Aktuelle Forschung in der Schweiz Schweiz Med Wochenschr 2000;130:485–9 M. Hergersberg, M. Weigell-Weber Institut für Medizinische Genetik, Universität Zürich Erbliche Schwerhörigkeit: neue Möglichkeiten der Diagnostik1 Summary Inherited hearing loss: new diagnostic possibilities Mutations in many different genes can result in hearing loss. Using different molecular genetic methods, the disease-causing gene mutations can often be identified or at least localised to defined regions of the genome. These new diagnostic possibilities result from the localisation and identification of a number of hearing-loss genes in the last five years. Diagnostic investigations should always be accompanied by a genetic counselling of the family. In addition, the isolation thus far of 11 genes mutated in autosomal dominant inherited hearing loss, as well as of 6 genes mutated in autosomal recessive inherited hearing loss, has contributed to a better understanding of the molecular pathology of hearing loss in general. However, we are only beginning to see the whole picture, as an estimated 50 to 80 hearing loss genes remain to be discovered. Keywords: genetic hearing loss; mutation analysis; linkage analysis; connexin Zusammenfassung Mutationen in einer Vielzahl verschiedener Gene können zu Schwerhörigkeit führen. Die verursachenden Genmutationen sind häufig mit verschiedenen molekulargenetischen Methoden nachweisbar oder können zumindest im Genom lokalisiert werden. Diese diagnostischen Möglichkeiten ergeben sich aus der Lokalisierung und Isolierung zahlreicher Schwerhörigkeitsgene während der letzten fünf Jahre. Abklärungen sollten im Rahmen einer genetischen Beratung der betreffenden Familie erfolgen. Die Identifizierung von bisher 11 Genen für autosomal-dominant vererbte Schwerhörigkeit sowie 6 Genen für autosomal-rezessiv vererbte Schwerhörigkeit geht mit einem verbesserten Verständnis der molekularen Entstehungsmechanismen der Schwerhörigkeit einher. Die Kenntnislücken sind jedoch noch gross, was sich in der Zahl von vermuteten 50–80 noch unbekannten Schwerhörigkeitsgenen ausdrückt. Keywords: vererbte Schwerhörigkeit; Mutationsanalyse; Kopplungsanalyse; Connexin Warum ist die Molekularbiologie erblicher Schwerhörigkeit von Interesse? Von 1000 Kindern ist durchschnittlich eines stark schwerhörig, und diese Schwerhörigkeit ist in etwa der Hälfte aller Fälle genetisch bedingt. In der Mehrzahl der genetisch bedingten Erkrankungen (70%) liegt die Schwerhörigkeit 1 Verschiedene Aspekte unserer Arbeit wurden durch folgende Organisationen unterstützt: Kanton Zürich; Schweizerischer Nationalfonds (31-42482.94, 32-42171.94, 32-46782.96); Julius-Klaus-Stiftung, Zürich; Hartmann-Müller-Stiftung, Zürich. isoliert vor, bei den übrigen 30% ist sie Teil eines Syndroms (Tab. 1, 2) [1, 2]. In der Datenbank vererbter Syndrome «Online Mendelian Inheritance in Man» (OMIM; InternetAdresse: http://www3.ncbi.nlm.nih.gov/Omim/) Korrespondenz: Dr. rer. nat. Martin Hergersberg Institut für Medizinische Genetik Universität Zürich Rämistrasse 74 CH-8001 Zürich e-mail: [email protected] 485 Aktuelle Forschung in der Schweiz Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 Tabelle 1 Klonierte Gene für einige häufigere Syndrome, zu deren Symptomen Schwerhörigkeit gehört. Die genannten Syndrome sind genetisch heterogen, so dass Mutationen in bestimmten Genen einen sehr viel geringeren Teil aller Schwerhörigen betreffen. Die Liste der Genorte sowie der bereits identifizierten Gene ist nicht vollständig, es soll vor allem die genetische Heterogenität illustriert werden. Obwohl es eine standardisierte Nomenklatur für Genloci gibt, resultiert eine gewisse Unübersichtlichkeit aus der unabhängigen Namengebung für lokalisierte Loci und Gene im engeren Sinne. Eine zusätzliche Komplexität ergibt sich, wenn unterschiedliche Mutationen im selben Gen zu unterschiedlichen Krankheitsbildern führen (multiple Allelie). Verschiedene Mutationen im Myosin-7A-Gen bieten eine eindrucksvolle Illustration für multiple Allelie (s. Text). Name des Syndroms, Erbgang Name des Genorts kodiertes Protein Lokalisation im Genom Funktion des Genprodukts Alport autosomal-rezessiv COL4A3 Kollagen Typ IV, α-3 2q36–37 Bestandteile der extrazellulären Matrix autosomal-rezessiv COL4A4 Kollagen Typ IV, α-4 2q36–37 Bestandteile der extrazellulären Matrix X-chromosomal COL4A5 Kollagen Typ IV, α-5 Xq22 Bestandteile der extrazellulären Matrix Pendred-Syndrom, autosomal-rezessiv PDS Pendrin 7q31 Sulfat-Transporter Usher Typ 1, autosomal-rezessiv USH1B, MYO7A Myosin 7A 11q13,5 Zytoskelettkomponente USH1A, USH1C ? verschieden unbekannt USH1D, USH1E, USH1F ? verschieden unbekannt Usher Typ 2, autosomal-rezessiv Waardenburg Typ 1, Typ 3, autosomal-dominant USH2A USH2A 1q41 Komponente der extrazellulären Matrix USH2B, USH2C ? verschieden unbekannt WS1, WS3, PAX3 Protein mit Paired-Domäne 2q35 Transkriptionsfaktor Tabelle 2 Klonierte Gene für nicht-syndromale erbliche Schwerhörigkeit. Die Genorte werden nach der untersuchten Krankheit bezeichnet, wobei DFNB die Bezeichnung für Loci bei autosomal-rezessiv vererbter Schwerhörigkeit ist und DFNA autosomal-dominant vererbte Schwerhörigkeit bedeutet. DFN ist die Bezeichnung für Xchromosomal vererbte Schwerhörigkeit. In dieser Tabelle gibt es ebenfalls Beispiele für allelische Heterogenität wie das α-Tectorin-Gen, welches sowohl in der DNA von Patienten mit autosomal-rezessiv vererbter Schwerhörigkeit (DFNB21) wie auch bei einer Familie mit autosomal-dominant vererbter Schwerhörigkeit (DFNA8/12) mutiert ist (s. Text). Name des Genorts kodiertes Protein Lokalisation Funktion des Genprodukts Genloci mit autosomal-rezessiver Vererbung DFNB1, GJB2 Connexin 26 13q12 Bestandteil der «gap junctions» (GJ) DFNB2, MYO7A Myosin 7A 11q13,5 Zytoskelettkomponente DFNB3, MYO15 Myosin 15 17p11,1 Zytoskelettkomponente DFNB4, PDS Pendrin 7q31 Sulfat-Transporter DFNB9, OTOF Otoferlin 2p22–23 unbekannt, Vesikeltransport? DFNB21, TECTA α-Tectorin 11q23–25 Komponente der extrazellulären Matrix der Tectorialmembran 5q31 Zytoskelettkomponente Genloci mit autosomal-dominanter Vererbung DFNA1, DIAPH1 Diaphanous 1 DFNA2, GJB3 Connexin 31 1p34 Bestandteil der «gap junctions» (GJ) DFNA2, KCNQ4 Membrankanal 1p34 spannungsabhängiger Kaliumkanal DFNA3, GJB2 Connexin 26 13q12 Bestandteil der «gap junctions» (GJ) DFNA3, GJB6 Connexin 30 13q12 Bestandteil der «gap junctions» (GJ) DFNA5 DFNA5 7p15 unbekannt DFNA8/12, TECTA α-Tectorin 11q23–25 Komponente der extrazellulären Matrix der Tectorialmembran DFNA9, COCH Cochlin 14q12–13 unbekannt DFNA11, MYO7A Myosin 7A 11q13,5 Bestandteil des Zytoskeletts DFNA13, COL11A2 Kollagen Typ XI, α-2 6p Komponente der extrazellulären Matrix DFNA15, POU4F3 Protein mit POU-Domäne 5q31 Transkriptionsfaktor DFN3, POU3F4 Protein mit POU-Domäne Xq21,1 Transkriptionsfaktor CMT-X, GJB1 Connexin 32 Xq13,1 Bestandteil der «gap junctions» (GJ) X-chromosomale Gene finden sich unter dem Stichwort «hearing loss» zurzeit 387 Einträge. Dies illustriert, dass Mutationen in einer Vielzahl verschiedener Gene zu Schwerhörigkeit führen können. Für dieses Phänomen wird der Begriff genetische Hetero486 genität verwendet. Familienuntersuchungen zeigen, dass etwa 60–80% der Personen mit genetisch bedingter nicht-syndromaler Innenohrschwerhörigkeit (non-syndromal hearing loss, NSHL) von autosomal-rezessiv vererbter, 10– Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 Aktuelle Forschung in der Schweiz 20% von autosomal-dominant vererbter sowie 2–3% von X-chromosomal vererbter nichtsyndromaler Innenohrschwerhörigkeit betroffen sind. Aufgrund solcher Familienuntersuchungen konnte die Zahl derjenigen Gene, deren Mutation zu nicht-syndromaler Innenohrschwerhörigkeit führt, auf über 100 geschätzt werden. Genetisch ist die erbliche Schwerhörigkeit also höchst heterogen, und diese Heterogenität hat bis vor wenigen Jahren die Identifizierung der mutierten Gene unmöglich gemacht. Einen Teil der Komplexität illustriert der Befund, dass wegen der Vielfalt der beteiligten Gene zwei Personen (z.B. ein Ehepaar) mit autosomal-rezessiv vererbter Schwerhörigkeit pro Person zwei Mutationen in verschiedenen Genen tragen können, so dass die Schwerhörigkeit durch Mutationen in unterschiedlichen Genen verursacht wird. Die Kinder eines solchen Paares werden zwar je ein mutiertes Allel in jedem der beiden Gene tragen, aber trotzdem ein normales Hörvermögen entwickeln. Tatsächlich hören etwa 80% der Kinder aus Ehen zweier Schwerhöriger normal. Diese Erkenntnis hat mit dazu beigetragen, die Zahl der Schwerhörigkeitsgene einzuschätzen, und ist von offensichtlicher Bedeutung für die genetische Beratung und die Familienplanung schwerhöriger Paare. Auch Chromosomenaberrationen und Mutationen der mitochondrialen DNA liegen in einzelnen Fällen einer erblichen Schwerhörigkeit zugrunde. Wie können die Gene und Mutationen bei erblicher Innenohrschwerhörigkeit identifiziert werden? Die zuletzt genannten Mutationen sowie Mutationen in wenigen Genen bei syndromaler spätauftretender Schwerhörigkeit, wie etwa PAX3-Mutationen in der DNA von Personen mit Waardenburg-Syndrom Typ 1 und Typ 3, waren noch vor fünf Jahren die einzigen, von denen bekannt war, dass sie Schwerhörigkeit verursachen. Seit 1995 sind in einer stürmischen Entwicklung 11 Gene bekannt geworden, die bei autosomal-dominant vererbter nicht-syndromaler Innenohrschwerhörigkeit mutiert sind, 6 Gene, deren Mutation zu autosomal-rezessiv vererbter frühkindlicher Innenohrschwerhörigkeit (ARNSHL) führt sowie 2 Gene, die bei X-chromosomal vererbter Schwerhörigkeit mutiert sind (Tab. 2; InternetAdresse: http://dnalab-www.uia.ac.be/dnalab/ hhh/hhhgenes.html) [1]. Durch Familienanalysen konnten bisher 31 Gene für autosomaldominant vererbte, 28 Gene für autosomalrezessiv vererbte sowie 6 Gene für X-chromosomal vererbte nicht-syndromale Innenohrschwerhörigkeit im menschlichen Genom lokalisiert werden (in diesen Zahlen sind die auf DNA-Ebene identifizierten Gene enthalten). Dass die genomische Lokalisation eines mutierten Gens bekannt ist, bedeutet also noch nicht, dass das Gen selbst bekannt ist. Parallel dazu sind weitere Gene bekannt geworden, deren Mutation zu syndromalen Formen der Schwerhörigkeit führt (Tab. 1). Auch hier zeigt sich eine zum Teil ausgeprägte genetische Heterogenität, wobei das Usher-Syndrom hervorsticht, die häufigste Form erblicher Schwerhörigkeit in Kombination mit Retinitis pigmentosa. Zurzeit sind 10 verschiedene Gen- orte lokalisiert worden, die bei Usher-Syndrom mutiert sein können, und wahrscheinlich gibt es noch weitere Gene, deren Mutation zu diesem Syndrom führt. Von den 10 lokalisierten Genorten sind jedoch zurzeit nur 2 Gene auf der Ebene der DNA identifiziert worden, das Myosin-7A-Gen (Usher 1B) und das Usher-2AGen [3, 4]. Eine Kombination verschiedener genetischer Methoden erlaubt unter günstigen Voraussetzungen auch bei grosser genetischer Heterogenität eine Aussage über die molekularen Ursachen einer Erkrankung zu treffen. Eine genetische Analyse sollte immer von einer ausführlichen genetischen Beratung begleitet sein, und vor der Blutentnahme muss das schriftliche Einverständnis der betreffenden Person vorliegen. Bei genetischer Heterogenität wird man zunächst versuchen, diejenige Region des Genoms zu bestimmen, die zwischen allen Patienten in der Familie identisch ist, bei gesunden Familienangehörigen aber durch molekulare Marker unterschieden werden kann. Da diese Untersuchungen Wahrscheinlichkeitsaussagen ergeben, ist die Sicherheit des Ergebnisses wie bei jeder statistischen Analyse von der Zahl der untersuchten Probanden abhängig. Die entscheidende Bedingung ist daher eine ausreichende Anzahl betroffener und nicht-betroffener Familienangehöriger, die bereit sind, an einer genetischen Abklärung mitzuwirken. In einer Familie mit 10 Geschwistern, von denen 3 an Usher-Syndrom erkrankt sind, wurden in unserem Labor durch die Analyse polymorpher DNA-Marker mehrere Usher-Loci untersucht. Beim Usher-2A-Locus auf 1q41, der mit den Markern D1S490, D1S474, 487 Aktuelle Forschung in der Schweiz D1S237 sowie D1S229 getestet wurde, zeigten alle betroffenen Familienangehörigen für den Marker D1S229 2 gemeinsame Allele. Diese wurden bei den 7 gesunden Geschwistern nie gemeinsam gefunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Verteilung der Allele zufällig erfolgt, ist sehr gering, sie beträgt nur 0,208%. Dieses Ergebnis der Analyse liess die Suche nach denjenigen Mutationen im USH2A-Gen sinnvoll erscheinen, die bereits in mehreren Familien mit Usher-Syndrom gefunden worden waren, und tatsächlich wurde die bisher häufigste Mutation 2314delG (also die Deletion eines Guanins an Position 2314 des USH2A-Gens [5]) in den 3 betroffenen Geschwistern gefunden. Die Mutation im zweiten Allel, die bei einer rezessiv vererbten Krankheit angenommen werden muss, konnte bisher nicht identifiziert werden. Aber dieses vorläufige Resultat illustriert bereits, dass eine Kombination von indirekter und direkter genetischer Analyse auch dann zahlreiche Informationen liefern kann, wenn nur wenige verursachende Gene und Mutationen bekannt sind. Eine weitere Ebene der Komplexität ergibt sich daraus, dass verschiedene Mutationen im gleichen Gen zu sehr unterschiedlichen klinischen Krankheitsbildern führen können (multiple Allelie), ein Phänomen, das mittlerweile von sehr vielen vererbten Krankheiten bekannt ist. So wurde der Locus für eine Form des Usher-Syndroms (USH1B) 1992 genetisch auf 11q13.5 kartiert, und Mutationen im ebenfalls dort gelegenen Myosin-7A-Gen (MYO7A) wurden 1995 in der DNA von Patienten mit Usher-Syndrom gefunden. Das Myosin-7AGen kodiert für einen Bestandteil des Zytoskeletts, ein sogenanntes unkonventionelles Myosin [3]. In der Folge wurden andere Mutationen in diesem Myosin-Gen auch in Familien mit autosomal-dominant vererbter Schwerhörigkeit (DFNA11) und mit autosomal-rezessiv vererbter Schwerhörigkeit (DFNB2) gefunden [6, 7]. Beim Myosin-7AGen, welches sich in 49 Exons über 120 000 Basenpaare erstreckt, die für eine mRNA von 7400 Basenpaaren kodieren, wird auch die Problematik einer vollständigen Mutationssuche deutlich. Das vollständige Absuchen von Genen dieses Ausmasses ist mit den derzeit zur Verfügung stehenden Methoden nur schwer zu bewerkstelligen. Eine dritte Ebene der Komplexität resultiert daraus, dass Mutationen in dicht nebeneinanderliegenden verschiedenen Genen mit Methoden der indirekten Kopplungsanalyse nicht unterscheidbar sind. Tabelle 2 zeigt, dass am Locus DFNA2 wie auch am Locus DFNA3 488 Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 Mutationen in zwei verschiedenen Genen gefunden wurden. Bei DFNA2 liegen auf dem kurzen Arm von Chromosom 1 das ConnexinGen 31 und das Ionenkanal-Gen KCNQ4 dicht nebeneinander. Bei DFNA3 liegen die beiden Connexin-Gene 26 und 30 dicht nebeneinander auf dem langen Arm von Chromosom 13. Dies bedeutet, dass bei Familien mit autosomal-dominant vererbter Schwerhörigkeit, die genetische Kopplung an einen dieser beiden Bereiche des Genoms zeigen, jeweils beide Gene nach Mutationen untersucht werden müssen. Die in Tabelle 2 aufgeführten Gene und ihre Proteinprodukte geben einen Überblick über die Vielfalt der Gene und Proteine, deren Mutation die Funktion des Innenohrs beeinträchtigen kann. Connexine sind Proteine, die Verbindungen zwischen Zellen schaffen (engl. connections, daher der Name; diese Zell-ZellVerbindungen werden auch «gap junctions» genannt, daher die Abkürzung GJ für die verschiedenen Connexine). Diese Verbindungen sind offensichtlich im Fall des Connexins 26, des Connexins 30 und des Connexins 31 wichtig für die Funktion des Innenohrs, und das Fehlen der verschiedenen Connexin-Proteine führt daher zum Verlust des Hörvermögens. In verschiedenen Populationen europäischer Abstammung tragen 50% der ARNSHL-Patienten Mutationen im Connexin-26-Gen. Die häufigste Mutation im Connexin-26-Gen ist eine 1bp-Deletion in einer Sequenz von 6 Guaninbasen, die als 35delG bezeichnet wird [8–10]. In unserem Labor liess sich die Schwerhörigkeit von etwa der Hälfte aller untersuchten Personen auf Mutationen in diesem Gen zurückführen (Weigell-Weber et al., eingereicht 2000). Ausblick Bisher ist trotz des Fortschritts der letzten Jahre nur ein geringer Teil der postulierten Schwerhörigkeitsgene bekannt. Die in den Tabellen 1 und 2 aufgeführten, bisher identifizierten Gene kodieren für sehr unterschiedliche Proteine: Ausser Genen, die für Bestandteile der «gap junctions» kodieren, wurden auch Gene identifiziert, deren Proteinprodukte wesentlich bei der Funktion des Zytoskeletts beteiligt sind. Mutationen in Genen für verschiedene Ionenkanäle, Komponenten der extrazellulären Matrix sowie verschiedene regulatorische Proteine, wie zum Beispiel Transkriptionsfaktoren, können ebenfalls die Ursache ererbter Schwerhörigkeit sein. Die Identifikation weiterer Schwerhörigkeitsgene wird daher zu einem Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 Aktuelle Forschung in der Schweiz verfeinerten Verständnis der Pathophysiologie der Schwerhörigkeit führen, die in Zukunft auch neue therapeutische Ansätze, etwa gentherapeutischer Natur, erlauben wird. Bei einzelnen Familien mit schwerhörigen Familienangehörigen wird sich nach genetischer Beratung und dem informierten Einverständnis der Familienmitglieder ein mehrstufiges diagnostisches Vorgehen anbieten, bei dem zunächst die häufigsten Mutationen untersucht und allenfalls identifiziert werden. Schrittweise werden bei einer kleiner werden- den Zahl von Proben weitere Schwerhörigkeitsgene auf Mutationen hin untersucht. Die Analyse einer grossen Zahl von Familien ist die Voraussetzung zur Identifizierung weiterer, bisher unbekannter Schwerhörigkeitsgene. Dank: Insbesondere danken wir Herrn Prof. A. Schinzel, der unsere Aufmerksamkeit auf das Gebiet der erblichen Schwerhörigkeit gelenkt hat, für die Unterstützung unserer Arbeit. Ferner danken wir Herrn Dr. D. Kotzot, Herrn Dr. B. Röthlisberger und Frau Dr. S. Weymann für ihre Hilfe und ihr Interesse. Literatur 1 Fischel-Ghodsian N, Falk RE. Deafness. In: Rimoin DL, Connor JM, Pyeritz RE, eds. Emery and Rimoin’s Principles and Practice of Medical Genetics. 3rd ed. New York: Churchill Livingstone; 1996. p. 1149–70. 2 Kalatzis V, Petit C. The fundamental and medical impacts of recent progress in research on hereditary hearing loss. Hum Mol Genet 1998;7:1589–97. 3 Weil D, Blanchard S, Kaplan J, Guilford P, Gibson F, Walsh J, et al. Defective myosin VIIA gene responsible for Usher syndrome type 1B. Nature 1995;374:60–1. 4 Eudy JD, Weston MD, Yao S, Hoover DM, Rehm HL, MaEdmonds M, et al. Mutation of a gene encoding a protein with extracellular matrix motifs in Usher syndrome type IIA. Science 1998;280:1753–7. 5 Liu XZ, Hope C, Liang CY, Zou JM, Xu LR, Cole T, et al. A mutation (2314delG) in the Usher syndrome type IIA gene: high prevalence and phenotypic variation. Am J Hum Genet 1999;64:1221–5. 6 Liu XZ, Walsh J, Tamagawa Y, Kitamura K, Nishizawa M, Steel KP, et al. Autosomal dominant non-syndromic deafness caused by a mutation in the myosin VIIA gene. Nat Genet 1997;17:268–9. 7 Weil D, Kussel P, Blanchard S, Levy G, Levi-Acobas F, Drira M, et al. The autosomal recessive isolated deafness, DFNB2, and the Usher 1B syndrome are allelic defects of the myosin VIIA gene. Nat Genet 1997;16:191–3. 8 Kelsell DP, Dunlop J, Stevens HP, Lench NJ, Liang JN, Parry G, et al. Connexin 26 mutations in hereditary non-syndromic sensorineural deafness. Nature 1997;387:80–3. 9 Zelante L, Gasparini P, Estivill X, Melchionda S, D’Agruma L, Govea N, et al. 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