Jahrbuch 2007/2008 | Traulsen, Arne | Der schnellste Pfad der Evolution Der schnellste Pfad der Evolution The fastest path of evolution Traulsen, Arne Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie, Plön Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung Bei der Evolution einer Population sammeln sich nach und nach vorteilhafte Mutationen an. Dabei erhöht sich die Fitness der Population, bis sich alle vorteilhaften Mutationen durchgesetzt haben. Unter w elchen Umständen läuft dieser Prozess am schnellsten ab? Mathematisch lässt sich zeigen, dass es für geringe Mutationsraten optimal ist, w enn die Fitness exponentiell ansteigt. Wenn die Mutationsraten sehr hoch sind, dann ist der Prozess schneller, w enn die Fitness nur im letzten Schritt stark ansteigt. Summary During the evolution of a population, advantageous mutations are accumulated. This enhances the fitness of the population until all advantageous mutations are fixed. Under w hich circumstances does this process proceed fastest? A mathematical calculation show s that an exponential increase of fitness is optimal for small mutation rates. For high mutation rates, the process is faster if the fitness increases only in the last step. Motivation: Kugelbahnen und Physik Die Mathematisierung der Biologie ist im Vergleich zur Physik noch recht jung. Nur w enige allgemeine Grundsätze, w ie z.B. das Hardy-Weinberg-Gesetz für sexuelle Reproduktion, sind bekannt. Solche Gesetzmäßigkeiten kann man an vereinfachten, abstrakten Modellen finden. In der Physik haben diese Modelle eine lange Tradition. Ein klassisches Problem der theoretischen Physik ist das so genannte Brachistochronenproblem [1]: Man kann hierbei z.B. an eine Kugelbahn zw ischen zw ei Punkten A und B denken. Welche Form muss nun eine solche Kurve haben, damit die Kugel möglichst schnell Punkt B erreicht? Ist die Kurve am Anfang zu steil, dann w ird die Kugel zw ar stark nach unten beschleunigt, legt aber nur eine sehr geringe horizontale Entfernung zurück. Ist die Kurve zu flach, beginnt die Bew egung nur äußerst langsam. Johann Bernoulli forderte die W issenschaftsgemeinde 1696 in einer Veröffentlichung in Acta Eruditorium auf, dieses Problem zu lösen. Neben Johann Bernoulli fanden sein Bruder Jacob, Guillaume de l’Hopital, Gottfried Leibniz und Isaac New ton eine Lösung: Die Kurve, auf der die Kugel am schnellsten herunterrollt, ist eine © 2008 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/6 Jahrbuch 2007/2008 | Traulsen, Arne | Der schnellste Pfad der Evolution Zykloide – die Kurve, die ein Punkt auf einem rollenden Rad beschreibt (Abb. 1, oben). O be n: Da s Bra chistochrone nproble m de r P hysik unte rsucht, a uf we lche r Ba hn e ine Kuge l a m schne llste n e ine Kuge lba hn he runte rrollt. Die se a ls Zyk loide be ze ichne te Kurve (rot) wird durch die a nge ge be ne Gle ichung m it de m P a ra m e te r t be schrie be n. Unte n: W e nn m a n da s P roble m um dre ht, k om m t m a n zu e ine m ve rwa ndte n P roble m de r Evolutionsbiologie : W ie m uss m a n Fitne sswe rte ri a nordne n, um durch Se le k tion m öglichst schne ll die Fitne ss a uf e ine n be stim m te n W e rt R zu e rhöhe n? Für k le ine Muta tionsra te n m uss die Kurve e x pone ntie ll a nste ige n, wie a us de r Gle ichung e rsichtlich. © Ma x -P la nck -Institut für Evolutionsbiologie /Tra ulse n Kugelbahnen in der Evolutionsbiologie Gibt es eine ähnliche Fragestellung in der Evolutionsbiologie? Eine Grundfrage in diesem Forschungsgebiet ist, auf w elche Weise sich vorteilhafte Eigenschaften durch die natürliche Selektion in Populationen durchsetzen. Die theoretische Biologie entw ickelt hierzu mathematische Modelle, mit denen die Eigenschaften solcher Prozesse untersucht w erden können. W ichtige Merkmale solcher Prozesse sind zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass sich vorteilhafte Eigenschaften durchsetzen oder die Dauer dieses Prozesses. Wenn man nun an die Kugelbahnen zurückdenkt, dann tritt bei Evolutionsprozessen die natürliche Selektion an die Stelle der Gravitation. Statt durch Höhenunterschiede w ie in der Physik w ird der Prozess durch Unterschiede in der Fitness getrieben, w obei in der Physik die Höhe (bzw . die potenzielle Energie) abnimmt und in der Biologie die Fitness zunimmt. Dies führt zu einem biologischen Optimierungsproblem, das mit dem Brachistochronenproblem verw andt ist [2]. W ie muss man die Fitnessw erte auf einer Kurve über mehrere © 2008 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/6 Jahrbuch 2007/2008 | Traulsen, Arne | Der schnellste Pfad der Evolution Zw ischenzustände w ählen, damit eine Population möglichst schnell von einer Ursprungsfitness zu einer Zielfitness evolviert (Abb. 1, unten)? An dieser Stelle zeigt sich, dass das biologische Problem nicht ganz so elegant zu lösen ist w ie das physikalische. W ährend die Lösung in der Physik von keinen Parametern mehr abhängt, beeinflusst in der Biologie die Mutationsrate das Ergebnis. Der Einfachheit halber kann man annehmen, dass es immer nur eine einzige vorteilhafte Mutation gibt, d.h. die vorteilhaften Eigenschaften müssen nach und nach in einer bestimmten Reihenfolge akkumuliert w erden. Weiter muss man definieren, w ie sich vorteilhafte Eigenschaften in einer Population durchsetzen. Ein Standardansatz der Populationsgenetik dazu ist der Moranprozess [3]: In jedem Zeitschritt w ird ein Individuum zufällig, aber proportional zur Fitness ausgew ählt. Dieser Vorgang entspricht einem Roulettespiel, bei dem jedes Feld ein Individuum repräsentiert. Die Größe der Felder ist durch die Fitness gegeben. Das so ausgew ählte Individuum produziert einen identischen Nachkommen. Anschließend w ird ein zufälliges Individuum unabhängig von der Fitness aus der Population entfernt, um die Populationsgröße konstant zu halten. Auf diese Weise produzieren die Individuen mit höherer Fitness mehr Nachkommen und setzen sich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit durch. Da es sich jedoch um einen Zufallsprozess handelt, kann es auch sein, dass ein bestimmter Typ von Individuen verloren geht, obw ohl er vorteilhaft ist. Dieser Prozess führt über kurz oder lang immer zu einer Population, in der alle Individuen gleich sind. Man kann zusätzlich die Möglichkeit berücksichtigen, dass bei der Reproduktion Fehler oder Mutationen auftreten, die den Fitnessw ert verändern. So kann man untersuchen, ob sich diese neuen Individuen in der Population durchsetzen. W ie muss man nun die Fitnessw erte w ählen, um eine möglichst schnelle Evolution zu erreichen? Im allgemeinen Fall kann selbst dieses einfache Problem nicht mit Papier und Bleistift gelöst w erden – hier können Computersimulationen hilfreich sein. In Grenzfällen, die hingegen schw ieriger mit Simulationen untersucht w erden können, sind jedoch analytische Näherungen möglich. Biomathematik mit Bleistift und Papier Falls Fehler oder Mutationen bei der Reproduktion sehr unw ahrscheinlich sind, dauert es sehr lange, bis alle Mutationen aufgetreten sind. In diesem Grenzfall setzt sich eine Mutante immer durch oder geht verloren, bevor die nächste Mutation stattfindet. Die Population besteht also fast immer aus gleichen Individuen, und ein Beobachter w ürde die meiste Zeit auf Mutationen w arten. Nur selten tauchen Mutationen auf, die entw eder w ieder aussterben oder sich in der Population durchsetzen. In diesem Fall zeigt eine einfache Rechnung, dass die Fitnessw erte im Idealfall exponentiell ansteigen (Abb. 1, unten). Weiter kann man mathematisch bew eisen, dass diese Lösung eindeutig ist – es kann also keine alternative Lösung des Problems geben, die genauso gut ist. Dazu ein Beispiel: Bei R=16 und drei Zw ischenzuständen heißt das also, dass die Fitnessw erte 1,2,4,8,16 sein sollten. Im Fall von sehr vielen Zw ischenzuständen liegen diese auf der einzigen exponentiell ansteigenden Kurve, die Anfangs- und Endzustand verbindet. Dieses einfache Ergebnis gilt jedoch nur in dem Grenzfall, in dem die Mutationsrate sehr klein ist. Genauer gesagt, muss sie viel kleiner sein als die inverse Populationsgröße zum Quadrat. Wenn also z.B. die Population aus 100 Individuen besteht, muss die Mutationsrate kleiner als 0.0001 sein. Diese Näherung ist also nur dann gültig, w enn die Population nicht allzu groß ist. Man kann jedoch eine andere Näherung durchführen, die genau dann gültig w ird, w enn die Population groß ist und die Mutationsrate hoch. In diesem Fall läuft der gesamte Prozess sehr schnell ab, w enn man ihn mit © 2008 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/6 Jahrbuch 2007/2008 | Traulsen, Arne | Der schnellste Pfad der Evolution niedrigen Mutationsraten vergleicht. Für hohe Mutationsraten besteht die Population sehr schnell aus allen möglichen verschieden Typen von Individuen. Insbesondere sind Individuen vom Typ mit der maximalen Fitness vorhanden. Ein Beobachter w ürde in diesem Fall nur darauf w arten müssen, dass sich diese Individuen durchsetzen. Anstatt w ie für niedrige Mutationsraten die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Mutation durchsetzt zu optimieren, muss man nun an der Zeit ansetzen, die dieses Durchsetzen dauert. Dieser Prozess ist am effektivsten, w enn der Fitnessvorteil dieser Individuen maximal w ird. Und er ist genau dann am schnellsten, w enn alle Individuen die Anfangsfitness haben und nur der finale Typ eine höhere Fitness. Die schnellste Trajektorie, also der schnellste Pfad, ist in diesem Falle also flach mit einem Maximum ganz am Ende (Abb. 2). Diese Näherung ist dann gültig, w enn das Produkt aus Populationsgröße und Mutationsrate groß ist. Im allgemeinen Fall erw artet man, dass es einen kontinuierlichen Übergang von der exponentiellen Trajektorie zur flachen Trajektorie gibt. Computersimulationen bestätigen dies. Für nie drige Muta tionsra te n und k le ine P opula tione n schre ite t die Evolution a m schne llste n vora n, we nn die Fitne ss e x pone ntie ll a nste igt (link s). Sind da ge ge n die Muta tionsra te n hoch und die P opula tione n groß, da nn ist de r schne llste P fa d fla ch m it e ine m große n Fitne sssprung zum fina le n Zusta nd (re chts). Die s sa gt je doch nichts übe r die a bsolute n Ge schwindigk e ite n de s P roze sse s a us: In je de m Fa ll wird die Evolution schne lle r vora nschre ite n, we nn die Muta tionsra te n hoch sind. © Ma x -P la nck -Institut für Evolutionsbiologie /Tra ulse n Für hohe Mutationsraten ist die absolute Zeit des Prozesses immer kürzer als für niedrige Mutationsraten. Etw as Ähnliches ist ganz alltäglich: Die schnellste Strecke mit dem Fahrrad kann sehr verschieden sein von der schnellsten Strecke mit dem Auto, obw ohl die gesamte Fahrzeit mit dem Auto immer kürzer ist. Auf ähnliche Weise, w ie in diesem Beispiel das Verkehrsmittel vor der Optimierung festgelegt w ird, bestimmen in dem Modell die Mutationsraten, w elche Form der optimale Pfad hat. Gibt es so etwas auch in der Natur? Ist dieses Problem nun relevant für die experimentelle Biologie? Dazu zuallererst eine Gegenfrage: Für w en ist das Brachistochronenproblem der Physik interessant? Obw ohl sich vielleicht Skifahrer dafür erw ärmen könnten, ist es doch w eit w eg von echten Anw endungen. Trotzdem w ar die Lösung des physikalischen Problems ein w ichtiger Schritt in der Entw icklung der theoretischen Mechanik und führte zum Beispiel zur Entw icklung der Variationsrechnung, einer neuen mathematischen Methode in der Physik. Normalerw eise w ird in der Evolution jedoch folgendes beobachtet: Zuerst steigt die Fitness sehr schnell an, später gibt es nur noch sehr w enige Verbesserungsmöglichkeiten und die Fitness steigt nur noch langsam an. © 2008 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/6 Jahrbuch 2007/2008 | Traulsen, Arne | Der schnellste Pfad der Evolution Trotzdem ist die Theorie mit der Realität kompatibel: auch eine Kugel w ird anfangs in die Richtung rollen, in der das Gefälle am größten ist – diese „steilster Abstieg“-Methode w ird auch in der Optimierungstheorie verw endet. Die Berechnung des schnellsten Pfades sagt aber nichts über den realisierten Weg aus: Auch w enn es einen schnellsten Pfad gibt, heißt das noch lange nicht, dass die Evolution diesen Weg auch beschreitet. Solche Ketten von Mutationen gibt es in unterschiedlichsten Systemen. Krebs kann durch die Inaktivierung von Tumor-Supressor-Genen initiiert w erden, dabei ist die erste Mutation neutral, da w ir zw ei Kopien des Gens besitzen. Erst die zw eite Mutation führt zu einer erhöhten Fitness der Krebszellen (die für den Menschen natürlich von Nachteil ist) und zu dem Ausbruch der Krankheit [4,5]. Pathogene müssen oftmals mehrere Mutationen ansammeln, um den W irt verlassen zu können [6]. In der experimentellen Evolution kann bisw eilen die Fitness von Zw ischenzuständen manipuliert w erden. Auf diese Weise kann man die hier dargestellten theoretischen Ergebnisse auch experimentell überprüfen. Vergleicht man zw ei Systeme, dann w ird das System schneller den Endzustand erreichen, das dichter an der optimalen Trajektorie liegt. In der Evolutionsbiologie geht man oft davon aus, dass die Fitness bereits maximal ist. Wenn die Evolution aber nur über einen geringen Zeitraum fortschreitet (so w ie bei der experimentellen Evolution oder bei der Evolution von Krebs), dann w ird der Prozess der Evolution selber w ichtig und nicht nur dessen Endergebnis. Für Fragestellungen w ie die hier diskutierten sind theoretische und mathematische Biologie ausgezeichnete Hilfsmittel. Originalveröffentlichungen Nach Erw eiterungen suchenBilderw eiterungChanneltickerDateilisteHTML- Erw eiterungJobtickerKalendererw eiterungLinkerw eiterungMPG.PuRe-ReferenzMitarbeiter Editor)Personenerw eiterungPublikationserw eiterungTeaser (Employee mit BildTextblockerw eiterungVeranstaltungstickererw eiterungVideoerw eiterungVideolistenerw eiterungYouTubeErw eiterung [1] W.W. Rouse Ball: A Short Account of the History of Mathematics. Dover Publications (1960). [2] A. Traulsen, Y . Iwasa, M.A. Nowak: The fastest evolutionary trajectory. Journal of Theoretical Biology 249, 617-623 (2007). [3] P.A.P. Moran: The statistical processes of evolutionary theory. Clarendon, Oxford (1962) [4] A.G. Knudson: Mutation and Cancer: Statistical Study of Retinoblastoma. Proceedings of the National Academy of Sciences USA 68, 820-823 (1971). [5] M.A. Nowak, F. Michor, N.L. Komarova, Y . Iwasa: Evolutionary dynamics of tumor suppressor gene inactivation. Proceedings of the National Academy of Sciences USA 101, 10635-10638 (2004). © 2008 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 5/6 Jahrbuch 2007/2008 | Traulsen, Arne | Der schnellste Pfad der Evolution [6] M.A. Nowak, R.M. Anderson, A.R. McLean, T. Wolfs, J. Goudsmit, R.M. May: Antigenic diversity thresholds and the development of aids. Science 254, 963-969 (1991). © 2008 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 6/6