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Neurogastroenterologie: Der Darm - ein Organ für die Psychiatrie?
Der Magen- und Darmtrakt enthält die größte Ansammlung von Nervenzellen außerhalb des
Zentralnervensystems. Dieses evolutionsgeschichtlich alte enterale Nervensystem kann die
Verdauungstätigkeit unabhängig vom Gehirn steuern. Bei funktionellen Darmstörungen ist die
bidirektionale Kommunikation zwischen Darm und Gehirn gestört.
Begriffe wie „Bauchgehirn“, „Darmgehirn“ und „little brain“ kommen immer häufiger in der populärmedizinischen
Literatur vor und stellen das neuropsychiatrische Bild vom Menschen gewissermaßen auf den Kopf. Andererseits
werden instinktive Handlungen im Englischen oft als „gut reactions“ bezeichnet, so dass sich die Frage nach der
Beziehung zwischen „little brain“ und „big brain“ (Gehirn) erhebt.
Evolution
Am Anfang war das Darmnervensystem: Evolutionsgeschichtlich ist die Entwicklung des Nervensystems eng mit dem
Darm verbunden. So besteht bei primitiven Tieren wie zum Beispiel dem Regenwurm das Nervensystem aus einem
Bauchnervenstrang, der in regelmäßigen Abständen Ganglien enthält. Das Ganglienpaar am Vorderende des Tieres ist
etwas größer ausgebildet, hat es doch die Aufgabe, Nahrungssuche und -aufnahme optimal zu koordinieren. Dieses
alte „Darmnervensystem“ blieb in der gesamten Evolution erhalten, fand aber aufgrund der Dominanz der
Gehirnentwicklung wenig Beachtung. Erst Forschungen in den vergangenen 20 Jahren, vor allem durch J.B. Furness
und M. Costa in Australien, haben gezeigt, dass das enterale Nervensystem einen bislang ungeahnten Grad an
Eigenorganisation aufweist.
Neurologisches Organ
Da eine effektive Ernährung Leben und Überleben bestimmt, wird die Funktion des Gastrointestinaltrakts durch
multiple Steuerungssysteme sichergestellt. Zu diesem Zweck besitzt der Magen- und Darmtrakt das ausgedehnteste
Netzwerk von Neuronen außerhalb des Zentralnervensystems, wird er doch von fünf verschiedenen Gruppen von
Neuronen versorgt, nämlich von enteralen Neuronen, vagalen Afferenten, spinalen Afferenten, parasympathischen
Efferenten und sympathischen Efferen- ten (Abbildung 1). Besonders wichtig ist hiebei das enterale Nervensystem,
dessen Grundstruktur aus zwei netzartigen Geflechten von Ganglien und verbindenden Nervensträngen im
Auerbach-Plexus (Plexus myentericus) und Meissner-Plexus (Plexus submucosus) besteht (Abbildungen 1 und Foto).
Die Gesamtzahl der enteralen Neurone im humanen Gastrointestinaltrakt wird auf 100 Millionen geschätzt, was heißt,
dass der Magen- und Darmtrakt ebenso viele Nervenzellen enthält wie das Rückenmark.
Funktionelle Organisation
Das enterale Nervensystem kann selbstständig und unabhängig vom Gehirn den zeitlichen und räumlichen Ablauf der
Verdauung koordinieren. Dies erfolgt durch Reflex-Schaltkreise, die aus sensiblen Neuronen, Interneuronen und
efferenten Neuronen bestehen. Die sensiblen Neurone mit ihren Endigungen in der Muskulatur und Mukosa fungieren
als Mechano- und Chemosensoren, die Interneurone verbinden die enteralen Ganglien und Plexus miteinander,
während die efferenten Neurone die Muskulatur, die mukosalen Epithelien und Arteriolen innervieren. Entsprechend
diesen Effektorsystemen gehören exzitatorische und inhibitorische Motorreflexe, Sekretionsreflexe und
Vasodilatationsreflexe zum Programm- Repertoire des enteralen Nervensystems. Da die zugrunde liegenden
Reflexbahnen entweder oralwärts, analwärts oder zirkumferentiell projizieren, ergibt sich eine Vielfalt von polar
organisierten Schaltkreisen. Allein die Motorik der Ringmuskulatur wird von exzitatorisch-aszendierenden,
exzitatorisch-zirkumferentiellen, inhibitorisch-zirkumferentiellen, exzitatorisch-deszendierenden und inhibitorischdeszendierenden Reflexbahnen gesteuert.
Während die Motorik der Längs- und Ringmuskulatur in erster Linie vom Auerbach-Plexus kontrolliert wird, werden
gastrointestinale Sekretion und Durchblutung sowohl vom Auerbach- als auch vom Meissner-Plexus feinreguliert. So
wird der gesamte Magen- und Darmtrakt von einem kontinuierlich überlappenden Netz von enteralen Schaltkreisen
versorgt, die die autonome Basalsteuerung der Verdauung sicherstellen.
Das enterale Nevensystem stellt zudem eine Schaltstelle für die Beeinflussung der Magen- und Darmtätigkeit durch
das Gehirn dar, das seine Signale vor allem über das sympathische und parasympathische Nervensystem übermittelt.
Dies zeigt sich beispielsweise an der aktiven Erschlaffung des Magens, die bei Nahrungsaufnahme einsetzt und unter
Beteiligung eines vagovagalen Reflexes zustande kommt, der inhibitorische enterale Motorneurone aktiviert. Das
sympathische Nervensystem dämpft die Aktivität des enteralen Nervensystems vorzugsweise über
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α2-Adrenozeptoren, wodurch die Freisetzung enteraler Transmitter gehemmt wird.
Die wichtige Rolle des enteralen Nervensystems für die Darmfunktion wird durch die schwer wiegenden
Komplikationen unterstrichen, die sich aus kongenitalen Entwicklungsstörungen wie dem Morbus Hirschsprung oder
degenerativen Veränderungen ergeben.
Neurotransmitter weit gehend identisch
Bislang sind etwa 20 verschiedene Typen von enteralen Neuronen identifiziert worden, die sich aufgrund ihrer
charakteristischen Transmitter-Ausstattung (neurochemischen Codes) unterscheiden. Der Hauptteil der enteralen
Neurone enthält entweder Acetylcholin oder NO als Haupttransmitter; daneben gelten Adenosin-Triphosphat,
vasoaktives intestinales Polypeptid, Tachykinine und opioide Peptide als Transmitter des enteralen Nervensystems.
Diese Transmitter und die im Darm maßgeblichen Transmitter- Rezeptoren sind in der Tabelle zusammengefasst. Alle
diese Überträgerstoffe finden sich auch im Gehirn, was zeigt, dass die chemische Kommunikation im enteralen
Nervensystem und Gehirn sehr ähnlich organisiert ist und auf gemeinsame Ursprünge zurückgeht. Diese Tatsache
bedingt aber auch, dass in der Neurologie und Psychiatrie verwendete Medikamente ein beachtliches
Nebenwirkungspotenzial am enteralen Nervensystem besitzen. Das betrifft im Speziellen Opiate,
Adrenozeptor-Agonisten, Acetylcholinrezeptor-Antagonisten und Psychopharmaka mit Wirkungen auf
Adrenozeptoren, Serotonin- und Acetylcholinrezeptoren.
Die sensible Darm-Innervation ...
... ist wichtig für die Körperhomöostase: Neben sensiblen Neuronen des enteralen Nervensystems wird der Magenund Darmtrakt von primären afferenten Neuronen innerviert, die Information vom Darm über den Hirnstamm (vagale
Afferenten) und das Rückenmark (spinale Afferenten) an das Gehirn übermitteln (Abbildung 1). Es ist wenig bekannt,
dass 80 bis 90% der vagalen Nervenfasern afferent sind, dass also der Nervus vagus in erster Linie ein afferenter
Nerv ist.
Die parallele Innervierung des Gastrointestinaltrakts durch intrinsische und extrinsische sensible Neurone zeigt, dass
das enterale Nervensystem und das Gehirn grundverschiedene Aufgaben hinsichtlich Verdauung und Ernährung
wahrnehmen. Während sich das enterale Nervensystem auf die lokale Kontrolle der Verdauung konzentriert, ist es
Aufgabe des Gehirns, die Tätigkeit des Magen- und Darmtrakts in seiner Bedeutung für die Ernährung und Energie-,
Flüssigkeitsund Elektrolyt-Homöostase des Gesamtorganismus über autonome und neuroendokrine Outputs zu
steuern. Afferente Neurone sind wichtige Informationsinputs für diese Regelkreise.
... ist Teil des interozeptiven Systems: Aufgrund ihrer sensorischen Eigenschaften übermitteln vagale und spinale
Afferenten kontinuierlich Informationen über die mechanischen und chemischen Verhältnisse im Lumen und in der
Wand des Magenund Darmtrakts. Was geschieht mit diesen nicht unmittelbar bewusst werdenden Meldungen im
Gehirn? Neuroimaging-Untersuchungen zeigen, dass Informationen aus dem Gastrointestinaltrakt nicht nur für die
autonome Organsteuerung von Belang sind, sondern auch Auswirkungen auf den emotional-affektiven Status des
Individuums haben. Damit trägt die sensible Innervation des Darms wesentlich zur Interozeption bei, dem Sinn für
den körperlichen Innenzustand.
Nach A.D. Craig sind die Perzeption des körperlichen Innenzustands in der vorderen Insula der nicht dominanten
Hemisphäre und die assoziierten Motivationen (Affekte) im vorderen Cingulum lokalisiert. Der Beitrag abdomineller
Afferenten zur Interozeption ist von pathophysiologischem Interesse, wenn man die hohe Komorbidität von
funktionellen Magen- und Darmstörungen mit psychischen Störungen in Betracht zieht.
... vermittelt Bauchschmerz: Die meisten abdominellen Afferenten sind nicht myelinisiert und können auf noxische
(potenziell oder akut gewebeschädigende) Reize reagieren. Eine Überdehnung der Magen- und Darmwand oder Zug
am Mesenterium ist sehr unangenehm, und abdomineller Schmerz ist ein Leitsymptom funktioneller Magen- und
Darmstörungen wie der funktionellen Dyspepsie und des Reizdarmsyndroms (Irritable Bowel Syndrome, Colon
irritabile). Diese Krankheitsbilder manifestieren sich außerdem in Völlegefühl, Diarrhoe oder Obstipation, ohne dass
eine organische Ursache nachzuweisen ist. Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass die Prävalenz
behandlungsbedürftiger funktioneller Magen- und Darmstörungen sehr hoch ist und je nach untersuchter Population
7 bis 22% beträgt. Während die funktionellen Veränderungen im Gastrointestinaltrakt auf Abnormalitäten im
enteralen Nervensystem zurückgeführt werden, wird der Schmerz bei funktionellen Magen- und Darmstörungen mit
einer Hypersensitivität des nozizeptiven Systems erklärt.
Tatsächlich reagieren etwa 90% der Reizdarmpatienten und etwa 50% der Patienten mit funktioneller Dyspepsie
überempfindlich auf Dehnung des Colons beziehungsweise des Magens. Neben einer Sensibilisierung primärer
Afferenter sind eine zentralnervöse Sensibilisierung in der Perzeption viszeraler Stimuli und eine Minderfunktion
zentraler schmerzdämpfender Systeme an der Entstehung einer abdominellen Hyperalgesie beteiligt. Diese
persistierenden Änderungen im nozizeptiven System können durch Infektionen, Immunaktivierung und Entzündung,
aber auch durch Stress in Gang gesetzt werden. Die medikamentöse Therapie abdomineller Schmerzen ist stark
limitiert, kommen nichsteroidale Antirheumatika und Opiate wegen ihres Nebenwirkungsprofils am Magen- und
Darmtrakt doch kaum in Frage.
Psychische Erkrankungen Etwa die Hälfte der Patienten mit Reizdarmsyndrom leidet an einem oder mehreren nicht
gastrointestinalen Krankheitsbildern. Darunter fällt eine besonders hohe Komorbidität mit psychischen
Krankheitsbildern auf, die von W.E. Whitehead mit insgesamt über 90% angegeben wird. Am häufigsten sind hiebei
depressive Störungen, generalisierte Angststörungen und Somatisierungsstörungen vertreten, aber auch
posttraumatische Belastungsstörungen und Panikstörungen werden diagnostiziert. Ein Zusammenhang mit
psychischen Erkrankungen kann auch aus der Tatsache abgeleitet werden, dass manche Patienten mit funktionellen
Magen- und Darmstörungen von einer Behandlung mit trizyklischen Antidepressiva beziehungsweise Psychotherapie
profitieren.
Besonders wichtig festzuhalten ist, dass psychischer Stress funktionelle Magen- und Darmkrankheiten auslösen oder
exazerbieren kann. Unter Einrechnung dieser Umstände wird das Reizdarmsyndrom von E.A. Mayer in erster Linie als
eine Störung der bidirektionalen Kommunikation zwischen Darm und Gehirn und zwischen Gehirn und Darm erklärt.
Insbesondere wird eine Änderung des so genannten „emotionalen motorischen Systems“ angenommen, das aus der
Amygdala, dem Nucleus paraventricularis des Hypothalamus und dem periaquäduktalen Höhlengrau besteht
(Abbildung 2). Das emotionale motorische System wird durch verschiedene Inputs aktiviert, insbesondere durch
psychosoziale (exterozeptive) Stressoren oder physische (interozeptive) Noxen, aber auch durch Inputs vom
vorderen Cingulum. Über das autonome Nervensystem und die Hypothalamus-Hypophysen- Nebennierenachse
sendet das emotionale motorische System Outputs an die Peripherie, wo es zu typischen stressinduzierten
Veränderungen der Darmfunktion kommt. Cortisol und afferente Neurone stellen ein wichtiges Feedbacksystem aus
der Peripherie dar. Weitere Outputs des emotionalen motorischen Systems gehen an zentrale schmerzmodulierende
Strukturen, die eingehende Schmerzsignale dämpfen, und den Cortex, speziell das interozeptive System, wodurch die
Aufmerksamkeit auf viszerale Stimuli moduliert wird. Experimentelle wie klinische Studien belegen, dass Missbrauch
in der frühen Kindheit bei genetisch prädisponierten Personen das emotionale motorische System auf exterozeptive
und interozeptive Stressoren sensibilisieren kann, wie das auch bei Patienten mit Reizdarmsyndrom der Fall ist. In
diesen Patienten spricht vieles dafür, dass die Outputs an die Peripherie wie auch an den Cortex verstärkt sind,
während zentrale Schmerzdämpfungsmechanismen defekt sind.
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Neurogastroenterologie
Die extensive Innervation des Gastrointestinaltrakts und deren funktionelle Bedeutung haben wichtige Implikationen
für das Verständnis und die Behandlung von Magen- und Darmkrankheiten. Selbst in der Gastroenterologie wurden
diese Zusammenhänge erst in den letzten Jahren berücksichtigt, führten mittlerweile jedoch zur Entwicklung der
Unterdisziplin Neurogastroenterologie. Dieser Wissenschaftszweig befasst sich einerseits mit den physiologischen
Aufgaben und pathologischen Veränderungen des enteralen Nervensystems und andererseits mit den
Wechselwirkungen zwischen Darm und Gehirn, wie sie für das Verständnis und die Behandlung funktioneller Magenund Darmstörungen von besonderer Bedeutung sind.
Diese Aufgabe kann nur interdisziplinär in Zusammenarbeit von Gastroenterologie mit allen relevanten
neurowissenschaftlichen Disziplinen wie Neurologie, Psychologie und Psychiatrie gelingen.
Peter Holzer und Evelin Painsipp Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie, Medizinische Universität
Graz
© MMA, CliniCum psy 01/2005
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