Im Jahr 1976 machte der britische Evolutionsbiologe Richard DAWKINS mit seinem Buch „Das egoistische Gen“ Furore. „Gene sind genauso wenig egoistisch, wie Atome eifersüchtig sein können“, schrieb eine Kritikerin, die nicht verstanden hatte, dass DAWKINS eine Metapher benutzt hatte. Natürlich haben Gene keine Absichten oder gar ein Bewusstsein und können in diesem Sinne auch nicht egoistisch sein. Aber Gene haben Auswirkungen, die ihre Ausbreitung im Genpool der kommenden Generationen beeinflussen. Altruistisches Verhalten von Individuen, das letztlich der Ausbreitung der Gene dieser Individuen dient und in diesem Sinne „egoistisch“ ist, ist nur eine dieser Auswirkungen. GENETIK Können Gene egoistisch sein? Aus diesem Grund haben sich auch in der Fachsprache Begriffe wie „egoistische Gene“ oder „egoistische genetische Elemente“ eingebürgert. Gene, die ihrem Träger schaden, sich selbst aber nützen, kennt man auch 47.1 Richard Dawkins (*1941) Erfolgreich ist ein Allel in der Evolution dann, wenn es sich gegen seine konkurrierenden Allele durchsetzen kann. Normalerweise kommt dieser Effekt dadurch zustande, dass manche Allele die Überlebens- und Fortpflanzungschancen ihres Trägers vorteilhafter beeinflussen als andere. Dadurch nehmen sie im Genpool der Population zu, während die weniger erfolgreichen Allele seltener werden. Es gibt jedoch auch Gene, die ihre Weitergabe in den Genpool der nächsten Generation direkt und auf Kosten ihrer Allele beeinflussen. Ein Beispiel ist der aus einem Komplex mehrerer gekoppelter Allele bestehende T-Haplotyp bei Mäusen. Zwei Kopien des T-Haplotyps sind für eine Maus tödlich, aber heterozygote Männchen überleben und geben ihn zu über 90 Prozent an ihre Nachkommen weiter – anstatt der bei einer normal verlaufenden Meiose zu erwartenden 50 Prozent. Solche Allele oder Allelkomplexe, die den Verlauf der Meiose zu ihren Gunsten beeinflussen, nennt man Segregationsverzerrer (lat. segregatio, Trennung). 47.2 Wirkungsweise eines Segregationsverzerrers (Schema) Die Wirkung der inzwischen bei zahlreichen Tierund Pflanzenarten gefundenen Segregationsverzerrer besteht darin, dass sie den Stoffwechsel der Träger des homologen Chromosoms so beeinflussen, dass diese absterben. Andere Gene, wie das bei einem Mehlkäfer entdeckte „Medea-Gen“, führen zum Tode sämtlicher Nachkommen heterozygoter Mütter, die nicht über das entsprechende Allel verfügen. vom Menschen. Etwa eine von 200 Personen in Europa leidet beispielsweise an einer genetisch mitbedingten Form der Depression, die mit starken Stimmungsschwankungen verbunden ist. Unter den Betroffenen ist die Selbsttötungsrate hoch. Die Häufigkeit der beteiligten Gene erklärt sich dadurch, dass sie ihren Trägern einen Fortpflanzungsvorteil verschaffen. Obwohl Medea-Gene und Segregationsverzerrer keinerlei böse Absichten haben, sind ihre Effekte denen egoistischer Individuen vergleichbar: Sie nützen nur sich selbst und schaden nicht nur ihren Allelen, sondern sogar dem Körper, der sie beherbergt. 1 Trotz des Schlagworts vom „survival of the fittest“ bemisst sich der Erfolg eines Gens nicht daran, wie sehr es seinem Träger nützt, sondern daran, wie sehr es sich selbst nützt. Erläutern Sie diese Aussage. Mechanismen der Evolution 47