Der Homo Oeconomicus unter Druck - Ruhr

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6.
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSBETRACHTUNGEN
Die vorliegende Studie hat es sich zur Aufgabe gemacht, in einem ersten Schritt konzeptionell
die verschiedenen Dimensionen des situativen Drucks und insbesondere die Komponenten des
ökonomischen Drucks herzuleiten und darauf aufbauend in einem zweiten Schritt die Wirkungsweise
der Komponenten Einkommen und Kosten des Verhaltens (Höhe des Spielbetrags) empirisch zu
untersuchen. Die so generierten Ergebnisse können Aufschluss darüber geben, ob das restriktive
Modell des Homo Oeconomicus tatsächlich in der Lage ist, menschliches Verhalten in ökonomischen
Hochkostensituationen angemessen zu prognostizieren.
Zur empirischen Überprüfung der Forschungsfrage wurde eine typische ökonomische
Anomalie ausgewählt: das Verhalten ‚altruistischer‘ Bestrafung im Ultimatum Spiel. Die Bestrafung
eines anonymen Gegenübers stellt hier die Erfüllung einer sozialen Meta-Norm dar. Da das Verhalten
des Responders nicht beobachtet werden kann ist diese Meta-Norm internalisiert und die Bestrafung
führt zu einer internalen Belohnung (‚warm-glow‘ nach Andreoni 1994). Je höher jedoch der
ökonomische Druck wird, der auf den Akteur wirkt, umso irrelevanter wird diese internalisierte Norm.
Durch Verwendung einer sehr heterogenen, nicht-studentischen Stichprobe von indonesischen
Befragten und durch Erschaffung einer anonymen Spielsituation mit einer sehr hohen Varianz in der
Höhe der Spielbeträge und der gemachten Angebote ist es möglich, Effekte des situativen Drucks zu
beobachten, die in bisherigen Studien nicht gefunden wurden.
Ergebnisse
Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die ökonomischen Druckkomponenten ‚Höhe des
Spielbetrags‘ sowie ‚Einkommen des Probanden‘ einen sehr starken Einfluss auf das
Bestrafungsverhalten im Spiel haben. Je höher der Spielbetrag und je niedriger das Einkommen, desto
höher die Wahrscheinlichkeit auch sehr niedrige, als unfair wahrgenommene Angebote anzunehmen.
Der Effekt des Einkommens ist hierbei noch deutlich stärker als der Effekt der Höhe des Spielbetrags,
wobei auch die unterschiedliche Skalierung in Rechnung gestellt werden muss. Eindeutig ist allerdings
festzustellen, dass der Effekt beider Druckkomponenten nicht-linear ansteigt. Befindet sich ein
Befragter in einer Niedrigkostensituation und steigt der Druck um eine ‚Einheit‘, so hat dies einen viel
stärkeren Effekt als befände sich derselbe Befragte bereits in einer Hochkostensituation. So wie beim
Einkommen klassischerweise (nach dem ersten Gossenschen Gesetz) von einem abnehmenden
Grenznutzen gesprochen wird, so nimmt die zusätzliche Veränderung der Annahmewahrscheinlichkeit
bei einem Anstieg des Drucks mit zunehmendem Ausgangsniveau des Drucks ab.
Diese Nichtlinearitäten sind robust über alle Datenanalyse hinweg festzustellen, einzig in einer
Analyse des persönlichen Einkommens fällt auf, dass dieser Effekt eine invertierte U-Form aufweist.
Auf einen ähnlichen Effekt weist eine Veröffentlichung namens ‚Why the rich are nastier than the
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poor‘ von Huck und Müller (2000) hin, die in einem mathematischen Modell zeigen, dass Menschen
nicht nur absoluten Wohlstand maximieren sondern auch ihre relative Position in einer
Einkommensverteilung. Dies kann dazu führen, dass Personen im oberen Bereich der
Einkommensverteilung ‚gierig‘ werden und stärker im ökonomischen Sinne handeln als Menschen in
mittleren Bereichen der Einkommensverteilung.
Implikationen
Diese Ergebnisse haben Relevanz für verschiedene Literaturbereiche wie der experimentellen
Ökonomie, den neueren Publikationen im Bereich ‚Austrian Economics‘, und den Diskussionen um
die empirischen Validität der Theorie des situativen Determinismus (oder konkreter der
Anwendbarkeit der ‚Low-Cost-Hypothese‘ nach Diekmann und Preisendörfer 2003).
Fragt man nach den Implikationen dieser Ergebnisse, so muss man zwischen zwei
Argumentationen unterscheiden: einerseits lassen sich direkte Diskussionen über die Implikationen für
die Normdurchsetzung in sozialen Systemen anschließen, andererseits kann man Schlussfolgerungen
für die Diskussionen um rationales Verhalten in der ökonomischen Theorie ableiten:
1)
Normdurchsetzung
in
sozialen
Systemen:
die
Ergebnisse
weisen
darauf
hin,
dass
Normdurchsetzung nicht stattfindet, wenn dieses Verhalten mit Kosten verbunden ist und der Akteur
ein sehr geringes Einkommen hat. Lässt sich nun daraus ableiten, dass Normdurchsetzung in armen
Gesellschaften oder Gesellschaftsschichten weniger gut funktioniert? Dies würde in einem weiteren
Schritt auch implizieren, dass Normverstöße häufiger würden, weil Akteure sich der geringeren
Wahrscheinlichkeit der Bestrafung ihres Normverstoßes bewusst wären und die wahrgenommenen
Kosten des Normverstoßes dementsprechend geringer ausfallen würden.
Es gibt hier Argumente, die für, und Argumente, die gegen diese Annahme sprechen.
Einerseits lässt sich tatsächlich ein höheres Maß an Normverstößen gegen soziale und legale Normen
(Kriminalität) in armen Gesellschaften und Gesellschaftsschichten fest stellen. Dies lässt sich aber
auch über einen direkten Pfad argumentieren und nicht nur über den Umweg der Meta-Normen.
Möglicherweise sind sich die Akteure tatsächlich einer geringeren Wahrscheinlichkeit der Bestrafung
bewusst (obwohl man hier auch beachten muss, dass die Durchsetzung von legalen Normen durch
staatliche Institutionen erfolgt und nicht etwa allein durch soziale Kontrolle). Dies könnte zu einer
höheren Bereitschaft zu Verstößen gegen soziale oder eben auch legale Normen führen. Neben dieser
als geringer wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit der Bestrafung kann man aber auch annehmen,
dass eine ökonomische Hochkostensituation Menschen direkt dazu bringen kann, gegen soziale oder
legale Normen zu verstoßen, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Schwierig sind solche Aussagen
insbesondere, da individuelles Verhalten der Normdurchsetzung in der Realität eher selten mit direkten
monetären Kosten verbunden ist. Ein kollektives System der Durchsetzung legaler Normen allerdings
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ist wiederum mit Kosten für den einzelnen verbunden und wird als öffentliches Gut erster Ordnung in
reicheren Gesellschaften in einem höheren Maß bereitgestellt als in ärmeren.
Am Beispiel Indonesiens zeigt sich allerdings, dass auch andere Dimensionen des
menschlichen Lebens einen Einfluss darauf haben können, wie hoch die internalen Kosten eines
Normverstoßes eingeschätzt werden und wie gut das kollektive System der Normdurchsetzung
dadurch funktioniert: Auf der Insel Bali, einer hinduistisch geprägten Kultur, ist die Kriminalitätsrate
mit großem Abstand geringer als in allen anderen Regionen des Landes. Durch den Karma-Gedanken
und die daraus resultierende Überzeugung, dass man, wenn man einem Mitmenschen schadet, sich
eigentlich selbst schädigt, entsteht ein gut funktionierendes System internalisierter Normen, die der
einzelne intrinsisch motiviert einhält.
Diese Überlegungen sind allerdings nicht das zentrale Untersuchungsziel dieser Arbeit
gewesen und sollen deswegen nicht weiter vertieft werden. Nichtsdestotrotz sind solcherlei
Diskussionen im Anschluss an die Präsentation der vorliegenden Ergebnisse mehrmals Gegenstand
der Diskussion auf fachbezogenen Konferenzen gewesen und sollten hier kurz Beachtung finden. In
der vorliegenden Untersuchung geht es jedoch vielmehr um die Fragestellung nach der Anwendbarkeit
des restriktiven HO Modells zur Prognose von Verhalten in ökonomischen Hochkostensituationen,
also um einen Erkenntnisfortschritt für die ökonomische Theorie.
2) Ökonomische Theorie: Die vorliegende empirische Validierung der Theorie des situativen
Determinismus stellt ein starkes Argument zur Rechtfertigung des klassischen HO Modells dar: Fragt
man sich nicht ob, sondern in welchen Situationen Menschen so handeln wie der klassische HO, so
lassen sich Situationen identifizieren, in denen der ökonomische Druck, der auf die Akteure wirkt, so
stark ist, dass alle nicht-ökonomischen Nutzenbestandteile irrelevant werden.
Diese Veränderung der Betrachtungsweise könnte auch den bestehenden Grabenkriegen
zwischen den Ökonomen und anderen verhaltenswissenschaftlichen Disziplinen ein Ende setzen. In
Situationen, in denen ein starker ökonomischer Druck auf die Akteure wirkt, wird der klassische RC
Ansatz zu angemessenen Prognosen des Verhaltens auf Aggregat- und auf Individualebene kommen.
In Niedrigkostensituationen hingegen sollten sich Wissenschaftler elaboriertere Modelle der
Psychologie und der Sozialpsychologie bedienen, um Verhalten erklären und prognostizieren zu
können. Im Sinne von Koppl und Whitman (2004) kann man also davon sprechen, dass ihr Ansatz der
‚Rational Choice Hermeneutics‘ eine fruchtbare Methode zur Vereinigung von Rational Choice und
hermeneutischen Theorien darstellt.
Aufbauend auf die Erkenntnisse von Diekmann und Preisendörfer (2003) erweitert diese
Studie das bestehende Wissen über das Verhalten von Probanden unter unterschiedlichem
ökonomischen Druck, indem sie nicht nur den Bereich der Niedrigkostensituationen, sondern ein
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weites Spektrum an unterschiedlichem situativen Druck untersucht. Die von Diekmann und
Preisendörfer angenommene, aber nicht empirisch überprüfte Nichtlinearität des Effekts des situativen
Drucks lässt sich anhand der vorliegenden Daten bestätigen.
Die Frage, die sich insbesondere Quandt und Ohr stellen, wann eine Situation als Hochkostenund wann als Niedrigkostensituation angesehen werden kann, kann auf Basis dieser Studie noch nicht
abschließend beantwortet werden. Die Nichtlinearität der Effekte weist darauf hin, dass die stärkste
Veränderung des Verhaltens stattfindet, wenn sich ein Akteur in einer Niedrigkostensituation befindet
und der Druck ansteigt. Je höher das Ausgangsniveau des ökonomischen Drucks, desto kleiner die
marginale Verhaltensanpassung. Wann allerdings der Punkt erreicht ist, an dem nur noch eine
mögliche Handlungsalternative existiert, die sein ‚Überleben‘ sichert, ist von der Ausgestaltung der
Entscheidungssituation abhängig.
Limitationen
Hinsichtlich eines möglichen ‚omitted-variable-bias‘ kann gesagt werden, dass die Messung
des sozialen Status ist in der vorliegenden Arbeit über Indikatoren wie Einkommen, Geschlecht,
Bildungsjahre und Alter erfolgt. Das Konstrukt ist allerdings als viel komplexer einzuschätzen.
Besonders in einer Kultur, in der das Kastensystem noch alltäglich praktiziert wird und in der eine der
ersten Fragen in jeder sozialen Interaktion zwischen Menschen die nach der Geburtskaste ist, kann
man erwarten, dass sich diese Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht auf das Verhalten auswirkt. In
dieser Studie wurde für den Effekt der Kastenzugehörigkeit nicht kontrolliert, erstens weil die Frage
danach eine Art ‚Priming Effekt‘ bewirken könnte und die Probanden in ihrem Spielverhalten
beeinflussen könnte, zweitens weil in unserem Sample nicht nur hinduistische, sondern auch
muslimische und christliche Probanden vertreten waren. Die Tatsache, dass diese Variable nur
unzureichend gemessen wurde, dürfte dazu führen, dass einige Residualvarianz, die sich durch den
sozialen Status erklären ließe, nicht erklärt werden kann.
Die außerordentlich große Varianz hinsichtlich sozio-ökonomischer und sozio-demografischer
Variablen, die uns einerseits die Beobachtung von Effekten ermöglicht hat, die in bisherigen Studien
verschleiert blieben, brachte allerdings auch noch andere Probleme mit sich. Analphabetismus war ein
Problem, das wir nur durch die Assistenz von Interviewern, die beim Ausfüllen der Fragebögen
halfen, lösen konnten. Wir haben davon abgesehen, für die Fähigkeit zu Lesen und zu Schreiben zu
kontrollieren und auf eventuelle Effekte zu testen, da wir die Probanden durch entsprechende Tests
nicht einschüchtern wollten.
Zukünftiger Forschungsbedarf
Weitere Studien könnten zur detaillierteren Analyse der Frage, wann eine Situation als Hochund wann als Niedrigkostensituation anzusehen ist, verschiedene Verhaltensweisen auf ähnliche
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Effekte des situativen Drucks untersuchen. Die vorliegende Studie untersucht im Rahmen des
Ultimatum Spiels die Meta-Norm der reziproken Bestrafung mit dem Ziel der Durchsetzung von
Fairnessnormen. Diekmann und Preisendörfer (2003) untersuchen den Effekt der Kosten des
Verhaltens auf ökologische Verhaltensweisen. Das Spektrum des möglichen prosozialen oder
normorientierten Verhaltens, das man untersuchen könnte, ist schier unbegrenzt. Vergleichende
Studien könnten hier wichtige Erkenntnisse generieren.
Da die empirische Studie im Rahmen dieser Arbeit in Indonesien durchgeführt wurde, und
damit in einer Kultur, die sich stark von den westlichen Kulturen Europas und Nordamerikas
unterscheidet, wäre es natürlich anzuraten, zu versuchen, die Ergebnisse in westlichen Kulturen zu
replizieren. Allerdings stellen sich hier genau die Probleme, die in der Vergangenheit dazu geführt
haben, dass diese Art von Studie in westlichen Ländern nicht realisierbar war:
1. Einkommenseffekt: In westlichen Ländern stehen auch die ärmsten Probanden typischerweise nicht
unter einem so starken finanziellen Druck wie die Probanden in Indonesien.
2. Stake Effekt: In westlichen Ländern würde der Versuch, um vergleichbar hohe Spielbeträge zu
spielen wie in der vorliegenden Studie in Indonesien, zu prohibitiv hohen Kosten führen.
Interessant wäre abschließend auch noch die Frage, wie soziale und ökonomische Dimension
simultan wirken. In experimentellen Spielsituationen wurde die Wirkungsweise von sozialem Druck
des Öfteren erfolgreich nachgewiesen: Spiele wurden anonymisiert und nicht anonym gespielt,
Probanden konnten kommunizieren oder nicht usw. In der vorliegenden Studie wurde alles aus
Perspektive des Forschers Mögliche getan, um soziale Kriterien aus der Entscheidung des Probanden
zu eliminieren. Die experimentelle Situation wurde anonym gestaltet und Probanden spielten
randomisiert gegen wechselnde Spieler. So wurde versucht, das Entscheidungsverhalten auf die
ökonomische Dimension zu reduzieren. In zukünftiger Forschung zu diesem Thema könnte man sich
dagegen der Fragestellung widmen, in welcher Weise sich die Dimensionen des situativen Drucks
gegenseitig kompensieren.
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