Überblick 734 Molekulare bakterielle Infektionsforschung – Gegenwart und Zukunft Werner Goebel und Michael Kuhn Lehrstuhl für Mikrobiologie, Theodor Boveri-Institut für Biowissenschaften der Universität Würzburg Die Forschung an krankheitserregenden Mikroorganismen, vor allem an humanpathogenen Bakterien, hat in den letzten zwei Jahrzehnten einen enormen Aufschwung erlebt und dieses Gebiet zu einem der aktuellsten und spannendsten Forschungsrichtungen der modernen Mikrobiologie werden lassen. Das war – vor allem in Deutschland – bei weitem nicht immer so. Forschung an humanpathogenen Bakterien war, nach den großen Pionierleistungen von Robert Koch und seiner Schule, für viele Jahre, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in einen tiefen Dornröschenschlaf gesunken und weitgehend durch gewinnbringende Routineuntersuchungen klinischer Isolate ersetzt worden. Gefördert wurde diese jahrzehntelange Forschungsabstinenz im Bereich der „Medizinischen Bakteriologie“ durch die, selbst in Fachkreisen weit verbreitete Auffassung, dass humanpathogene Bakterien durch die guten hygienischen Bedingungen und die leichte Verfügbarkeit von Antibiotika für unsere Gesellschaft eigentlich kein ernst zu nehmendes medizinisches Problem mehr darstellen. Erst das Aufkommen und die rasche Verbreitung der Antibiotikaresistenz in vielen pathogenen Bakterien und das Auftreten neuer humanpathogener Bakterienarten und Varianten altbekannter Arten haben zu einem Umdenken und einer Reaktivierung dieser Forschungsrichtung in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Deutschland geführt. Die Abbildung im Hintergrund zeigt eine fingerförmige Ausstülpung, die von Listeria monocytogenes erzeugt wird, wenn ein sich intrazellulär bewegendes Bakterium von innen an die Zytoplasmamembran gelangt und diese nach außen stülpt. Das Bakterium befindet sich (membranumschlossen) an der Spitze der Struktur. Die Anfänge der molekularen bakteriellen Infektionsforschung Zweifellos war die um 1980 einsetzende Renaissance in der Forschung an humanpathogenen Bakterien von mehreren bahnbrechenden Erkenntnissen und methodischen Fortschritten im Bereich der molekularen Genetik und der Nukleinsäurebiochemie begünstigt, die sich zunächst besonders erfolgreich auf prokaryotische Organismen anwenden ließen. Vor allem die raschen Fortschritte in der bakteriellen Plasmidforschung waren hier richtungweisend: (a) der Nachweis, dass die meisten Plasmide durch Konjugation oder Transformation auf andere Bakterien übertragen werden können; (b) die medizinisch hochrelevante Erkenntnis, dass diese extrachromosomalen Moleküle bei den meisten antibiotikaresistenten Bakterien offensichtlich die Träger der Resistenzgene sind; (c) die Möglichkeit, diese kleinen zirkulären Moleküle leicht zu isolieren[1]; (d) die Entwicklung der rekombinanten DNA Technologie, für die Restriktionsendonukleasen und die Vektorplasmide bahnbrechend waren[2]. Die Anfänge der modernen molekularen Pathogenitätsforschung wurden entscheidend geprägt von den in den 70er und 80er Jahren, vor allem an pathogenen E. coli-Stämmen gemachten Beobachtungen, dass auf Plasmiden Gene für „Virulenzfaktoren“ lokalisiert sein können, wie z. B. für bestimmte Proteintoxine[3, 4], Eisentransportsysteme[5], Adhäsine[6] und Invasionsfaktoren[7]. Diese Entdeckungen erleichterten wiederum die ersten Klonierungen von Virulenzgenen, etwa der Gene für Hitze-stabile und -labile Enterotoxine[8], für alpha-Haemolysin[9, 10] sowie für die P- und S-Adhäsine[10, 11] verschiedener E. coli-Stämme. Die klonierten Virulenzgene konnten in andere E. coliStämme übertragen werden; damit ließen sich erste in vivo-Untersuchungen in Tiermodellen durchführen, die die Bedeutung dieser Gene für die Virulenz aufzeigten – frühe Meilensteine auf dem Weg zur Erforschung der molekularen Mechanismen pathogener Bakterien. Kein Wunder, dass gerade die Plasmidforscher der ersten Stunde, die sich davor mit Fragen der Plasmidrepli- kation und -konjugation beschäftigt hatten, zu den Pionieren der neuen molekularen bakteriellen Pathogenitätsforschung zählten. Früh zeigte sich aber auch, dass die meisten Virulenzgene human- und tierpathogener Bakterien auf den bakteriellen Chromosomen lokalisiert sind. Die Verfügbarkeit besserer Klonierungsvektoren, vor allem der Cosmide, die auch die Klonierung längerer chromosomaler DNA-Abschnitte ermöglichte, führte in rascher Folge zur Klonierung einzelner chromosomaler Virulenzgene und komplexerer Virulenzdeterminanten in zahlreichen pathogenen Bakterien und zu der Erkenntnis, dass Virulenzgene häufig zusammenhängend auf längeren, definierten Chromosomenabschnitten vorliegen[12] – heute als „Pathogenitätsinseln“ bekannt[13]. Der heutige Stand der bakteriellen Infektionsforschung In den darauf folgenden zwei Jahrzehnten hat dieser Wissenschaftszweig eine stürmische Entwicklung erfahren. Die Erforschung der molekularen Mechanismen, die der Pathogenität zu Grunde liegen, umfasst mittlerweile nahezu alle bekannten humanpathogenen Bakterien, obwohl eine gewisse Konzentration auf einige Modellorganismen (E. coli, Salmonella typhimurium, Shigella flexneri, Listeria monocytogenes und einige andere) unverkennbar ist. Molekulare Infektionsbiologie bedeutet heute aber nicht mehr nur, die Biologie der Infektionserreger und ihre spezifischen Pathogenitätsmechanismen zu verstehen, sondern – und das in zunehmendem Maße – auch die Wechselwirkungen mit ihren jeweiligen Wirtszellen und zukünftig wohl auch mit dem gesamten Makroorganismen zu studieren. Ein wesentlicher Zugewinn an Erkenntnis auf dem Gebiet der molekularen Infektionsbiologie erwuchs aus der Entschlüsselung der Genomsequenzen von mittlerweile fast allen bekannten humanpathogenen Bakterien[14]. Damit aufs Engste verbunden war die Entwicklung von Hochdurchsatzverfahren, die es erstmals ermöglichten, komplexere Vernetzungen der Virulenzgene und deren Regulation sowie die Interaktionen ihrer Genprodukte zu studieren[13, 15–18]. Im FolgenBIOspektrum · 6/04 · 10. Jahrgang Überblick 735 den soll versucht werden, einige grundlegende Prinzipien herauszuarbeiten, die heute als gesichert angesehen werden können, und darauf aufbauend erörtern, in welche Richtungen sich die molekulare Infektionsbiologie in Zukunft weiterentwickeln könnte. einen oder wenige Faktor(en) ausgelöst werden. Ihre Fähigkeit, sich in einer eukaryotischen Wirtszelle zu vermehren, scheint jedoch eine weit komplexere, noch wenig verstandene Adaptation an den Metabolismus der Wirtszelle vorauszusetzen. Adhärenz und Invasion Krankheitserregende Bakterien vermehren sich in unterschiedlichen Kompartimenten ihres Wirtes Pathogene Bakterien lassen sich grundsätzlich in zwei Gruppen unterteilen, die extrazellulären und die intrazellulären bzw. fakultativ intrazellulären Bakterien, wobei als Hauptkriterium für die Unterscheidung dieser beiden Gruppen weniger ihre Fähigkeit zu sehen ist, in eukaryotische Wirtszellen einzudringen, als vielmehr ihre Fähigkeit, sich in einem spezifischen Kompartiment der infizierten Wirtszelle zu vermehren. Wie später noch ausgeführt werden soll, kann die Internalisierung von Bakterien häufig durch Eine Infektion durch beide Typen pathogener Bakterien beginnt mit der Kolonisierung spezifischer Wirtsgewebe und Zellverbände. Dies setzt in allen Fällen die Anheftung der Bakterien an ihre Zielzellen voraus, ein Vorgang, der durch ein oder mehrere Adhäsine erfolgen kann. Für die Adhärenz extrazellulärer Bakterien an Rezeptoren der Wirtszellen sind als Liganden verschiedene strukturierte Zellwandanhänge (Fimbrien oder Pili) und weniger strukturierte Adhäsine nachgewiesen worden. Auch intrazelluläre Bakterien adhärieren zunächst an ihre Wirtszellen. Danach erfolgt Zukünftige Entwicklungslinien A. Forschungsfelder • die Biologie pathogener Mikroorganismen • die Interaktionen zwischen Wirten und Mikroorganismen • neue Werkzeuge, insbesondere für Untersuchungen der molekularen in vivo-Pathogenese-Mechanismen B. Forschungsschwerpunkte • Erforschung der Ökologie und Zusammensetzung von Populationen pathogener Mikroorganismen • Metabolismus pathogener Mikroorganismen und ihrer Wirtszellen unter Infektionsbedingungen • Evolution mikrobieller Virulenz und Antibiotika-Resistenz • Biofilmbildung • Genomplastizität und Erfassung des Virulenzgenpools • Antigendiversität C. Besonders interessante Untersuchungsobjekte D. Notwendige methodische Entwicklungen • Biolumineszenz (und andere) ImagingTechniken zur Verfolgung von Infektionen unter in vivo-Bedingungen • Anwendung von Microarray- und Proteomanalysen in infizierten Geweben • Metagenomanalysen mikrobieller Gemeinschaften • Entwicklung geeigneter Tiermodelle durch transgene Techniken • in vivo-Anwendung der siRNA-Technologie • spezifische Datenbanken und neue Datenanalyseverfahren E. Anwendungsbereiche • Entwicklung neuer Bioassays zur Identifizierung geeigneter Targets für Therapie und Impfstoffentwicklung • neue in vivo-Screening-Techniken • neue diagnostische Strategien • Etablierung einer spezifischen Stammund Gewebesammlung F. • die Oberflächenstrukturen und Rezeptoren auf der Wirtsseite • die entsprechenden Interaktionsstrukturen auf Seiten der Mikroorganismen, sowie • die damit einhergehende Zell-ZellKommunikation BIOspektrum · 6/04 · 10. Jahrgang Wissenschaftliche Teilnehmer der „BMBF-Runde“ • M. Dierich (A), M. Frosch (D), P. Glaser (F), T. Glasz (HUN), W. Goebel (D), J., Hacker (D), K.-P. Koller (D), J. Kreft (D), M. Kuhn (D), M. Maiden (UK), J. Parkhill, (UK), P. Sansonetti (F) entweder eine spezifischere Interaktion zwischen oberflächengebundenen Invasinen auf der Bakterienseite und spezifischen Rezeptoren auf der Wirtszellseite (meist Komponenten des Zell-Zell-Adhäsionsapparates). Andere Bakterien injizieren ihre Invasine in die Wirtszellen mit Hilfe eines Typ III-Sekretionssystems. In beiden Fällen werden anschließend in der Wirtszelle Signalkaskaden ausgelöst, die letztlich zur Umstrukturierung des Cytoskeletts in der Wirtszelle und zur Aufnahme der Bakterienzelle entweder nach einem Reißverschluss-(Zipper)-Mechanismus oder einem durch Membranausstülpungen gekennzeichneten Triggermechanismus führen. Toxine sind wichtige Virulenzfaktoren Proteintoxine sind als Virulenzfaktoren vor allem bei extrazellulären pathogenen Bakterien weit verbreitet und dienen dazu, Wirtszellen zu schädigen, um so die Wirtsabwehr zu schwächen und gewebsinvasive Infektionsverläufe zu erleichtern. Die lange bekannten Cytotoxine (wie Choleratoxin und andere Enterotoxine, Shigatoxin, Pertussistoxin, zahlreiche Clostridientoxine) und Cytolysine (Hämolysine, Leukotoxine, verschiedene Phospholipasen) sind mittlerweile in ihrer Struktur und Funktion intensiv erforscht. Bei intrazellulären Bakterien tritt diese Art von Toxinen seltener auf, und auch die von einigen dieser Vertreter produzierten Toxine wie das Shigatoxin von Shigella dysenteriae scheinen für den intrazellulären Infektionsverlauf keine wesentliche Rolle zu spielen bzw. haben im intrazellulären Vermehrungszyklus – wie das Listeriolysin von L. monocytogenes – eine spezielle Funktion als Öffner der phagosomalen Membran. In letzter Zeit haben die Moduline von Salmonellen, Shigellen und vor allem Yersinien als neuartige „bakterielle Toxine“ erhöhte Aufmerksamkeit gefunden. Diese Proteine, durch TypIII-Sekretionssysteme von den Bakterien ausgeschleust und direkt in das Cytosol der Wirtszellen injiziert, interagieren dort mit Komponenten von Signalkaskaden und führen so zu Störungen von Signaltransduktionsketten oder zu Veränderungen im Cytoskelett der Wirtszellen. Als Folge der Modulininteraktionen mit Komponenten des Apoptosepfades kann es auch zur induzierten Apoptose der Wirtszellen und zur Immunsuppression kommen. Sekretionssysteme Adhäsine pathogener Bakterien werden auf die Außenseite der Zelloberfläche transpor- Überblick 736 tiert, und Proteintoxine werden von den Bakterien in die Umgebung ausgeschieden. Da für den Transport über die äußere Membran Gram-negativer Bakterien kein allgemeines Transportsystem existiert wie bei Gram-positiven, sind für den Transport dieser Virulenzfaktoren über die äußere Membran spezifische Protein-Lokalisationssysteme und -Sekretionssysteme entwickelt worden. Ob sich diese Proteintransportsysteme speziell für die Ausschleusung von Virulenzfaktoren in Gram-negativen Bakterien evolviert haben, ist jedoch eher zweifelhaft, da ähnliche Systeme auch in apathogenen Bakterien nachgewiesen wurden und dort zur Sekretion von Exoenzymen dienen. Hinweise für das Vorliegen dieser Sekretionssysteme existieren auch für endosymbiontische Bakterien, die z. T. seit vielen Jahrmillionen mit ihren Insektenwirten eine CoSpeziation durchlaufen haben[17]. Demnach müssen diese Transportsysteme wohl sehr alten Ursprungs sein. Wie die kürzliche Entdeckung eines Vesikel-vermittelten Transports des Cytolysins HlyE (früher ClyA) von E. coli zeigt[19], existieren vor allem in Gram-negativen Bakterien möglicherweise noch weitere Transportsysteme für Virulenzfaktoren. Physiologische und metabolische Adaptationen Pathogene Bakterien haben zahlreiche Strategien zur optimalen Anpassung an die physiologischen und metabolischen Gegebenheiten ihrer Habitate entwickelt. So können Ureasen durch Spaltung von Harnstoff in Ammoniak und CO2 zur Abpufferung saurer Umgebungen beitragen. Katalasen und Superoxiddismutasen bauen toxische Sauerstoffmetabolite ab. Exoenzyme wie Proteasen, Elastasen, Hyaluronidasen, Neuraminidasen und Collagenasen können zur Versorgung der extrazellulären Bakterien mit Kohlenstoff- und Stickstoffquellen, teils aber auch zur Penetration der Bakterien durch das infizierte Gewebe beitragen. Weit weniger gut verstanden sind die Mechanismen, die es Bakterien erlauben, die metabolischen Gegebenheiten der infizierten Wirtszellen und -gewebe für ihr Überleben und ihre Vermehrung zu nutzen. Gut untersucht sind die Eisenaufnahmesysteme, mit denen sich extrazelluläre Erreger die gebundenen Eisenvorräte des infizierten Wirtes zu Nutze machen. Meist handelt es sich dabei um Siderophor-basierte Aufnahmemsysteme wie sie auch bei vielen apathogenen Bakterien vorkommen. Weitgehend offen ist die Frage, wie sich intrazellulär wachsende Bakterien mit C-, N- und S-Quellen in ihren Wirtszellen versorgen. Erste Befunde, wie die Unfähigkeit der meisten Bakterien nach Mikroinjektion im Cytosol von Säugerzellen zu wachsen[20], die Abhängigkeit der cytosolischen Replikation von L. monocytogenes von einem regulierten Aufnahmesystem für phosphorylierte Hexosen[21], der Erwerb spezifischer ATP/ADP-Translokasen in Rickettsien und Chlamydien[22], die Abhängigkeit der intrazellulären Vermehrung von Mycobacterium tuberculosis von Enzymen des Glyoxylatcyclus[23] und einige weitere Daten deuten darauf hin, dass diese Adaptationsmechanismen komplexer Natur sind. Hier muss noch viel Forschungsarbeit geleistet werden, bevor man diese wichtigen Fragen wird beantworten können. Regulation der Virulenzgene Die genaue Abstimmung der Expression der meist zahlreichen Virulenzgene pathogener Bakterien ist eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreich verlaufende Infektion, da die Virulenzfaktoren in optimaler Menge dann und dort produziert werden müssen, wann und wo sie gebraucht werden. Dazu werden Regulationsmechanismen verwendet, wie sie auch für die koordinierte Expression von Genen apathogener Bakterien unter dem Einfluss variabler Umweltbedingungen bekannt sind. Häufig werden Virulenzgene durch globale Regulatoren gesteuert, die auch an der Stressregulation, der Katabolitrepression, der Eisenregulation u. a. beteiligt sind. Hinzu kommen spezifische, auf die Virulenzgenexpression abgestimmte Transkriptionsregulatoren, die mit den allgemeinen globalen Regulatoren eng vernetzt sein können, um eine Feinabstimmung in der Expression der Virulenzgene zu gewährleisten. Evolution von Virulenzgenen und horizontaler Gentransfer Bereits in den 80er Jahren wurde bei der Untersuchung uropathogener Bakterien beobachtet, dass Virulenzgene in Genklustern im Chromosom verankert sind[12, 13]. Derartige „Pathogenitätsinseln“ sind in unterschiedlichen Varianten mittlerweile in zahlreichen Gram-negativen und seltener in Gram-positiven pathogenen Bakterien nachgewiesen worden. Bestimmte Eigenschaften dieser häufig mobilen genetischen Strukturen weisen auf ihre Abstammung von lysogenen Phagen hin, die ja auch schon früh neben Plasmiden als Träger von Virulenzgenen, insbesondere bestimmter Toxingene, nachgewiesen werden konnten. Diese Blockanordnung von Virulenzgenen auf mobilen genetischen Elementen erleichtert einerseits ihre koordinierte Regulation, besonders aber ihre Weitergabe durch horizontalen Gentransfer und ihre Erweiterung und Anpassung als Antwort auf sich verändernde Umwelt- bzw. Infektionsbedingungen. So konnten kürzlich in einem Pseudomonas aruginosa-Stamm zwei Pathogenitätsinseln nachgewiesen werden, von denen eine die Gene für Pflanzenpathogenität, die andere die für Tierpathogenität trägt[24]. Über die Evolution bakterieller Virulenzgene ist in den vergangenen Jahren viel spekuliert und publiziert worden. Vor allem die vergleichenden Genomanalysen unterschiedlich pathogener und apathogener Vertreter der gleichen oder verwandter Arten haben hier wesentliche neue Erkenntnisse geliefert[25]. Ein neues Forschungsgebiet: Zelluläre Mikrobiologie Ein molekulares Verständnis von Infektionen erfordert nicht nur eine genaue Kenntnis der Virulenzeigenschaften des Erregers, sondern auch eine umfassende Kenntnis der vom Wirt (bzw. den betroffenen Wirtszellen) als Antwort auf die Interaktion mit dem Mikroorganismus ausgelösten Reaktionen. Die vergangenen Jahre haben hier – vor allem in Bezug auf Interaktionen zwischen intrazellulären Bakterien und Säugerzellen – zu einer Flut an neuen Informationen geführt. Für diese mikrobiologisch-zellbiologische Forschungsrichtung wurde als neuer Begriff die „zelluläre Mikrobiologie“ geprägt[26]. Im Mittelpunkt der Untersuchungen standen die Aufklärung der zellulären Mechanismen, (a) zur Aufnahme von intrazellulären Bakterien in Säugerzellen, (b) zur intrazellulären Bewegung von Bakterien, (c) zur Auslösung von Apoptose von infizierten Zellen, (d) zur Induktion von inflammatorischen Reaktionen, (e) zur Aktivierung des Immunsystems als Folge von Infektionen und (f) in zunehmendem Maß auch die unter dem Einfluss von Infektionen zu metabolischen Veränderungen der Wirtszellen führenden Ereignisse. So bedeutsam die Ergebnisse dieser Untersuchungen auch sein mögen, es sollte nicht vergessen werden, dass die meisten bisherigen Ergebnisse der zellulären Mikrobiologie mit etablierten Zelllinien erhalten wurden und diese zukünftig unbedingt an in vivo-Modellen überprüft werden müssen, um ihre infektionsbiologische Relevanz zu bestätigen. Dazu werden gegenwärtig entwickelte Methoden wie die Etablierung transgener Tiermodelle und Zellsysteme, die siRNA-Technologie und in vivo-Imaging Verfahren wesentlich beitragen. BIOspektrum · 6/04 · 10. Jahrgang Überblick 737 Wie könnte die Zukunft aussehen? Ein Blick in die Zukunft ist immer mit Unwägbarkeiten behaftet. Jedoch lässt sich mit großer Sicherheit vorhersagen, dass sich die molekulare Infektionsbiologie auch in den kommenden Jahrzehnten als hoch attraktive und aktuelle Forschungsrichtung innerhalb der Mikrobiologie erweisen wird. Dazu genügt allein schon die erstaunliche Fähigkeit der Mikroorganismen, rasch ihr Pathogenitätsreservoir zu verändern und zu erweitern. Das wird sich auch in Zukunft nicht wesentlich ändern, obwohl wir mit der Entschlüsselung der Genome zahlreicher Mikroben[15] einige ihrer Geheimnisse offen gelegt haben und damit zukünftig vermutlich besser in der Lage sein werden, schnell und gezielt auf ihre neuen „Einfälle“ zu reagieren. In Voraussicht auf diese „zukünftige Entwicklung“ fand 2003 in Würzburg auf Einladung des BMBF eine Zusammenkunft von Wissenschaftlern aus mehreren europäischen Ländern statt, die sich Gedanken machen sollten, wie ein wissenschaftliches Programm im Rahmen eines in naher Zukunft geplanten europäischen Verbundnetzes „Pathogenomics“ aussehen könnte. Die dabei entstandene Sicht einer größeren Expertenrunde soll hier einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Diskussion vorgestellt werden. Der bedeutendste zukünftige Forschungsbedarf im Bereich der Infektionsbiologie wurde auf drei Feldern gesehen, wobei neben den humanpathogenen Bakterien verstärkt auch humanpathogene Pilze bearbeitet werden sollen. Hierzu wurden eine Reihe von Forschungsschwerpunkten, besonders interessanten Untersuchungsobjekten und notwendigen Methodenentwicklungen definiert (siehe Kasten). Einig war man sich auch darin, dass die zukünftige Infektionsforschung sich verstärkt auf die Interaktion von Mikroorganismen mit Modell-Makroorganismen orientieren sollte, zusätzlich zu den bewährten Zellkultursystemen. Dies soll zu einem besseren Verständnis der in vivo-Pathogenese führen. Besondere Bedeutung wurde der Aufklärung solcher Pathogenesemechanismen beigemessen, die zum Durchbrechen von epithelialen und endothelialen Barrieren führen (Blut-Hirnschranke; Darmepithel; Lungenepithel; Plazenta). Wichtige Schwerpunkte wurden auch in der Erforschung von Kommensalismus und Nosokomialinfektionen gesehen sowie in der Aufklärung der Mechanismen, die zur Evasion der pathogenen Mikroorganismen aus der Kontrolle der Wirtsimmunabwehr und zu den durch einige Mikroorganismen BIOspektrum · 6/04 · 10. Jahrgang im infizierten Wirt ausgelösten sekundärpathologischen Effekte wie Krebs und Autoimmunerkrankungen führen. Viele dieser ins Auge gefassten zukünftigen Forschungsschwerpunkte, vor allem die dringend erforderliche Hinwendung zur in vivo-Pathogenese-Forschung, erfordern die Neu- bzw. Weiterentwicklung von geeigneten Methoden und Werkzeugen. Und natürlich muss auch die Anwendung der Forschungsergebnisse einen gebührenden Rang erhalten. [22] Schmitz-Esser, S., Linka, N., Collingro, A., Beier, C. L., Neuhaus, H. E., Wagner, M., Horn, M. (2004): J. Bacteriol. 186: 683-691. [23] McKinney, J. D., Honer zu Bentrup, K., Munoz-Elias, E. J., Miczak, A., Chen, B., Chan, W. T., Swenson, D., Sacchettini, J. C., Jacobs, W. R. Jr., Russell, D. G. (2000): Nature 406:735-738. [24] He, J., Baldini, R. L., Deziel, E., Saucier, M., Zhang, Q., Liberati, N. T., Lee, D., Urbach, J., Goodman, H. M., Rahme, L. G. (2004): Proc. Natl. Acad. Sci. USA 101: 2530-2535. [25] Doumith, M., Cazalet, C., Simoes, N., Frangeul, L., Jacquet, C., Kunst, F., Martin, P., Cossart, P., Glaser, P., Buchrieser, C. (2004): Infect. 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B., Prof. Dr. Werner Goebel PD Dr. Michael Kuhn Lehrstuhl für Mikrobiologie Theodor Boveri-Institut für Biowissenschaften (Biozentrum) der Universität Würzburg Am Hubland D-97074 Würzburg [email protected] [email protected] Werner Goebel Jahrgang 1939; Studium der Chemie an der Universität Tübingen, Promotion 1965; Postdoc bei Prof. Helinski an der University of California San Diego/La Jolla 1966 – 69; Assistant Bolin, C. A., Minion, F. C., and Wannemuehler, M. J. (Eds.) (2000): Virulence mechanisms of bacterial pathogens. 3rd Edn. ASM Press, Washington, DC. [19] Wai, S. N., Lindmark, B., Soderblom, T., Takade, A., Westermark, M., Oscarsson, J., Jass, J., Richter-Dahlfors, A., Mizunoe, Y., Uhlin, B. E. (2003): Cell 115: 25-35. [20] Goetz, M., Bubert, A., Wang, G., ChicoCalero, I., Vazquez-Boland, J. A., Beck, M., Slaghuis, J., Szalay, A. A., Goebel, W. (2001): Proc. Natl. Acad. Sci. U S A 98: 12221-12226. [21] Chico-Calero, I., Suarez, M., Gonzalez-Zorn, B., Scortti, M., Slaghuis, J., Goebel, W., VazquezBoland, J. A., and the European Listeria Genome Consortium (2002): Proc. Natl. Acad. Sci. USA 99: 431–436. Michael Kuhn Jahrgang 1958; Studium der Biologie an der Universität Würzburg, Promotion 1989 bei Prof. Goebel am Institut für Genetik und Mikrobio- am Institut für Mikrobiologie der Universität Hohenheim 1969 – 71; 1971 Habilitation für das Fach Mikrobiologie an der Universität Hohenheim; Leiter der Abteilung für Genetik bei der „Gesellschaft für Molekularbiologische Forschung“ (GBF), Braunschweig 1972 – 75; seit 1975 Lehrstuhl für Mikrobiologie am Institut für Genetik und Mikrobiologie, seit 1992 am Biozentrum der Universität Würzburg. logie der Universität Würzburg; Postdoc bei Prof. Sansonetti am Institut Pasteur in Paris 1989 – 90; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Mikrobiologie der Universität Würzburg 1991 – 2003; 1998 Habilitation für das Fach Mikrobiologie an der Universität Würzburg; seit 1993 Geschäftsführer des BMBF Kompetenznetzwerks „PathoGenoMik“ der Universität Würzburg.