597_673_BIOsp_0614_- 19.09.14 07:49 Seite 646 646 W I S S EN SCH AFT · AKTU E LL ÿ Mutationen im SMN-Gen verursachen Spinale Muskelatrophie ÿ Über Essigsäure zum Schokoladengeschmack ÿ Neue pharmakologische Hilfe bei Harndrang © Springer-Verlag 2014 Gen in den Schlagzeilen Mutationen im SMN-Gen verursachen Spinale Muskelatrophie ó Spinale Muskelatrophie vom Typ 1 (SMA1; OMIM 253300) ist eine schwere rezessive neuromuskuläre Erkrankung mit einer Häufigkeit von ∼1:10.000 (schwere Formen führen im Alter von 2 Jahren zum Tod); die Häufigkeit von Heterozygoten beträgt etwa 1:50. Die Ursache für diese Erkrankung sind Mutationen im SMN1-Gen (survival motor neuron 1). Es gibt verschiedene Mutationen in diesem Gen, die zu unterschiedlichen Schweregraden der Erkrankung führen. Um zu verstehen, warum dies so ist, haben Kavita Praveen und ihre Kollegen aus Chapel Hill und Philadelphia, USA, eine Serie von 12 verschiedenen humanen SMN1Mutationen nachgebildet und in Drosophila exprimiert (Praveen K et al., PLoS Genet (2014) 10:e1004489). Die Mutationen betreffen hochkonservierte Aminosäuren in drei wichtigen Bereichen des SMN1-Proteins: die Gemin2bindende Domäne, die Tudor-Domäne, und eine Tyr/Gly-reiche Domäne (YG-Box). Die bei den Drosophila-Mutanten beobachteten Unterschiede im Schweregrad (z. B. Letalität) sind den entsprechenden Unterschieden zwischen den Patienten ähnlich. Als besonders wichtig haben sich in den Experimenten die Mutationen herausgestellt, die die YG-Box betreffen, denn sie zeigen ein stärkeres Krankheitsbild als die Nullmutationen. Die in der YG-Box veränderten Proteine können nicht mehr mit sich selbst Dimere bilden – wohl aber mit dem Wildtyp-Protein. Wenn in Drosophila das WildtypProtein stark überexprimiert wird, kann dadurch die Wirkung der Proteine zurückgedrängt werden, deren YG-Box verändert ist. Dieser Befund eröffnet die Möglichkeit, diejenigen Patienten gezielt zu behandeln, deren Muskelatrophie durch eine Mutation in der Region des SMN1-Gens hervorgerufen wird, die für die YG-Box codiert. Y Neben der Perspektive einer personalisierten Therapie liegt der Verdienst dieser Arbeit in der Darstellung der besonderen Bedeutung von Punktmutationen, die oftmals zu schwereren Krankheitsbildern führen als der Verlust des ganzen Gens. Außerdem können allelische Serien dazu verwendet werden, die Funktion bestimmter Domänen des entsprechenden Pro- Abb.: Muskelbiopsie bei der Spinalen Muskelatropie (SMA 1). Die schwere Form ist durch auffällige hypertrophische Fasern zwischen atrophischen Muskelfaserbündeln charakterisiert. (Bild: Katirji B et al. (Hrsg.) (2014) Neuromuscular Disorders in Clinical Practice. Springer Science+Business Media, New York.) teins zu untersuchen, wenn Punktmutationen in verschiedenen Bereichen eines Gens zu unterschiedlichen Schweregraden oder gar unterschiedlichen Krankheitsbildern führen. Jochen Graw, Neuherberg Mikroorganismus in den Schlagzeilen Über Essigsäure zum Schokoladengeschmack ó Dass ein Verrottungsprozess für den leckeren Kakao-Geschmack verantwortlich ist, dürfte den meisten Naschkatzen nicht bewusst sein. Aber wie bei vielen anderen Lebensmitteln auch, sorgen Mikroorganismen für den feinen Genuss. Biotechnologen der Saar-Universität um Christoph Wittmann sowie von Nestlé haben die Stoffwechselwege bei der SchokoFermentation genauer unter die Lupe genommen (Adler P et al., Appl Environ Microbiol (2014) 80:4702–4716). Dass sich deutsche und schweizerische Forscher mit Schokolade befassen, wundert kaum, arbeiten sie doch in den größten Konsumländern für die zarte Süßigkeit weltweit. Doch bislang fermentieren die Kakaobohnen und das anhaftende Fruchtfleisch unter Bananenblättern in südlicher Sonne. Erstmals verfolgten Forscher nun im heimischen Labor detailliert die Fermentationsschritte. Bekannt war, dass Hefen, Milch- und Essigsäurebakterien die Nährstoffe aus dem Kakao so umsetzen, dass daraus Vorstufen des Schokoladenaromas entstehen. Die einzelnen Schritte und die notwendige Teamarbeit unter den Mikroorganismen machten die Wissenschaftler nun mithilfe von Isotopenmarkierungen sichtbar: Milchsäurebakterien und Hefen stellen aus den Zuckern im Fruchtfleisch Milchsäure und Ethanol her. Essigsäurebakterien verarbeiten diese über getrennte Stoffwechselwege zu Acetat. Diese Trennung ist zwar energetisch ungünstig, aber schnell, und darauf zurückzuführen, dass Phosphoenolpyruvat-Kinase und Malat-Enzyme fehlen. Abb.: Essigsäurebakterien wie Acetobacter pasteuerianus spielen eine wesentliche Rolle für die Entwicklung des typischen SchokoladenGeschmacks während der Fermentation von Kakaobohnen (Bild: Claudia Ludy). Y Eine ausgewogene Zusammensetzung der richtigen Mikroorganismen ist daher für den Schokoladen-Geschmack eine Grundvoraussetzung. Durch den Einsatz von natürlichen Starterkulturen könnten Kakaobauern den Ertrag von Kakao-Fermentationen verbessern. Anja Störiko, Hofheim BIOspektrum | 06.14 | 20. Jahrgang 597_673_BIOsp_0614_- 19.09.14 07:49 Seite 647 Arzneimittel in den Schlagzeilen Neue pharmakologische Hilfe bei Harndrang Abb.: Mirabegron aktiviert β3-Adrenozeptoren und fördert die Relaxation der Blasenmuskulatur. ó Das Syndrom der überaktiven Blase (overactive bladder, OAB) ist häufig, lästig und psychosozial sehr belastend: Ganz plötzlich kontrahiert sich spontan die Blasenmuskulatur und es entsteht ein starker Harnndrang, ohne dass die Blase tatsächlich gefüllt ist. Um die Blasenmuskulatur zu relaxieren und den Harndrang zu reduzieren, standen bisher vor allem M3-Cholinozeptorantagonisten wie das Trospium, Tolterodin und Darifenacin zur Verfügung. Der M3-Cholinozeptor wird über den Neurotransmitter Acetylcholin aktiviert, der dann Gq-Proteine und die Phospholipase C stimuliert. In der Folge wird die intrazelluläre Kalziumkonzentration erhöht und die glatten Muskelzellen kontrahieren. Dieser Prozess wird durch die Antagonisten blockiert. Der β3-Adrenozeptor stellt nun einen zum M3-Cholinozeptor funktionell antagonistischen Rezeptor in der Blasenmuskulatur dar. Der β3-Adrenozeptor wird durch den Neurotransmitter Noradrenalin aktiviert, koppelt an das G-Protein Gs und stimuliert die Adenylylzyklase, die den second messenger BIOspektrum | 06.14 | 20. Jahrgang cAMP generiert. cAMP erniedrigt die intrazelluläre Kalziumkonzentration und relaxiert damit die glatten Muskelzellen in der Blase. Einen ähnlichen funktionellen Antagonismus findet man auch an den glatten Muskelzellen der Atemwege, nur dass hier der β2-Adrenozeptor exprimiert ist. In Analogie zur bronchodilatatorischen Therapie des Asthma bronchiale mit β 2Adrenozeptoragonisten liegt es nun nahe, die OAB mit β3-Adrenozeptoragonisten zu behandeln. Anfang Juni 2014 wurde in Deutschland der erste β 3-Adrenozeptor agonist, Mirabegron, zur OAB-Therapie zugelassen. Placebo-kontrollierte Doppelblindstudien zeigten die klinische Wirksamkeit von Mirabegron (Chapple CR et al., BJU Int (2014) 113:696–703). Y Die unerwünschten Wirkungen von Mirabegron sind milde. Prinzipiell stellt sich jedoch die Frage, ob es bei einer Dauertherapie mit einem Agonisten wie Mirabegron zur Rezeptordesensitisierung und damit zum Wirkungsverlust kommt. Außerdem bleibt, wie bei so vielen neu eingeführten Arzneistoffen mit therapeutischen Alternativen die Frage offen, ob der neu eingeführte Arzneistoff den alten Therapieprinzipien klinisch überlegen ist. Die Praxis und weitere klinische Studien werden also zeigen müssen, welchen Stellenwert das neue und klinisch interessante Wirkungsprinzip besitzt. Im Falle von Mirabegron sind von der Klonierung des β 3-Adrenozeptors bis zur Einführung eines Arzneistoffs in die Praxis immerhin 25 Jahre vergangen, eine im Vergleich zu anderen Rezeptorklonierungen sehr lange Zeit. Dies reflektiert auch die Tatsache, dass es sehr schwer war, Wirkstoffe mit hoher Selektivität für den β 3-Adrenozeptor und geeigneten pharmakokinetischen Eigenschaften, insbesondere der Resorbierbarkeit nach oraler Gabe, zu gewinnen. Roland Seifert, Hannover und Lutz Hein, Freiburg