Ticstörungen Definition Plötzlich einschiessende, repetitive, nicht vom Willen gesteuerte, Ticstörungen zwecklose und auf einige umschriebene Muskelgruppen beschränkte nichtrhythmische Bewegungen oder Lautproduktionen. © H.-C. Steinhausen Ticstörungen Ticstörungen Klinik Klassifikation gemäss ICD-10 F 95.0 Vorübergehende Ticstörung Einzelne oder multiple Tics. Dauer bis zu zwölf Monaten. Meistens als Blinzeln, Grimassieren oder Kopfschütteln. Beginn vor dem 18. Lebensjahr 1. Isolierte Tics 2. Multiple Tics 3. Chronisch persistierende Tics 4. Tourette Syndrom F 95.1 Chronische motorische oder vokale Ticstörung Motorische oder vokale Tics (nicht gemeinsam), einzeln oder multipel; Dauer länger als ein Jahr. © H.-C. Steinhausen Ticstörungen Ticstörungen Epidemiologie und Komorbidität Klassifikation gemäss ICD-10 F 95.2 © H.-C. Steinhausen Epidemiologie Kombinierte vokale und multiple motorische Tics (Tourette-Syndrom) • Prävalenz vorübergehender Tics: 5-24 % Gegenwärtig oder in der Vergangenheit multiple motorische Tics und einen oder mehrere vokale Tics, nicht notwendigerweise gleichzeitig. • Geschlechterverhältnis (m/w): 3:1 • Prävalenz des Tourette-Syndroms: 3-5 / 10’000 EW Beginn fast immer in Kindheit oder Jugendalter. Komorbidität Symptomatische Verschlechterung während der Adoleszenz. • Hyperkinetische Störungen Üblicherweise Persistenz bis ins Erwachsenenalter. • Zwangsstörungen (insbesondere beim Tourette-Syndrom) • Emotionale Störungen • Störungen des Sozialverhaltens • Entwicklungsstörungen © H.-C. Steinhausen © H.-C. Steinhausen 1 Ticstörungen Ticstörungen Symptomatik einfacher motorischer Tics Symptomatik komplexer motorischer Tics Rasch, plötzlich einschiessend, nicht-zweckgerichtet Langsamer, scheinbar zweckgerichtet Augenblinzeln, Grimassieren, Nase hochziehen, Lippen spitzen, Schulter hochziehen, Armschleudern, Kopfrucken, Bauch einziehen, Bauch ausstülpen, kicken, Fingerbewegungen, Mund aufsperren, Zähneklappern, Körperanspannung, rasche Schleuderbewegungen verschiedener Körperteile, Augenbrauen hochziehen, Stirn runzeln Hüpfen, klatschen, Gegenstände/Personen oder sich selbst berühren, Wurfbewegungen, Verwringungen, dystone Körperhaltungen, sich auf die Zunge oder Lippen oder in den Arm beissen, Kopf einschlagen, ausschlagende Bewegungen, sich zwicken oder kratzen, Stossbewegungen, Schreibbewegungen, krümmende Zuckungen, Augen nach oben rollen, Zunge herausstrecken, küssen, immer wieder den gleichen Brief oder das gleiche Wort schreiben, den Stift zurückziehen während des Schreibens, Papier oder Bücher zerreissen, sexuelle Gestik, immer wieder merkwürdige und ulkige bis abstossende Körper- und Gesichtshaltungen einnehmen. © H.-C. Steinhausen © H.-C. Steinhausen Ticstörungen Ticstörungen Vokale Symptome Vokale Symptome Einfache vokale Symptome Rituale Rasch, plötzlich einschiessende Laute Pfeifen, husten, schnüffeln, spucken, bellen, grunzen, gurgeln, klicken, lutschen, saugen, kreischen, schnalzen, u.u, eee, au, oh und vielzählige andere Laute Zählende Rituale. Einen Satz wiederholen, bis er “genau richtig” ist. Sprechstörungen Ungewöhnliche Rhythmen, Intonierungen, Akzente, Intensität des Sprechens, Nicht-Flüssigkeit des Sprechens von Pausenlängen, stockende Wortanfängen usw. Komplexe vokale Symptome Wörter, Sätze, Kurzaussagen Sei still, hör auf, ok ok, ist klar, ist klar. Es geht mir besser - richtig? richtig. Wieso mache ich das ? Wie denn. Nun hast du es gesehen, in Ordnung, oh nein. Das ist richtig, mm, ja ja. Wenn, dann, jaja, so so, aha. Koprolalie Obszöne und aggressive Wörter und Kurzäusserungen © H.-C. Steinhausen Ticstörungen © H.-C. Steinhausen Ticstörungen Koprolalie: Obszöne und aggressive Wörter, Kurzäusserungen und Kommunikationen Diagnostische Kriterien der multiplen Tics Sexuelle und körperliche Flüche Essentielle diagnostische Kriterien Scheissen, ficken, Furz, Pfriemel, Esel, Sack, Bastard, Arschloch, Aasgeier, Pisse, Sau, Schnauze • Erstmanifestation im Alter von 2-15 Jahren Theologische Flüche • Multiple unwillkürliche muskuläre Tics Gottverdammt, Halleluja, Christ, Himmel • Die Tics können für Minuten bis Stunden willentlich unterdrückt werden Rassisch, ethnisch und körperlich • Die Tics nehmen an Häufigkeit und Intensität zu und wieder ab Nigger, Krüppel, Idiot, Fettsau • Es gibt langsame Spontanschwankungen der Symptomatik, oft über eine Periode von 6-12 Wochen Komplexe und aggressive sexuelle Beschreibungen Du kahlköpfiger Doktor einer Hure. Ihr Säcke macht mich kaputt. Euch Fettsäcken muss man den Arsch aufreissen • Alte Symptome können verschwinden und durch neue ersetzt werden; neue gesellen sich zu schon vorhandenen Komplexe oppositionelle Äusserungen Ich mag sie, ich hasse sie. Sie sind ein voller Depp -tut mir leid. Was hab ich gesagt? © H.-C. Steinhausen • Chronischer Verlauf (mehr als 1 Jahr), oft in der Adoleszenz nachlassend © H.-C. Steinhausen 2 Ticstörungen Ticstörungen Diagnostische Kriterien der multiplen Tics Diagnostische Kriterien des Tourette-Syndroms Unterstützende Kriterien, aber nicht zwingend für die Diagnose (im Gegensatz zum TS sind bei der multiplen Tics keine bekannt) Begleitbefunde der Störung, nicht essentiell für die Diagnose Essentielle diagnostische Kriterien • Erstmanifestation eines Tics im Alter von 2-15 Jahren • Multiple unwillkürliche muskuläre und vokale Tics • Nicht-flüssiges Sprechen • Die Tics können für Minuten bis Stunden willentlich unterdrückt werden • Anamnestische Hinweise auf Hyperaktivität oder Perzeptionsstörungen im Kindeshalter • Die Tics nehmen an Häufigkeit und Intensität zu und wieder ab • Abnormes EEG und weiche neurologische Zeichen • Testpsychologisch Aufmerksamkeitsstörungen und/oder visuomotorische Schwäche • Andere Verhaltensauffälligkeiten (reaktiv auf CMT, durch Medikamente) • Es gibt langsame Spontanschwankungen der Symptomatik, oft über eine Periode von 6-12 Wochen • Alte Symptome können verschwinden und durch neue ersetzt werden; neue gesellen sich zu schon vorhandenen • Chronische, meist lebenslange Erkrankung © H.-C. Steinhausen © H.-C. Steinhausen Ticstörungen Ticstörungen Diagnostische Kriterien des Tourette-Syndroms Diagnostische Kriterien des Tourette-Syndroms Unterstützende Kriterien, aber nicht zwingend für die Diagnose Begleitbefunde der Störung, nicht essentiell für die Diagnose • Nicht-flüssiges Sprechen • Koprolalie • Kopropraxie • Anamnestische Hinweise auf Hyperaktivität oder Perzeptionsstörung im Kindesalter • Echolalie • Abnormes EEG und weiche neurologische Zeichen • Echopraxie • Testpsychologisch Aufmerksamkeitsstörungen und/oder visuomotorische Schwäche • Palilalie • Zwanghafte Verhaltensweisen (Zählen, Berühren) • Selbstdestruktives Verhalten (Beissen, Kratzen, Kopf anschlagen) • Andere Verhaltensauffälligkeiten (reaktiv auf TS, durch Medikamente) © H.-C. Steinhausen © H.-C. Steinhausen Ticstörungen Ticstörungen Diagnostische Kriterien des Tourette-Syndroms Diagnostik Motorisch • Art, Frequenz, Intensität (z.B. über Checkliste) Einfache motorische Tics: rasch, plötzlich einschiessend, nicht zweckgerichtet Komplexe motorische Tics: langsamer, scheinbar zweckgerichtet • Kontextbedeutung Vokal • Selbstkontrollversuche Einfache vokale Tics: bedeutungslose Töne und Geräusche Komplexe vokale Tics: linguistische bedeutungsvolle Äusserungen, Wörter, Sätze, Kurzaussagen, Koprolalie Verhaltensmässig • Chronizität • Subjektiver Leidensdruck • Begleitende psychische Störungen Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität; Zwanghaftigkeit; emotionale Störungen; Spiegel- und Echophänomene © H.-C. Steinhausen © H.-C. Steinhausen 3 Ticstörungen Ticstörungen Diagnostik Diagnostik © H.-C. Steinhausen © H.-C. Steinhausen Ticstörungen Ticstörungen Ätiologie Therapie • Genetische Faktoren (bei chronischen multiplen Tics und Tourette-Syndrom) • Beratung • Neurochemische Faktoren (Überempfindlichkeit der Dopaminrezeptoren;evtl. auch präsynaptische Hemmung der noradrenergen Übertragung) • Psychotherapie • Pharmakotherapie • Psychologische Faktoren (lerntheoretische bzw. tiefenpsych. Hypothesen) © H.-C. Steinhausen © H.-C. Steinhausen Ticstörungen Ticstörungen Indikation für Verhaltenstherapie Formen der Verhaltenstherapie • Entspannungstechniken • Hinreichende Behandlungsmotivation • Kontingenzmanagement (Münzverstärkung / Response-cost) • Eine schnelle Symptomreduktion ist nicht erforderlich • Reaktionsumkehr mit folgenden Komponenten: • Pharmakotherapie-refraktäre Symptomatik - Selbstwahrnehumgstraining - Entspannungsverfahren • Verweigerung der Pharmakotherapie - Training inkompatibler Reaktionen - Kontingenzmanagement - Generalisierungstraining © H.-C. Steinhausen © H.-C. Steinhausen 4 Ticstörungen Ticstörungen Verhaltenstherapie: Beispiele für inkompatible Reaktionen Pharmakotherapie Augenblinzeln: Öffnen und schliessen der Augen alle drei bis fünf Tiaprid (Tiapridex®): 5 - 6 mg/kg Körpergewicht Sekunden. Der Blick wird dabei alle fünf bis zehn Sekunden langsam und intensiv nach unten gerichtet. Pimozide (Orap®): 1 - 2 mg/d Haloperidol (Haldol®): 2 - 10 mg/d Nasenrümpfen: Oberlippe etwas nach unten ziehen und Lippen (Atypische Neuroeleptika) zusammenpressen Kopfschütteln: Langsame isometrische Kontraktion der Nackenmuskeln. Die Augen bleiben geradeaus gerichtet, der Kopf wird ganz still gehalten. Ist der Kopfschüttel-Tic nur auf eine Körperseite gerichtet, dann kann eine Kontraktion der Nackenmuskeln durchgeführt werden, die den Kopf in die entgegengesetzte Richtung bewegt. © H.-C. Steinhausen © H.-C. Steinhausen Literatur Anhang Pharmakotherapie l Robertson MM, and Stern JS (2000): Gilles de la Tourette syndrome: symptomatic treatment based on evidence. European Child & Adolescent Psychiatry 9 Suppl 1, 60-75. l Müller-Vahl K (2002) Behandlung des Tourette-Syndroms. TouretteGesellschaft Deutschland e.V., Göttingen. l Rothenberger A, Banaschewski T, Siniatchkin M (2003): TicStörungen. In: Herpertz-Dahlmann B, Resch F, Schulte-Markwort M, Warnke A (Hrgs.), Entwicklungspsychiatrie. Schattauer, Stuttgart. l Rothenberger A, Banaschewski T (2003): Tic-Störungen. AWMF, Hrsg. Leitlinien für Diagnostik und Therapie der DGKJPP. Deutscher Ärzteverlag, Köln. © H.-C. Steinhausen 5