowie bei Komplikationen durch akute Intoxikation. Unklar ist bisher
jedoch, welche dieser Substanzen bei den jeweiligen Patienten am effektivsten ist. Bisherige
Ergebnisse zur Effektivität pharamakologischer Behandlung der Kokainabhängigkeit werden
im folgenden dargestellt und diskutiert.
9.2
Grundprinzipien der pharmakologischen Therapie von Kokainabhängigkeit
Für die akute Intoxikation sowie für den Kokainentzug wurde eine standardisierte pharmakologische Behandlung entwickelt. Je nach Schweregrad des Entzugs und möglichen Komplikationen wie beispielsweise zerebrale Schäden, Herz-Kreislaufdekompensation, toxische
Leberschädigung, Hyperthermie bis hin zum Koma kommen unterschiedliche Medikamente
zum Einsatz. Häufig müssen auch psychiatrische Symptome behandelt werden. Bei Angstund Erregungszuständen wird zum Beispiel Lorazepam, Haloperidol und Diazepam eingesetzt.
Für die Entwöhnungstherapie und Rückfallprophylaxe gibt es jedoch keine standardisierte
pharmakologische Behandlung. Es bieten sich jedoch vier verschiedene Ansätze an: Antagonisierung der Kokainrezeptorwechselwirkung, Herbeiführung einer Aversionsreaktion gegenüber dem Kokaingebrauch, Behandlung möglicher psychischer Grunderkrankung (Komorbidität) oder Begleitstörungen (Mischkonsum) sowie die Unterdrückung des Cravings und
der Entzugssymptome (Preuß et al., 2000). Die Entzugssymptome können über Monate anhalten, so dass in dieser Zeit ein hohes Rückfallrisiko besteht. Für diese Zeit wurden verschiedene Substanzen zur Rückfallprophylaxe getestet.
168
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Für die Aufrechterhaltung der Abstinenz kommen Substanzen zum Einsatz, die zwar die relevanten Rezeptoren besetzen, aber nicht die erwünschten psychischen Effekte bewirken.
Die Effektivität der einzelnen Wirkstoffgruppen Dopamin Antagonisten, Antidepressiva, Benzodiazepine, Neuroleptika sowie die Behandlung bei multiplem Konsum sollen im folgenden
genauer dargestellt werden.
9.2.1
Behandlung mit Dopamin Antagonisten
Da das mesolimbische Dopaminsystem bei der positiven Verstärkung des Drogenkonsums
eine wesentliche Rolle spielt, wurden unter anderem Substanzen getestet, die den
dopaminergen D1 und/oder D2 Rezeptor blockieren. Kokain bewirkt eine Entleerung der dopaminergen Speicher, da es bei Einnahme zu einer starken Ausschüttung des Dopamins
kommt. Wird kein Kokain mehr zugeführt so entstehen Entzugssymptome aufgrund des dopaminergen Mangels (Crosby, Halikas & Carlson, 1991). Auf der Basis dieser Dopamin Entleerungs-Hypothese wurden Dopamin-Antagonisten getestet, die zwar die Dopaminrezeptoren besetzen, aber keine Euphorie bewirken. Diese Art der Substitution wurde zum Beispiel
mit Amantadin, Bromokriptin, L-Dopa, Methylphenidat, Mazindol und Perdolid getestet. Die
Substanzen wurden während des frühen Kokainentzugs eingesetzt, um die Symptome zu
erleichtern. Studien zur Effektivität fielen jedoch meist negativ aus. Bromokriptin erwies sich
in mehreren Studien als effektiv in der frühen Entzugsphase, vor allem da es unmittelbar
wirkt. Der Nachteil sind jedoch Nebenwirkungen wie Übelkeit, Kopfschmerzen und psychische Störungen (Crosby, Halikas & Carlson, 1991). Das Ergebnis konnte allerdings von
Placebo kontrollierten Studien nicht repliziert werden.
Amantadin wirkt dopamimetisch und hat weniger Nebenwirkungen als Bromokriptin. Die Effektivität für den Kokainentzug konnte jedoch nicht eindeutig belegt werden. Methylphenidat
(Ritalin) scheint ebenfalls hilfreich beim Kokainentzug zu sein, da es schnell und lange wirksam ist. Andererseits ergaben Studien zu Methylphenidat, dass eine Toleranzentwicklung
möglich ist und durch die leichte Stimulation auch Craving ausgelöst werden kann. Die einzige Ausnahme mit einer guten Effektivität von Methylphenidat zeigte sich bei der Behandlung
von Kokainabhängigen mit gleichzeitiger Diagnose einer Aufmerksamkeits Defizit Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Eine Studie ergab, dass bei Kokainabhängigen die Behandlung erfolgreich war (Khantzian, 1983; Khantzian et al., 1984). Hierbei ist jedoch anzunehmen, dass die
Grunderkrankung der ADHS gezielt behandelt wurde und die Selbstmedikation mit Kokain
dadurch überflüssig wurde. Die bisherigen wenigen Studien mit Flupenthixol weisen darauf
hin, dass diese Substanz durch die Erzeugung einer Akathisie in Kombination mit dem Konsum von Crack aversiv wirkt und dadurch Konsumreduktion bewirkt werden kann (Soyka &
De Vry, 2000).
In einer aktuellen randomisierten Doppelblindstudie wurde die Behandlung mit Dexamphetamin mit Placebo verglichen und signifikante Verbesserungen innerhalb der Treatment
Gruppe im Vergleich mit der Placebogruppe gefunden. Der objektive messbare Kokainkonsum (Urintest) reduzierte sich von 94 auf 56%, der berichtete Konsum ebenfalls, sowie die
Wirksamkeit von Pharmakotherapie
169
Kriminalität, Craving und der Schweregrad der Abhängigkeit im Vergleich mit keinen Verbesserungen in der Placebogruppe (Shearer et al., 2003).
9.2.2
Behandlung mit Antidepressiva
Es wurden auch Trizyklische Antidepressiva zur Behandlung der Kokainabhängigkeit eingesetzt und extensiv untersucht, da diese Substanzen die dopaminerge Rezeptorsensitivität im
Tierversuch reduzierten. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass eine Dosierung von
200-250mg Desipramin am Tag über 4-6 Wochen den Beginn und die Aufrechterhaltung der
Abstinenz verbesserten sowie das Craving reduzierten (Gawin et al., 1989). Die Ergebnisse
der Studien zu Desipramin sind insgesamt jedoch widersprüchlich und sogar mit gegenteiligem Effekt, d. h. die Patienten erlebten starkes Craving und fuhren mit dem Kokainkonsum
fort (Arndt et al., 1992; Weiss, 1988). Andere Antidepressiva wie beispielsweise Imipramin,
Maprotilin und Trazodon befinden sich noch in der Erprobungsphase, so dass hier noch keine Ergebnisse vorliegen. Bei der Aufrechterhaltung der Abstinenz zeigte sich, dass bei Kokainabhängigen mit der zusätzlichen Diagnose einer Depression der Einsatz von Antidepressiva langfristig sowohl die depressive Symptomatik als auch den Substanzmissbrauch
reduzieren konnte (Ziedonis & Kosten, 1991).
Auch Substanzen, die auf das serotonerge System (Serotonin Wiederaufnahme Hemmer)
wirken, wurden für die Behandlung der Kokainabhängigkeit getestet. In einer kleinen Studie
mit 11 heroinabhängigen Patienten mit zusätzlichem Kokainmissbrauch führte der Einsatz
von Fluoxetin zu einer signifikanten Reduktion des Cravings und des Kokainkonsums (Pollack & Rosenbaum, 1991). Zwei weitere Studien konnten dieses positiven Ergebnisse bestätigen (Batki et al., 1993; Kosten et al., 1992). Eine Placebo kontrollierte Pilotstudie (n= 41)
mit 16,25mg Gepiron täglich ergab jedoch keinen Behandlungserfolg (Jenkins et al., 1992).
9.2.3
Behandlung mit Benzodiazepinen und Neuroleptika
Im Verlauf eines Kokainrausches kann es zu Agitiertheit, Angst, Paranoia und psychotischen
Zuständen kommen, die vor allem mit Benzodiazepinen (Diazepam, Oxazepan) behandelt
werden. Auch bei Zuständen, die infolge eines Kokain Binges auftreten, sind diese Medikamente sinnvoll. Der Nachteil besteht in ihrem hohem Missbrauchspotential, wobei sich die
Substanzen hierin erheblich unterscheiden (Crosby, Halikas & Carlson, 1991). Neuroleptika
(Haloperidol, Flupenthixol) kommen bei psychotischen Zuständen zum Einsatz wobei bei
einer Überdosis an Kokain schwere Komplikationen entstehen können wie zum Beispiel
Hypothermie. Vor allem Flupenthixol zeigte Effektivität bei der Behandlung von 10 Crack
rauchenden Patienten. Ein Problem jedoch bei der Behandlung mit Neuroleptika ist die als
Nebenwirkung erzeugte Anhedonie, die sich negativ auf die Compliance auswirkt.
170
9.3
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Behandlung bei Mischkonsum
Aus der epidemiologischen Forschung ist bekannt, dass ein großer Teil der Kokainabhängigen zusätzlich Alkohol missbraucht (vgl. Kapitel 7). Bei Patienten mit Mischkonsum von Kokain und Alkohol wurde festgestellt, dass sich Substanzen, die für die Alkoholentwöhnung
eingesetzt werden, auch auf den Kokainkonsum positiv auswirken können. In einem Übersichtsartikel stellen Boyarsky und McCance-Katz (2000) die positiven Effekte von Disulfiram
(Antabus) und auch Naltrexon bei der Behandlung des Mischkonsums von Alkohol und Kokain dar. Die Gabe von Disulfiram führte zu einer substantiellen Reduktion des Kokainkonsums und zu längeren Abstinenzphasen (Carroll et al., 1993; Carroll et al., 1998). In einer
anderen Studie konnten zwar verschiedene physiologische Effekte von Disulfiram auf die
Wirkung von Kokainkonsum festgestellt werden, jedoch keine Verhaltensänderung beim
Konsum (McCance-Katz, Kosten & Jatlow, 1998). In einer Studie mit 15 ambulanten Teilnehmern zeigten sich auch positive Effekte von Naltrexon im Sinne einer Konsumreduktion
von Alkohol und Kokain (Oslin et al., 1999). Auch der Einsatz von Carbamazepin erwies sich
bei der Behandlung des Kokainmissbrauchs als effektiv (Halikas et al., 1989), jedoch zeigten
sich bei gleichzeitiger Kokaineinnahme starke Nebenwirkungen auf das kardiovaskuläre System (Hatsukami et al., 1991). Widersprüchliche Ergebnisse ergaben sich für Buprenorphin.
Zwei Studien belegten eine Überlegenheit von Buprenorphin gegenüber Methadon (Kosten
et al., 1989; Kosten, Kleber & Morgan, 1989). Zwei neuere Studien konnten dies jedoch nicht
bestätigen (Fudala, Johnson & Jaffe, 1991; Oliveto et al., 1994).
Ehemalige heroinabhängige Patienten, die mit Methadon behandelt werden, konsumieren zu
einem hohen Prozentsatz zusätzlich Kokain (70%), da Methadon zwar die euphorisierende
Wirkung des Heroin verhindert andererseits jedoch die Wirkung von Kokain verstärken kann
(Crosby, Halikas & Carlson, 1991). Zur Behandlung wurde Carbamazepin eingesetzt, was
sich allerdings als ineffektiv erwies, da es den Metabolismus von Methadon anregt und somit
Entzugssymptome auslöst. Ein Ausweg stellte die Erhöhung der Methadon Dosis dar oder
die Gabe von Desipramin oder Amantadin.
Als alternativer Ansatz zur Gruppe der Dopamin-Antagonisten wurden Opiat-Antagonisten
verwendet. Zum einen zeigte sich Buprenorphin als effektiv und zum anderen Naltrexon
(Crosby, Halikas & Carlson, 1991). Hierzu ist jedoch weitere Forschung nötig.
9.4
Schlussfolgerung
Eine umfassende sehr konservative Literaturrecherche zur Effektivität pharmakologischer
Behandlung der Kokainabhängigkeit von Lima und Kollegen (1997) ergab 45 verschiedene
randomisierte und kontrollierte Studien, die den methodischen Anforderungen genügten. Die
am häufigsten untersuchten pharmakologischen Substanzen waren Antidepressiva (20 Studien), Carbamazepin sowie Dopamin-Antagonisten. Die Ergebnisse waren jedoch heterogen
mit Dropout Raten innerhalb der Studien zwischen 0 und 84%. Das Kriterium für Behandlungserfolg war bei der Mehrzahl der Studien die Abwesenheit von Kokainmetaboliten im
Urin. Ein statistisch nicht signifikanter Trend ergab sich für eine Studie: Patienten, die mit
Wirksamkeit von Pharmakotherapie
171
Fluoxetin behandelt wurden, hatten niedrigere Dropout Raten und bessere Ergebnisse. Davon abgesehen wurden keine signifikanten Ergebnisse zur Behandlung und Dosierung gefunden. Die Autoren folgerten, dass es für den Einsatz von Carbamazepin, Antidepressiva,
Dopaminantagonisten, Disulfiram, Mazindol, Phenytoin, Nimodipin, Lithium und NeuRecoverSA bei der Behandlung der Kokainabhängigkeit keine wissenschaftliche Grundlage gibt.
Eine Erklärung für dieses Ergebnis ist, dass der Behandlungserfolg stark von der Motivation
und Compliance der Patienten abhängt, so dass es sehr unwahrscheinlich ist, mittels einer
rein pharmakologischen Behandlung eine Verhaltensänderung zu bewirken, d.h. eine Reduktion des Kokainkonsums zu erreichen. Gerade die hohen Dropout Raten weisen daraufhin,
dass die Compliance gezielt gefördert werden muss, um die Effekte der pharmakologischen
Behandlung zu verbessern.
Eine weitere Erklärung für den mangelnden Behandlungserfolg liegt darin, dass in den letzten Jahren zwar verstärkt effektive Substanzen zur Behandlung der Alkohol-, Opiat- und Stimulantienabhängigkeit entwickelt worden sind, jedoch nicht für die Kokainabhängigkeit (Kosten & McCance, 1996). Um den Alkohol-und/oder Opiatentzug zu erleichtern, können Benzodiazepine, Beta-Blocker, Carbamazeopin, Valproat Naltrexon, Methadon, LAAM und
Buprenorphin eingesetzt werden. Trotz Bemühens um adäquate Behandlung, werden in Katamneseuntersuchungen von Entzugs - und Entwöhnungstherapien bei Kokainabhängigkeit
hohe Rückfallquoten berichtet. Die Behandlung der Kokainintoxikation ist zwar standardisiert
und erfolgreich, nicht jedoch die Rückfallprophylaxe. Die Studien dazu unterscheiden sich
zum Teil erheblich. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass noch weitere standardisierte klinische Studien nötig sind, die auch die unterschiedlichen Konsumentengruppen
(Mischkonsum, Komorbidität) berücksichtigen. Zudem fehlen kontrollierte Studien zur Behandlungsdauer und Dosierung sowie zu Kombinationen verschiedener Medikamente. Ein
großes Problem stellt auch der Placeboüberprüfung dar, da die Patienten in der Mehrzahl
wissen, ob sie mit dem psychotrop wirkenden Verum oder mit Plazebo behandelt werden.
Dies hat einen signifikanten Einfluss auf die Ergebnisse der Studien und muss daher berücksichtigt werden (Preuß et al., 2000).
Eine weitere sehr ausführliche Literaturübersicht zur pharmakologischen Behandlung der
Kokainabhängigkeit geben Preuß und Kollegen (2000), die zusätzlich zur rein pharmakologischen Behandlung auch die Effektivät von psychotherapeutischer Behandlung darstellen.
Preuß und Kollegen (2000) kommen bezogen auf die pharamkologische Behandlung zu
demselben Ergebniss wie schon Lima et al. (1997). Kokainabhängigkeit ist damit eine der
wenigen Abhängigkeitserkrankungen, bei der die Psychopharmakologie keine effektive Substanz zur Entwöhnungstherapie entwickelt hat. Es wurden zwar leichte Effekte für Antidepressiva, Amantadin und Phenylphenidat gefunden, die jedoch wegen Komorbiditätseffekten
nicht eindeutig interpretiert werden können (Haasen et al., 2002). Die pharmakologische Behandlung darf allerdings nur als ein kleiner Teil innerhalb des Settings gesehen werden, die
eingebettet ist in die psychosoziale Therapie und Rehabilitation. Die Kombination von Psychotherapie und pharmakolgischer Behandlung wurde bislang nur wenig untersucht, obwohl
die bisherigen Ergebnisse sehr positiv sind (Preuß et al., 2000).
172
9.5
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
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175
10 Behandelte und unbehandelte Kokainkonsumenten
Claudia Semmler
10.1
Einleitung
In den 1950er Jahren begann die Untersuchung von Personen, die sich wegen ihres
Drogenkonsums in Behandlung befanden (Chitwood & Morningstar, 1985). Neben Drogenkonsumenten in Drogenberatung und -behandlung müssen trotz ihrer schwierigeren Erreichbarkeit aber auch Konsumenten außerhalb dieser Settings berücksic htigt werden. Obwohl
mit Studien über nicht-institutionalisierte Drogenkonsumenten in der Mitte der 1960er Jahre
der Frage nachgegangen wurde, inwiefern sich behandelte und unbehandelte Drogenkonsumenten voneinander unterscheiden (Chitwood & Morningstar, 1985), liegen bislang immer
noch wenig Untersuchungen vor, die beide Konsumentengruppen miteinander vergleichen
(Hausser, Kubler & Dubois-Arber, 1999; Robson & Bruce, 1997), und es ist immer noch
wenig über die Merkmale der den psychosozialen und medizinischen Einrichtungen unbekannten Drogenkonsumenten aus der schwer erreichbaren “hidden population” (Hausser,
Kubler & Dubois-Arber, 1999) bekannt. So ist immer noch unklar, ob es sich bei diesen
“unsichtbaren” Personen um Konsumenten handelt, die sich in einem früheren Stadium ihres
Drogenkonsums befinden, oder ob sie sich systematisch von den behandelten bzw. behandlungssuchenden Drogenkonsumenten unterscheiden (Robson & Bruce, 1997).
Obwohl für behandelte und unbehandelte Opiatkonsumenten eine Reihe von Vergleichsstudien vorliegen (z. B. Chitwood & Chitwood, 1981; Graeven & Graeven, 1983; Rounsaville &
Kleber, 1985), gibt es nur wenige Studien, die sich explizit mit Unterschieden zwischen behandelten und unbehandelten Kokainkonsumenten auseinandersetzen. Das ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass es kaum einen exklusiven Kokainkonsum gibt: Die meisten Kokainkonsumenten nehmen zusätzlich andere Substanzen, wie z. B. Opiate oder Alkohol (Carroll, Rounsaville & Bryant, 1993; Geschwinde, 1996; Leri, Bruneau & Stewart, 2003;
Pennings, Leccese & Wolff, 2002; Thiel et al. 2000).
10.2
Behandelte und unbehandelte Kokain-Kokonsumenten
Einige Studien untersuchten Stichproben, die sich aus Konsumenten von Kokain und/oder
anderen illegalen Drogen zusammensetzen (vgl. Tabelle 10-1). Hausser, Kubler und DuboisArber (1999) verglichen Heroin- und/oder Kokainkonsumenten, die in den zwei Jahren vor
dem Interview in Behandlung waren, mit Heroin- und/oder Kokainkonsumenten, die nie behandelt wurden, bzw. mit Personen, deren Behandlung mindestens zwei Jahre seit dem Interview zurücklag. Kuebler, Hausser und Gervasoni (2000) untersuchten fünf Substichproben
behandelter und unbehandelter Heroin- und/oder Kokainkonsumenten: ((1) Personen mit
einem Heroin- und/oder Kokainkonsum kürzer als fünf Jahre ohne Behandlung; (2) Personen
mit einem Heroin- und/oder Kokainkonsum kürzer als fünf Jahre, die aktuell in Behandlung
176
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
oder es in den fünf Jahren ihres Drogenkonsums waren; (3) erfahrene Heroin- und/oder Kokainkonsumenten (d. h. mit einem Heroin- und/oder Kokainkonsum länger als fünf Jahre)
ohne Behandlung; (4) erfahrene Heroin- und/oder Kokainkonsumenten (d. h. mit einem Heroin- und/oder Kokainkonsum länger als fünf Jahre), die bereits in Behandlung waren, aber
nicht aktuell behandelt wurden; (5) Personen mit einem Heroin- und/oder Kokainkonsum
länger als fünf Jahre, die zum Zeitpunkt des Interviews in Behandlung waren. Eine andere
Studie wurde über den Einfluss des Behandlungsstatus auf Personen, die Kokain, Heroin
und/oder Amphetamine konsumieren, durchgeführt (Robson & Bruce, 1997). Aus zwei Gründen können aus diesen Studien keine Aussagen über Unterschiede zwischen behandelten
und unbehandelten Kokainkonsumenten abgeleitet werden. Zum einen wurden Konsumenten miteinander verglichen, die entweder nur die eine oder nur die andere oder mehrere
Substanzen konsumierten. Zum anderen unterschieden sich in beiden Konsumentengruppen
die Zusammensetzung der genommenen Drogen. Zum Beispiel konsumierten in der Studie
von Hauser und Mitarbeitern (1999) 73% der Behandelten Kokain und Heroin, 18% nur Heroin und 9% nur Kokain. Bei den Unbehandelten lag eine ganz andere Zusammensetzung
vor: 40% nahmen Kokain und Heroin zu sich, 12% nur Heroin und 49% nur Kokain.
Dennoch unterscheiden sich in allen drei Studien unbehandelte und behandelte Konsumenten voneinander. Robson und Bruce (1997) sowie die Arbeitsgruppe um Hausser (1999)
kommen zu dem Schluss, dass es sich bei unbehandelten und behandelten Konsumenten
um zwei Populationen handelt, die sich in Drogenwahl, Häufigkeit, Applikationsart und Vulnerabilität für zwanghaften bzw. abhängigen Drogenkonsum (Robson & Bruce, 1997; Hausser,
Kubler & Dubois-Arber, 1999) sowie in ihrer Soziodemographie, psychosozialen Situation
und in ihrem Gesundheitsstatus (Hausser, Kubler & Dubois-Arber, 1999) unterscheiden, und
zwar zugunsten der unbehandelten Konsumenten. Die Ergebnisse dieser beiden Studien
legen nahe, dass die Unterschiede zwischen beiden Konsumentengruppen nicht darauf zurückzuführen sind, dass sich unbehandelte Drogenkonsumenten in einer früheren Phase des
Drogenkonsums befinden.
Die Untersuchung von Kuebler, Hausser und Gervasoni (2000) erbringt ähnliche Ergebnisse
für den Vergleich von behandelten und unbehandelten Heroin- und/oder Kokainkonsumenten: Die “neuen” Heroin- und/oder Kokainkonsumenten ohne Behandlung (d. h. Konsumenten, deren Opiat- bzw. Kokainkonsum in den fünf Jahren vor dem Interview begann) haben
im Vergleich zu den Substichproben, die aktuell oder zu einem früheren Zeitpunkt in Behandlung waren, einen weniger problematischen Drogenkonsum und weniger gesundheitliche
Probleme, und sie erleben weniger soziale Schwierigkeiten. Werden die „neuen” Heroinund/oder Kokainkonsumenten ohne Behandlung (d. h. Opiat-/Kokainkonsum kürzer als fünf
Jahre) allerdings mit den erfahrenen Heroin- und/oder Kokainkonsumenten ohne Behandlung (d. h. Opiat-/Kokainkonsum länger als fünf Jahre) verglichen, dann schneiden sie
schlechter ab als die erfahrenen Konsumenten: Ihr Drogenprofil ist problematischer, und sie
weisen mehr gesundheitliche sowie soziale Probleme auf. Im Gegensatz zu den anderen
beiden Studien (Robson & Bruce, 1997; Hausser et al., 1999) kann hier die von Robson und
Bruce (1997) aufgeworfene Frage, ob es sich bei den unbehandelten Drogenkonsumenten
Behandelte und unbehandelte Kokainkonsumenten
177
einfach um jüngere Personen oder aber vielmehr um Personen handelt, die andere Merkmals als Behandelte besitzen, nicht beantwortet werden. Während sich einige der “neuen”
Heroin- und/oder Kokainkonsumenten durchaus in einer früheren Phase ihres Drogenkonsums befinden und im weiterem Verlauf vermutlich aufgrund medizinischer, sozialer oder
rechtlicher Probleme in Kontakt mit Drogenberatungen oder -behandlungen kommen werden, ist anzunehmen, dass es eine andere Gruppe von Heroin- und/oder Kokainkonsumenten mit einem unproblematischen Drogenkonsum gibt, die auch weiterhin außerhalb des Behandlungssettings bleiben wird. Demnach gibt es unter den “unsichtbaren” Heroin- und/oder
Kokainkonsumenten sowohl solche, die Hilfe wünschen und brauchen als auch solche, die
weder Hilfe benötigen noch wünschen.
10.3
Unterschiede zwischen behandelten und unbehandelten Kokainkonsumenten
Im deutschsprachigen Raum gibt es bisher noch keine Studien über Unterschiede zwischen
behandelten und unbehandelten Kokainkonsumenten. Der Hauptgrund ist, dass bislang nur
wenig Erfahrungen mit der Behandlung, Therapie und Entgiftung von Kokainabhängigen
existieren (Geschwinde, 1996). Die Behandlung Kokainabhängiger erfolgt im allgemeinen im
Rahmen der Behandlung anderer Suchterkrankungen (Hähnchen & Gastpar, 1999). Des
Weiteren ist der Kokainkonsum in Deutschland nur schwach ausgeprägt. Beispielsweise berichten Kraus und Augustin (2001) Lebenszeitprävalenzen von 2,4% (Westdeutschland) bzw.
1,6% (Ostdeutschland). Im amerikanischen Sprachraum gibt es zumindest drei Studien zu
Unterschieden zwischen unbehandelten und behandelten Kokainkonsumenten, die im folgenden vorgestellt werden.
10.3.1 Studien
Chitwood und Morningstar (1985; vgl. Tabelle 10-2) verglichen 95 behandelte und 75 unbehandelte Kokainkonsumenten, die Kokain primär konsumierten. Die Behandelten befanden
sich seit kurzem in Behandlung. Unbehandelte wurden über das Schneeball-Verfahren ausgewählt. Beide Konsumentengruppen unterschieden sich weder nach Geschlecht, Ethnizität
(spanische, weiße und schwarze Probanden) noch im Hinblick auf den Status der Erwerbstätigkeit signifikant voneinander. Über ein strukturiertes Interview wurden Daten zu vier Bereichen erhoben: (1) Das Ausmaß des Kokainkonsums wurde über Informationen zur Applikationsart, Häufigkeit und Quantität des Kokainkonsums erfasst und auf drei Kategorien (gering,
mittel, stark) reduziert. (2) Konsequenzen des Kokainkonsums bezogen sich auf die vier Aspekte Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung oder Trennung, Langzeit-Depression und Kokain-Überdosierungen. (3) Das soziale Unterstützungssystem wurde durch die Anzahl der
Monate in Arbeitslosigkeit, den Familienstatus und die Anzahl enger Freunde erfasst. (4)
Zum Bereich kriminelles Verhalten zählen die Art der Haupteinkommensquelle (Erwerbstätigkeit, Familie, staatliche Hilfen, illegale Aktivitäten) und die Anzahl der Verhaftungen. Bei
178
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
unbehandelten Kokainkonsumenten bezogen sich die Fragen auf die Zeitspanne vor dem
Interview, bei behandelten auf die Zeitspanne vor Behandlungsbeginn.
Carroll und Rounsaville (1992; vgl. Tabelle 10-2) verglichen 89 behandelte und 89 unbehandelte Kokainkonsumenten miteinander, die alle nach den Research Diagnostic Criteria (RDC;
Spitzer, Endicott & Robins, 1978) eine Kokainabhängigkeit und nach den DSM-III-R-Kriterien
(American Psychiatric Association, 1987) zu 99,5% eine aktuelle Diagnose für Kokainmissbrauch oder -abhängigkeit aufwiesen. In die Stichprobe wurden nur Personen eingeschlossen, die mindestens 18 Jahre alt und nicht heroinabhängig waren. Nachdem die unbehandelten Personen nach Alter, Geschlecht, Ethnizität und Ausbildungsjahren mit den Behandelten
gematcht wurden, bestand jede Substichprobe vorwiegend aus Männern (66,3%), aus
Schwarzen (84,3%), jungen Erwachsenen (Mittleres Alter: 29 Jahre) und Personen mit Highschool-Abschluss (Mittlere Ausbildungszeit: 12 Jahre). In der Behandeltenstichprobe nahmen 71% an einer ambulanten und 29% an einer stationären Behandlung teil. Informationen
zu Substanzgebrauch, psychosozialen Funktionen und psychiatrischen Symptomen wurden
über den Addiction Severity Index (ASI; McLellan et al., 1980), das Beck Depression Inventory (BDI; Beck et al., 1961) und die Social Adjustment Scale (Weissman & Bothwell, 1976)
erhoben. Der Verlauf des Kokainkonsums, der aktuelle Kokainkonsum und Craving wurden
über Selbstbeurteilungsfragebögen erfasst. Diagnoserelevante Informationen wurden mittels
der Schedule for Affective Disorders and Schizophrenia-Lifetime Version (Endicott & Spitzer,
1978) gesammelt und anhand der Research Diagnostic Criteria (RDC; Spitzer, Endicott &
Robins, 1978) ausgewertet, um aktuelle und Lebenszeit-Diagnosen zu erstellen.
Das Ziel der Studie von Smith und Mitarbeiterinnen (1992; vgl. Tabelle 10-2) war der Vergleich von sich in Behandlung befindenden und unbehandelten Frauen aus ethnischen Minderheiten. Die unbehandelten Frauen nahmen zwischen Januar 1987 und Januar 1988 am
Georgia Addiction, Pregnancy, and Parenting Project teil (N = 45). Alle Frauen konsumierten
während ihrer Schwangerschaft Kokain und keine von ihnen suchte deswegen eine Behandlung auf. Die Interviews wurden während der Schwangerschaft oder in den ersten zwei Wochen nach der Entbindung durchgeführt. Die behandelten Frauen wurden in der gleichen
Zeitspanne in einer Tagesklinik in Atlanta behandelt (N = 50) und am Tag nach der Behandlungsaufnahme interviewt. Als Instrumente wurden der Addiction Severity Index (ASI;
McLellan et al., 1980) und die Symptom Checklist-90-R (SCL-90-R; Derogatis, 1977) eingesetzt. Beide Konsumentinnengruppen unterschieden sich in folgenden demographischen
Charakeristika: Unbehandelte Frauen wiesen eine etwas kürzere Ausbildungszeit auf (11
Jahre vs. 12 Jahre (Behandelte)), hatten etwas mehr Familienangehörige (2,2 vs. 1,0 (Behandelte)) und waren größtenteils Schwarze (91% vs. 54% (Behandelte)). Beide Gruppen
ähnelten sich in Alter, Einkommen und Familienstand.
Behandelte und unbehandelte Kokainkonsumenten
179
Tabelle 10-1: Vergleich von behandelten und unbehandelten Konsumenten, die Kokain und andere Substanzen konsumieren
Autoren
Robson & Bruce
Jahr
1997
Land
UK
Erhebungszeitraum -
1994
Hauptsächlich
konsumierte
Substanzen
Amphetamine, Kokain, Heroin
Probandinnen und Probanden
N
Behandelte
Art der Behandlung
201
verschiedene
(gender ratio F:M =
1:2,5)
Hausser, Kübler
& Dubois -Arber
1999
Schweiz
Juni 1994Juni 1995
Heroin und Kokain
238 (22% Frauen)
Unbehandelte
N
380
(gender ratio F:M = 1:2
verschiedene
512 (30% Frauen)
davon:
88,5% noch nie behandelt; bei 11,5%
lag die Behandlung mehr als 2 Jahre
zurück
Kuebler, Hausser
Gervasoni
(a)
(b)
(c)
(d)
(e)
2000
Schweiz
Juni 1994Juni 1995
Heroin und Kokain
(a) 48
(b) 53
(c) 166
verschiedene
(e) 95
(d) 443
Heroin- und/oder Kokainkonsumenten mit Opiat- bzw. Kokainkonsum kürzer als fünf Jahre und aktuell oder jemals in Behandlung.
Heroin- und/oder Kokainkonsumenten mit Opiat- bzw. Kokainkonsum länger als fünf Jahre, die jemals, aber nicht aktuell in Behandlung waren.
Heroin- und/oder Kokainkonsumenten mit Opiat- bzw. Kokainkonsum länger als fünf Jahre, die zum Zeitpunkt des Interviews in Behandlung waren.
Heroin- und/oder Kokainkonsumenten mit Opiat- bzw. Kokainkonsum kürzer als fünf Jahre ohne Behandlung.
Heroin- und/oder Kokainkonsumenten mit Opiat- bzw. Kokainkonsum länger als fünf Jahre ohne Behandlung.
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
180
Tabelle 10-2: Vergleich von behandelten und unbehandelten Kokainkonsumenten
Autoren
Jahr
Land
Erhebungszeitraum -
Probandinnen und Probanden
N
Chitwood &
1985
Florida (USA)
Morningstar
Carroll & Rounsaville
1992
Connecticut
(USA)
Behandelte
Art der Behandlung
April 1980 -
95
Juni 1981
(48% Frauen)
?
89
(34% Frauen)
?
Unbehandelte
N
Auswahl
75
Schneeball-verfahren
(44% Frauen)
ambulant
(N = 63); stationär
89
(34% Frauen)
(N = 26)
Smith et al.
1992
Georgia (USA) Januar 1987 Januar 1988
50
(100% Frauen)
Tagesbehandlung
Schneeball-verfahren;
Matching an BehandeltenStichprobe
45
(100% schwangere oder
Teilnahme am Georgia
Addiction, Pregnancy, and
post partum Frauen)
Parenting Project
Behandelte und unbehandelte Kokainkonsumenten
181
10.3.2 Ergebnisse
Substanzkonsum
Alle drei Studien erbrachten unterschiedliche Ergebnisse zum Ausmaß des Kokainkonsums.
In der Studie von Chitwood und Morningstar (1985) wurde das Ausmaß des Kokainkonsums
stark durch den Behandlungsstatus beeinflusst. Während nur wenige Behandelte einen geringen Konsum (9%) und die meisten einen mittleren oder hohen Kokainkonsum (45 bzw.
46%) aufwiesen, konsumierte der Großteil der Unbehandelten Kokain in geringem Ausmaß
(72%). Nur wenige unbehandelte Personen hatten einen mittleren (25%) oder hohen (3%)
Kokainkonsum. Dagegen unterschieden sich in der Untersuchung von Carroll und Rounsaville (1992) beide Substichproben nicht signifikant in ihrem Kokainkonsum (Anzahl der Tage im
letzten Monat, an denen Kokain konsumiert wurde, Menge des aufgebrachten Geldes für
Kokain im letzten Monat, Anzahl der Monate regulären Kokainkonsums, Alter bei Beginn des
Kokainmissbrauchs, längste Zeitspanne der freiwilligen Abstinenz, Anzahl der berichteten
Kokainbinges). Auch Smith und Mitarbeiterinnen (1992) fanden keine Unterschiede zwischen
den Konsumentinnengruppen in ihrem Kokainkonsum bezogen auf die letzten 30 Tagen und
die Lebenszeit.
Inkonsistente Ergebnisse ergaben sich ebenfalls für den Konsum anderer Substanzen. Während in der Studie von Carroll und Rounsaville (1992) die unbehandelten Probanden an mehr
Tagen im letzten Monat Alkohol oder Cannabis zu sich nahmen und einen höheren polyvalenten Substanzkonsum als Personen in Behandlung betrieben, fand die Arbeitsgruppe um
Smith (1992), dass Frauen in Behandlung einen stärkeren Konsum anderer Substanzen
aufwiesen: Die Lebenszeitprävalenzen für den Konsum von Barbituraten, Amphetaminen,
Halluzinogenen und einen multiplen Substanzgebrauch waren bei behandelten Frauen höher. In den letzten 30 Tagen konsumierten sie signifikant öfter als Frauen, die keine Therapie
aufgesucht hatten, Alkohol sowie Cannabis, und sie hatten einen höheren polyvalenten Drogenkonsum. Bei Frauen mit Behandlung war Kokain im Gegensatz zu den Unbehandelten
wesentlich seltener die Hauptdroge (25% vs. 64%).
Konsequenzen des Kokainkonsums
Personen in Behandlung berichteten mehr negative Folgen als Unbehandelte. In der Untersuchung von Chitwood und Mornigstar (1985) verloren behandlungssuchende Personen
häufiger ihren Arbeitsplatz, waren öfter geschieden/getrennt, depressiv und konsumierten
Kokain häufiger in Überdosierungen. Carroll und Rounsaville (1992) und Smith und Mitarbeitinnen (1992) fanden, dass Behandelte einen schlechteren psychosozialen Funktionsstatus
in familiären, sozialen und psychologischen Bereichen aufwiesen. Die Arbeitsgruppe um
Smith (1992) fand des Weiteren, dass Frauen in Behandlung in medizinischen, drogen- und
alkoholbezogenen Bereichen schlechter als unbehandelte Frauen abschnitten.
182
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Psychische Auffälligkeiten und Komorbidität
Unter psychischen Symptomen litten behandelte Personen öfter als unbehandelte. Behandelte berichteten mehr depressive und Angstsymptome (Carroll & Rounsaville, 1992; Smith
et al., 1992) sowie phobische Symptome, und sie hatten mehr Suizidgedanken und erhielten
häufiger psychiatrische Medikationen (Smith et al., 1992). Dagegen war die Rate von Suizidversuchen bei unhandelten Frauen wesentlich höher als bei Frauen in Behandlung (38% vs.
14%; Smith et al., 1992). In der psychiatrischen Komorbidität unterschieden sich beide Substichproben von Carroll und Rounsaville (1992) kaum. Es zeigte sich nur, dass Personen in
Behandlung signifikant öfter an einer Major Depression (7%) und an der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS; 34%) als unbehandelte Konsumenten (Major Depression: 1%; ADHS: 20%) erkrankt waren.
Soziale Unterstützung
Für das soziale Unterstützungssystem und das soziale Netzwerk sind die Ergebnisse widersprüchlich. Chitwood und Morningstar (1985) fanden keine Unterschiede im Familienstatus
bei beiden Konsumentengruppen, während die unbehandelten Probandinnen und Probanden bei Carroll und Rounsaville (1992) seltener verheiratet waren oder in einer festen Beziehung lebten. In der Studie von Chitwood und Morningstar (1985) hatten Behandelte weniger
enge Freunde und waren in den letzten zwei Jahren vor Therapiebeginn signifikant länger
arbeitslos als Unbehandelte in demselben Zeitraum. Dagegen fanden Carroll und Rounsaville (1992), dass Unbehandelte in weniger soziale Rollen eingebunden waren (seltener verheiratet oder in fester Beziehung, seltener voll erwerbstätig, seltener in höheren Berufsgruppen
tätig und öfter religionslos). Die Autorinnen schließen daraus im Gegensatz zu Chitwood und
Morningstar (1985), dass Personen, die eine Behandlung aufgesucht hatten, stärker in ein
soziales Umfeld eingebunden sind. Da in der Studie von Carroll und Rounsaville (1992) behandelte Personen mehr interpersonelle Probleme im Zusammenhang mit ihrem Kokainkonsum berichteten (Probleme mit Familienmitgliedern, Freunden oder Arbeitskolleginnen und kollegen), vermuten die Autorinnen, dass sich Behandelte wegen des größeren sozialen
Drucks in Behandlung begaben.
Deviantes Verhalten
Auch in Bezug auf deviante Verhaltensweisen sind die Studien inkonsistent. In einer Studie
finanzierten die Behandelten im Gegensatz zu den Unbehandelten ihren Lebensunterhalt vor
allem über illegale Aktivitäten (Chitwood & Morningstar, 1985). In einer anderen Studie gingen unbehandelte Personen an mehr Tagen im letzten Monat illegalen Aktivitäten nach (Carroll & Rounsaville, 1992). In der Studie von Smith und Mitarbeiterinnen (1992) fanden sich
keine Unterschiede im Ausmaß illegaler Aktivitäten bei beiden Konsumentinnengruppen.
Ebenso uneindeutig wirkte sich der Behandlungsstatus auf die Anzahl der Verhaftungen aus:
Während in der Untersuchung von Chitwood und Morningstar (1985) die Mehrheit der Unbehandelten noch nie verhaftet wurde (56%; Behandelte: 15%), und der Großteil der Behandelten bereits drei- oder mehrmals in Haft (48%; Unbehandelte: 12%) war, fanden Carroll und
Behandelte und unbehandelte Kokainkonsumenten
183
Rounsaville (1992), dass unbehandelte Personen signifikant mehr Monate in Haft verbrachten als Personen in Behandlung.
Einsatz von Selbstkontrollstrategien
Carroll und Rounsaville (1992) stellten fest, dass unbehandelte Personen seltener als Personen in Behandlung Strategien der Selbstkontrolle anwandten. Behandelte gaben signifikant öfter als Unbehandelte an, sich von drogenkonsumierenden Freunden fernzuhalten,
andere um Hilfe beim kontrollierten Konsum zu bitten und professionelle Hilfe oder Selbsthilfegruppen aufzusuchen.
Lebenszufriedenheit
Die Lebenszufriedenheit im allgemeinen sowie die Zufriedenheit mit der Wohn- und Familiensituation im speziellen war bei unbehandelten Frauen höher als bei Frauen in Behandlung
(Smith et al., 1992).
Unterschiede zwischen behandelten und unbehandelten Kokainkonsumenten bei Konstanthaltung des Kokainkonsums
Chitwood und Morningstar (1985) untersuchten, in welchem Ausmaß sich Behandelte und
Unbehandelte unabhängig von der Stärke des Kokainkonsums in den Bereichen Konsequenzen des Konsums, soziale Unterstützung und deviantes Verhalten unterscheiden. Dazu
wurden nur Personen mit mittlerem Kokainkonsum (N = 63) untersucht. Der Behandlungsstatus hatte keinen Einfluss auf drei Aspekte der Konsumkonsequenzen (jemals Verlust des
Arbeitsplatzes, Langzeit-Depression und Kokain-Überdosierung) und den Familienstatus.
Unterschiede lagen in den folgenden Bereichen vor: Unbehandelte waren seltener geschieden oder von dem Partner/der Partnerin getrennt und kürze Zeit arbeitslos, besaßen mehr
enge Freunde, hatten weniger illegale Haupteinkommensquellen und wurden seltener verhaftet.
Gründe für das Nichtaufsuchen einer Behandlung
Um das differentielle Hilfesuchverhalten zu untersuchen, fragten Carroll und Rounsaville
(1992) die unbehandelten Konsumenten nach Gründen für das Nichtaufsuchen einer Therapie. Die Mehrheit (56%) gab an, dass sie ihren Kokainkonsum für kontrolliert hielten. 34%
genossen den Konsum von Kokain und wollten ihn nicht beenden. Mangelndes Wissen darüber, wie man Hilfe bekommt, nannten 20% der unbehandelten Konsumenten. 27% kamen
nicht dazu, eine Therapie aufzusuchen.
Ähnliche Ergebnisse erbrachte die Studie von Hausser und Kollegen (1999). Unbehandelte
Konsumenten (N = 276), die hauptsächlich Kokain konsumierten, gaben als Hauptgründe für
das Nichtaufsuchen einer Therapie an, dass sie bei guter Gesundheit sind (80,6%) und kein
Bedürfnis nach einer Behandlung verspüren (16,7%). Seltener genannte Gründe waren: die
Behandlung entspricht nicht dem, was erwartet wird (7,2%), Angst vor einer Registrierung
(1,1%), fehlendes Wissen über Hilfe (1,5%). Ein sehr geringer Teil traute sich nicht, ihren
Arzt zu fragen (0,4%).
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
184
Carroll und Rounsaville (1992) wollten von den unbehandelten Konsumenten des Weiteren
wissen, was eine Klinik attraktiv machen würde. Es gaben 49% an, keine Notwendigkeit für
eine Therapie zu sehen. 42% wollten, dass die Klinik mehr Informationen für potentielle Patientinnen und Patienten bereithalte. 35% wünschten sich, dass es keine Warteliste gäbe.
Weniger als 20% nannten folgende Gründe: pharmakologische Behandlung, Behandlung in
den Abendstunden, gestaffelte Gebühren und Wahrung der Anonymität.
Die Substichprobe der unbehandelten Kokainkonsumenten von Carroll und Rounsaville
(1992) wurde unterteilt in die Personen, die kein Bedürfnis für eine Behandlung angaben (N
= 39) und solche, die eines hatten (N = 33). Erneut nach Gründen für das Nichtaufsuchen
einer Therapie gefragt, ergaben sich folgende Unterschiede zwischen beiden Gruppen. Diejenigen, die die Notwendigkeit einer Behandlung verspürten, gaben signifikant häufiger an,
nicht zu wissen, wo man Hilfe bekommt, dass sie sich eine Behandlung nicht leisten oder
nicht dazu kamen, eine Behandlung aufzusuchen. Im Vergleich zu den Personen ohne Therapiebedürfnis nahmen die unbehandelten Konsumenten mit diesem Bedürfnis länger Kokain
(4,0 Jahre vs. 2,4 Jahre).
10.4
Schlussfolgerung
Unterschiede zwischen unbehandelten und behandelten Drogenkonsumenten wurden bislang nur in geringem Umfang untersucht. In noch geringerem Umfang beziehen sich die
durchgeführten empirischen Studien auf Kokainkonsumenten. Die Studien zu Kokain-, Heroin- und/oder Amphetaminkonsumenten zeigen, dass sich beide Konsumentengruppen systematisch voneinander unterscheiden, und dass diese Unterschiede größtenteils nicht auf
die Länge des Drogenkonsums zurückgeführt werden können.
Die Ergebnisse der wenigen vorliegenden Studien dazu sind überwiegend widersprüchlich.
Aus den drei berichteten Untersuchungen (Carroll & Rounsaville, 1992; Chitwood & Morningstar, 1985; Smith et al., 1992) können keine eindeutigen Schlussfolgerungen gezogen
werden, wie sich behandelte oder unbehandelte Kokainkonsumenten in ihrem Kokainkonsum, im Konsum anderer Substanzen, in ihren sozialen Netzwerken oder im devianten Verhalten unterscheiden. Eindeutiger sind die Ergebnisse zu den Konsequenzen des Kokainkonsums, die bei Personen in Behandlung schwerwiegender als bei Unbehandelten waren.
Möglicherweise könnten auch Faktoren wie eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Konsequenzen oder Rationalisierungsprozesse (z. B. ”Wenn ich eine Behandlung aufsuche, muss
mein Kokainkonsum aus den Bahnen geraten sein.”) in der Gruppe der Behandlungssuchenden dazu beigetragen haben, dass sie verstärkt negative Folgen ihres Kokainkonsums
berichteten (Carroll & Rounsaville, 1992). Eindeutig waren auch die Ergebnisse zu psychischen Symptomen, unter denen behandelte Kokainkonsumenten stärker litten als unbehandelte.
Behandelte und unbehandelte Kokainkonsumenten
185
Gründe für die widersprüchlichen Ergebnisse könnten zum einen in der eingeschränkten
Vergleichbarkeit der Studien liegen. Während Carroll und Rounsaville (1992) und Smith und
Mitarbeiterinnen (1992) Personen in einer Kokainbehandlung mit solchen ohne diese Behandlung verglichen, bezog sich der Vergleich von Chitwood und Morningstar (1985) auf
Charakteristika von unbehandelten und behandelten Kokainkonsumenten vor Beginn der
Therapie. Des Weiteren ist fraglich, ob Ergebnisse, die an Frauen und Männer gewonnen
wurden, mit denen einer reinen Frauenstichprobe vergleichbar sind.
Zum anderen könnten Studienmängel die inkonsistenten Ergebnisse bedingen. Das
”Schneeball”-Verfahren für die Stichprobenziehung der Unbehandelten in den Studien von
Chitwood und Morningstar (1985) und Carroll und Rounsaville (1992) erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass keine repräsentative Stichprobe gezogen wurde und erlaubt damit nicht die
Generalisierung der Ergebnisse auf die Gruppe der unbehandelten Kokainkonsumenten.
Durch das Matchen der Substichprobe der Unbehandelten an die Personen in Behandlung in
der Studie von Carroll und Rounsaville (1992) kann die Substichprobe der Unbehandelten
noch weitere Einbußen in ihrer Repräsentativität erfahren haben. Auch die Repräsentativität
der Stichprobe der unbehandelten Frauen in der Studie der Arbeitsgruppe um Smith (1992)
ist unklar. Es handelt sich um Frauen, die an einem Interventionsprojekt für schwangere und
post partum Frauen teilnahmen. Sie könnten sich von Frauen in der gleichen Lebenslage
unterscheiden, die nicht an solchen Programmen teilnahmen (Smith et al., 1992). Darüber
hinaus verglichen Smith und Mitarbeiterinnen (1992) nicht nur zwei verschiedene Konsumentinnengruppen (mit vs. ohne Behandlung), sondern auch zwei in ihren Lebensumständen
völlig verschiedene Personengruppen, nämlich schwangere und post partum Frauen mit
Frauen in Drogenbehandlung. Damit muss unklar bleiben, welche der berichteten Unterschiede auf andere, nicht im Zusammenhang mit dem Aufsuchen einer Behandlung wegen
des Kokainkonsums stehende, Unterschiede zwischen beiden Gruppen zurückgehen. Des
Weiteren ist in dieser Stichprobe der Anteil schwarzer Frauen enorm hoch. Obwohl die Unterschiede zwischen schwarzen behandelten und unbehandelten Frauen denen der Gesamtstichprobe entsprachen, unterschieden sich schwarze behandelte von weißen behandelten
Frauen: Weiße Behandelte hatten neben einem höheren monatlichen Einkommen höhere
Lebenszeitprävalenzen für Barbiturate, Sedativa, Amphetamine, Halluzinogene und einen
multiplen Substanzkonsum als schwarze Frauen in Behandlung. Für weniger als 10% der
weißen Frauen war Kokain die Hauptdroge im Gegensatz zu 37% der schwarzen Frauen.
In keiner der drei Studien wurde die Länge des Drogenkonsums einbezogen. Chitwood und
Morningstar (1985) berücksichtigten weder das Alter noch die Länge des Drogenkonsums. In
der Untersuchung von Smith und Mitarbeiterinnen sind die unbehandelten Kokainkonsumenten durchschnittlich zwei Jahre jünger als die behandelten, obwohl diese Unterschiede statistisch nicht signifikant waren. Allerdings sagt das biologische Alter noch nichts über die Länge
des Drogenkonsums aus. Um auszuschließen, dass sich Unbehandelte in einer früheren
Phase des Drogenkonsums befinden und deswegen noch keine substanzbezogene Störungen oder negative Konsequenzen entwickelt haben, verfolgten Carroll und Rounsaville
(1992) zwei Strategien. Zum einen matchten sie beide Stichproben nach dem Alter. Zum
186
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
anderen untersuchten sie nur Personen mit einer Kokainabhängigkeit. Dagegen lagen für die
Probandinnen und Probanden in den anderen beiden Studien (Chitwood & Morningstar,
1985; Smith et al., 1992) keine nach standardisierten Kriterien ermittelten substanzbezogenen Diagnosen vor. Deswegen ist unklar, ob die Unterschiedlichkeit beider Konsumentengruppen auf ihren Behandlungsstatus oder auf andere Faktoren zurückgeht. Dass ein Einfluss des Diagnosestatus und der Stärke des Kokainkonsums auf die Unterschiedlichkeit
beider Konsumentengruppen wahrscheinlich ist, zeigt die Studie von Chitwood und Morningstar (1985). Sie stellten eine bessere Vergleichbarkeit beider Konsumentengruppen her,
indem sie beide Gruppen bei konstantgehaltenem Konsum miteinander verglichen. Die Stärke des Kokainkonsums wirkte sich auf die Unterschiedlichkeit beider Konsumentengruppen
aus: Bei Konstanthaltung des Kokainkonsums reduzierte sich die Anzahl der unterschiedlichen Aspekte von acht auf fünf, obwohl die Richtung der Unterschiede die gleiche blieb.
Nicht nur die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse, sondern auch zwei weitere Faktoren erschweren die Übertragung der Ergebnisse in unseren Kulturkreis. Zum einen stammen die
vorliegenden Ergebnisse aus dem amerikanischen Sprach- und Kulturraum. Zum anderen
wurden die Studien 1985 bzw. 1992 veröffentlicht. Verschiebungen in den Unterschieden
zwischen behandelten und unbehandelten Kokainkonsumenten in der Zwischenzeit sind
nicht auszuschließen. Damit bleibt unklar, inwiefern sich deutsche Kokainkonsumenten mit
bzw. ohne Behandlung voneinander unterscheiden.
Behandelte und unbehandelte Kokainkonsumenten
10.5
187
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Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
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189
11 Prävention
Boris Orth
11.1
Einleitung
Prävention von Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen sowie der daraus resultierenden negativen psychischen und physischen Konsequenzen ist vor allem seit den
70er Jahren des letzten Jahrhunderts in den Industriestaaten der westlichen Welt gesundheitspolitisch zunehmend gefordert und umgesetzt worden. Die in der Mitte der 1960er Jahre
beginnende und ansteigende Verbreitung des Konsums illegaler Drogen führte in den USA
zu politischen und gesellschaftlichen Reaktionen, staatlich initiierter wissenschaftlicher Forschung und gesundheitspolitischen Maßnahmen. Seit 1971 hat der Präsident der Vereinigten
Staaten einen drug abuse advisor, 1974 wurde das National Institute on Drug Abuse (NIDA)
gegründet, zu dessen Aufgaben epidemiologische Forschung zur Verbreitung der Drogenproblematik sowie Präventionsforschung zählen (Kozel, 1993). Beide Forschungsfelder stehen in engem inhaltlichen Zusammenhang, denn für die Planung von Prävention und Intervention müssen die Verbreitung, Ätiologie und Charakteristik des Gebrauchs bzw. Missbrauchs bekannt sein. Hauptfelder der Präventionsforschung und -maßnahmen sind u.a.
umfassende Präventionsstrategien über viele soziale Systeme, Prävention und Intervention
in Schulen, die Beschäftigung mit Drogenmissbrauch bei Minderheiten sowie Evaluation und
Theoriebildung (Kozel, 1993).
Hurrelmann (2000) fordert als Ziel präventiver Arbeit eine „adressatengerechte, lebensphasen- und entwicklungsphasenspezifische Vorbeugung“ und formuliert eine vierstufige Zielhierarchie: (1) die Unterstützung des Verhaltens, keine psychoaktiven Substanzen zu nutzen
(Primärprävention), (2) Verschiebung des Eintritts auf ein höheres Lebensalter, (3) bei gewohnheitsmäßigem Konsum auf weniger gesundheitsschädigende Konsummuster hinzuwirken (Sekundärprävention) und (4) Durchführung von Therapie zur Verhinderung der Progression von leichten zu schweren Stadien (Tertiärprävention).
Andere Autoren bevorzugen zur besseren Abgrenzung von Therapie und Rehabilitation mittlerweile eine Unterteilung, die vor der Manifestation einer Erkrankung einsetzt, und klassifizieren in (1) universelle präventive Intervention, durch die positive Aspekte in der gesamten
interessierenden Population gefördert werden sollen, (2) selektive präventive Maßnahmen,
die auf noch unbelastete Gruppen mit erhöhtem Risiko zielen, und (3) indizierte präventive
Maßnahmen, die bei schon betroffenen – also Substanzen konsumierenden – Personen der
Entwicklung einer Störung vorbeugen sollen (Mrazek & Haggerty, 1994). Des weiteren lässt
sich Verhaltens- und Verhältnisprävention unterscheiden. Erstere setzt auf individueller Ebene am Verhalten an, letztere bezieht sich auf Veränderungen der Umwelt wie Steuererhöhungen, Werbeverbote oder Warnhinweise (Hanewinkel & Wiborg, 2003).
190
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Harm Reduction lässt sich als Versuch definieren, negative gesundheitliche, soziale, rechtliche und ökonomische Folgen des Substanzgebrauchs zu verbessern. Diesem Ansatz liegt
der Gedanke zugrunde, dass es realistischer sein kann, Drogenmissbrauch zu managen als
ihn zu stoppen. Konkrete Maßnahmen und Stichworte sind etwa Legalisierung, Entkriminalisierung, Reduktion des Strafmaßes, Ausgabe von Einwegspritzen, Aufklärung über HIV und
sexuell übertragbare Krankheiten, Desinfektion des Spritzbestecks, Ausgabe von Kondomen, Methadonsubstitution, individuelle Beratung u. a. (Inciardi & Surratt, 2001). Diese
Schritte lassen sich am besten dem Bereich der Sekundärprävention zuordnen. Sie betreffen
Personen, die schon eine substanzbezogene Störung aufweisen, lassen sich somit der Klassifikation von Mrazek und Haggerty (1994) nicht zuordnen und sind außerdem von substanzspezifischer Therapie mit dem Ziel der Abstinenz abzugrenzen (vgl. Kapitel 8).
Neben individuellen Schäden durch Substanzgebrauch spielen auch negative Folgen auf
gesellschaftlicher Ebene eine Rolle. Es ist erwünscht, Alkohol und Drogen im Straßenverkehr zu minimieren sowie Unfälle, Fehlzeiten, Fehler und damit verbundene Kosten durch
die Substanzwirkung am Arbeitsplatz zu reduzieren. Missbrauch verursacht Kosten im Gesundheitssystem (Bergmann & Horch, 2002). Es werden Kampagnen gegen Trunkenheit am
Steuer durchgeführt sowie Alkohol- und Drogenprävention in Firmen betrieben.
Die verschiedenen implementierten Maßnahmen zur Drogenprävention folgen vor dem Hintergrund der bereitgestellten Ressourcen, politischer Diskussion und Willensbildung sowie
aktuell fokusierten Problemschwerpunkten unterschiedlichen Strategien und Zielen. Methode
und Zielgruppe variieren in Abhängigkeit der angesprochenen konsumierten Substanzen und
der Art der negativen Konsequenzen, denen vorgebeugt werden soll. So haben Kampagnen
wie „Keine Macht den Drogen“ in Deutschland oder „Just Say No“ in den Vereinigten Staaten
als Zielgruppe Kinder und Jugendliche. Der Zugang zu ihnen erfolgt vor allem über Massenmedien, Kampagnen und Aktionen. Das hauptsächliche Ziel – im Sinne der Primärprävention
– ist, den Konsum psychoaktiver Substanzen zu verhindern. Auch in vielen schulbasierten
Präventionsprogrammen soll dem Konsum aller psychoaktiven Substanzen vorgebeugt werden, thematisiert wird u. U. schon der Konsum von Medikamenten, der Konsum von Nikotin
und Alkohol sowie Cannabisprodukten und weiterer illegaler Drogen. Die hier verwendeten
Methoden reichen von der schon seit längerem als weniger effektiv betrachteten einfachen
Informationsvermittlung über Drogenwirkungen und -gefahren (information-based prevention)
bis hin zum substanzunspezifischen Training allgemeiner Bewältigungsfertigkeiten (life skills
training) (Okwumabua, 1990; Petosa, 1992). Moderne schulpräventive Maßnahmen setzen
verstärkt an dieser Förderung allgemeiner Lebenskompetenzen und -fertigkeiten an und versuchen somit den Einstieg in den Substanzmissbrauch zu verhindern (Maiwald & Reese,
2000). Ein substanzspezifisches Beispiel, das dem Bereich der Sekundärprävention zuzurechnen ist, sich also an schon konsumierende Adressaten wendet, sind Aufklärungsmaßnahmen in Deutschland, die in den 1990er Jahren Ecstasy-Konsumenten in der TechnoSzene für die Gefahren durch Dehydrierung (Kovar, 1998) sensibilisieren sollten.
Prävention
191
Die Zugangswege zu den Zielgruppen variieren in Abhängigkeit der gegebenen soziokulturellen Charakteristiken der Adressaten. Zu den in großen, massenwirksamen Kampagnen
verwendeten Strategien und Methoden zählen Aufklärung und Information der Zielgruppen
über verschiedene Medien (Plakataktionen, Informationsbroschüren, Werbespots und Informationsbeiträge in Massenmedien). Entscheidend hierbei ist, dass die Zielgruppe groß sein
muss, um den erheblichen konzeptuellen, organisatorischen und finanziellen Aufwand zu
rechtfertigen. Die Ansätze sind eher breiter und das Problemverhalten unspezifischer. Bei
kleinen Zielgruppen mit sehr spezifischem Problemverhalten wie etwa das gemeinsame Nutzen von Spritzbesteck in der Szene der Heroinabhängigen werden andere Wege gegangen.
Hier wird es als effektiver betrachtet, nahe an den Betroffenen zu arbeiten und sie im Kontext
des Drogenhilfesystems direkt anzusprechen und zu unterstützen (community based prevention) (z. B. Inciardi, 2001).
11.2
Kokain und Drogenprävention
Die Durchführung von Präventionsmaßnahmen mit Blick auf eine spezifische Substanz ist
eng an die Verbreitung und die Konsummuster geknüpft. Der Gebrauch von Kokain ist in
Deutschland und Europa weit weniger verbreitet als etwa in den Vereinigten Staaten. So
betragen aktuelle Schätzungen für die Lebenszeitprävalenz in Deutschland maximal 3% gegenüber maximal 14% in den USA (vgl. Kapitel 2). Diese Substanz wird dort in einigen
schulbasierenden Programmen zur Primärprävention explizit thematisiert (Shope et al.,
1996, 1998). Da schulbasierende Prävention mittlerweile konzeptionell verstärkt auf die
Vermittlung globaler Lebenskompetenzen und -fertigkeiten abzielt, treten substanzspezifische Aspekte zunehmend in den Hintergrund. Das Prinzip ist, durch die Stärkung von
Schutzfaktoren dem Einstieg in den Substanzgebrauch im allgemeinen entgegenzuwirken
(Franzkowlak & Schlömer, 2003).
Innerhalb informationsvermittelnder Programme mit der Zielgruppe Kinder und Jugendliche
ist der Kokainkonsum ein Thema unter vielen. In Broschüren wird erläutert, was Kokain ist,
wie es wirkt und welche Gefahren der Konsum mit sich bringen kann. Informationen dieser
Art werden gleichermaßen zu anderen Substanzen wie Nikotin, Alkohol, Cannabis, Ecstasy
oder Heroin gegeben. Daneben finden sich allgemeine Aspekte dazu, was Sucht ist oder wie
sie entsteht (vgl. Informationsmaterial der DHS).
Eine Einordnung des Themas Kokain in die Präventions-Klassifikation von Mrazek und Haggerty (1994) bleibt unscharf. Universelle präventive Interventionen zielen wie die Primärprävention insbesondere auf allgemeine Lebensfertigkeiten und sind somit nicht substanzspezifisch. Selektive präventive Maßnahmen lassen sich besser in den Bereich der Drogen- als
der Kokainprävention einordnen. Hier sind Maßnahmen der Intervention im frühen Lebensalter bei Kindern aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil Substanzen missbraucht, zu
nennen (Aktan, Kumpfer & Turner, 1996). Kinder aus solchen Familien werden als Risikogruppe für späteren Substanzgebrauch gesehen. Trainingsmaßnahmen beziehen sich auf
die Eltern, die Fertigkeiten der Kinder sowie die Familie insgesamt. Die Effektivität der Maß-
192
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
nahme wird anhand von Verbesserungen der elterlichen Kompetenzen und Verhaltens (z.B.
mehr Zeit mit dem Kind) oder der Reduktion psychisch auffälligen Verhaltens der Kinder beurteilt und ist somit vom Thema des zukünftigen Drogengebrauchs der Kinder noch weit entfernt.
Aufgrund des üblichen polyvalenten Kokain- und Mischkonsums sowie unterschiedlicher
Gebrauchsmuster in verschiedenen Subkulturen kann nicht von dem „Kokainkonsumenten“
ausgegangen werden (vgl. Kapitel 3) und präventive Konzepte müssen sich mit Drogenkonsum im allgemeinen bzw. innerhalb der entsprechenden Szene im speziellen beschäftigen.
So argumentieren Irwin und Kollegen (1996), dass Personen, die Crack rauchen, andere
Substanzen wie geschnupftes Heroin konsumieren können, um das unangenehme Empfinden bei nachlassender Crackwirkung zu mildern. Wenn auf dem Schwarzmarkt kein Heroin,
das zum Schnupfen rein genug ist, zu bekommen ist, kann ein Übergang zum intravenösen
Heroinkonsum stattfinden, der z. B. das HIV-Risiko erhöht. Sie verglichen Personen, die vor
intravenöser Applikation Crack geraucht hatten, mit nicht injizierenden Crackrauchern. Sie
fanden bei intravenösen Konsumenten ein erhöhtes sexuelles Risikoverhalten, einen größeren Anteil von geschnupftem Heroin, einen exzessiveren und längeren Crackkonsum inklusive Mischkonsum mit anderen Substanzen. Die Autoren fordern deshalb besondere präventive Anstrengungen bei jungen Crackkonsumenten, um dem Übergang zu intravenösen Konsumformen vorzubeugen.
Kokainspezifische Sekundärprävention bzw. Ansätze zur Harm Reduction sind selten. Ein
Programm in Brasilien befasste sich mit der HIV-Prävention bei intravenösem Kokaingebrauch. Hier wurde über eine Szene berichtet, in der wegen der geringen Verfügbarkeit
von Heroin tatsächlich der i.v. Konsum von Kokain im Vordergrund stand (Dunn & Laranjeira,
2000). In den typischen Szenen der westlichen Industriestaaten, die den Schwerpunkt der
Forschungsbemühungen ausmachen, sind gesundheitliche und psychische Risiken aber
nicht allein kokainspezifisch sondern im komplexen Kontext des jeweiligen polyvalenten
Konsumgeschehens zu sehen (vgl. Kapitel 3). Maßnahmen im Sinne von Harm Reduction
fokussieren daher auf unterschiedliche Konsumentengruppen mit unterschiedlicher Gefährdungslage und der Konsum von Kokain selbst ist nicht der Schwerpunkt. Innerhalb der offenen Drogenszene bzw. bei Opiatkonsumenten, die auch Kokain konsumieren, greifen andere
Maßnahmen wie HIV-Prävention mit den Problemfeldern des intravenösen Konsums sowie
des sexuellen Risikoverhaltens. Im folgenden werden diesbezügliche Konzepte und Befunde
dargestellt. Tertiärprävention ist als Therapie von Personen mit kokainbezogenen Problemen
zu sehen. Für Konzepte und Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen sei hier auf Kapitel 8
verwiesen.
11.3
Kokain und Harm Reduction: Das Beispiel HIV-Prävention
Intravenöser (i.v.) Drogenkonsum birgt bei riskanter Durchführung erhebliche Risiken zur
Ansteckung mit dem HIV-Virus oder anderen Erregern und gefährdet somit die Drogenkonsumenten selbst als auch deren Partner und Kinder (Latkin et al., 1996). Gefährlich ist das
Prävention
193
gemeinsame Nutzen von Spritzen und Nadeln, die wiederholte Verwendung und mangelnde
oder fehlerhafte Desinfektion der Hilfsmittel. Weitere Risikofaktoren bzw. Prädiktoren einer
HIV-Übertragung sind die Verwendung von Spritzen aus unsicheren Bezugsquellen, häufige
und tägliche Injektionen, bei Heroinabhängigen die zusätzliche Injektion von Kokain oder
Speedball (Mischung von Heroin und Kokain), das Rauchen von Crack, das Laden einer
Spritze aus der Spritze eines anderen Drogenkonsumenten (frontloading: durch Abziehen
der Nadel, backloading: durch Abziehen des Kolbens, Vlahov, 1996), i.v. Konsum in Shooting Galleries (verborgene Szenetreffs, deren Nutzung auch Geld kosten kann (Klein & Levy,
2003), der Verkauf benutzter Spritzbestecke, die Injektion ohne Alkoholdesinfektion, das in
Osteuropa beobachtete Verkaufen von schon gefüllten Spritzen bzw. ein einzeln gekaufter
Schuß aus einer größeren Spritze. Ein weiterer Faktor kann die Furcht vor Strafverfolgung
sein, wegen der keine neuen Spritzen angeschafft werden. Bei jungen und unerfahrenen
Konsumenten spielt Injektion durch andere sowie mangelndes Wissen über die Risiken eine
Rolle (Coffin, 2000).
Präventionsmaßnahmen – im Sinne der Harm Reduction – zielen darauf, zur Vorbeugung
der Ansteckung mit HIV oder Hepatitis B (HBV) bzw. Hepatitis C (HCV) solche Risikoverhalten zu minimieren. Da der intravenöse Konsum von Kokain fast immer in Zusammenhang mit
intravenösem Opiatkonsum steht (vgl. Kapitel 7) und umgekehrt die Prävalenz des Kokaingebrauchs bei unbehandelten Opiatabhängigen etwa 30-80% beträgt (Leri, Bruneau & Stewart, 2003), wenden sich diese Programme nicht vorrangig an Kokainkonsumenten, sondern
an intravenös konsumierende Personen aus den Drogenszenen. Je nach den kulturellen
Besonderheiten stehen in verschiedenen Ländern dabei die Opiatkonsumenten im Vordergrund.
Der Bezug von Spritzen und Nadeln aus sicheren Quellen verringert das Risiko der HIVÜbertragung. Latkin und Forman (2001) befragten 741 i.v. Drogenkonsumenten in Baltimore
zur Beschaffung von Nadeln und Spritzen. 85% der Personen gaben an, Nadeln auf dem
Schwarzmarkt zu beziehen, 52% bei Freunden oder Nachbarn, 51% erhielten Spritzen durch
das lokale Nadelaustauschprogramm, 44% von Diabetikern und 26% der Befragten kauften
Spritzen in der Apotheke.
Coffin (2000) stellte in einem umfassenden Überblick zu Verfügbarkeit von Spritzen den aktuellen Wissensstand zu Programmen zum Spritzenaustausch bzw. -abgabe dar. Ziel von
Nadeln- bzw. Spritzenaustauschprogrammen ist es, dass intravenös konsumierende Drogenkonsumenten neue, sterile Spritzen benutzen und sichere Injektionstechniken praktizieren. In der Präventionsforschung stellt sich mittlerweile nicht mehr die Frage, ob sondern wie
Programme zum Spritzentausch durchgeführt werden sollen. Der Austausch von Spritzen
kann über verschiedene Modalitäten erfolgen, den klassischen Austauschprogrammen, Abgabe über Apotheken, Verschreibung durch Ärzte, Verkaufs- bzw. Spritzenautomaten. Des
weiteren können ganze Pakete mit allen nötigen Hilfsmitteln abgegeben werden (Filterstoffe,
Wasser, Alkoholtupfer, Kocher) oder in der Szene eine Massenverteilung durchgeführt werden (Coffin, 2000).
194
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Zielgruppen sind neben intravenösen Drogenkonsumenten im allgemeinen auch spezielle
Populationen wie Prostituierte, Strafgefangene und Straßenkinder. Coffin (2000) führt aus,
dass die Verfügbarkeit steriler Spritzen am besten über verschiedene Modalitäten und Ansprache spezieller Populationen von i.v. Drogenkonsumenten hergestellt werden sollte.
Spritzenaustauschprogramme erhöhen nicht den Gebrauch von Drogen, senken aber das
Risiko der HIV-Übertragung. Vorteile der Apothekenabgabe sind die gegenüber klassischen
Austauschprogrammen geringeren Kosten und der geringere Aufwand. Hauptbarriere sind
rechtliche Restriktionen sowie die Akzeptanz durch die Apotheker, die Anwesenheit von
Drogenabhängigen als geschäftsschädigend ansehen können. In einer Zufallsstichprobe
befragter Apotheker in England und Wales lag die Zustimmung dazu, in der HIV-Prävention
eine wichtige Rolle zu spielen, bei 80%. Allerdings meinten auch 45% der Apotheker, dass
die Anwesenheit von Drogenabhängigen ihrem Geschäft schaden könnte (Sheridan et al.,
1997). Nachteile gegenüber klassischen Spritzenaustauschprogrammen sind die Öffnungszeiten der Apotheken, die häufig nicht den Bedürfnissen der Drogenabhängigen entgegenkommen (Dunn & Laranjeira, 2000). Außerdem werden über Apotheken weniger Kontakte zu
Drogenhilfeeinrichtungen hergestellt, als dies in klassischen Austauschprogrammen der Fall
ist (Coffin, 2000).
Die Verteilung von Paketen senkt das Infektionsrisiko durch die gemeinsame Verwendung
von Kocher, Löffel und Wasser. Dass hier Übertragungswege möglich sind, ist noch zu häufig unbekannt. Die Massenverteilung von Spritzen muss den Markt sättigen, damit kein neuer
Schwarzmarkt entsteht (Coffin, 2000).
Das Risikoverhalten in einer Population reiner Kokainkonsumenten konnten Dunn und Laranjeira (2000) in Brasilien untersuchen. Der Median der Anzahl täglicher Injektionen lag in
ihrer Stichprobe bei fünfzehn. Die Nadel verstopft nach jeder vierten Nutzung und 80% der
Konsumenten verwendeten mehr als eine Spritze am Tag. 68% der intravenösen Konsumenten liehen sich Spritzen, 42% spritzten immer in Begleitung anderer, 73% teilen gewöhnlich
Spritzen, 71% reinigten die Spritze mit kaltem Leitungswasser und nur 3% desinfizierten sie
mit Bleichmittel, 78% teilten den verwendeten Löffel und 82% der Personen teilten das
Spülwasser. Dunn und Laranjeira fordern Programme zur kostenlosen Spritzenabgabe und
Kampagnen, die neben der Ansteckungsgefahr durch geteilte Spritzen auch auf die Risiken
gemeinsam genutzter Löffel und genutzten Spülwassers. Das von den Autoren dargestellte
riskante Verhalten innerhalb der reinen Kokainszene unterscheidet sich qualitativ nicht von
den problematischen Verhaltensweisen aus Opiatszenen. Es ist plausibel, die außerordentlich geringe Rate der Verwendung von Desinfektionsmitteln eher als regional und soziokulturell verursacht zu sehen und sie nicht durch den reinen Kokainkonsum zu erklären.
Das Risikoverhalten bei Opiatkonsumenten, die Kokain konsumieren, ist erhöht. Meandzija
und Kollegen (1994) nennen als Gründe die kürzere Halbwertzeit von intravenösem Kokain
und damit verbunden häufigere Injektionen, die Tendenz mehr Blut in die Spritze zu ziehen,
Prävention
195
das verbreitete Teilen von Injektionsgerätschaften und vermehrter Aufenthalt in Shooting
Galleries. Ihre Daten zeigen, dass Methadonprogramme bei intravenösen Opiat- und Kokainkonsumenten HIV-präventive Effekte hat.
Eine besondere Schwierigkeit bei der Umsetzung HIV-präventiver Maßnahmen in der intravenös konsumierenden Drogenszene ist die schwere Erreichbarkeit der Betroffenen. Der
Konsum von Kokain und Opiaten ist illegal, Ziel der Konsumenten ist es, im Verborgenen zu
bleiben (hidden population). Einen Zugang können lokale gemeindebasierte, szenespezifische Wege sein (community outreach). So überprüften etwa Cunningham-Williams et al.
(1999) die Effektivität der community health outreach worker (CHOW) in der Rekrutierung
intravenös konsumierender Drogenkonsumenten für HIV-Präventionsprogramme in drei Orten der US A. Diese outreach worker waren ehemalige Drogenkonsumenten, die sich regional auskannten und über die vorhandenen sozialen Netzwerke Kontakt zu unbehandelten,
aktuell intravenösen Konsumenten aufnahmen. In einem kurzen Gespräch wurden die Personen über die Ziele des Projekts informiert und anhand eines Kurzfragebogens zum Drogenkonsum befragt. Personen, die als zur Risikogruppe gehörig klassifiziert wurden, wurden
an ein lokales Drogenbüro weitervermittelt, wo detailliertere Daten erhoben wurden und der
Zugang zum eigentlichen Präventionsprogramm stattfand. Die Ergebnisse waren befriedigend, nachgehende Sozialarbeit ist insgesamt als Rekrutierungsmethode effektiv. Das nach
der Rekrutierung durchgeführte Programm beinhaltete als Standardintervention HIVBeratung und HIV-Testung mit einem zweiten Termin nach zwei Wochen zur Besprechung
des Testergebnisses und im Falle positiver Testung der Weiterleitung an andere Hilfsangebote. Die verschiedenen erweiterten Interventionen beinhalteten HIV/AIDS- und Drogenaufklärung, Stressmanagement sowie die Reduktion sexuellen Risikoverhaltens, des weiteren
Minimierung des individuellen Risikoverhaltens, Weitervermittlung zur Therapie, Problemlösungstechniken und Case-Management sowie schließlich eine Interventionsmaßnahme, die
auf Erziehung, Überzeugung und Motivation setzt (Cunningham-Williams et al., 1999).
Die Schwierigkeiten, die Betroffenen zu erreichen, wurden auch in einem von der NIDA geförderten Modellprojekt in Brasilien deutlich (Inciardi & Surratt, 2001). Die hier angesprochene Population waren i.v. Kokainkonsumenten in verschiedenen Städten Brasiliens. Um die
Erreichbarkeit der Zielgruppe in den favelas (Armenviertel) sicherzustellen, war die Zusammenarbeit mit lokalen outreach workers und die Abstimmung mit lokalen Führungspersonen
notwendig, da diese Viertel geschlossene Gemeinschaften darstellen, die sich nach außen
abgrenzen. Harm Reduction-Maßnahmen in Brasilien bestand in den 1990er Jahren u.a. aus
Nadel/Spritzenaustausch, Desinfektion des Spritzbestecks (auf dem amerikanischen Kontinent üblicherweise mit Bleichmittel), Ersatz von i.v. Konsum durch nicht intravenösem Konsum, traditionellen Behandlungsformen und HIV/AIDS-Aufklärung. Je nach kulturellem und
sozialen Kontext und den politischen Rahmenbedingungen müssen bei der Implementierung
von community outreach Konzepten die lokalen Verhältnisse berücksichtigt und in die Umsetzung miteinbezogen werden. Wenn dies gelingt, ist der Ansatz für Präventionsmaßnahmen bei intravenösen Konsumenten wertvoll.
196
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
Ein weiterer Bereich der HIV-Gefährdung ist ungeschützter Geschlechtsverkehr bzw. riskantes Sexualverhalten. Neben HIV, Hepatitis B und C (HBV und HCV) stellen sexuell übertragbare Krankheiten wie Syphilis, weicher Schanker (Ulcus Molle, Chancroid), Gonorrhoe (Tripper) und Herpes Simplex Virus, Typ 2 (HSV-2) ein Risiko dar. Intravenöse Drogenkonsumenten können Geschlechtskrankheiten auf nicht i.v. Konsumenten übertragen und Drogenkonsum ist generell – ob intravenös oder nicht – mit erhöhtem sexuellen Risikoverhalten und
schlechterer Behandlung von Geschlechtskrankheiten assoziiert (Friedman et al., 2003).
Präventionsmaßnahmen, die sich auf sexuelles Risikoverhalten beziehen, werden häufig mit
Prävention gegen riskanten i.v. Konsum in einem gemeinsamen Rahmen durchgeführt.
Friedman und Kollegen (2003) konnten in einem Brennpunktviertel mit einem hohen Anteil
an Drogenkonsumenten und hoher Rate an infizierten Personen Hinweise für einen Zusammenhang der Stärke des Drogenkonsums und der Infektion bei jungen Erwachsenen finden.
Sie klassifizierten Drogenkonsum in einer aufsteigenden Hierarchie von kein Konsum, Marihuanakonsum, nicht intravenösen Heroin- oder Kokaingebrauch, Crack rauchen bis intravenösen Konsum und fanden, dass das Risiko für Geschlechtskrankheiten bei „härterem“ Drogenkonsum erhöht ist. Sie fordern als Präventionsmaßnahmen die Vorbeugung riskanter
Drogengebrauchsmuster, die Verbesserung der Behandlungssituation für Betroffene, die
Förderung weniger riskanten Sexualverhaltens sowie eine umfangreichere Testung und Diagnostik.
Brodbeck, Moggi und Matter (2002) betonen, dass HIV-Prävention, die sich auf das Verteilen
von Kondomen und Vermittlung von Informationen über AIDS beschränkt, vor allem bei Drogenkonsumentinnen nicht ausreichend sein kann. Drogenabhängige Frauen leben häufig in
emotionalen und materiellen Abhängigkeitsverhältnissen, der Partner ist oft Dealer, Freier
und Zuhälter zugleich. Des weiteren erhöhen sexuelle Gewalterfahrungen und der erzwungene Verzicht auf Kondome bei der Beschaffungsprostitution das HIV-Risiko. 37% der von
ihnen befragten Konsumentinnen mit sexuellen Kontakten zu Männern hatten Risikokontakte, d.h. Geschlechtsverkehr ohne Kondom mit Gelegenheitspartnern und Freiern sowie vor
HIV-Testung in neuen Partnerschaften bzw. bei infizierten oder bekanntermaßen untreuen
festen Partnern. Brodbeck et al. (2002) fordern als Ziele von Prävention die Förderung der
Wichtigkeit der persönlichen Gesundheit, der Selbstwirksamkeits- und der Ergebniserwartung und das Training sozialer Fertigkeiten zum Aushandeln der Kondombenutzung sowie
die adäquate Problemeinschätzung und realistische Risikowahrnehmung in festen Partnerschaften. Der Verzicht auf Kondome bei Gelegenheitskontakten steht mit Alkohol- und Drogenkonsum, mangelnder Motivation, Verliebtheit und unrealistischem Vertrauen in Zusammenhang. Hier wird die Förderung situationsbezogener Selbstkontrolltechniken vorgeschlagen.
Prävention
11.4
197
Schlussfolgerung
Verbreitung und Konsummuster des Kokainkonsums stellen aus Sicht der Präventionsforschung kein eigenes, spezifisches Feld dar, so dass große empirische Studien fehlen. Primärpräventive Konzepte zielen auf die Verhinderung des Substanzgebrauchs im allgemeinen. Kokain ist keine typische Einstiegsdroge, der Konsum von Kokain, findet in aller Regel
erst dann statt, wenn schon andere Substanzen konsumiert werden (Decorte, 2000). Primärpräventive Programme fördern allgemeine Lebenskompetenzen und sind insofern substanzunspezifisch. Kokain ist hauptsächlich – wie auch andere härtere Drogen – lediglich ein
Informationsbestandteil der entsprechenden Programme.
Ziel der Sekundärprävention ist es, bei etablierten Gebrauchsmustern auf weniger schädliches Konsumverhalten hinzuwirken. Kokaingebrauch findet typischerweise im Rahmen polyvalenten Drogenkonsums statt. So ist es für die Implementierung präventiver Maßnahmen
weniger relevant, ob Kokain konsumiert wird, sondern zu welcher Szene mit ihren eigenen
Konsumformen und Risiken eine Person gehört. Ob neben den anderen Substanzen auch
Kokain genommen wird, ist dann eher als Erschwernis der bestehenden Problematik interpretierbar. Im Bereich der Technoszene sind Konsumreduktion und Verringerung des Polykonsums also auch des zusätzlichen Konsums von Kokain, Präventionsziele. Innerhalb der
Szene der Opiatabhängigen, die auch einen hohen Kokainbeikonsum aufweisen können,
greifen Maßnahmen der Harm Reduction, deren Ziele die Verbesserung der Lebensqualität,
der Gesundheit und Reduktion von Risiken sind.
Als Beispiel wurden Maßnahmen zur HIV-Prävention dargestellt. Das hier relevante Risikoverhalten in Zusammenhang mit intravenösem Drogenkonsum und Sexualität ist nicht kokainspezifisch. Allerdings ist der zusätzliche Konsum von Kokain bei Opiatabhängigen ein
Risikofaktor, der im Beratungssetting Beachtung finden sollte. Kokainspezifische Präventionsmaßnahmen scheinen in Deutschland und Europa zur Zeit nicht indiziert. Allerdings müssen Trends des Kokainkonsums durch Monitoring- und Frühwarnsysteme in den verschiedenen Szenen beobachtet werden, um im Falle einer Änderung von Konsumgewohnheiten
frühzeitig spezifisch intervenieren zu können.
Teil I: Kokainkonsum und kokainbezogene Störungen: Eine Literaturübersicht
198
11.5
Literatur
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Teil II
Untersuchung zu Epidemiologie, Konsummuster,
Risikofaktoren und Behandlungscharakteristik von
Kokainkonsumenten in Deutschland 1)
Ludwig Kraus, Sabine Kunz-Ebrecht, Claudia Semmler, Boris Orth,
Karin Welsch, Dilek Sonntag & Rita Augustin
Institut für Therapieforschung, München
1
Zusammenfassung der Ergebnisse zu sechs Fragestellungen, die in Einzeltexten bearbeitet wurden. Die Manuskripte wurden in Fachzeitschriften zur Publikation eingereicht
203
1
Einleitung
Die Studie „Untersuchung zu Epidemiologie, Konsummuster, Risikofaktoren und Behandlungscharakteristik von Kokainkonsumenten in Deutschland“ stützt sich auf vorhandene Daten zum Drogenkonsum. Die abgeleiteten Fragestellungen orientieren sich daher an den Zielen der Originalstudien, die ursprünglich nicht zur Untersuchung von Kokainkonsumenten
entwickelt wurden. Zur Beantwortung der Fragestellungen wurde nicht wie üblich ein Studiendesign entwickelt, die Daten erhoben und die entsprechenden Hypothesen untersucht.
In unserem Fall waren umgekehrt die Daten bereits vorhanden und es wurden Fragen entwickelt, von denen angenommen wurde, dass sie von diesen vorhandenen Daten beantwortet
werden können. Die auf die Datensätze angewendeten Fragestellungen zum Kokainkonsum
wurden aufgrund der Differenziertheit der Analysen in einem jeweils eigenständigen Text abgehandelt. Dieser Bericht gibt einen zusammenfassenden Überblick über Ziele, Fragestellungen, Methodik und Ergebnisse der sechs Einzeluntersuchungen, die in Fachzeitschriften
zur Publikation eingereicht wurden.
Während sich die wissenschaftliche Forschung im Bereich illegaler Drogen – sei es Grundlagenforschung, Epidemiologie oder Behandlungsevaluation – hauptsächlich auf die Opiatabhängigen und in jüngster Zeit auf die Ecstasykonsumenten im Partysetting konzentriert (vgl.
Ayer, Gmel & Schmidt, 1997; Künzel et al., 1997; Rakete & Flüsmeier, 1997; Tossmann
1997; Tossmann, Boldt & Tensil, 2001; Thomasius, 1999), ist über Umfang, Problemlage,
Sozialstruktur, Konsummotive, Konsummuster, Determinanten negativer Folgen sowie protektive Faktoren von Kokainkonsumenten wenig bekannt. Obwohl sowohl in nationalen als
auch regionalen Studien zum Drogenkonsum bei Jugendlichen (BZgA, 2001; Speck & Reimers, 1999; Wittchen & Nelson, 1998) und Erwachsenen (Kraus & Augustin, 2001; Küfner et
al., 1998, 2000) regelmäßig auch der Kokainkonsum abgefragt wird, sind so gut wie keine
spezifischen Auswertungen zu diesen Themen publiziert worden. Ebenso liegen weder aus
dem Behandlungsbereich inhaltliche Analysen über das Klientel der Kokainabhängigen vor,
noch gibt es bis auf wenige Ausnahmen qualitative Studien über Kokainkonsumenten bzw. abhängige, die nicht durch behandlungsbedürftige Probleme aufgefallen sind. Die wenigen
qualitativen Studien, die sich explizit mit dem Thema Kokain beschäftigen, stammen aus
dem Bereich der offenen Szene (Kemmesies, 1996; Thiel et al., 2000) oder dem Partysetting
(Tossmann, Boldt & Tensil, 2001) und decken damit nur diejenigen Konsumenten ab, die
Kokain in der Regel in Begleitung zu ihrem Heroinkonsum bzw. im Wechsel mit Ecstasy verwenden.
Aus der Literaturübersicht geht hervor, dass Kokainkonsum insbesondere in der Partyszene
zu beobachten ist und bei den untersuchten Kokainkonsumenten in der Partyszene kaum
soziale Auffälligkeiten beobachtet werden konnten (Tossmann, Boldt & Tensil, 2001). Untersuchungen in der offenen Szene machen jedoch deutlich, dass Kokain in nahezu gleich hoher Konsumintensität konsumiert wird wie Heroin. Jeder zweite Respondent gab an, Kokain
täglich zu konsumieren, drei Viertel der Befragten konsumierten Kokain mindestens einmal
pro Woche. Innerhalb der offenen Drogenszene scheint sich Kokain demnach fest etabliert
zu haben (für Frankfurt vgl. Kemmesies, 1996). Ähnliche Beschreibungen finden sich in der
204
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
offenen Drogenszene in Hamburg (Thiel et al., 2000). Darüber hinaus wird berichtet, dass
Drogenkonsumenten, die Kokain konsumieren, im Vergleich zu Drogenkonsumenten, die
nicht Kokain konsumieren, früher in den Konsum illegaler Drogen eingestiegen waren, dass
sie ihren Gesundheitszustand als schlechter einschätzen und häufiger medizinische Hilfe
und Angebote zum Spritzentausch nutzen. Der öffentliche Konsum wird zu einem großen
Teil durch Kokainkonsumenten bestimmt. Kokainkonsumenten in Einrichtungen der Drogenhilfe weisen jedoch im Vergleich zu Opiatkonsumenten ein höheres Bildungsniveau auf und
sind stärker sozial integriert. Konsumenten von Crack ähneln dagegen in ihrem soziobiographischen Muster den Heroinkonsumenten.
Bei den in einer Amsterdamer Studie untersuchten erfahrenen, aber unauffälligen Kokainkonsumenten konnte in der Mehrzahl nur ein geringer Konsum festgestellt werden, und Phasen anhaltend hoher Konsummengen waren äußerst selten (Cohen, 1989; Cohen & Sas,
1992; 1993). Die Untersucher fanden Hinweise darauf, dass erfahrene Konsumenten, verbunden mit Phasen der Abstinenz, dazu tendieren, ihren Konsum zu verringern, und dass sie
ihren Konsum vornehmlich auf soziale Funktionen abstimmen. Es zeigte sich, dass sie negative Folgen durch eine Reihe von Regeln zu verhindern wussten. In erster Linie beschränkten sie ihren Kokainkonsum auf bestimmte Situationen und emotionale Zustände, in denen
die Wirkung erwartungsgemäß positiv sein würde, und auf maßvolle Mengen. Bemerkenswert erscheint, dass keine der von den Forschern beobachteten Kontrollstrategien auf das
Einwirken von externen Einrichtungen der sozialen Kontrolle zu beruhen schien. Die untersuchten Konsumenten waren sozial integriert und verstanden es, hohe Konsummengen, die
mit hoher Wahrscheinlichkeit zu negativen Konsequenzen führen, zu vermeiden. Nach Meinung der Autoren zeigt diese Studie, dass Kokainkarrieren, die mitunter über zehn Jahre
dauern, nicht unweigerlich in zwanghaftem und destruktivem Konsum enden oder zu Abhängigkeit führen müssen, auch wenn die möglichen Folgen des Kokainkonsums nicht zu verharmlosen sind.
Wird der Zugang über Personen gewählt, die aufgrund ihres Drogenkonsums bekannt sind,
sich der Drogenszene zugehörig fühlen, oder sich in Behandlung oder Beratung befinden,
zeigt sich, dass Kokain für diese Konsumenten nicht die Substanz der Wahl ist. Gemessen
an nur etwa 4000 Personen mit Hauptdiagnose „Kokainabhängigkeit“ oder „schädlicher Konsum“ im einrichtungsbezogenen Dokumentationssystem EBIS / SEDOS (Türk & Welsch,
2000) ist die Zahl der Patienten mit der Einzeldiagnose Kokainabhängigkeit oder schädlicher
Konsum um das acht- bis neunfache höher (ca. 30.000 pro Jahr). Als primär wird bei diesen
Patienten jedoch eine andere Störung betrachtet. Kokainbedingte Probleme scheinen demnach in einer direkten Beziehung zum Konsum anderer Drogen, insbesondere von Heroin,
zu stehen. Demgegenüber wird die Gesamtzahl der Personen mit einem aktuellen Kokainkonsum in der Allgemeinbevölkerung auf einen Umfang von ca. 440.000 Personen geschätzt. Das heißt, etwa 7% der Kokainkonsumenten (letzte 12 Monate) entwickeln eine kokainbezogene Störung und etwa 1% wird primär wegen dieser Störung behandelt.
205
2
Schätzung des Umfangs von Kokainkonsumenten
Absolutschätzungen auf der Basis von Querschnittsuntersuchungen in der Allgemeinbevölkerung bei Jugendlichen und Erwachsenen deuten Mitte der 90er Jahre auf eine Zahl von
ca. 370.000 Kokainkonsumenten in den alten Bundesländern hin. Aufgrund der Veränderungen in den neuen Bundesländern erhöht sich die Zahl auf ca. 440.000 Kokainkonsumenten
im Jahr 2000 für die gesamte Bundesrepublik (vgl. Tabelle 1 und 2).
Tabelle 1: Hochrechungen der Anzahl Kokainkonsumenten auf der Grundlage von Bevölkerungsbefragungen für 1995 (Westdeutschland)
Kokain
Total
Altersgruppe 12-Monats-Pävalenz
12-17
0,2%
2
18-59
0,9%
3
12-59
0,8%
Population
1
Schätzung
3.947.300
7.600
39.734.400
357.600
43.681.700
365.200
1)
Statistisches Bundesamt 1995 (Stand 31.12.1993);
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 1994;
3)
Herbst, Kraus & Scherer, 1996
2)
Tabelle 2: Hochrechungen der Anzahl Kokainkonsumenten auf der Grundlage von Bevölkerungsbefragungen für 2000 (Gesamtdeutschland)
Kokain
Total
Altersgruppe 12-Monats-Pävalenz
12-17
0,2%
2
18-59
0,9%
3
12-59
0,8%
Population
1
Schätzung
5.529.500
11.100
47.640.300
428.800
53.169.800
439.900
1)
Statistisches Bundesamt 2001 (Stand 31.12.1999)
2)
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2001
3)
Kraus & Augustin, 2001
3
Fragestellung und Daten
Vor dem Hintergrund einer relativ geringen Prävalenz des Kokainkonsums in der Allgemeinbevölkerung, einer deutlich höheren Konsumprävalenz bei Drogenabhängigen der offenen
Szene und bei jungen Erwachsenen in der Partyszene, sowie einem um das ca. 8-10fach
geringeren Umfang von Primärdiagnosen im Vergleich zu den Einzeldiagnosen einer kokainbedingten Störung bei Drogenabhängigen, die eine Behandlungseinrichtung aufsuchen,
wurden auf der Grundlage verfügbarer Daten Analysen zur Epidemiologie (3.1), Behandlung
(3.2) und zu Konsummustern und substanzbezogenen Problemen des Kokainkonsums (3.3.)
durchgeführt. Im folgenden werden die von uns behandelten Fragestellungen, die in sechs
Einzelstudien durchgeführt wurden, erläutert und die Daten, auf die sich die Analysen beziehen, beschrieben.
206
3.1
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
Epidemiologie
(1) Analysen der zeitlichen Veränderungen des Gebrauchs und der Gebrauchsmuster des
Kokainkonsums in der Allgemeinbevölkerung (12-59 Jahre) über einen Zeitraum von bis
zu 23 Jahren. Ziel der Untersuchung war die zeitlich Analyse der Prävalenz des Kokainkonsums, der Häufigkeit des Konsums, der Prävalenz des fortgesetzten und polyvalenten Konsums sowie die Entwicklung des Kokainkonsums im Vergleich zur Gesamtprävalenz illegalen Drogenkonsums bei Jugendlichen und Erwachsenen.
Daten: Grundlage der Analyse waren die Daten der bundesweiten Wiederholungsbefragungen zum Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen bei Jugendlichen
(Drogenaffinitätsstudie; vgl. Bundeszentrale für gesundheitlich Aufklärung (BZgA), 2001,
2004) und Erwachsenen (Epidemiologischer Suchtsurvey; vgl. Kraus & Augustin, 2001,
2004) (Tabelle 3).
Tabelle 3:
Stichprobenübersicht der Drogenaffinitätsstudie (DAS) und der Repräsentativerhebung zum Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen (Epidemiologischen Suchtsurvey (ESA))
Studie
Erhebung
DAS
1986
Westdeutschland
1989
ESA
3.2
Region
Alter
N
Ausschöpfung
12-25
Erhebungsart
persönlich
1.800
n.v.
Westdeutschland
12-25
persönlich
3.037
n.v.
1994
Gesamtdeutschland
12-25
persönlich
3.046
74%
1997
Gesamtdeutschland
12-25
persönlich
2.485
69%
2001
Gesamtdeutschland
12-25
telefonisch
3.003
75%
2004
Gesamtdeutschland
12-25
telefonisch
3.032
71%
1980
Westdeutschland
12-24
schriftlich
10.240
67%
1986
Westdeutschland
12-29
schriftlich
5.501
64%
1990
Westdeutschland
12-39
schriftlich
19.208
64%
1990
Ostdeutschland
12-39
schriftlich
2.424
65%
1992
Ostdeutschland
12-39
schriftlich
4.455
54%
1995
Gesamtdeutschland
18-59
schriftlich
7.833
65%
1997
Gesamtdeutschland
18-59
schriftlich
8.020
65%
2000
Gesamtdeutschland
18-59
schriftlich
8.139
51%
2003
Gesamtdeutschland
18-59
schriftlich
8.061
54%
Behandlung
(2) Analyse der soziodemographischen Charakteristika, Diagnosen, Komorbidität sowie
Konsum- und Behandlungsmerkmale von Klienten ambulanter Suchtberatungsstellen
mit schädlichem Gebrauch oder Abhängigkeit von Kokain. Ziel der Untersuchung war
die Beantwortung folgender Fragen: (1) Wie groß ist der Anteil an Kokain-Patienten unter allen ambulant Behandelten? (2) Wie häufig liegt eine reine Kokain-Problematik vor?
Fragestellung und Daten
207
(3) Wie häufig sind die Dualdiagnosen Kokain und Opiate sowie Kokain und Alkohol? (4)
Unterscheiden sich Patienten, die wegen ihres Kokainkonsums in einer ambulante
Suchtberatungsstelle behandelt werden, von Patienten mit opiat- oder alkoholbezogenen Störungen im Hinblick auf soziodemografische Charakteristika, Komorbidität und
Behandlungsmerkmale?
Daten: Grundlage der Untersuchung waren die aggregierten Daten der Deutschen
Suchthilfestatistik 2002 (Welsch & Sonntag, 2003). Aus 454 ambulanten Suchthilfeeinrichtungen lagen Informationen zur behandelten Klientel vor. Ausgewertet wurden die
Daten von Klienten mit einer kokainbezogenen Störung im Vergleich zu Klienten mit alkohol- oder opiatbezogenen Störungen.
(3) Analyse von behandelten und unbehandelten Kokainkonsumenten bzgl. verschiedener
Bereiche (Kokainkonsum, Konsum anderer Substanzen, substanzbezogene Diagnosen,
psychische Gesundheit, Wohlbefinden, deviantes Verhalten, Konsequenzen des Kokainkonsums, soziale Unterstützung). In dieser Studie wurde an einer Stichprobe aus
Deutschland geprüft, ob und inwiefern sich unbehandelte Kokainkonsumenten mit einer
aktuellen kokainbezogenen Diagnose von den Kokainkonsumenten unterscheiden, die
bereits Kontakt mit dem Behandlungssetting hatten oder haben. Von Interesse war der
Zusammenhang zwischen dem Behandlungsstatus und dem Kokainkonsum, dem Konsum anderer Substanzen und dem Vorliegen substanzbezogener Diagnosen. Weiterhin
wurde untersucht, ob sich behandelte und unbehandelte Kokainkonsumenten in der
psychischen Gesundheit, im Wohlbefinden, im devianten Verhalten, in den Konsequenzen des Kokainkonsums und in der sozialen Unterstützung unterscheiden. Der weit verbreitete Kokain-Opiat-Konsum wurde auch für unsere Stichprobe angenommen. Deswegen wurde überprüft, ob und wie sich die Unterschiede zwischen beiden Konsumentengruppen verändern, wenn Personen mit einer aktuellen Opiatabhängigkeit aus den Analysen ausgeschlossen werden.
Daten: Es wurden Daten des ersten Erhebungszeitraums (Januar 1996-Februar 1997)
der ”Längsschnittanalyse zum Drogenabusus” (LADA1) ausgewertet (Schumann et al.,
2000). Die Untersuchung erfolgte mit einem standardisierten computergestützten Interview mit visueller Unterstützung anhand von Listenheften. Das Interview dauerte zwischen zwei und vier Stunden und wurde von geschulten Interviewern durchgeführt. Das
Interview deckt die folgenden Themenbereiche ab:
1
Longitudinal Analysis of Drug Abuse. Die Studie ist Teil des Forschungsverbund „Analytical Epidemiology of Substance Abuse
(ANEPSA)“. In fünf Einzelprojekten wurden Bedingungsfaktoren für den Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen
im Rahmen von mehrjährigen Längsschnittstudien untersucht (vgl. ANEPSA, 1998). Ansprechpartner sind Dr. Bühringer / Dr.
Küfner (IFT Institut für Therapieforschung, München), Prof. Dr. Wittchen (Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München) und
Prof. Dr. John (Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Greifswald) / Prof. Dr. H. Dilling (Medizinische Universität zu Lübeck). Der Forschungsverbund wurde im Rahmen des Programms „Biologische und psychosoziale Faktoren von Drogenmissbrauch und Drogenabhängigkeit“ vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie finanziell gefördert.
208
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
− Beschreibung der Lebenssituation (Demographie, Schule, Ausbildung, Beruf, Kindheit, familiärer Hintergrund, belastende Lebensereignisse, soziales Netzwerk, Lebenszufriedenheit, Wohlbefinden)
− Gesundheitsstatus, körperliche und psychische Erkrankungen und Beschwerden
− Konsum legaler und illegaler Drogen, Situation und Erleben des Erstgebrauchs, Konsummuster, Verlauf des Konsums, Abstinenzphasen, Konsequenzen des Drogenkonsums
− Delinquenzbelastung, Erfahrungen mit Polizei und Staatsanwaltschaft
− Inanspruchnahme von Behandlungsangeboten.
Daten zum Konsum legaler und illegaler Drogen sowie zur Substanzabhängigkeit wurden mit drei Sektionen des M-CIDI (Münchner Composite International Diagnostic Interview; Wittchen et al., 1995) erhoben. Im Anschluss an das persönliche Interview erhielten die Teilnehmer standardisierte Selbstbeurteilungsbögen zu verschiedenen psychologischen Konstrukten (z.B. Depressivität (von Zerssen, 1976); Persönlichkeitsfaktoren
(NEO-FFI, Borkenau & Ostendorf, 1993), Stressbewältigung (Ferring & Filipp, 1989),
Hoffnungslosigkeit (Krampen, 1994); Therapie- u. Veränderungsmotivation (nach De Leon et al., 1995).
Der hier gewählte Ansatz stellt eine gleichzeitige Untersuchung von mehreren Stichproben in unterschiedlichen Stadien des Drogenkonsums dar – vom Nichtkonsumenten bis
zum Abhängigen in einer frühen Phase. In der aktuellen Analyse wurden 80 Kokainkonsumenten, die mindestens einmal wegen ihres Drogenkonsums behandelt wurden, mit
34 Kokainkonsumenten verglichen, die nie an einer Drogenbehandlung teilnahmen. Alle
Probanden hatten eine Diagnose für schädlichen Gebrauch oder Abhängigkeit von Kokain in den letzten 12 Monaten nach ICD-10.
3.3
Konsummuster und substanzbezogene Probleme des Kokainkonsums
(4) Analysen von Konsummustern, substanzbezogenen Störungen (Missbrauch und Abhängigkeit) und dem Einstiegsalter bei Kokainkonsumenten. Ziel der Untersuchung war
die Identifikation unterschiedlicher Typen von Kokainkonsumenten auf der Grundlage
polyvalenten Konsumverhaltens und der Schwere substanzbezogener Störungen (Missbrauch und Abhängigkeit nach DSM-IV). Mit einem Vergleich des Einstiegsalters wurde
untersucht, welchen Einfluss ein früher Einstieg auf substanzbezogene Störungen hat.
Daten: Grundlage der Analyse waren die Daten der bundesweiten Wiederholungsbefragungen zum Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen bei Erwachsenen der
Surveys von 1997 und 2000 (Epidemiologischer Suchtsurvey; Kraus & Bauernfeind,
1998; Kraus & Augustin, 2001). Ingesamt bestand die gepoolte Stichprobe aus N =
16.159 Personen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren. Lebenszeitbezogener Kokainkonsum wurde bei N = 269 Personen beobachtet.
(5) Analyse des Einflusses von Einstiegsalter und Sensation Seeking auf den Übergang
vom Cannabiskonsum in den Kokainkonsum. Ziel der Studie war ein Vergleich zwischen
Cannabis- und Kokainkonsumenten, die ebenfalls Erfahrung mit Cannabis hatten. Über-
Fragestellung und Daten
209
prüft wurden die folgenden Hypothesen: (1) Kokainkonsumenten haben höhere Prävalenzen von legalen und illegalen Drogen und konsumieren diese Substanzen häufiger
als Cannabiskonsumenten, die keine Kokainerfahrung haben; (2) Kokainkonsumenten
weisen häufiger substanzbezogene Störungen auf als Cannabiskonsumenten; (3) Kokainkonsumenten steigen früher in den Substanzkonsum ein als Cannabiskonsumenten
und (4) Sensation Seeking ist ein Risikofaktor für frühen Substanzkonsum und damit ein
Risikofaktor für den Übergang vom Cannabis- in den Kokainkonsum.
Daten: Grundlage der Analyse waren die Daten der bundesweiten Wiederholungsbefragungen zum Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen bei Erwachsenen der
Surveys von 1997 und 2000 (Epidemiologischer Suchtsurvey; Kraus & Bauernfeind,
1998; Kraus & Augustin, 2001). Ingesamt bestand die gepoolte Stichprobe aus N =
16.159 Personen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren. Für die vorliegende Untersuchung wurden auf der Grundlage der 12-Monats-Prävalenz zwei Gruppen gebildet: Die
erste Gruppe bestand aus N = 557 Personen, die Cannabis aber kein Kokain konsumiert
hatten (Cannabis Gruppe). Die zweite Gruppe von N = 85 Personen hatte in den letzten
12 Monaten auch Kokain konsumiert (Kokain Gruppe).
(6) Analyse des Einflusses des Kokainkonsums in verschiedenen Gruppen von Drogenkonsumenten in unterschiedlichen Stadien des Drogenkonsums. Ziel dieser Studie war es
zu untersuchen, welchen Einfluss Kokain auf die Karriere von Drogenkonsumenten hat.
Im Mittelpunkt standen folgende Forschungsfragen: (1) Sind Kokainkonsumenten Drogenkonsumenten mit spezifischen Merkmalen? (2) Welchen Einfluss hat der Kokainkonsum auf den Drogenkonsum von Drogenkonsumenten in unterschiedlichen Stadien ihres
Drogenkonsums? (3) In welchem Zusammenhang steht der Kokainkonsum von Drogenkonsumenten in unterschiedlichen Stadien des Drogenkonsums mit drogenbezogenen
Störungen, psychischer Belastung und Devianz?
Daten: In dieser Studie wurden Daten der ”Längsschnittanalyse zum Drogenabusus”
(LADA; Küfner, Schumann & Duwe, 2001; Schumann et al., 2000) ausgewertet. Die
Probanden der LADA-Studie wurden über verschiedene Zugangswege gewonnen: (1)
Klienten und Patienten aus Beratungsstellen und Entzugskliniken im Großraum München, (2) Drogenkonsumenten im Rahmen von polizeilichen Erstregistrierungen und
kurzzeitig Inhaftierte aus bayrischen Justizvollzugsanstalten, (3) weniger auffällige Drogenkonsumenten, die über Mundpropaganda, Aushängen in Studentenwohnheimen,
Freizeitstätten, Kneipen und anderen öffentlichen Orten sowie Zeitungsinseraten gewonnen wurden und (4) Jugendliche mit Drogenkonsum und ohne Drogenkonsum aus
der EDSP-Studie (Wittchen, Perkonigg, Lachner & Nelson, 1998). Durch die verschiedenen Strategien der Stichprobengewinnung entstand eine Gesamtstichprobe mit 1147
Personen, die sich in unterschiedlichen Phasen des Drogenkonsums befanden. Die
Stichprobe wurde zwischen 1996 und 2000 viermal untersucht. Für unsere Studie wurden 785 Probanden ausgewählt, die in den 12 Monaten vor dem ersten Messzeitpunkt
mindestens eine illegale Droge konsumiert hatten und für die Angaben zum Kokainkonsum vorlagen. Das mittlere Alter lag bei 24,9 Jahren (s = 7,8) mit einem Altersrange von
15 bis 61 Jahren. 75% der Probanden waren jünger als 30 Jahre. 29,0% der Stichprobe
210
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
waren Frauen (N = 228). Die Befragten waren überwiegend ledig (89,0%, N = 699) und
kinderlos (86,6%; N = 680). In Schule, Ausbildung, Studium oder Wehr- bzw. Zivildienst
befanden sich 39,4% (N = 309) der Probanden, 31,5% (N = 247) waren arbeitslos und
13,0% (N = 102) berufstätig, 3,6% der Befragten (N = 28) hatten keinen festen Wohnsitz.
4
Ergebnisse
4.1
Kokainkonsum bei Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland: Prävalenz,
Konsummuster und Trends
Die Analyse von Konsumverlauf und Konsummuster von Kokain auf der Grundlage von Bevölkerungssurveys bei Jugendlichen und Erwachsenen über einen Zeitraum von bis zu 23
Jahren zeigt (1) eine nur geringe Zunahme der Kokain-Lebenszeiterfahrung bei einer insgesamt deutlichen Zunahme der Gesamtdrogenerfahrung, (2) keine Zunahme der Konsumhäufigkeit des Kokainkonsums und (3) ein überwiegend polyvalentes Erfahrungsmuster der Kokainkonsumenten mit den Substanzen Cannabis, Stimulanzien oder Halluzinogene. Die zu
beobachtende Zunahme der Lebenszeiterfahrung sowie der 12-Monats-Prävalenz illegaler
Substanzen ist auf einen starken Anstieg der Cannabiserfahrung seit etwa 1990 sowie auf
einen Zuwachs der Erfahrung mit Ecstasy zurückzuführen, die jedoch bereits Mitte der
1990er Jahre ihren Höhepunkt erreichte. Nach einem Anstieg der relativen Kokainerfahrung
bis Mitte der 1990er Jahre blieb der Anteil der Kokainkonsumenten an allen Drogenkonsumenten insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufgrund des starken Anstiegs der Gesamtdrogenerfahrung stabil bzw. ging leicht zurück.
4.2
Kokainabhängige in Behandlung: Charakteristik, Diagnose und Behandlungsvorgeschichte
Auf der Grundlage der Deutschen Suchthilfestatistik (Welsch & Sonntag, 2003) weisen die
Ergebnisse des Vergleichs zwischen behandelten Kokain-, Opiat- und Alkoholklienten darauf
hin, dass (1) nur etwa jeder fünfte Klient und etwa jede zehnte Klientin mit einer kokainbezogenen Störung (schädlicher Gebrauch oder Abhängigkeit) wegen dieser Störung behandelt
wurde und (2) Kokain- und Opiatklienten mit jeweils durchschnittlich 29 Jahren wesentlich
jünger waren als Alkoholklienten (42 Jahre) sowie (3) Kokainklienten ähnliche soziodemographische Charakteristika aufwiesen wie Opiatklienten und beide Gruppen sich altersbedingt deutlich von den Alkoholklienten unterschieden. (4) Komorbide Störungen traten bei
Klienten mit einer Einzeldiagnose Kokain oder Crack am häufigsten auf. (5) Bei Kokainklienten lag am häufigsten (über 50%) eine Erstbehandlung vor. (6) Die Rate planmäßiger Therapiebeendigung war bei Kokainklienten niedriger als bei Alkoholklienten, aber höher als bei
Opiatklienten. Zudem war der Anteil erfolgreich abgeschlossener Therapien bei planmäßiger
Beendigung bei Kokainklienten ebenso hoch wie bei Opiatklienten aber niedriger als bei Al-
Ergebnisse
211
koholklienten und (7) die absolute Häufigkeit der therapeutischen Nachfrage bei Vorliegen
einer Kokain-Einzel- oder Hauptdiagnose hat sich zwischen 1994 und 2002 ähnlich entwickelt wie die Nachfrage bei schädlichem Gebrauch oder Abhängigkeit von Opiaten oder Alkohol.
Der bei einer vorliegenden Kokaindiagnose geringe Anteil kokainbezogener Behandlungen
spricht für einen hohen Anteil von dualen oder Mehrfachdiagnosen, bei denen Kokain als die
zu behandelnde Störung in den Hintergrund tritt. Obwohl mit den vorliegenden Daten der Anteil von Dualdiagnosen nicht zu ermitteln war, weisen Ergebnisse der Suchthilfestatistik von
1999 darauf hin, dass 49,5% der Fälle mit der Diagnose schädlicher Gebrauch oder Abhängigkeit von Opiaten auch eine Kokaindiagnose schädlicher Gebrauch oder Abhängigkeit erhielten, allerdings nur 7,3% der Fälle mit der Diagnose schädlicher Gebrauch oder Abhängigkeit von Alkohol (Strobl, Lange & Zahn, 2000). Dies bestätigt den in verschiedenen Studien berichteten hohen Anteil des Misch- und Beikonsums von Kokain insbesondere bei Heroinkonsumenten (Thiel et al., 2000; Verthein et al., 2001; Leri, Bruneau & Stewart, 2003).
Der im Vergleich zu amerikanischen Klientenstichproben (Walsh et al., 1991; Pennings, Leccese & Wolff, 2002) geringe Anteil gleichzeitig vorliegender Kokain- und Alkoholdiagnosen
unterstreicht auf der anderen Seite die in epidemiologischen Surveys in der Allgemeinbevölkerung gefundene geringe Prävalenz des Kokainkonsums und die Beschränkung des Kokainkonsums auf spezifische Gruppen wie die Heroin- und die Partyszene (Tossmann, Boldt
& Tensil, 2001; Verthein et al., 2001). Die gefundenen soziodemographischen Unterschiede
zwischen Kokain- und Alkoholklienten in der Deutschen Suchthilfestatistik dürften sich in erster Linie mit der geringen Verbreitung des Kokainkonsums bei Personen mit Alkoholproblemen erklären lassen.
4.3
Unterschiede zwischen unbehandelten und behandelten Kokainkonsumenten mit
einer aktuellen kokainbezogenen Diagnose
In dieser Studie wurde untersucht, ob und inwiefern sich Kokainkonsumenten, die Kontakte
mit dem Behandlungssetting hatten oder noch haben, von den Kokainkonsumenten unterscheiden, die noch nie an einer Drogenberatung oder -behandlung teilnahmen. In den meisten Bereichen ähnelten sich beide Konsumentengruppen. Unbehandelte waren allerdings
signifikant jünger als Behandelte. Dieser Altersunterschied verschwand, wenn Personen mit
einer aktuellen Opiatabhängigkeit ausgeschlossen wurden. Unter Kontrolle des Alters unterschieden sich beide Gruppen nicht in der Art der Kokaindiagnose (schädlicher Gebrauch vs.
Abhängigkeit). Wenn allerdings das Alter nicht in die Analysen einbezogen wurde, hatten
deutlich mehr Behandelte eine Abhängigkeitsdiagnose als Unbehandelte. Das könnte ein
Hinweis dafür sein, dass sich unbehandelte Kokainkonsumenten in einer früheren Phase ihres Drogenkonsums befanden und möglicherweise noch Kontakt mit dem Behandlungssetting bekommen werden. Je älter eine Person ist, desto eher erhält sie eine Abhängigkeitsdiagnose und umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in Behandlung war bzw. ist.
212
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
Beide Konsumentengruppen unterschieden sich nicht im Ausmaß ihres Kokainkonsums.
Dieses Ergebnis stimmt mit den Ergebnissen von Carroll und Rounsaville (1992) sowie von
Smith und Mitarbeiterinnen (1992) überein. Chitwood und Morningstar (1985) dagegen fanden ein wesentlich höheres Ausmaß des Kokainkonsums bei Behandelten als bei Unbehandelten.
Der Ausschluss von Probanden mit einer aktuellen Opiatabhängigkeit aus den Analysen bekräftigt die Annahme, dass sich unbehandelte und behandelte Kokainkonsumenten systematisch in ihren Konsumgewohnheiten voneinander unterscheiden. Auch hier zeigte sich, dass
der gemeinsame Konsum von Kokain und Opiaten in der Gruppe der Behandelten deutlich
ausgeprägter ist: Behandelte ohne Opioiddiagnose in den letzten 12 Monaten waren lebenszeitlich öfter an einer Opiatabhängigkeit erkrankt, was einen stärkeren Opiatkonsum impliziert, während Unbehandelte signifikant häufiger eine aktuelle Halluzinogen-Diagnose aufwiesen und im Gegensatz zu Behandelten öfter Diagnosen ausschließlich für stimulierende
Stoffe (Kokain, Amphetamine, Halluzinogene) hatten. Das verweist auf einen verringerten
Mischkonsum von stimulierenden und dämpfenden Substanzen bei Personen, die noch nie
Kontakt mit dem Behandlungssetting hatten.
4.4
Konsummuster und substanzbezogene Störungen bei Kokainkonsumenten
Auf der Grundlage aktuellen Polykonsums und substanzbezogener Störungen ergab eine
Clusteranalyse, dass mehr als zwei Drittel der kokainerfahrenen Konsumenten keine Symptome substanzspezifischer Störungen entwickelte. Die Kokainkonsumenten aus einer Bevölkerungsstichprobe konnten in vier Gruppen eingeteilt werden: die größte Gruppe (72%)
bestand aus unproblematischen Konsumenten (UG), die zweitgrößte Gruppe (13%) bestand
aus Personen mit überwiegend alkoholbezogenen Problemen (AG), die dritte Gruppe (10%)
bestand aus polyvalenten Drogenkonsumenten mit unterschiedlichen substanzbezogenen
Störungen (PG) und die kleinste Gruppe (6%) wiesen überwiegend opiatbezogenen Störungen (OG) auf. Die Gruppen unterschieden sich deutlich hinsichtlich Soziodemographie, Konsummuster und Alter des Erstkonsums von legalen und illegalen Substanzen. Gegenüber
den unproblematischen Konsumenten und den Konsumenten mit Alkoholproblemen (AG)
wiesen Kokainkonsumenten mit polyvalenten Konsummustern (PG) und Opiatkonsum (OG)
erhebliche substanzbezogene Störungen auf. Sie waren überwiegend männlich, jünger, weniger gebildet und ihr Gesundheitszustand war weniger gut. Der Anteil Lediger war in diesen
beiden Gruppen am höchsten und weniger Personen berichteten über einen Arbeitsplatz,
dass sie in Ausbildung waren oder noch zur Schule gingen. In diesen beiden hochbelasteten
Gruppen (PG und OG) fanden sich auch die höchsten Konsumfrequenzen und ein jüngeres
Einstiegsalter in den Tabak-, Cannabis- und Kokainkonsum sowie ein früherer Beginn regelmäßigen Alkoholkonsums. Nikotinabhängigkeit fand sich in allen Gruppen, der Anteil Nikotinabhängiger war jedoch in der Gruppe polyvalenter Konsumenten und in der Gruppe der
Opiatkonsumenten am höchsten. Demgegenüber war der Anteil von Personen mit riskantem
Alkoholkonsum und Rauschtrinken in der Alkoholgruppe am höchsten. Wie sich zeigte wurde
Ergebnisse
213
Kokain als Droge unter verschiedenen legalen und illegalen Substanzen konsumiert und
spielte kaum eine Rolle als Droge der Wahl.
Die größte Gruppe der Kokainkonsumenten (UG) in dieser repräsentativen Stichprobe konsumierte Kokain sowie Cannabis und Stimulanzien nur gelegentlich. Im Vergleich mit den
anderen Gruppen waren in dieser Gruppe weniger Personen, die stark rauchten, viel tranken
oder häufig psychoaktive Medikamente einnahmen. Diese Gruppe, die mit mehr als zwei
Drittel die Mehrheit der Kokainerfahrenen darstellt, kann als unauffällige Gruppe mit einem
gelegentlichen Konsum von legalen und illegalen Drogen angesehen werden. Dennoch zeigte sich, dass in dieser Gruppe im Vergleich zu Personen, die in den letzten 12 Monaten kein
Kokain konsumiert hatten, 49.4% gegenüber 4.1% Cannabis, 4.3% gegenüber 0.2% Amphetamine und 9.4% gegenüber 0.4% Ecstasy konsumiert hatten. Auch waren in dieser Gruppe
unauffälliger Kokainkonsumenten die Anteile schwerer Tabakkonsumenten (31.6% vs.
12.3%), von Personen mit riskantem Alkoholkonsum (24.9% vs. 15.8%), Binge-Trinker
(17.6% vs. 13.8%) und von Personen mit häufiger Einnahme psychoaktiver Medikamente
deutlich höher als in der Gruppe von Personen der Allgemeinbevölkerung ohne Kokainerfahrung. Dennoch war in der Gruppe unproblematischer Kokainkonsumenten das Risiko für
substanzbezogene Störungen im Vergleich zu den anderen Gruppen von Kokainkonsumenten (AG, PG, UG) deutlich reduziert.
Die Alkoholgruppe zeigte ein ähnliches Drogenkonsummuster wie die Gruppe der unauffälligen Konsumenten. Bei zwei Drittel dieser Gruppe von Kokainkonsumenten wurde jedoch ein
Alkoholmissbrauch und bei einem Drittel eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert. Kokain und
andere illegale Drogen spielte in dieser Gruppe in Bezug auf substanzbezogene Störungen
keine Rolle. Die hinsichtlich illegaler Drogen problematischeren Kokainkonsumentengruppen
(PG, OG) unterschieden sich in ihrem Konsum- und Risikoprofil dahingehend, dass sie entweder Störungen in Abhängigkeit ihres Stimulanzien- oder Opiatkonsums entwickelten. Zudem unterschieden sich diese Gruppen von den beiden anderen Gruppen (UG, AG) durch
einen frühen Einstieg in den Konsum legaler und illegaler Substanzen. Die Ergebnisse unserer Untersuchung unterstützen Befunde, die einen frühen Einstieg in den Drogenkonsum als
einen Risikofaktor für drogenbezogenen Störungen identifizierten (Brook et al., 2002; Kandel
& Yamaguchi, 1993; Robins & Przybeck, 1985; McGee et al., 2000).
4.5
Ist Sensation Seeking ein Risikofaktor für den Übe rgang in den Kokainkonsum?
Die Ergebnisse dieser Untersuchung weisen darauf hin, dass sich Kokainkonsumenten von
Cannabiskonsumenten in einer Reihe von Merkmalen unterscheiden. Wie sich zeigte, berichteten Kokainkonsumenten einen häufigeren Konsum von legalen und illegalen Substanzen als Cannabiskonsumenten ohne Kokainerfahrung. Weiterhin wiesen Kokainkonsumenten häufiger substanzbezogene Störungen nach DSM-IV auf als Cannabiskonsumenten ohne Kokainerfahrung und im Vergleich zu den Cannabiskonsumenten stiegen Kokainkonsumenten früher in den Konsum legaler und illegaler Drogen ein. Entgegen der Annahme eines
214
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
Zusammenhangs zwischen frühem Einstieg und einem Sensation Seeking Verhalten zeigten
Kokainkonsumenten keine erhöhten Werte auf verschiedenen Items des Sensation Seeking
Fragebogens.
Die beiden Gruppen unterschieden sich aber nur geringfügig hinsichtlich soziodemographischer Merkmale. Kokainkonsumenten erreichten einen weniger hohen Schulbildungsgrad,
und obwohl sich die beiden Gruppen hinsichtlich des arithmetischen Mittelwertes im Alter
nicht unterschieden, weist ein Vergleich nach Altersgruppen darauf hin, dass sich in der
Gruppe der Cannabiskonsumenten ohne Kokainerfahrung mehr jüngere und mehr ältere
Personen befanden. Keine Unterschiede ergaben sich hinsichtlich der Variablen Geschlecht,
Region (West- bzw. Ostdeutschland), Familienstand, Arbeitslosigkeit und Gesundheitsstatus.
Kokainkonsumenten berichteten über höhere Lebenszeit- und 12-Monats-Prävalenzen des
Konsums von Amphetaminen, Ecstacy, LSD und Heroin als Cannabiskonsumenten ohne
Kokainerfahrung, unterschieden sich aber nicht von dieser Gruppe hinsichtlich des Alkoholund Tabakkonsums. Bezieht man das Konsumverhalten in diesen Vergleich mit ein, zeigte
sich, dass Kokainkonsumenten im Durchschnitt mehr rauchten und mehr Alkohol konsumierten. Bezogen auf die Konsumenten einer bestimmten Droge wurde von Kokainkonsumenten
die jeweilige Droge häufiger konsumiert als von den entsprechenden Personen der Cannabisgruppe. Die höhere Affinität zum Drogenkonsum in der Kokaingruppe weist darauf hin,
dass ein Übergang zum Kokainkonsum mit mehr und häufigerem Drogenkonsum assoziiert
ist. Insbesondere von Interesse ist, dass sich die beiden Gruppen nicht in Bezug auf alkoholbezogene Störungen unterschieden. In der Kokaingruppe fand sich aber ein höherer Anteil
drogenbezogener Störungen.
Im Vergleich zur Cannabisgruppe begannen Kokainkonsumenten in einem früheren Alter mit
dem Konsum von Tabak, Cannabis, Amphetamin, Ecstasy und LSD. Dieser Befund unterstützt die Ergebnisse einer Reihe von Studien, die einen Zusammenhang zwischen frühem
Einstieg und einem erhöhten Risiko für den Übergang zu härteren Drogen sowie einem höheren Risiko für substanzbezogene Störungen feststellten (Kandel & Yamaguchi 1993; Robins & Przybeck, 1985). Unsere Ergebnisse widersprechen dagegen Untersuchungen, die
einen Zusammenhang zwischen einem erhöhten Sensation Seeking Verhalten und einem
frühen Einstieg in den Drogenkonsum sowie einem erhöhtem Risiko für den Übergang zu
härteren Droge und härteren Konsummustern berichteten (Caspi et al., 1997; Masse &
Tremblay, 1997; Barnea, Teichman & Rahav, 1992). Lediglich auf der Ebene einzelner Items
(„Ich finde, es gibt nichts schlimmeres als langweilig zu sein“ und „Ich hasse es, mir einen
Film ein zweites Mal anzuschauen“) zeigte sich in unseren Daten, dass Personen der Kokaingruppe mit einer hohen Ausprägung auf diesen Items früher in den Konsum von Tabak,
Alkohol, Cannabis und Amphetaminen einstiegen als Kokainkonsumenten mit geringen Ausprägungen und den Personen der Cannabisgruppe unabhängig von deren Ausprägungen in
den Sensation Seeking Items.
Ergebnisse
4.6
215
Charakteristika von Kokainkonsumenten in einer Stichprobe von Drogenkonsumenten
Auf der Grundlage der Häufigkeit des Konsums illegaler Drogen im letzten Jahr wurde ein
Konsum ab fünfmal und mehr als „regelmäßiger Konsum“ definiert. Bei Vorliegen eines „regelmäßigen Konsums“ oder einer substanzspezifischen Missbrauchs- bzw. Abhängigkeitsdiagnose wurde der Konsum einer Substanz als bedeutsam definiert und darauf aufbauend
Klassen unterschiedlicher Gebrauchsmuster gebildet. Der Gebrauch keiner Substanz mit einer Häufigkeit von fünfmal oder öfter wurde als experimenteller Konsum definiert. Drogenkonsumenten, die ausschließlich Cannabis in bedeutsamen Ausmaß konsumiert haben,
wurden als Cannabiskonsumenten eingestuft. Unabhängig vom Cannabiskonsum wurden
Probanden mit bedeutsamen Ecstasy-, Psychedelika- oder Stimulanzienkonsum (EPS) aber
keinem bedeutsamen Opiat- oder Sedativakonsum der EPS-Gruppe zugeordnet. Personen
mit bedeutsamen Opiat- oder Sedativakonsum und keinem bedeutsamen EPS-Konsum bildeten die Opiatgruppe. Polykonsum wurde als bedeutsamer Konsum mindestens einer EPSSubstanz sowie von Opiaten und/oder Sedativa definiert. Die Klassifikation wurde durch Kokainkonsumenten abgeschlossen, die außer Kokain und gegebenenfalls Cannabis keine weitere Substanz fünfmal oder häufiger konsumiert hatten. Die EPS-, Opiat- und Polykonsumgruppen wurden darüber hinaus danach differenziert, ob bedeutsamer Kokainkonsum vorlag.
Diese Klassifikation in verschiedene Konsumentengruppen führte zu einer Verteilung mit
35,4% Cannabiskonsumenten (N = 278), 22,3% Opiatkonsumenten (N = 175), 16,6% Polykonsumenten (N = 130), 11,8% EPS-Konsumenten (N = 93) und 11,7% Personen mit experimentellem Drogenkonsum (N = 92). Der Anteil reiner Kokainkonsumenten war mit 2,2% (N
= 17) gering. Bedeutsamer Kokainkonsum wurde von 66,2% der Polykonsumenten (N = 86),
38,7% der EPS-Konsumenten (N = 36) und 33,7% der Opiatkonsumenten (N = 59) angegeben.
Bei der Untersuchung unterschiedlicher Drogenkonsumenten in unterschiedlichen Phasen
ihrer Drogenkarriere war insbesondere die Rolle des Kokainkonsums innerhalb von Konsumentengruppen, bei denen bedeutsamer Kokainkonsum vorhanden war, von Interesse. Insgesamt hatten 60% der Personen mindestens einmal in ihrem Leben Kokain probiert, ein
Drittel berichtete über Kokainkonsum in den letzten 12 Monaten. Der alleinige Konsum von
Kokain war äußerst selten, etwas mehr als die Hälfte der aktuellen Kokainkonsumenten hatte
im vergangenen Jahr mindestens vier weitere Substanzen konsumiert, was unterstreicht,
dass Kokain vor allem im Rahmen polyvalenten Konsumgeschehens eine Rolle spielt (Leri,
Bruneau & Stewart, 2003; Verthein et al., 2001; Tossmann, Boltd & Tensil, 2001).
Die unterschiedlichen soziodemographischen Merkmale der Konsumentengruppen bestätigen, dass sich bei den untersuchten Gruppen um Personen in unterschiedlichen Lebensphasen und unterschiedlichen Stadien der Drogenkarriere handelt. Experimentelle, Cannabis- und EPS-Konsumenten lassen sich als jünger, häufiger ledig und noch ohne Kinder bzw.
noch nicht allein lebend sowie größtenteils in Schule, Ausbildung, Studium oder Wehr- bzw.
Zivildienst beschreiben. Bei den experimentellen Konsumenten ist der Frauenanteil am größ-
216
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
ten. Polykonsumenten und noch deutlicher die Opiatkonsumenten sind am ältesten, die Rate
Arbeitsloser oder Inhaftierter ist in dieser Gruppe besonders hoch. Die kleine Gruppe von
Personen, die ausschließlich Kokain konsumierten, sind in der Tendenz älter, weiblich, verheiratet, haben Kinder und gehen einer geregelten Tätigkeit nach.
Innerhalb der EPS-, der Opiat- und der Polykonsumenten unterscheiden sich Personen ohne
bzw. mit Kokainkonsum nicht in Bezug auf soziodemographischen Merkmale. Auf der Ebene
der einzelnen Substanzen werden allerdings Unterschiede zwischen Konsumenten mit und
ohne Kokainkonsum innerhalb der EPS-, der Opiat- und der Polykonsumenten deutlich: der
Konsum von Kokain geht immer mit einem erhöhtem Konsum der anderen Substanzen sowie mit einem erhöhten Risiko für substanzbezogene Diagnosen einher. Die Rate an kokainbezogenen Störungen war bei bedeutsamen Kokainkonsum bei EPS-, Opiat- und Polykonsumenten in etwa gleich hoch. Für die Entwicklung von kokainbezogenen Störungen spielt
es offensichtlich keine Rolle, welche anderen Drogen präferiert werden. Die gefundenen Unterschiede lassen sich aber nicht alleine mit dem Konsum von Kokain erklären. Eine Zunahme des Konsums anderer Drogen könnte ebenso zu einem Übergang zum Kokainkonsum
geführt haben wie umgekehrt der Übergang zum Kokainkonsum mit einer Erhöhung der
Konsumintensität anderer Drogen und einer Erhöhung des Risikos negativer Folgen verbunden sein könnte.
217
5
Diskussion
In den vorgenommenen Analysen zur Epidemiologie des Kokainkonsums, zu Konsummustern und Risikofaktoren des Kokainkonsums und zur Behandlung Kokainabhängiger sind auf
der Grundlage verschiedener vorliegender Sekundärdaten (Epidemiologischer Suchtsurvey
(ESA), Drogenaffinitätsstudie (DAS), Deutscher Kerndatensatz, Längsschnittanalyse zum
Drogenabusus (LADA)) folgende Fragen analysiert worden:
•
•
•
•
•
•
•
•
die zeitliche Entwicklung des Kokainkonsums in der Allgemeinbevölkerung,
Unterschiede hinsichtlich Soziodemographie, Konsum, Konsummuster, Diagnosen,
Komorbidität und Behandlungserfolg zwischen behandelten Kokain-, Heroin- und Alkoholabhängigen,
Unterschiede hinsichtlich Soziodemographie, Kokainkonsum, Konsum anderer Substanzen, substanzbezogene Diagnosen, psychische Gesundheit, Wohlbefinden, deviantes Verhalten, Konsequenzen des Kokainkonsums und soziale Unterstützung
zwischen behandelten und unbehandelten Kokainabhängigen
der Zusammenhang zwischen Konsummustern und drogen-(kokain-) bezogenen Störungen
Risiken für den Übergang vom Cannabis- zum Kokainkonsum,
der Einfluss eines frühen Einstiegsalters auf drogen-(kokain-) bezogene Probleme
der Einfluss von Sensation Seeking Verhalten auf frühen Einstieg verschiedener legaler und illegaler Substanzen und drogen-(kokain-) bezogene Probleme und
der Einfluss von Kokain auf die Karriere von Drogenkonsumenten.
Die Datenlage in Deutschland weist über einen Zeitraum von bis zu 23 Jahren auf eine nur
geringe Zunahme der Kokain-Lebenszeiterfahrung bei einer insgesamt deutlichen Zunahme
der Gesamtdrogenerfahrung hin, wobei der Anstieg der Gesamtprävalenz auf einen starken
Anstieg der Cannabiserfahrung sowie auf einen Zuwachs der Erfahrung mit Ecstasy zurückzuführen ist. Nach einem Anstieg der relativen Kokainerfahrung bis Mitte der 1990er Jahre
blieb der Anteil der Kokainkonsumenten an allen Drogenkonsumenten insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufgrund des starken Anstiegs der Gesamtdrogenerfahrung stabil bzw. ging leicht zurück. Trotz dieses Befundes, der insgesamt auf keine Epidemie des Kokainkonsum in Deutschland hinweist, liegen aus anderen Studien Befunde über eine weite Verbreitung des Kokainkonsums in verschiedenen Subpopulationen wie der
offenen Drogenszene, Heroinkonsumenten und der Partyszene vor (Thiel et al., 2000;
Verthein et al., 2001; Tossmann, Boldt & Tensil, 2001). Unabhängig davon finden sich in einer Untergruppe auch in der Allgemeinbevölkerung Personen, bei denen Kokain in Kombination mit anderen Drogen zu erheblichen Problemen führt (Morton, 1999).
Unter Verwendung der Daten der Deutschen Suchthilfestatistik konnte gezeigt werden, dass
sich die absolute Häufigkeit der therapeutischen Nachfrage bei Vorliegen einer KokainEinzel- oder Hauptdiagnose zwischen 1994 und 2002 ähnlich entwickelt hat wie die Nachfrage bei schädlichem Gebrauch oder Abhängigkeit von Opiaten oder Alkohol. Auch im Bereich
der Behandlungsnachfrage scheint es daher keine Hinweise auf eine Zunahme kokainbezo-
218
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
gener Störungen in Deutschland zu geben. Auffällig ist der im Vergleich zu amerikanischen
Klientenstichproben (Walsh et al., 1991; Pennings, Leccese & Wolff, 2002) geringe Anteil
gleichzeitig vorliegender Kokain- und Alkoholdiagnosen. Die hohe Prävalenz einer gleichzeitig vorliegenden Diagnose schädlicher Gebrauch oder Abhängigkeit von Opiaten und der Diagnose schädlicher Gebrauch oder Abhängigkeit von Kokain (49,5%) bestätigt die in epidemiologischen Surveys in der Allgemeinbevölkerung gefundene geringe Prävalenz des Kokainkonsums und die Beschränkung des Kokainkonsums auf spezifische Gruppen wie die
Heroin- und die Partyszene.
Der aus den Daten des Epidemiologischen Surveys vorliegende Befund eines hohen Anteils
unproblematischer Lebenszeit-Kokainkonsumenten, einer kleinen Gruppe von u.a. kokainabhängigen Polykonsumenten und einer ebenso kleinen Gruppe kokainkonsumierender Opiatabhängiger weist darauf hin, dass (1) die Mehrheit der Kokainkonsumenten Kokain nur
gelegentlich, in kontrollierter Form oder in geringen Mengen konsumiert ohne negative Folgen zu entwickeln, (2) Kokain nicht die Droge der Wahl ist, sondern als Droge unter verschiedenen anderen legalen und illegalen Drogen konsumiert wird (polyvalentes Konsummuster) und (3) Kokain insbesondere im Zusammenhang mit Opiaten genommen wird. In der
Untersuchung von behandelten und unbehandelten Kokainabhängigen aus der LADA Stichprobe wurde der Zusammenhang zwischen einer zusätzlichen Opiatabhängigkeit und Behandlung deutlich. In Bezug auf andere Merkmale waren die Unterschiede zwischen der
Gruppe Behandelter und Unbehandelter gering. Wurde die Doppeldiagnose „aktuelle Opiatabhängigkeit“ in der Analyse berücksichtigt, fanden sich zwischen den beiden Gruppen systematische Unterschiede in den Konsumgewohnheiten. Der gemeinsame Konsum von Kokain und Opiaten war in der Gruppe der Behandelten deutlich ausgeprägter. Behandelte ohne Opioiddiagnose in den letzten 12 Monaten waren lebenszeitlich öfter an einer Opiatabhängigkeit erkrankt, was einen stärkeren Opiatkonsum impliziert, während Unbehandelte
signifikant häufiger eine aktuelle Halluzinogen-Diagnose aufwiesen und im Gegensatz zu
Behandelten öfter Diagnosen ausschließlich für stimulierende Stoffe (Kokain, Amphetamine,
Halluzinogene) hatten. Diese Befunde weisen bei Personen, die noch nie Kontakt mit dem
Behandlungssetting hatten, auf einen verringerten Mischkonsum von stimulierenden und
dämpfenden Substanzen hin.
Die im Zusammenhang mit drogenbedingten Störungen identifizierte Hochrisikogruppe polyvalenter Kokainkonsumenten (PG) und Kokain konsumierender Opiatkonsumenten (OG) einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe unterschied sich von der Gruppe unproblematischer Kokainkonsumenten (UG) und Kokainkonsumenten mit einem problematischen Alkoholkonsum (AG) durch einen frühen Einstieg in den Konsum legaler und illegaler Substanzen. Des weiteren zeigte der Vergleich aktueller Cannabis- und Kokainkonsumenten, dass
der Übergang vom Cannabiskonsum in den Kokainkonsum mit mehr und häufigerem Drogenkonsum und einem höheren Risiko für drogenbezogene Störungen verbunden ist. Cannabis- und Kokainkonsumenten unterschieden sich dagegen nicht im Anteil alkoholbezogener Störungen. Im Vergleich zur Cannabisgruppe begannen aktuelle Kokainkonsumenten in
einem früheren Alter mit dem Konsum von Tabak, Cannabis, Amphetamin, Ecstasy und
Diskussion
219
LSD. Diese Befunde unterstützen die Ergebnisse einer Reihe von Studien, die einen Zusammenhang zwischen frühem Einstieg und einem erhöhten Risiko für den Übergang zu
härteren Drogen sowie einem höheren Risiko für substanzbezogene Störungen feststellten
(Brook et al., 2002; Kandel & Yamaguchi, 1993; Robins & Przybeck, 1985; McGee et al.,
2000; Kraus et al., 2000). Unsere Ergebnisse widersprechen dagegen der Hypothese, dass
dieser Zusammenhang auf ein erhöhtes Sensation Seeking Verhalten zurückzuführen ist.
Die Untersuchung einer Gruppen von Drogenkonsumenten in unterschiedlichen Phasen ihrer
Drogenkarriere und die Analyse der Frage nach der Rolle des Kokainkonsums innerhalb von
Konsumentengruppen, bei denen bedeutsamer Kokainkonsum vorhanden war, zeigte, dass
Kokain vor allem im Rahmen polyvalenten Konsumgeschehens eine Rolle spielt und weder
von dem „Kokainkonsumenten“ noch von einer Kokainszene gesprochen werden kann (Leri,
Bruneau & Stewart, 2003; Verthein et al., 2001; Tossmann, Boltd & Tensil, 2001).
Die unterschiedlichen soziodemographischen Merkmale der Konsumentengruppen sowie die
Intensität des Drogenkonsums und die Diagnostik unterstreichen die von uns vorgenommene Gruppenbildung von Personen in unterschiedlichen Lebensphasen und unterschiedlichen
Stadien der Drogenkarriere. Über die durch legale Substanzen verursachten Diagnosen hinaus zeigen sich zwischen den Konsumentengruppen geringe Unterschiede in der Häufigkeit
substanzspezifischer Störungen. Opioidkonsumenten haben gegenüber den anderen Gruppen seltener eine Cannabisdiagnose und gegenüber den Polykonsumenten weniger häufig
eine Sedativadiagnose. Innerhalb der EPS-, der Opioid- und der Polykonsumgruppen finden
sich aber Unterschiede zwischen Konsumenten mit und ohne Kokaingebrauch. Bei Kokainkonsumenten der EPS-Gruppe ist das Risiko für Amphetamin- oder Halluzinogendiagnosen,
bei Kokainkonsumenten der Opioid- und Polykonsumenten das Risiko für Opioiddiagnosen
erhöht. Neben der stärkeren Konsumintensität war auch die psychische Belastung und die
Devianz bei Opioid- und Polykonsumenten am höchsten. Der Konsum von Kokain hatte jedoch innerhalb der EPS-, der Opioid- und der Polykonsumenten keinen Einfluss sowohl auf
die Schwere der psychischen Belastung als auch auf die Schwere der Devianz.
Insgesamt zeigten sich keine Unterschiede zwischen den Kokainkonsumenten der jeweiligen
Gruppen (EPS-, Opioid-, Polykonsumenten) in Bezug auf die Anteile kokainbezogener Störungen. Die Art der neben Kokain präferierten Drogen scheint somit für die Entwicklung von
kokainbezogenen Störungen keine Rolle zu spielen. Bedeutsamer Kokainkonsum ist in allen
drei Gruppen mit einer insgesamt höheren Konsumintensität aller Drogen und mit häufigeren
drogenbezogenen Diagnosen assoziiert. Der Kokainkonsum sollte hier aber nicht als ursächlich interpretiert werden, sondern lediglich als Indikator für stärkeren Drogenkonsum und den
damit verbundenen negativen Folgen verstanden werden. Da Kokain in der Drogenkarriere
eher später genommen wird (Kandel & Davis, 1991; Kandel & Yamaguchi, 1993; Wagner &
Anthony, 2002), könnte eine mit der Länge der Drogenkarriere zunehmende Konsumintensität für den Übergang in den Kokainkonsum verantwortlich sein. Aufgrund der Datenlage
könnte aber auch der Übergang zum Kokainkonsum ein Risikofaktor für einen stärkeren, allgemeinen Drogenkonsum sein. Entgegen der Gateway Hypothese, die den Übergang von
220
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
einer zur anderen Drogen als von der Droge per se abhängig sieht (Kandel, Yamaguchi &
Chen, 1992), weisen die Ergebnisse von Wagner und Anthony (2002) darauf hin, dass die
Progression des Drogenkonsum in Zusammenhang mit wachsenden Möglichkeiten zum
Konsum anderer Drogen steht. Die mit zunehmender Drogenerfahrung verbundene erhöhte
Exposition zum Drogenkonsum führt gemäß dieser Befunde (Van Etten & Anthony, 1999;
Van Etten, Neumark & Anthony, 1997; Wagner & Anthony, 2002) sowohl zu einer Steigerung
der Konsumintensität als auch zu einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit für den Konsum
anderer weniger zugänglicher Drogen wie beispielsweise Kokain.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich auf der Grundlage der vorhandenen Daten keine Hinweise auf eine Zunahme von Umfang und Intensität von Kokainkonsum und kokainbezogenen Störungen ergeben haben. Zudem zeigt sich, dass Kokainkonsum in der Regel in Zusammenhang mit dem Konsum anderer legaler und illegaler Drogen stattfindet. Im
Kontext eines polyvalenten Konsumverhaltens spielt Kokain in den meisten Fällen aber eine
untergeordnete Rolle. Kokainbezogene Störungen sind zwar selten, Personen mit diesen
Merkmalen weisen aber in der Regel ein früheres Einstiegsalter in den Konsum von legalen
sowie illegalen Drogen auf. Darüber hinaus ist der Übergang in den Kokainkonsum verbunden mit einer deutlich höheren Konsumintensität anderer illegaler Drogen. Einschränkend ist
anzumerken, dass mit den verwendeten Stichprobenverfahren möglicherweise nur ein Teil
der Population der Kokainkonsumenten erreicht wurde, so dass sich die vorgenommenen
Aussagen nur auf die hier erfassten Konsumenten in Behandlung und auf Personen in der
Allgemeinbevölkerung beziehen, die zu Aussagen zum Kokainkonsum bereit waren.
221
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225
7
Zusammenfassungen / Abstracts
Kraus, L., Semmler, C. & Augustin, R. Kokainkonsum bei Jugendlichen und Erwachsenen in
Deutschland: Prävalenz, Konsummuster und Trends.
Zusammenfassung
Ziel: Untersucht wurden zeitliche Veränderungen des Gebrauchs und der Gebrauchsmuster
von Kokain in der allgemeinen Bevölkerung zwischen 1980 und 2004. Verglichen wurden
Prävalenzen des Konsums illegaler Drogen, Konsumhäufigkeiten sowie Indikatoren für polyvalente Konsumerfahrung und fortgesetzten Konsum. Methode: Grundlage der Analyse waren die Daten der bundesweiten Wiederholungsbefragungen zum Gebrauch und Missbrauch
psychoaktiver Substanzen bei Jugendlichen (Drogenaffinitätsstudie, DAS) und Erwachsenen
(Epidemiologischer Suchtsurvey, ESA), die je nach Altersgruppe über einen Zeitraum von bis
zu 23 Jahren zur Verfügung standen. Ergebnisse: Die Analysen von Konsumverlauf und
Konsummuster zeigten (1) eine geringe Zunahme der Kokain-Lebenszeiterfahrung bei einer
insgesamt deutlichen Zunahme der Gesamtdrogenerfahrung, (2) keine Zunahme der Häufigkeit des Kokainkonsums und (3) ein überwiegend polyvalentes Erfahrungsmuster der Kokainkonsumenten mit den Substanzen Cannabis und/oder Stimulanzien/Halluzinogene. Nach
einem Anstieg bis Mitte der 1990er Jahre blieb der Anteil der Kokainerfahrenen an den Personen mit illegaler Drogenerfahrung insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen stabil. Schlussfolgerungen: Die in der Allgemeinbevölkerung festgestellten Prävalenzwerte weisen nicht auf eine Epidemie des Kokain- bzw. Crackkonsums in Deutschland
hin. Die deutliche Zunahme der Lebenszeit- sowie der 12-Monats-Prävalenz illegaler Substanzen ist auf den starken Anstieg der Cannabiserfahrung zurückzuführen.
Abstract
Aim: To determine changes in the use and consumption patterns of cocaine in the general
population from 1980 to 2004, we analysed the prevalence and frequency of the use of illegal
substances as well as polyvalent drug use and continuation rates. Method: Data came from
repeated cross-sectional surveys concerning the use and misuse of psychoactive substances among adolescents (Drug Affinity Study, DAS) and among adults (Epidemiological
Survey on Substance Abuse, ESA). Dependent on the age group data were available up to
23 years. Results: Analyses showed (1) a small increase in cocaine use in comparison with
a large increase in any drug use, (2) no changes in frequency of cocaine use and (3) a pronounced pattern of polyvalent drug use including cannabis and stimulants/hallucinogens. The
proportion of cocaine use among any drug use increased until 1990 but remained constant at
a lower rate thereafter. Conclusions: Prevalence rates of cocaine use in the general population do not point at a cocaine or crack epidemic in Germany. The increasing prevalence of
lifetime or 12-months any drug use is mainly due to an increase in the use of cannabis.
226
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
Welsch, K., Sonntag, D. & Kraus, L. Kokainabhängige in Behandlung: Charakteristik, Diagnose und Behandlungsvorgeschichte.
Zusammenfassung
Ziel: Beschreibung der soziodemographischen Charakteristika, Diagnosen, Komorbidität
sowie Konsum- und Behandlungsmerkmale von Klienten ambulanter Suchtberatungsstellen
mit schädlichem Gebrauch oder Abhängigkeit von Kokain. Methode: Grundlage der Untersuchung waren die aggregierten Daten der Deutschen Suchthilfestatistik 2002. Aus 454 ambulanten Suchthilfeeinrichtungen lagen Informationen zur behandelten Klientel vor. Ausgewertet wurden die Daten von Klienten mit einer kokainbezogenen Störung im Vergleich zu
Klienten mit alkohol- oder opiatbezogenen Störungen. Ergebnisse: Der Vergleich von behandelten Kokain-, Opiat- und Alkoholklienten macht deutlich, dass (1) nur etwa jeder fünfte
Klient und etwa jede zehnte Klientin wegen einer kokainbezogenen Störung behandelt wurde, (2) Kokain- und Opiatklienten jünger waren als Alkoholklienten, (3) Kokainklienten ähnliche soziodemographische Charakteristika aufwiesen wie Opiatklienten und beide Gruppen
sich deutlich von den Alkoholklienten unterschieden, (4) komorbide Störungen bei Klienten
mit einer Einzeldiagnose Kokain oder Crack am häufigsten auftraten, (5) bei Kokainklienten
am häufigsten (über 50%) eine Erstbehandlung vorlag, (6) die Rate planmäßiger Therapiebeendigung bei Kokainklienten niedriger war als bei Alkoholklienten, aber höher als bei Opiatklienten, und (7) sich die absolute Häufigkeit der therapeutischen Nachfrage bei vorliegender Hauptdiagnose für alle drei Substanzstörungen zwischen 1994 und 2002 ähnlich entwickelt hat. Schlussfolgerungen: Kokainbezogene Störungen waren in der Regel mit dualen
oder Mehrfachdiagnosen verbunden, traten aber als zu behandelnde Störungen in den Hintergrund. Der hohe Anteil gleichzeitiger Opiatdiagnosen und der geringe Anteil gleichzeitiger
Alkoholdiagnosen unterstreicht die insbesondere auf die Opiatszene eingeschränkte Verbreitung des Kokainkonsums. Im Gegensatz zu einer zunehmenden Behandlungsnachfrage von
cannabis- und stimulanzienbezogenen Störungen war die Entwicklung der Behandlungsnachfrage bei kokain-, opiat- oder alkoholbezogenen Störungen stabil.
Abstract
Aim: Description of cocaine clients in outpatient treatment regarding sociodemographics,
comorbidity, consumption patterns and treatment characteristics. Method: Aggregated data
from 454 outpatient treatment facilities, which deliver data for the German Statistics on substance related outpatient treatment were analysed. Results: Comparisons of characteristics
of clients treated for cocaine-, opiate- or alcohol-related disorders revealed that (1) 20% of
male and 10% of female clients were treated for cocaine disorders. (2) Cocaine and opiate
clients were younger than alcohol clients. (3) Cocaine clients had similar sociodemographic
characteristics as opiate clients but differed from alcohol clients. (4) Comorbid disorders were
more often found in cocaine clients. (5) 50% of cocaine clients sought treatment for the first
time. (6) Cocaine clients terminated treatment as intended less often than alcohol clients but
more often than opiate clients and (7) absolute numbers of treatment seeking between 1994
and 2002 developed at the same rate for all three substance related disorders. Conclu-
Zusammenfassungen / Abstracts
227
sions: Cocaine-related disorders were frequently dominated by other substance related disorders. The high rate of dual opiate disorders correlates findings reporting frequent co-use of
cocaine and opiates in opiate-addicts. Compared to an increasing number of drug users
seeking treatment for cannabis- and stimulant-related problems, trends in treatment demand
for cocaine-, opiate- and alcohol-related problem are stable.
228
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
Semmler, C., Kraus, L. & Orth, B. Unterschiede zwischen unbehandelten und behandelten
Kokainkonsumenten mit einer aktuellen kokainbezogenen Diagnose
Zusammenfassung
Ziel ist der Vergleich von behandelten und unbehandelten Kokainkonsumenten bzgl. verschiedener Bereiche (Kokainkonsum, Konsum anderer Substanzen, substanzbezogene Diagnosen, psychische Gesundheit, Wohlbefinden, deviantes Verhalten, Konsequenzen des
Kokainkonsums, soziale Unterstützung). Methode: Es wurden Daten des ersten Erhebungszeitraums (Januar 1996-Februar 1997) der ”Längsschnittanalyse zum Drogenabusus”
(LADA) ausgewertet. 80 Kokainkonsumenten, die mindestens einmal wegen ihres Drogenkonsums behandelt wurden, wurden mit 34 Kokainkonsumenten verglichen, die nie an einer
Drogenbehandlung teilnahmen. Alle Probanden hatten eine Diagnose für schädlichen
Gebrauch oder Abhängigkeit von Kokain in den letzten 12 Monaten nach ICD-10. Ergebnisse: Behandelte Kokainkonsumenten waren älter, hatten höhere Prävalenzen für den Konsum von Opiaten und Sedativa, konsumierten diese Substanzen in einer höheren Frequenz
und wiesen öfter eine substanzbezogene Diagnose für Opiate und Sedativa auf, während
Unbehandelte häufiger eine aktuelle Diagnose für schädlichen Gebrauch oder Abhängigkeit
von Halluzinogenen erhielten. Behandelte hatten mehr rechtliche Probleme durch Drogenund Kokainkonsum. Beide Gruppen unterschieden sich nicht in den anderen Bereichen (Kokainkonsum, Anzahl substanzbezogener Diagnosen nach ICD-10, psychische Gesundheit,
Wohlbefinden, deviantes Verhalten, Konsequenzen des Kokainkonsums, soziale Unterstützung). Ähnliche Ergebnisse wurden gefunden, wenn Probanden mit einer aktuellen Opiatabhängigkeit aus den Analysen ausgeschlossen wurden. Schlussfolgerungen: Behandelte
und unbehandelte Kokainkonsumenten unterscheiden sich nur in wenigen Bereichen. Die
meisten Unterschiede beziehen sich auf den Konsum und Missbrauch von Opiaten, Sedativa
und Halluzinogenen. Behandelte Kokainkonsumenten konsumieren eher dämpfende und
stimulierende Substanzen, während unbehandelte nur stimulierende Substanzen nehmen.
Abstract
The aim of this study was to compare the characteristics of treated and untreated cocaine
users concerning several areas (use of cocaine and other psychotropic substances, substace-related diagnoses, mental health, well-being, deviant behaviour, consequenses of cocaine use, social support). Method: This analysis draws on the first time point of measurement (January 1996-February 1997) of the Longitudinal Analysis of Drug Abuse Study
(LADA). Eighty cocaine users, who had been in substance abuse treatment at least once,
were compared with 34 cocaine users, who had never been treated. All cocaine users had a
diagnosis of cocaine abuse or cocaine dependence during the past 12 months according to
the ICD-10. Results: Treated cocaine users were significantly older, had a higher prevalence
and frequency of the use of opiates and sedatives, were more likely to be diagnosed for
abuse of or dependence on these substances, but were less likely to have a diagnosis of hallucinogen abuse or dependence. They also had had more problems with the legal system
because of drug and cocaine use than their untreated counterparts. Both groups did not differ in the other areas (cocaine use, number of additional substance-related ICD-10-
Zusammenfassungen / Abstracts
229
diagnoses, mental health, well-being, deviant behaviour, negative consequences of their cocaine use, social support). Similar results were found when participants with a current opiate
dependence were excluded. Conclusions: Treated and untreated cocaine users differ only
in few areas. Most differences found between both groups are related to the use and misuse
of opiates, sedatives and hallucinogens. Treated cocaine users seem to co-use depressant
and stimulant substances whereas their untreated counterparts are more likely to use only
stimulants and hallucinogens.
230
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
Kunz-Ebrecht, S., Orth, B., Augustin, R. & Kraus, L. Konsummuster und substanzbezogene
Störungen bei Kokainkonsumenten
Zusammenfassung
Ziel: Der Konsum von Kokain ist in Deutschland zwar auf einem sehr niedrigen Stand, insgesamt jedoch sind die Prävalenzraten innerhalb der letzten Jahrzehnte deutlich angestiegen. In der vorliegenden Studie wurden Kokainkonsumenten bezüglich der Muster ihres
Drogenkonsums sowie der Konsequenzen untersucht, mit dem Ziel verschiedene Konsumentengruppen herauszuarbeiten. Zudem wurde das Einstiegsalter dieser Gruppen bezogen
auf legale und illegale Drogen analysiert. Methodik: Der verwendete Datensatz stammt aus
zwei repräsentativen Bevölkerungsbefragungen zum Drogengebrauch in der deutschen Allgemeinbevölkerung aus den Jahren 1997 und 2000. Die Rücklaufquote lag bei 65% beziehungsweise 51%. Diese beiden Datensätze wurden zusammengefasst (n=16.159) und es
ergaben sich insgesamt 269 Personen mit einer Lebenszeit-Prävalenz für Kokain. Mit einer
Latenten Clusteranalyse wurden vier Gruppen ermittelt und bezüglich externer Variablen
verglichen. Ergebnisse: Das größte Cluster bestand aus unproblematischen Konsumenten
(72%), eine kleinere Gruppe aus Konsumenten überwiegend legaler Drogen (13%), eine
noch kleinere Gruppe zeigte Polydrogenkonsum (10%) und die kleinste Gruppe setzte sich
vor allem aus Opiatkonsumenten (6%) zusammen. Statistische Vergleiche zwischen den
Gruppen ergaben signifikante Unterschiede bezüglich soziodemographischer Merkmale,
Drogenkonsummuster und dem Einstiegsalter für legale und illegale Drogen. Die beiden
kleineren Gruppen zeigten die höchsten Konsumhäufigkeiten und das niedrigste Einstiegsalter für Tabak, Cannabis und Kokain und auch das niedrigste Alter für den ersten regelmäßigen Alkoholkonsum. Die Mehrheit der Kokainkonsumenten gab als Reihenfolge des Erstkonsums Tabak, dann Cannabis und am Ende Kokain an. Schlussfolgerungen: Der Großteil
(zwei Drittel) der Befragungsteilnehmer hatte zwar mit Kokain experimentiert, jedoch keine
kokainbezogenen Probleme, Missbrauch oder Abhängigkeit von anderen Drogen entwickelt.
Ein frühes Einstiegsalter wurde als Risikofaktor für schwerwiegenderen Konsum und drogenbezogene Probleme identifiziert. Insgesamt betrachtet stellt Kokain nicht die Hauptdroge
dar, sondern wird neben einer Vielzahl anderer legaler und illegaler Drogen verwendet.
Abstract
Aim: Cocaine use is still at a very low level in Germany but prevalence rates have increased
over the last decades. Patterns of drug consumption and related adverse consequences of
individuals who had used cocaine were investigated in order to distinguish different types of
cocaine users. Differences in age of onset of legal and illegal drugs of different cocaine using
groups were analysed. Methods: Data come from two nationwide representative surveys on
substance abuse in the general German population using self-administered questionnaires in
1997 and 2000. Overall response rate was 65% and 51%, respectively. The two samples
were pooled (n=16,159) and latent cluster analysis was conducted using a subsample of 269
lifetime cocaine users. Clusters were compared using external variables. Results: Four clusters were derived with the majority consisting of unproblematic users (72%), a smaller group
of mostly legal drug users (13%), a small group of poly-drug users (10%), and the smallest
Zusammenfassungen / Abstracts
231
group of mainly opiate users (6%). Comparisons of sociodemographic characteristics, consumption patterns, and age of onset for legal and illegal drugs showed significant differences
between the groups. The two latter clusters were found to have the highest consumption frequencies as well as an earlier age of first tobacco, cannabis and cocaine use as well as an
earlier onset of regular alcohol use. In the majority of users the order of drug initiation started
with tobacco, followed by cannabis and cocaine as the last in the sequence. Conclusions:
The majority (two thirds) of individuals experimented with cocaine and did not exhibit cocaine-related problems or develop symptoms of abuse or dependence of other drugs. Early
onset is found to be a risk factor for severe drug related problems. Rather than being a major
drug, cocaine is used among many other legal and illegal drugs.
232
Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
Kunz-Ebrecht, S., Kraus, L., Orth, B. & Augustin, R. Ist Sensation Seeking ein Risikofaktor
für den Übergang in den Kokainkonsum?
Zusammenfassung
Ziel: Das Alter des ersten Konsums psychotroper Substanzen spielt eine wesentliche Rolle
für die psychosoziale Entwicklung und den zukünftigen Konsum von Drogen. Darüber hinaus
finden sich steigende Prävalenzraten des Cannabiskonsums bei Jugendlichen. Ziel dieser
Untersuchung war der Vergleich von Drogenkonsummustern und Diagnosen bei zwei Gruppen mit unterschiedlichem Drogengebrauch in Abhängigkeit des Alters des Erstkonsums und
des Merkmals Sensation Seeking. Methode: Die Datenanalyse beruht auf zwei repräsentativen Bevölkerungsbefragungen zum Drogengebrauch in der 18-59jährigen Bevölkerung
Deutschlands aus den Jahren 1997 und 2000. Verglichen wurden Personen, die in den letzten 12 Monaten Cannabis (Cannabisgruppe, n = 557) bzw. Kokain (Kokaingruppe, n = 85)
konsumiert hatten, hinsichtlich soziodemographischer Charakteristika, Sensation Seeking,
Alter des Erstkonsums, Konsummuster und DSM-IV Diagnosen für Tabak, Alkohol, Cannabis, Ecstasy, LSD, Amphetamine, Crack und Heroin. Ergebnisse: Im Gegensatz zur Cannabisgruppe wurde von der Kokaingruppe seltener ein höherer Schulabschluss angegeben. In
der Kokaingruppe war im Vergleich zur Cannabisgruppe die Lebenszeit- und 12-MonatsPrävalenz für Amphetamine, Ecstasy, LSD und Heroin, nicht aber für Alkohol und Tabak erhöht. Hinsichtlich der Konsumhäufigkeit berichtete die Kokaingruppe gegenüber der Cannabisgruppe eine größere Konsummenge an Alkohol und Zigaretten bzw. Cannabis und Ecstasy. In der Kokaingruppe wurden häufiger die diagnostischen Kriterien für Missbrauch und
Abhängigkeit von Cannabis und Ecstasy bzw. Abhängigkeit von Tabak und Amphetaminen
erfüllt. Gegenüber der Cannabisgruppe berichtete die Kokaingruppe ein früheres Alter des
ersten Konsums von Tabak, Cannabis, Amphetaminen, Ecstasy und LSD. Hinsichtlich des
Sensation Seekings fanden sich weder Gruppenunterschiede noch Interaktionseffekte.
Schlussfolgerungen: Ein frühes Alter des Erstkonsums legaler und illegaler Substanzen
kann ein relevanter Risikofaktor für die spätere Entwicklung eines schweren Drogenkonsums
sein. Die Persönlichkeitseigenschaft des Sensation Seeking differenzierte möglicherweise
deshalb nicht zwischen beiden Gruppen, da beide im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung
ein hohes Konsumniveau aufwiesen. Neben einem frühen Erstkonsum können auch andere
Faktoren wie genetische oder soziale Einflüsse eine Rolle als Risikofaktor spielen. Insgesamt betonen unsere Befunde die wesentliche Rolle von Präventionsprogrammen für Jugendliche.
Abstract
Aim: Previous research has established an essential role of the age of onset of psychotropic
substances on the psychosocial development and future use of drugs. Moreover, there are
findings on increasing prevalence rates of cannabis use in adolescents. The aim of the current study was to analyse drug consumption patterns, and diagnoses in respect to age of onset and sensation seeking behaviour in two different drug using groups. Methods: Data
analysis was based on two representative samples of the German-speaking general population aged 18-59 years which was conducted in 1997 and 2000. We compared individuals
Zusammenfassungen / Abstracts
233
who reported having used cannabis during the previous 12 months (Cannabis group, n=557)
with individuals who used cocaine during the previous 12 months (Cocaine group, n=85)
concerning sociodemographic characteristics, sens ation seeking behaviour, age of onset,
use pattern and DSM-IV diagnoses of tobacco, alcohol, cannabis, Ecstasy, LSD, amphetamines, crack und heroine. Results: In contrast to the Cannabis group less individuals of the
Cocaine group reported of having achieved a higher school degree or university entrance diploma. Individuals of the Cocaine group showed higher lifetime and 12-months prevalence
rates of amphetamines, Ecstasy, LSD, and heroine, but not for alcohol and tobacco in comparison with the Cannabis group. In terms of consumption frequencies however, the Cocaine
group reported a higher amount of alcohol intake and also of cigarette consumption in contrast to the Cannabis group. Consumption frequencies were also higher for cannabis, and
Ecstasy in the Cocaine group than in the Cannabis group. The Cocaine group more often fulfilled the diagnostic criteria for abuse and dependence for cannabis and Ecstasy as well as
tobacco and amphetamines dependence than did the Cannabis group. The individuals of the
Cocaine group reported of an earlier age of onset concerning tobacco, cannabis, amphetamines, Ecstasy, and LSD than did the individuals of the Cannabis group. No group differences or interactions were found for sensation seeking behaviour. Conclusions: An early
age of onset of legal and illegal drug consumption might be a relevant risk factor for later development of a more severe drug use in women and men. Sensation seeking as a personality trait could not differ between the two groups possibly because a high consumption level of
drugs was found in both groups in comparison with the general public. Of course, it cannot
be ruled out that apart from an early age of onset other factors such as genetic or social influences might be involved as well. In sum, our findings emphasize the vital role of prevention programs for adolescents.
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Teil II: Untersuchung zum Kokainkonsum
Orth, B., Semmler, C. & Kraus, L. Charakteristika von Kokainkonsumenten in einer Stichprobe von Drogenkonsumenten.
Zusammenfassung
Ziel: Ziel dieser Studie war, verschiedene Gruppen von Drogenkonsumenten in unterschiedlichen Phasen ihrer Drogenkarriere hinsichtlich Konsummuster und negativen Konsequenzen
zu untersuchen. Von Interesse war dabei insbesondere die Rolle des Kokainkonsums. Methode: Es wurden Daten des ersten Erhebungszeitraums der ”Längsschnittanalyse zum
Drogenabusus” (LADA) ausgewertet: N = 785 Probanden, die in den 12 Monaten vor der Erhebung mindestens eine illegale Droge konsumiert hatten, wurde in experimentelle (11,7%,
N = 92), Cannabis- (35,4%, N = 278), reine Kokain- (2,2%, N = 17), Ecstasy-PsychedelikaStimulanzien- (EPS; 11,8%, N = 93), Opioid- (22,3%, N = 175) und Polykonsumenten
(16,6%, N = 130) unterteilt. EPS-, Opioid- und Polykonsumenten wurden darüber hinaus
nach Kokainkonsum unterschieden. Die verschiedenen Konsumentengruppen wurden hinsichtlich soziodemographischer Merkmale, der Konsumintensität, substanzspezifischer Störungen, psychischer Belastung und Devianz verglichen. Ergebnisse: Experimentelle, Cannabis- und EPS-Konsumenten waren jünger, häufiger ledig und in Schule, Ausbildung oder
Studium. Opioid- und Polykonsumenten waren häufiger arbeitslos, nahmen durchschnittlich
mehr Drogen, waren psychisch stärker belastet und berichteten häufiger deviantes Verhalten. Kokainkonsum innerhalb der EPS-, Opioid- und Polykonsumenten war mit stärkerer
Konsumintensität und häufigeren substanzbezogenen Diagnosen assoziiert. Diskussion:
Kokainkonsum spielt überwiegend im Rahmen eine polyvalenten Konsumverhaltens eine
Rolle, der alleinige Konsum von Kokain ist äußerst selten. Die Art der von Kokainkonsumenten neben Kokain bevorzugten Droge hat auf die Entwicklung von kokainbezogenen Störungen keinen Einfluss. Mit zunehmender Drogenerfahrung findet eine Steigerung der Konsumintensität im Zusammenhang mit dem Übergang in den Konsum von Kokain statt.
Abstract
Aim: The aim of this study was to analyse the impact of cocaine use on consumption patterns and negative consequences of drug users at different stages of their drug carrier.
Method: This analysis draws on the first point of measurement (January 1996-February
1997) of the Longitudinal Analysis of Drug Abuse Study (LADA): N=785 drug users, who had
reported drug consumption at least once within the past 12 months previous to the survey
were categorised into experimental (11,7%, N = 92), cannabis (35,4%, N = 278), sole cocaine (2,2%, N = 17), ecstacy-hallucinogens-stimulants (EPS; 11,8%, N = 93), opioids
(22,3%, N = 175) and poly drug users (16,6%, N = 130). Within the EPS-, opioids- and poly
drugs group respondents with and without cocaine use were identified. The a-priori categorised drug users were compared according to sociodemographic characteristics, intensity of
drug use, drug-related disorders oparationalized by ICD-10 criteria, psychological distress
and deviance. Results: Experimental, cannabis and EPS users were found to be younger,
usually not married and most had not finished yet school, vocational training or university.
Opioids- and poly drug users were more often unemployed, reported on average more drug
Zusammenfassungen / Abstracts
235
intake, were psychologically more distressed and showed more deviant behavior compared
to the other groups. Cocaine use within the EPS-, opioids- and poly drug group was associated with a higher level of drug-related disorders. Conclusions: Cocaine consumption is
mostly found to be imbedded in a pattern of poly drug use, sole cocaine use is rare. The kind
of drugs preferred next to cocaine has no impact on cocaine related disorders. Increasing
drug experience seems to be associated with intensity of drug use and progression into cocaine use.
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