5. Diskussion 5.1 NF2 Mutationen in seltenen Meningeomvarianten Um die Datenlage zur Mutationsfrequenz des NF2 Gens in Meningeomen zu vervollständigen, wurden in dieser Arbeit 80 seltene Meningeome analysiert. Es konnte gezeigt werden, dass sich die seltenen histologisch definierten Meningeomvarianten durch signifikante Unterschiede in der Mutationsfrequenz des NF2 Gens unterscheiden. In 80 DNA Proben wurden in 10 Tumoren (12,5%) 11 Mutationen gefunden (13,6%), wobei bei den einzelnen Varianten deutliche Unterschiede in der Mutationsfrequenz festzustellen waren. Höhere Mutationsfrequenzen wurden bei den 14 psammomatösen (36%) und den 3 chordoiden (33%) Meningeomen gefunden. Es fanden sich seltener NF2 Mutationen in klarzelligen (22%) und angiomatösen Meningeomen (11%). Keine NF2 Mutationen wurden bei den sekretorischen, mikrozystischen, lymphoplasmozytären, dem metaplastischen und dem rhabdoiden Meningeom detektiert. In der Kontrollgruppe waren 26% der transitionalen Meningeome und 44% der fibroblastischen Meningeome mutiert. Die Probenzahl der zwei analysierten lymphoplasmozytären (n=2), dem rhabdoiden (n=1) und dem metaplastischen (n=1) Meningeom war zu gering und erlaubte keine verallgemeinernden Aussagen. Signifikant ist dagegen, dass in 33 untersuchten sekretorischen Meningeomen im Vergleich zu den fibroblastischen Meningeomen keine NF2 Mutation auftrat (p < 0.0001, Fisher exact test). Im Fall der 7 mikrozystischen Meningeome wird im Vergleich zur Kontrollgruppe keine Signifikanz erreicht (p < 0.07, Fisher exact test). Die im einzigen papillären Meningeom detektierten Mutationen lassen ebenfalls keine statistische Analyse zu. 5.2 NF2 Mutationen im wissenschaftlichen Kontext Das Verteilungsmuster der Mutationen zeigte keine so genannten hot-spot Regionen, d.h. Bereiche des Gens, in denen überzufällig häufig Mutationen detektiert werden. Entsprechend der publizierten Datenlage fanden sich in dieser Arbeit in nahezu allen Exonen Mutationen. Nur in Exon 10 und Exon 16 wurden keine Mutationen festgestellt. Exon 3, 7 und 12 waren mit je 3 Mutationen etwas häufiger betroffen. Somit scheinen Mutationen im Carboxylterminus, der EMR und α-helikalen Region gleichermaßen 48 Einfluss auf die Meningeomentstehung zu haben, was in anderen Studien nicht gezeigt werden konnte (Wellenreuther, Kraus et al. 1995). Anzahl NF2 Mutationen Diagramm 1: Verteilung der Mutationen im NF2 Gen 3 2 1 0 1 2 In 2 3 4 In 4 5 6 7 In 7 Exon 8 9 10 11 12 13 14 15 16 Intron In der internationalen Datenbank für NF2 Mutationen (http://uwcmml1s.uwcm.ac.uk/ uwcm/mg/nf2/) werden Lokalisation und Art der Mutationen gesammelt. Übereinstimmend mit diesen Daten und wie auch in früheren Studien berichtet, werden besonders Nonsense und Frameshift Mutationen im NF2 Gen beobachtet (Wellenreuther, Kraus et al. 1995) (Lekanne Deprez, Bianchi et al. 1994) (MacCollin 1995). Nonsense Mutationen bezeichnen Veränderungen in der Aminosäuresequenz, die ein frühzeitiges Stop-Codon induzieren und somit zu einem verkürzten und meist nicht funktionalen Protein führen. Durch Insertionen oder Deletionen der Aminosäuresequenz, die zu einer Verschiebung des reading frames führen, bewirken auch Frameshift Mutationen schwerwiegende Veränderungen des Proteins. Diese Mutationsarten waren auch in unseren Proben am häufigsten vertreten (82%). Eine Missense Mutation, die durch einen einzigen Aminosäureaustausch definiert ist und auf Proteinebene geringere Störungen verursacht, trat nur in einem Fall auf (27928) (Lekanne Deprez, Bianchi et al. 1994) (Wellenreuther, Kraus et al. 1995). In vier Fällen (14%) ließen sich Mutationen in potentiellen Splice-site Regionen nachweisen (29428, 29446, 29518, 26426). In Splice-site Regionen treten bestimmte Basenkonstellationen auf. So sind am 5’ Anfang des Introns zu 100% die Basen (oder Basentypen) GT (Chen, U et al.) konserviert, dann folgen mit geringeren Prozentzahlen A (62%) A (68%) G (84%) und T (63%). Am 3’ Intron-Ende sind es zu 100% die Basen A und G, an dritter Position C (65%). Punktmutationen in diesem Bereich verhindern mit großer Wahrscheinlichkeit korrektes Splicing. 49 Mittels der verwendeten Gen- und Splice-site Prädiktionsprogramme wurde berechnet, dass alle vier Mutationen wahrscheinlich eine Veränderung der mRNASequenz verursachen. Ein Funktionsverlust des NF2 Proteins ist somit sehr wahrscheinlich. Mutationen des NF2 Gens finden sich häufig in Splice-site Regionen (Merel, Hoang-Xuan et al. 1995; De Vitis, Tedde et al. 1996). Meningeome, in denen hier keine Mutationen nachgewiesen werden konnten, haben möglicherweise strukturelle Veränderungen in Regionen, welche nicht untersucht wurden. In den ausgedehnten intronischen Genabschnitten könnten Mutationen liegen, welche die für den Splice-Prozess erforderlichen Konformationsänderungen der Prämessenger-RNA beeinträchtigen. So wurden beispielsweise für das Tumor- suppressorgen TP53 bei Patientinnen mit familiärem Brustkrebs intronische Varianten außerhalb der Splice-site Regionen gefunden (Lehman, Haffty et al. 2000; Marsh, Spurdle et al. 2001). Die Studienlage zu den hieraus resultierenden Konsequenzen für die Proteinfunktion ist allerdings noch uneinheitlich. Diskutiert werden sowohl benigne Polymorphismen (Marsh, Spurdle et al. 2001) als auch funktionelle Auswirkungen auf Proteininteraktion, geringere Apoptose und längeres Überleben der Zellen nach Chemotherapie (Lehman, Haffty et al. 2000). Ein alternativer Mechanismus wurde kürzlich vorgeschlagen, der die Entstehung von Meningeomen beeinflusst und dabei nicht mit NF2 Mutationen oder LOH 22q einhergeht. Eine abnorme Aktivität der m-Calpain-abhängigen Proteolyse vom Merlin/NF2 Protein könnte in einigen Meningeomen für den Verlust von Merlin und die Entstehung von Meningeomen verantwortlich sein (Kimura, Saya et al. 2000). Auch die Inaktivierung des NF2 Gens beispielsweise durch Methylierung könnte bei Meningeomen eine Rolle spielen. 5.3 Technische Diskussion 5.3.1 Diskussion der SSCP-Methode Die in dieser Arbeit verwendete Screeningmethode SSCP beruht auf dem theoretischen Prinzip, dass die Einzelstränge von Nukleinsäuren bestimmte Sekundärstrukturen im Elektrophoresegel annehmen. Die Sekundärstruktur hängt u.a. von der Basensequenz ab und kann durch Austausch einzelner Basen verändert werden. 50 Die Detektionswahrscheinlichkeit von Mutationen hängt hierbei vor allem von der Länge der zu untersuchenden PCR-Fragmente ab. Übersteigt die Fragmentlänge 150 bis 200 Basenpaare, so wird eine Abnahme der Sensitivität beobachtet (Sheffield, Beck et al. 1993). Des weiteren haben vor allem Gelzusammensetzung und Temperatur Einfluss auf die Sensitivität. Insgesamt wird eine Detektionswahrscheinlichkeit der SSCP Analyse von 62 bis 100% berichtet (Kozlowski and Krzyzosiak 2005). Die hier verwendeten PCR-Produkte hatten eine Länge von 151 bis 227 bp bei einem Mittel von 187. Deutlich über 200 bp war mit 227 das Produkt für Exon 8. Hier wurden insgesamt zwei Mutationen detektiert (29445, 29450), was der Rate der anderen Exone entspricht. Somit wird angenommen, dass die Produktgröße in diesem Fall keinen wesentlichen Einfluss auf die Detektionswahrscheinlichkeit ausübte. Ein weiterer Kritikpunkt der hier benutzten SSCP-Analyse ist, dass die Untersuchungen nicht bei konstanten Temperaturen durchgeführt werden konnten. Aus Gründen der Reproduzierbarkeit wäre eine standardisierte Temperaturkontrolle wünschenswert (Hayashi 1992). Um eine noch bessere Auftrennung der Banden bei standardisierten Temperaturbedingungen zu erreichen, wäre die Verwendung eines Elektrophoresesystems mit Temperaturgradienten (TGGE) sinnvoll. Vom direkten Sequenzieren zum Mutationsscreening wurde in dieser Studie abgesehen. Neben den höheren Kosten und begrenzten Kapazitäten der direkten Sequenzierung hat sich die Methode bei der Detektion unbekannter Punktmutationen nicht als vorteilhaft erwiesen (Ziemssen, Schnepf et al. 2001). Die SSCP-Analyse ist geeignet, homozygote wie auch heterozygote Mutationen in Tumoren aufzuspüren. Beim direkten Sequenzieren dagegen werden homozygote Mutationen, wie sie in Kombination mit LOH bei Tumorsuppressorgenen typisch sind, sehr gut identifiziert, während es bei heterozygoten Mutationen zu falsch negativen Ergebnissen kommen kann. Dies liegt daran, das äquimolare Verhältnisse von je einem mutierten und einem Wildtyp-Strang des NF2 Gens vorliegen. Dieses theoretische Verhältnis von 50:50 wird durch zusätzliche, nicht tumoröse DNA-Beimengungen aus Endothelien, Fibroblasten und Lymphozyten, weiter zu Ungunsten des mutierten Allels verschoben (Maekawa, Nagaoka et al. 2004). Die Rate identifizierter Mutationen erreicht ebenso wie bei der SSCP-Analyse keine 100%. Bei der SSCP-Analyse verursacht ein einfacher Basenaustausch nur dann eine Veränderung der Sekundärstruktur der Nukleinsäuresequenz, wenn er an den Stellen lokalisiert ist, die für die Ausbildung der dreidimensionalen Struktur unter den jeweiligen 51 Bedingungen ausschlaggebend sind. Bei einem Screening mittels SSCP-Analyse könnte so auch eine Probe mit Mutation nicht durch aberrantes Laufverhalten der Banden auffallen. Zur Zeit lässt sich die Sekundärstruktur von Nukleinsäuresequenzen in der Acrylamid-Gelelektrophorese und somit das zu erwartende Laufverhalten nicht zuverlässig voraussagen (Ziemssen, Schnepf et al. 2001). 5.3.2 Diskussion der LOH-Methode Die LOH-Analyse ist eine zuverlässige und etablierte Technik zum Nachweis von Allelverlusten. Geringe Mengen DNA sind ausreichend, um zuverlässige Ergebnisse zu erhalten. Kontaminationen mit tumorfremder DNA, beispielsweise aus Entzündungszellen oder Gefäßen, behindern die Auswertung nicht. Bei NF2-Patienten werden beim LOH-Screening in etwa 34–66% der Fälle NF2 Mutationen gefunden (Zucman-Rossi, Legoix et al. 1998). Zucman-Rossi et al. fanden durch Mutationsanalysen der gesamten genomischen Sequenz mittels Fluoreszenz-insitu-Hybridisierung (FISH) Deletionen großer Fragmente im NF2 Gen. Die Detektionsfrequenz konnte so auf 84% gesteigert werden (Zucman-Rossi, Legoix et al. 1998). Konstitutionelle DNA wird bei FISH nicht benötigt. Allerdings sind einzelne normale Zellen in den Tumorproben immer vorhanden und viele Zellen müssen ausgewertet werden, um Signalverluste von Artefakten zu differenzieren. Allelverluste eines Elternteils verbunden mit der Amplifizierung des anderen, potentiell mutierten Gens werden oft beobachtet. Bei einer Verdopplung des verbleibenden Allels würde der Verlust des anderen Allels bei FISH nicht detektierbar sein. Amplifikationen lassen sich mit der LOH-Analyse nicht nachweisen. 5.4 Diskussion der Resultate 5.4.1 Diskussion der NF2 Mutationsfrequenzen Die Frequenz von NF2 Mutationen in Meningeomen variiert bedeutend zwischen den verschiedenen Studien. Die Mutationsfrequenz des NF2 Gens in sporadisch auftretenden Meningeomen differiert in den Literaturangaben zwischen 14% und 60% (siehe Tabelle 9). Bei den häufigen Varianten fanden sich dabei in nur 5–25% der meningotheliomatösen Meningeome NF2 Mutationen, während die fibroblastischen in 43–72%, die atypischen in 70%, die anaplastischen in 75% und die transitionalen in 12– 52 83% der Fälle Mutationen aufwiesen (Wellenreuther, Kraus et al. 1995; Ueki, Wen-Bin et al. 1999). Für diese deutliche Diskrepanz der NF2 Mutationsfrequenzen in den einzelnen Studien könnten unterschiedliche Untersuchungstechniken oder Zusammensetzungen der untersuchten Meningeomvarianten verantwortlich sein, vielleicht auch Unterschiede in der ethnischen Herkunft. Tabelle 9: Studien zu NF2 Mutationen Autor/Jahr n n Mng Exon NF2 Mutationen % Meningeomvarianten(n) Harada /1996 23 17 35 (18Men, 50Fibro, 66Trans, 50Atyp) Men(11), Fibro(4), Trans(3), Mikrozy(1), Atyp(4) Wellenreuther /1995 70 17 59 (25Men, 83Trans, 70Fibro, 70Atyp, Men(24), 75Anapl) Anapl(8) De Vitis /1996 125 17 30 Men(36), Anapl(1) Ng /1995 26 17 27 Sporadische Joseph /1995 26 17 35 Sporadische Lekanne Deprez/1994 44 17 32 Sporadische 30 Sporadische Trans(18), Fibro(35), Fibro(10), Trans(46), Atyp(10), Angiobl(7), Merel /1995 57 Evans /1994 28 17 14 (5Men, 43 nonMen) Men(21), Trans(2), Fibro(3), Atyp(2) Ueki/1999 50 17 18 (10 Men, 45Fibro, 12,5 Trans) Men(28), Fibro(11), Trans (8), Atyp (2), Angiopl (1) Papi L./1995 61 8 15 Sporadische Legende Tab. 9: n Mng=Anzahl untersuchter Meningeome, n Exon=Anzahl untersuchter Exone, Men=meningotheliomatöses Meningeom, Fibro=fibroblastisches Meningeom, Trans=transitionales Meningeom, Atyp=atypisches Meningeom, Mikrozys=mikrozystisches Meningeom, Anapl=anaplastisches Meningeom, Angiobl=angioblastisches Meningeom, nonMeni=nicht meningotheliomatöse Meningeome Speziell bei den transitionalen Meningeomen fällt die Diskrepanz der Mutationsfrequenzen in verschiedenen Studien auf. Einen Grund hierfür könnte die Tatsache darstellen, dass es sich bei dieser Entität entsprechend der WHO-Definition um einen Mischtyp des meningotheliomatösen und des fibroblastischen Meningeoms handelt. Hierdurch entstehen diagnostische Unschärfen, und unterschiedliche Diagnosen der jeweils beurteilenden Neuropathologen lassen sich kaum vermeiden. Da bei meningotheliomatösen seltener NF2 Mutationen auftreten als bei fibroblastischen Meningeomen, und nicht auszuschließen ist, dass es zu Vermischungen kommt, wäre dies eine Erklärung für die Diskrepanzen der Studien. Betrachtet man die Meningeomdiagnosen am Institut für Neuropathologie an der Charité von 2003, so waren von insgesamt 153 Meningeomen 65 vom transitionalen 53 Subtyp (42,5%). Dies entspricht einem Anteil von 47,8% unter den Meningeomen des WHO-Grades I (siehe Tabelle 10). In einer kanadischen Studie mit ähnlicher Anzahl an Tumoren (193 Meningeome) wurden nur 33% als transitionale Meningeome beurteilt, der Anteil an WHO-Grad I Tumoren lag bei 39,2% (Rohringer, Sutherland et al. 1989). Damit wurde an der Charité die Diagnose „transitionales Meningeom“ häufiger gestellt, was eine Vermischung wahrscheinlicher macht und eine Erklärung für geringere Mutationsfrequenzen im NF2 Gen darstellen könnte. Tabelle 10: Meningeomdiagnosen Neuropathologie Charité 2003 Meningeome WHO I Transitionale Ohne andere WHO I WHO II WHO III 11 6 7,20% 3,90% Differenzierung 65 19 52 136 88,90% Um eine ausreichend große Zahl an DNA-Proben in diese Studie einschließen zu können, wurde seltene Meningeome aus unterschiedlichen Instituten und aus mehreren Jahren zusammengetragen. Es wurde tiefgefrorenes, meist aber in Paraffin eingebettetes Material zur DNA-Extraktion verwendet. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass aufgrund unterschiedlicher Qualität der aus Paraffinmaterial und gefrorenem Material gewonnenen DNA Mutationen bei PCR und SSCP-Analysen nicht detektiert wurden. Durch fragmentierte DNA sind so bei Paraffinmaterial mehr falsch positive Ergebnisse in der SSCP Analyse zu erwarten. Die Häufigkeit an NF2 Mutationen in den Kontrollgruppen der transitionalen und fibroblastischen Meningeome fiel mit 26% und 44% geringer aus als in der Studie von Wellenreuther R et al/1995 (83% und 70%) (Wellenreuther, Kraus et al. 1995). Während in dieser Studie lediglich 10 fibroblastische und 18 transitionale Tumore untersucht wurden, waren es in der jetzt vorliegenden Untersuchung 25 fibroblastische und 23 transitionale Meningeome. Die geringere Anzahl Proben kann in diesem Fall zu einem Zufallsfehler geführt haben, wodurch mehr Tumore mit Mutationen eingeschlossen wurden. Bis auf die unterschiedlichen Primerpaare wurden beide Untersuchungen bei vergleichbaren Bedingungen durchgeführt. Zur internen Kontrolle wurden 5 Proben mit 54 bekanntem NF2 Status, mit und ohne NF2 Mutationen, blind mit untersucht und alle NF2 Mutationen konnten nachgewiesen werden. 5.4.2 Diskussion der Ergebnisse der LOH-Analyse Bei nicht familiären Meningeomen treffen meist Mutationen im NF2 Gen mit einem LOH auf 22q zusammen, wie in vielen Studien berichtet wurde (siehe Tabelle 11) (Ruttledge, Sarrazin et al. 1994; Wellenreuther, Kraus et al. 1995; Ueki, Wen-Bin et al. 1999). Insgesamt wird ein Allelverlust auf 22q bei rund 60% der Meningeome angenommen, was sich in dieser Studie bestätigt (50%). Nur in wenigen Studien fanden sich einzelne NF2-Genmutationen ohne LOH 22q (De Vitis, Tedde et al. 1996) (Wellenreuther, Kraus et al. 1995). Tabelle 11: Studien zu 22q LOH Autor/Jahr n Meningeome NF2 Mut % LOH % Merel, P/1995 57 30 100% Übereinstimmung Papi L./1995 61 15 60 Wellenreuther R/1995 70 58,5 60 Ng HK/1995 26 27 69 De Vitis LR/1996 125 30 100% Übereinstimmung Harada T/1996 23 35 61 De Vitis LR/1996 125 30 100% Übereinstimmung Ueki/1999 50 20 100% Übereinstimmung Somatische DNA stand in dieser Studie von 49 Fällen zur Verfügung. 50% der Proben waren homozygot im untersuchten Allelabschnitt. Alle Tumore dieser Gruppe mit NF2 Mutationen wiesen übereinstimmend einen LOH im Bereich um den NF2 Lokus auf. Insgesamt konnten jedoch bei 71% der Meningeome mit LOH selbst nach mehrmaligem Nachuntersuchen mittels SSCP keine Mutationen nachgewiesen werden. In dieser Gruppe waren allerdings 11 Meningeome (46%) vom transitionalen Subtyp, die, wie oben besprochen, auffällig geringe Mutationsfrequenzen aufwiesen. Weitere 5 Meningeome mit LOH waren sekretorische, in denen keine Mutation nachgewiesen wurde. Anhand der hier erhobenen Daten wird dennoch die These unterstützt, dass auf Chromosom 22q ein weiteres Gen liegen könnte, welches für die Tumorgenese von 55 Meningeomen von Relevanz ist (Dumanski, Rouleau et al. 1990; Peyrard, Seroussi et al. 1999). Hierauf wird im nächsten Kapitel näher eingegangen. Bei dem einzigen papillären Meningeom traten gleich zwei unterschiedliche Mutationen in Exon 11 und Exon 14 auf. Dies könnte auf eine Inaktivierung des Gens durch Punktmutationen auf beiden Allelen anstelle eines LOH 22q hinweisen. Eine Bestätigung dieser These war aufgrund fehlender somatischer DNA in diesem Fall nicht möglich. Zusammenfassend lassen sich keine neuen Erkenntnisse bezüglich seltener Meningeomvarianten im Vergleich mit bestehenden Studien zu Meningeomen und LOH 22q ableiten. 5.5 Diskussion alternativer Gene bei der Meningeomentstehung Bei der Entstehung von Meningeomen und deren Progression zu höhergradigen Tumorvarianten werden verschiedene Zugewinne und Verluste chromosomalen Materials beobachtet (siehe Abbildung 17). Angenommen wird, dass die Mutation des NF2 Gens ein „early event" darstellt. Abb. 17: Meningeompathogenese und -progression (mod. nach Lamszus K. 2004 und Perry, Gutmann et al. 2004) Arachnoidale Ursprungszelle -22q NF2 Mutationen/Verluste EPB41L Verluste EPB41 Verluste Meningeom WHO Grad I -1p, -6q, -10q, -14q, -18q +1q, +9q, +12q, +15q, +17q, +20q VEGF+, Telomerase+ Meningeom WHO Grad II +17q23 -9p -1p, -6q, -14q, -18q Meningeom WHO Grad III 56 Bis dato sind bei Meningeomen vom WHO-Grad I nur Mutationen des NF2 Gens identifiziert worden, und es sind sehr wahrscheinlich weitere Gene bei den Meningeomen verändert, welche keine NF2 Mutationen aufweisen. Das NF2 Gen gilt als das wichtigste Tumorsuppressorgen bei Meningeomen. Dennoch können bei 40– 50% der Tumoren weder NF2 Mutationen noch LOH 22q festgestellt werden. Mutationen in unterschiedlichen Tumorsuppressorgenen und Onkogenen könnten zu den verschiedenen histologischen Meningeomvarianten führen. Auf Chromosom 22 wurden Verluste und Translokationen genetischen Materials auch außerhalb der NF2 Region detektiert, was auf 22q ein weiteres „Meningeom-Gen“ vermuten ließ. Verschiedene Kandidatengene in der Region 22q12.2 , darunter ADTB1, RRP22 und GAR22, wurden auf Mutationen untersucht. Es fanden sich allenfalls einzelne Mutationen trotz LOH der Region (Peyrard, Pan et al. 1996; Zucman-Rossi, Legoix et al. 1996). Als weitere Kandidaten wurden MN1 in der Region 22q12.1 (Lekanne Deprez, Riegman et al. 1995), INI1(SMARCB1) auf 22q11.23 (Schmitz, Mueller et al. 2001), CLTCL1/CLH-22 in der Region 22q11.21 (Kedra, Peyrard et al. 1996) und LARGE auf 22q12.3 untersucht (Peyrard, Seroussi et al. 1999). Weiterhin wurden Gene der Protein 4.1-Familie als Kandidatengene bei der Meningeomentstehung diskutiert. Das untersuchte EPB4.1-Gen auf Chromosom 1q36, welches für das Zytoskelettprotein 4.1R kodiert, ist bei Meningeomen inaktiviert (Robb, Li et al. 2003). Verschiedene Studien unterstützen die Klassifizierung des bei Lungenund Brustkrebs gefundenen EPB41L3-Gens auf Chromosom 18p11 (früher auch 4.1BGen oder DAL-1 genannt) als potenzieller Tumorsuppressor auch bei Meningeomen (Tran, Bogler et al. 1999; Perry, Cai et al. 2000). Verluste des EPB41L3-Gens durch LOH wurden in 60% sporadischer Meningeome nachgewiesen (Gutmann, Donahoe et al. 2000). Höhergradige Meningeome zeigen Alterationen in den Genen CDKN2A/CDKN2B, welche die Proteine p16, p15 und p14 kodieren. Sie sind bei zwei Dritteln anaplastischer Meningeome homozygot deletiert. Selten finden sich bei höhergradigen Meningeomen Mutationen in TP53 und PTEN (Lamszus 2004). Kürzlich wurde NDRG2 als methyliertes Tumorsuppressorgen bei der Progression maligner Meningeome identifiziert (Lusis, Watson et al. 2005). Die genaue Bedeutung der weiteren Gene bei 57 der Differenzierung höhergradiger Meningeome ist noch unklar. Die Rolle von Onkogenen und ihre Aktivierung ist noch weitestgehend ungeklärt. So kodiert das c-sis Onkogen auf Chromosom 22 für PDGF-B (B-chain of platelet-derived growth factor). Hohe Expressionslevel wurden bei Meningeomen detektiert, deren Bedeutung aber nicht weiter untersucht wurde (Maxwell, Galanopoulos et al. 1990). Eine Übersicht über die verschiedenen Gene bei der Meningeomentstehung und -progression gibt Abbildung 18: Abb. 18: chromosomale/genetische Alterationen bei Meningeomen Abb. 18 Legende: durchgezogene graue Linie - chromosomale Zugewinne gepunktete schwarze Linie - chromosomale Verluste Punkte am Linienende - Alterationen bei Meningeomen WHO Grad I Pfeile am Linienende - Alterationen bei Meningeomen WHO Grad II und WHO Grad III fett gedruckte Gene - selten mutierte Gene fett und unterstrichene Gene - häufig mutierte Gene normal gedruckt - bereits ausgeschlossene Gene 58 5.6 Interpretation der Resultate Die deutlichen Differenzen in den Mutationsfrequenzen der einzelnen Untergruppen unterstützen das Konzept von zwei unterschiedlichen genetischen Gruppen auch histologisch definierbarer Meningeomvarianten (Wellenreuther, Kraus et al. 1995): Es finden sich einerseits Tumore mit relativ hohen Mutationsfrequenzen im NF2 Gen, wie transitionale, fibroblastische, atypische, anaplastische, psammomatöse und vermutlich auch chordoide und papilläre Meningeome. Andererseits kommen Tumore mit geringeren oder keinen NF2 Mutationen vor, darunter die klarzelligen, angiomatösen, meningotheliomatösen, sekretorischen und mikrozystischen Meningeome. Dieses Konzept wird durch folgende verschiedene Überlegungen unterstützt: Erstens: Die hier erhobenen Daten lassen einen Zusammenhang zwischen Histomorphologie und NF2 Mutationsstatus vermuten. Die Meningeomzellen der Meningeomvarianten mit hohen NF2 Mutationsfrequenzen, wie die fibroblastischen oder psammomatösen Varianten, zeichnen sich durch eine spindelzellige Morphologie aus. Im Gegensatz dazu sind Gruppen mit wenigen oder keinen NF2 Mutationen, wie meningotheliomatöse und sekretorische Meningeome, durch rundliche Tumorzellen charakterisiert. Diese zeigen Ähnlichkeiten mit arachnoidalen Deckzellen. Ein Funktionsverlust des NF2 Proteins Merlin als Verbindung von Membranproteinen und Zytoskelett könnte für die veränderte Zellmorphologie verantwortlich sein. Gestützt wird diese Hypothese durch die Erkenntnis, dass es durch Mutationen im verwandten 4.1-Protein zu schwerwiegenden Auswirkungen kommt. Patienten, welche diese Mutation aufweisen, leiden an hereditärer Elliptocytose und weisen starke Veränderungen der Erythrozytenform auf (Gallagher 2004). Eine andere denkbare Erklärung für die Unterschiede der NF2 Mutationsfrequenz in den beiden morphologisch unterschiedlichen Meningeomen sind verschiedene Populationen von Ursprungszellen. Histologisch imponieren bei Meningeomsubtypen ein mehr mesenchym-ähnlich (viele NF2 Mutationen) und ein mehr epithelial-ähnlich differenziertes Muster (weniger NF2 Mutationen). Die unterschiedliche Morphologie könnte das Ergebnis verschiedener Funktionen sein und eine Unterteilung basierend auf funktionellen Gesichtspunkten scheint somit sinnvoll. Eher mesenchymale Funktionen wie Kollagenproduktion sowie Teilnahme an Reparaturvorgängen und eher 59 epitheliale Funktionen wie der Aufbau anatomischer Barrieren und sekretorische Aktivität stehen einander gegenüber (Perry, Gutmann et al. 2004). Diese Hypothese müsste durch weitere Studien unterlegt werden. Zweitens: Von einem Konzept unterschiedlicher Ursprungszellen, die variierende Meningeommorphologien berichtet. So fanden in sich verschiedenen keinerlei Hirnregionen chromosomale hervorbringen, Verluste auf wurde 22q bei meningotheliomatösen Meningeomen, die im anterioren Bereich der Schädelbasis lokalisiert waren. Dagegen wurde in den meisten transitionalen und fibroblastischen Meningeomen, die andere Lokalisationen aufwiesen, LOH 22q detektiert (Kros, de Greve et al. 2001). Diese Beobachtung deutet an, dass sich Meningeome, basierend auf ihrer Lokalisation, durch unterschiedliche Histogenese und genetischen Ursprung unterscheiden. Dieses Konzept wird von den hier erhobenen Daten allerdings nicht unterstützt. Von den 33 sekretorischen Meningeomen, die alle keine NF2 Mutation aufwiesen, waren 19 in der Konvexität lokalisiert, 12 an der Schädelbasis und 2 im Bereich des Tentoriums. Gleiche Lokalisationen und Verteilungsfrequenzen von sekretorischen Meningeomen wurden auch anderweitig beschrieben (Probst-Cousin, Villagran-Lillo et al. 1997). Zehn (71%) der 14 psammomatösen Meningeome waren spinaler Herkunft oder am Foramen magnum lokalisiert. NF2 Mutationen wurden sowohl in dieser Gruppe als auch bei kranialen psammomatösen Meningeomen detektiert. Falls es einen Zusammenhang zwischen Lokalisation und NF2 Mutationsfrequenz gibt, weist dieses Verteilungsmuster darauf hin, dass spinale Meningeome nicht der Schädelbasis-Gruppe zugehören. Drittens: In den 33 sekretorischen Meningeomen wurden keine Mutationen detektiert. Nach Probst-Cousin et. al wurde von allen untersuchten 31 sekretorischen Meningeomen der Progesteron-Rezeptor exprimiert (Probst-Cousin, Villagran-Lillo et al. 1997). In diesem Zusammenhang lässt sich spekulieren, dass Tumore ohne NF2 Mutationen über Veränderungen im Progesteronrezeptorstatus charakterisiert werden könnten. Das NF2 Protein Merlin könnte die Expression des Progesteronrezeptors fördern. Andererseits könnten Veränderungen im Progesteronsystem selbst auch die Entstehung von Meningeomen auf alternativem Weg induzieren. 60 Insgesamt wird bei benignen Meningeomen davon ausgegangen, dass Frauen mit einer Rate von 2:1 häufiger betroffen sind als Männer. In dieser Studie fällt eine deutlichere Verteilung zugunsten der Frauen auf, insgesamt ein Verhältnis von 4:1. Bei den vorhandenen Daten der seltenen Meningeomen war die Frau:Mann Verteilung insgesamt 3,5:1. Bei der Kontrollgruppe der fibroblastischen Meningeome waren die Frauen 7-mal häufiger vertreten. Nur die transitionalen Meningeome wiesen die für Meningeome übliche Verteilungsquote von 2:1 auf. Besonders bei den sekretorischen Meningeomen fiel auf, dass Frauen mit einer Verteilung von 10:1 deutlich häufiger betroffen waren. Unter den atypischen Meningeomen vom WHO-Grad II und den anaplastischen vom Grad III wurde eine Rate von 1,3:1 Frauen zu Männern erreicht, wobei die Meningeome vom WHO-Grad I mit 4,7:1 deutlich mehr Frauen betrafen. Unter den WHO-Grad I-Meningeomen waren Männer mit einer Rate von 2:1 sowohl bei den angiomatösen als auch bei den mikrozystischen Meningeomen unerwartet überrepräsentiert. Sowohl in der Gruppe mit höherer Verteilungsrate für Frauen, als auch der Gruppe mit mehr Männern waren sehr unterschiedliche Mutationsfrequenzen zu beobachten. Ein Einfluss der Geschlechterverteilung auf die NF2 Mutationsfrequenzen konnte somit nicht festgestellt werden. Die Funktion der Sexualhormone im Zusammenhang mit der Entstehung von Meningeomen ist letztlich aber nicht ausreichend geklärt. Es wird aber vermutet, dass positive Progesteronrezeptoren für ein eher günstiges klinisches Verhalten der Tumore sprechen (Brandis, Mirzai et al. 1993; Probst-Cousin, VillagranLillo et al. 1997). 5.7 Beurteilung und Zukunftsperspektiven Zusammenfassend lässt sich anhand der hier erhobenen Daten das Konzept unterstützen, dass es wenigstens zwei verschiedene genetische Subvarianten von Meningeomen gibt, die sich mit den histologischen Klassifikationen überschneiden und helfen können, den Ursprung dieser Tumore besser zu verstehen. Weitere Studien sind nötig, um die hier präsentierten Zusammenhänge teifgreifender zu erforschen. Hierbei wäre es zunächst interessant, größere Gruppen der hier untersuchten Meningeomvarianten zu analysieren, von welchen gegenwärtig nicht ausreichend Fälle vorlagen, um verallgemeinernde Aussagen machen zu können. Um die Bedeutung und 61 Funktion des NF2 Gens in der Pathogenese von Meningeomen umfassender zu klären, könnten hierzu weitere Untersuchungsmethoden herangezogen werden. So wäre es beispielsweise sinnvoll, die Spezifität der hier verwendeten SSCP-Analyse durch einen konstanten Temperaturgradienten zu verbessern und weitere intronische Abschnitte des Gens mit zu untersuchen. Auch die Bedeutung von alternativen Ausschaltmechanismen des NF2 Gens, beispielsweise durch Hypermethylierung, oder von Funktionsverlusten des Proteins Merlin durch beschleunigten Abbau, könnten Gegenstand weiterführender Forschung sein. Retrovirale Technologie könnte es bald ermöglichen, mutierte Tumorsuppressorgene zu ersetzen und den normalen Phänotyp der Zelle wieder herzustellen. DNA Mikroarray Analysen können zur schnellen genetischen Diagnose auch bei Meningeomen eingesetzt werden. Ärzte und Patienten könnten in naher Zukunft im Sinne verbesserter Diagnosestellung und individueller Behandlung von den Forschungsergebnissen im Bereich der Tumorgenese, -progression, -aggressivität und -prognose profitieren. 62