Der schnellste Pfad der Evolution - Max-Planck

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Traulsen, Arne | Der schnellste Pfad der Evolution
Tätigkeitsbericht 2007
Entwicklungs- und Evolutionsbiologie/Genetik
Der schnellste Pfad der Evolution
Traulsen, Arne;
Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie (bis März 2007: MPI für Limnologie), Plön
Abteilung – Evolutionsökologie (M. Milinski)
Korrespondierender Autor
Traulsen, Arne
E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
Bei der Evolution einer Population sammeln sich nach und nach vorteilhafte Mutationen an. Dabei
erhöht sich die Fitness der Population, bis sich alle vorteilhaften Mutationen durchgesetzt haben.
Unter welchen Umständen läuft dieser Prozess am schnellsten ab? Mathematisch lässt sich zeigen,
dass es für geringe Mutationsraten optimal ist, wenn die Fitness exponentiell ansteigt. Wenn die
Mutationsraten sehr hoch sind, dann ist der Prozess schneller, wenn die Fitness nur im letzten Schritt
stark ansteigt.
Abstract
During the evolution of a population, advantageous mutations are accumulated. This enhances the
fitness of the population until all advantageous mutations are fixed. Under which circumstances does
this process proceed fastest? A mathematical calculation shows that an exponential increase of fitness
is optimal for small mutation rates. For high mutation rates, the process is faster if the fitness
increases only in the last step.
Motivation: Kugelbahnen und Physik
Die Mathematisierung der Biologie ist im Vergleich zur Physik noch recht jung. Nur wenige allgemeine Grundsätze, wie z.B. das Hardy-Weinberg-Gesetz für sexuelle Reproduktion, sind bekannt. Solche
Gesetzmäßigkeiten kann man an vereinfachten, abstrakten Modellen finden. In der Physik haben diese
Modelle eine lange Tradition.
Ein klassisches Problem der theoretischen Physik ist das so genannte Brachistochronenproblem [1]:
Man kann hierbei z.B. an eine Kugelbahn zwischen zwei Punkten A und B denken. Welche Form
muss nun eine solche Kurve haben, damit die Kugel möglichst schnell Punkt B erreicht? Ist die Kurve
am Anfang zu steil, dann wird die Kugel zwar stark nach unten beschleunigt, legt aber nur eine sehr
geringe horizontale Entfernung zurück. Ist die Kurve zu flach, beginnt die Bewegung nur äußerst
langsam.
Johann Bernoulli forderte die Wissenschaftsgemeinde 1696 in einer Veröffentlichung in Acta Eruditorium auf, dieses Problem zu lösen. Neben Johann Bernoulli fanden sein Bruder Jacob, Guillaume
de l’Hopital, Gottfried Leibniz und Isaac Newton eine Lösung: Die Kurve, auf der die Kugel am
schnellsten herunterrollt, ist eine Zykloide – die Kurve, die ein Punkt auf einem rollenden Rad beschreibt (Abb. 1, oben).
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Abb. 1:
Oben: Das Brachistochronenproblem der Physik untersucht, auf welcher Bahn eine Kugel am schnellsten eine
Kugelbahn herunterrollt. Diese als Zykloide bezeichnete Kurve (rot) wird durch die angegebene Gleichung mit
dem Parameter t beschrieben.
Unten: Wenn man das Problem umdreht, kommt man zu einem verwandten Problem der Evolutionsbiologie:
Wie muss man Fitnesswerte ri anordnen, um durch Selektion möglichst schnell die Fitness auf einen bestimmten
Wert R zu erhöhen? Für kleine Mutationsraten muss die Kurve exponentiell ansteigen, wie aus der Gleichung
ersichtlich.
Urheber: Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie/Traulsen
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Tätigkeitsbericht 2007
Kugelbahnen in der Evolutionsbiologie
Gibt es eine ähnliche Fragestellung in der Evolutionsbiologie?
Eine Grundfrage in diesem Forschungsgebiet ist, auf welche Weise sich vorteilhafte Eigenschaften
durch die natürliche Selektion in Populationen durchsetzen. Die theoretische Biologie entwickelt hierzu mathematische Modelle, mit denen die Eigenschaften solcher Prozesse untersucht werden können.
Wichtige Merkmale solcher Prozesse sind zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass sich vorteilhafte
Eigenschaften durchsetzen oder die Dauer dieses Prozesses.
Wenn man nun an die Kugelbahnen zurückdenkt, dann tritt bei Evolutionsprozessen die natürliche
Selektion an die Stelle der Gravitation. Statt durch Höhenunterschiede wie in der Physik wird der
Prozess durch Unterschiede in der Fitness getrieben, wobei in der Physik die Höhe (bzw. die potenzielle Energie) abnimmt und in der Biologie die Fitness zunimmt. Dies führt zu einem biologischen
Optimierungsproblem, das mit dem Brachistochronenproblem verwandt ist [2]. Wie muss man die Fitnesswerte auf einer Kurve über mehrere Zwischenzustände wählen, damit eine Population möglichst
schnell von einer Ursprungsfitness zu einer Zielfitness evolviert (Abb. 1, unten)?
An dieser Stelle zeigt sich, dass das biologische Problem nicht ganz so elegant zu lösen ist wie das
physikalische. Während die Lösung in der Physik von keinen Parametern mehr abhängt, beeinflusst
in der Biologie die Mutationsrate das Ergebnis. Der Einfachheit halber kann man annehmen, dass es
immer nur eine einzige vorteilhafte Mutation gibt, d.h. die vorteilhaften Eigenschaften müssen nach
und nach in einer bestimmten Reihenfolge akkumuliert werden. Weiter muss man definieren, wie sich
vorteilhafte Eigenschaften in einer Population durchsetzen. Ein Standardansatz der Populationsgenetik
dazu ist der Moranprozess [3]: In jedem Zeitschritt wird ein Individuum zufällig, aber proportional zur
Fitness ausgewählt. Dieser Vorgang entspricht einem Roulettespiel, bei dem jedes Feld ein Individuum
repräsentiert. Die Größe der Felder ist durch die Fitness gegeben. Das so ausgewählte Individuum produziert einen identischen Nachkommen. Anschließend wird ein zufälliges Individuum unabhängig von
der Fitness aus der Population entfernt, um die Populationsgröße konstant zu halten. Auf diese Weise
produzieren die Individuen mit höherer Fitness mehr Nachkommen und setzen sich mit einer höheren
Wahrscheinlichkeit durch. Da es sich jedoch um einen Zufallsprozess handelt, kann es auch sein, dass
ein bestimmter Typ von Individuen verloren geht, obwohl er vorteilhaft ist. Dieser Prozess führt über
kurz oder lang immer zu einer Population, in der alle Individuen gleich sind. Man kann zusätzlich die
Möglichkeit berücksichtigen, dass bei der Reproduktion Fehler oder Mutationen auftreten, die den
Fitnesswert verändern. So kann man untersuchen, ob sich diese neuen Individuen in der Population
durchsetzen.
Wie muss man nun die Fitnesswerte wählen, um eine möglichst schnelle Evolution zu erreichen? Im
allgemeinen Fall kann selbst dieses einfache Problem nicht mit Papier und Bleistift gelöst werden –
hier können Computersimulationen hilfreich sein. In Grenzfällen, die hingegen schwieriger mit Simulationen untersucht werden können, sind jedoch analytische Näherungen möglich.
Biomathematik mit Bleistift und Papier
Falls Fehler oder Mutationen bei der Reproduktion sehr unwahrscheinlich sind, dauert es sehr lange,
bis alle Mutationen aufgetreten sind. In diesem Grenzfall setzt sich eine Mutante immer durch oder
geht verloren, bevor die nächste Mutation stattfindet. Die Population besteht also fast immer aus gleichen Individuen, und ein Beobachter würde die meiste Zeit auf Mutationen warten. Nur selten tauchen
Mutationen auf, die entweder wieder aussterben oder sich in der Population durchsetzen.
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In diesem Fall zeigt eine einfache Rechnung, dass die Fitnesswerte im Idealfall exponentiell ansteigen
(Abb. 1, unten). Weiter kann man mathematisch beweisen, dass diese Lösung eindeutig ist – es kann
also keine alternative Lösung des Problems geben, die genauso gut ist.
Dazu ein Beispiel: Bei R = 16 und drei Zwischenzuständen heißt das also, dass die Fitnesswerte 1, 2,
4, 8, 16 sein sollten. Im Fall von sehr vielen Zwischenzuständen liegen diese auf der einzigen exponentiell ansteigenden Kurve, die Anfangs- und Endzustand verbindet.
Dieses einfache Ergebnis gilt jedoch nur in dem Grenzfall, in dem die Mutationsrate sehr klein ist.
Genauer gesagt, muss sie viel kleiner sein als die inverse Populationsgröße zum Quadrat. Wenn also
z.B. die Population aus 100 Individuen besteht, muss die Mutationsrate kleiner als 0.0001 sein. Diese
Näherung ist also nur dann gültig, wenn die Population nicht allzu groß ist.
Man kann jedoch eine andere Näherung durchführen, die genau dann gültig wird, wenn die Population
groß ist und die Mutationsrate hoch. In diesem Fall läuft der gesamte Prozess sehr schnell ab, wenn
man ihn mit niedrigen Mutationsraten vergleicht. Für hohe Mutationsraten besteht die Population sehr
schnell aus allen möglichen verschieden Typen von Individuen. Insbesondere sind Individuen vom
Typ mit der maximalen Fitness vorhanden. Ein Beobachter würde in diesem Fall nur darauf warten
müssen, dass sich diese Individuen durchsetzen. Anstatt wie für niedrige Mutationsraten die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Mutation durchsetzt zu optimieren, muss man nun an der Zeit ansetzen,
die dieses Durchsetzen dauert. Dieser Prozess ist am effektivsten, wenn der Fitnessvorteil dieser
Individuen maximal wird. Und er ist genau dann am schnellsten, wenn alle Individuen die Anfangsfitness haben und nur der finale Typ eine höhere Fitness. Die schnellste Trajektorie, also der schnellste
Pfad, ist in diesem Falle also flach mit einem Maximum ganz am Ende (Abb. 2). Diese Näherung ist
dann gültig, wenn das Produkt aus Populationsgröße und Mutationsrate groß ist. Im allgemeinen Fall
erwartet man, dass es einen kontinuierlichen Übergang von der exponentiellen Trajektorie zur flachen
Trajektorie gibt. Computersimulationen bestätigen dies.
Abb. 2: Für niedrige Mutationsraten und kleine Populationen schreitet die Evolution am schnellsten voran,
wenn die Fitness exponentiell ansteigt (links). Sind dagegen die Mutationsraten hoch und die Populationen groß,
dann ist der schnellste Pfad flach mit einem großen Fitnesssprung zum finalen Zustand (rechts). Dies sagt jedoch
nichts über die absoluten Geschwindigkeiten des Prozesses aus: In jedem Fall wird die Evolution schneller
voranschreiten, wenn die Mutationsraten hoch sind.
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Für hohe Mutationsraten ist die absolute Zeit des Prozesses immer kürzer als für niedrige Mutationsraten. Etwas Ähnliches ist ganz alltäglich: Die schnellste Strecke mit dem Fahrrad kann sehr verschieden
sein von der schnellsten Strecke mit dem Auto, obwohl die gesamte Fahrzeit mit dem Auto immer kürzer ist. Auf ähnliche Weise, wie in diesem Beispiel das Verkehrsmittel vor der Optimierung festgelegt
wird, bestimmen in dem Modell die Mutationsraten, welche Form der optimale Pfad hat.
Gibt es so etwas auch in der Natur?
Ist dieses Problem nun relevant für die experimentelle Biologie? Dazu zuallererst eine Gegenfrage:
Für wen ist das Brachistochronenproblem der Physik interessant? Obwohl sich vielleicht Skifahrer
dafür erwärmen könnten, ist es doch weit weg von echten Anwendungen. Trotzdem war die Lösung
des physikalischen Problems ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der theoretischen Mechanik und
führte zum Beispiel zur Entwicklung der Variationsrechnung, einer neuen mathematischen Methode
in der Physik.
Normalerweise wird in der Evolution jedoch folgendes beobachtet: Zuerst steigt die Fitness sehr
schnell an, später gibt es nur noch sehr wenige Verbesserungsmöglichkeiten und die Fitness steigt nur
noch langsam an. Trotzdem ist die Theorie mit der Realität kompatibel: auch eine Kugel wird anfangs
in die Richtung rollen, in der das Gefälle am größten ist – diese „steilster Abstieg“-Methode wird auch
in der Optimierungstheorie verwendet. Die Berechnung des schnellsten Pfades sagt aber nichts über
den realisierten Weg aus: Auch wenn es einen schnellsten Pfad gibt, heißt das noch lange nicht, dass
die Evolution diesen Weg auch beschreitet.
Solche Ketten von Mutationen gibt es in unterschiedlichsten Systemen. Krebs kann durch die Inaktivierung von Tumor-Supressor-Genen initiiert werden, dabei ist die erste Mutation neutral, da wir zwei
Kopien des Gens besitzen. Erst die zweite Mutation führt zu einer erhöhten Fitness der Krebszellen
(die für den Menschen natürlich von Nachteil ist) und zu dem Ausbruch der Krankheit [4, 5]. Pathogene müssen oftmals mehrere Mutationen ansammeln, um den Wirt verlassen zu können [6]. In der experimentellen Evolution kann bisweilen die Fitness von Zwischenzuständen manipuliert werden. Auf
diese Weise kann man die hier dargestellten theoretischen Ergebnisse auch experimentell überprüfen.
Vergleicht man zwei Systeme, dann wird das System schneller den Endzustand erreichen, das dichter
an der optimalen Trajektorie liegt.
In der Evolutionsbiologie geht man oft davon aus, dass die Fitness bereits maximal ist. Wenn die Evolution aber nur über einen geringen Zeitraum fortschreitet (so wie bei der experimentellen Evolution
oder bei der Evolution von Krebs), dann wird der Prozess der Evolution selber wichtig und nicht nur
dessen Endergebnis. Für Fragestellungen wie die hier diskutierten sind theoretische und mathematische Biologie ausgezeichnete Hilfsmittel.
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Literaturhinweise
[1] W. W. Rouse Ball:
A Short Account of the History of Mathematics.
Dover Publications (1960).
[2] A. Traulsen, Y. Iwasa, M. A. Nowak:
The fastest evolutionary trajectory.
Journal of Theoretical Biology 249, 617–623 (2007).
[3] P. A. P. Moran:
The statistical processes of evolutionary theory.
Clarendon, Oxford (1962)
[4] A. G. Knudson:
Mutation and Cancer: Statistical Study of Retinoblastoma.
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 68, 820–823 (1971).
[5] M. A. Nowak, F. Michor, N. L. Komarova, Y. Iwasa:
Evolutionary dynamics of tumor suppressor gene inactivation.
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 101, 10635–10638 (2004).
[6] M. A. Nowak, R. M. Anderson, A. R. McLean, T. Wolfs, J. Goudsmit, R. M. May:
Antigenic diversity thresholds and the development of aids.
Science 254, 963–969 (1991).
Drittmittelfinanzierung
Die Arbeitsgruppe Evolutionäre Dynamik wird duch das Emmy-Noether-Programm der DFG
gefördert.
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