DIE RADIODOKTOR-INFOMAPPE Ein Service von: ORF A-1040 Wien, Argentinierstraße 30a Tel.: (01) 50101/18381 Fax: (01) 50101/18806 Homepage: http://oe1.ORF.at Österreichische Apothekerkammer A-1091 Wien, Spitalgasse 31 Tel.: (01) 404 14-600 Fax: (01) 408 84 40 Homepage: www.apotheker.or.at Österreichisches Bundesministerium für Gesundheit A-1030 Wien, Radetzkystr. 2 Tel.: (01) 71100-4505 Fax: (01) 71100-14304 Homepage: www.bmg.gv.at/ RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 1 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT Die Sendung Die Sendereihe „Der Radiodoktor“ ist seit 1990 das Flaggschiff der Gesundheitsberichterstattung von Ö1. Jeden Montag von 14.05 bis 14.40 Uhr werden interessante medizinische Themen in klarer informativer Form aufgearbeitet und Ö1- Hörerinnen und -Hörer haben die Möglichkeit, telefonisch Fragen an das hochrangige Expertenteam im Studio zu stellen. Wir über uns Seit September 2004 moderieren Univ.-Prof. Dr. Manfred Götz, Univ.-Prof. Dr. Karin Gutiérrez-Lobos, Univ.-Prof. Dr. Markus Hengstschläger und Dr. Christoph Leprich die Sendung. Das Redaktionsteam besteht aus Mag. Xaver Forthuber, Mag. Nora Kirchschlager, Dipl. Ing. Eva Obermüller, Dr. Doris Simhofer, Dr. Michaela Steiner, Dr. Ronny Tekal und Dr. Christoph Leprich. Das Service Seit dem 3. Oktober 1994 gibt es das, die Sendereihe flankierende, Hörerservice, das auf größtes Interesse gestoßen ist. Die zu jeder Sendung gestaltete Infomappe mit ausführlichen Hintergrundinformationen, Buchtipps und Anlaufstellen wird kostenlos zur Verfügung gestellt und ist bereits am Sendungstag auf der Ö1-Homepage zu finden. Diese Unterlagen stellen in der Fülle der behandelten Themen ein MedizinLexikon für den Laien dar. Die Partner Ermöglicht wird die Radiodoktor-Serviceleiste durch unsere Partner: die Österreichische Apothekerkammer und das Österreichische Bundesministerium für Gesundheit. An dieser Stelle wollen wir uns ganz herzlich bei unseren Partnern für die gute Zusammenarbeit bedanken! Wir bitten um Verständnis, dass wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit in dieser Infomappe zumeist auf die weiblichen Endungen, wie z.B. PatientInnen, ÄrztInnen etc. verzichtet haben. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 2 DIE „KRANKHEIT DES ZWEIFELNS“ ZWANGSSTÖRUNGEN Mit Dr. Christoph Leprich 3. September 2012, 14.05 Uhr, Ö1 (Wh. v. 29. März 2010) Sendungs- und Infomappengestaltung: Mag.a Nora Kirchschlager Redaktion: Dr. Christoph Leprich RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 3 INHALTSVERZEICHNIS INHALTSVERZEICHNIS DIE „KRANKHEIT DES ZWEIFELNS“ - ZWANGSSTÖRUNGEN 6 ZWANGSHANDLUNGEN UND ZWANGSGEDANKEN Der Zwang als Ausdruck von Unsicherheits- und Schuldgefühlen Biologische Ursachen der Zwangsstörung Hilfe durch Psychotherapie Symptomlinderung durch Medikamente 6 7 7 7 8 WANN SPRICHT MAN VON EINER ZWANGSSTÖRUNG? Beginn der Zwangsstörungen im Jugendalter 8 10 ZWANGSSTÖRUNGEN ÄUSSERN SICH IN UNTERSCHIEDLICHEN SYMPTOMEN Ordnungs -, Wiederholungs - und Zählzwänge Sammel- und Hortzwänge Zwangsgedanken 11 12 12 12 STÖRUNGEN AUS DEM FORMENKREIS DER ZWANGSERKRANKUNGEN Störungen der Impulskontrolle Essstörungen Hypochondrie Die zwanghafte (anankastische) Persönlichkeitsstörung 13 14 15 15 15 DIE URSACHEN DER ZWANGSSTÖRUNG Der Widerstreit von unbewussten Trieben und strengem Gewissen Der Zwang als Sicherheitsstifter Zwangsstörungen als Ablenkung von anstehenden Aufgaben Schuld, Überverantwortung und Perfektionismus Verhaltenstherapeutische Krankheitsmodelle 16 16 17 18 18 18 BIOLOGISCHE URSACHEN 19 Ursache der Zwangsstörung liegt möglicherweise auch in Genen 19 Fehlgeleitetes Immungeschehen, Bakterieninfektionen und Hirnschädigungen als Ursache von Zwangsstörungen 19 Leiden Zwangserkrankte an Gedächtnisproblemen? 20 Neurobiologische Korrelate von Zwangsstörungen 20 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 4 INHALTSVERZEICHNIS Psycho-, und Pharmakotherapie normalisieren gestörte Hirnfunktionen 21 DIE THERAPIE DER ZWANGSSTÖRUNG 21 DER ABLAUF EINER VERHALTENSTHERAPIE Kognitive Therapie und „Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinderung“ Zwangshandlungen werden unterbunden Exposition bei Zwangsgedanken Gefühle aus der Vergangenheit Was tun mit der neu gewonnenen Zeit? Mindestens ein Jahr Verhaltenstherapie 21 22 22 22 22 23 23 MEDIKAMENTÖSE THERAPIE VON ZWANGSSTÖRUNGEN 23 Ab wann darf man Linderung der Symptome erwarten? 24 Wie lange kann man selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer einnehmen? 24 Mögliche Nebenwirkungen 24 Was tun, wenn auch SSRI’s nicht wirken? 24 EXPERIMENTELLE BEHANDLUNGSANSÄTZE 25 SELBSTHILFE – LITERATUR UND SELBSTHILFEGRUPPEN 25 TIPPS FÜR ANGEHÖRIGE VON ZWANGS-BETROFFENEN 26 ANLAUFSTELLEN BUCHTIPPS INFOLINKS INTERVIEWPARTNER/INNEN 27 29 30 31 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 5 ZWANGSSTÖRUNGEN DIE „KRANKHEIT DES ZWEIFELNS“ ZWANGSSTÖRUNGEN Sicher kennen Sie das: Sie haben gerade Ihre Wohnung oder Ihr Haus verlassen, steigen ins Auto, um in den Urlaub zu fahren, als es Ihnen ein Gedanke wie ein Blitz in die Glieder fährt: Habe ich das Bügeleisen auch wirklich ausgesteckt und die Herdplatte abgedreht? Die meisten Menschen kehren kurz in die Wohnung zurück, kontrollieren die Lage mit einem Blick und können sich beruhigt auf den Weg in die Ferien machen. Bei etwa 200.000 Österreicherinnen und Österreichern sieht dies allerdings anders aus: Sie müssen einen Kontrollvorgang mehrmals – oft stundenlang wiederholen – um sich sicher zu sein, dass z.B. Herd und Bügeleisen auch wirklich abgedreht sind. Die Rede ist von Menschen, die von einer Zwangsstörung (englisch: obsessive-compulsive disorder) betroffen sind. Die meisten Betroffenen haben mehrere verschiedene Zwangsarten gleichzeitig. Und zusätzlich zur Zwangsstörung leiden sehr viele parallel an einer Angststörung oder Depression. Durch die frühen Filme von Woody Allen, die TV-Serie Monk und den Spielfilm „Besser geht’s nicht“ wurde das Thema Zwangsstörungen der breiten Öffentlichkeit auf fast charmante Art und Weise präsentiert und dadurch auch etwas enttabuisiert. Allerdings entspricht die Realität der meisten Betroffenen weder der des genialen Kriminalisten Monk, noch der Figur des wohlhabenden Schriftstellers Melvin, verkörpert durch Jack Nicholson. Denn Zwangsstörungen gehen mit einem hohen Leidensdruck einher und führen häufig zu Arbeitsunfähigkeit und sozialer Isolation. ZWANGSHANDLUNGEN UND ZWANGSGEDANKEN Zwei bis drei Prozent der Bevölkerung erkranken einmal in ihrem Leben an einer Zwangsstörung. Dazu zählen Zwangshandlungen und Zwangsgedanken. Unter den Zwangshandlungen kennt man Kontroll-, Wasch- und Reinigungs-, Ordnungs-, Wiederholungs-, Zähl- sowie Sammel- und Hortzwänge. Kontrollzwänge zählen zu den häufigsten Zwangshandlungen. Personen, die davon betroffen sind, kontrollieren vor dem Verlassen ihrer Wohnung mehrmals – RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 6 ZWANGSSTÖRUNGEN oft stundenlang - ob alle elektrischen Geräte ausgeschaltet, die Wasserhähne abgedreht, die Fenster geschlossen oder die Kontonummer auf dem Zahlschein auch wirklich richtig angegeben wurde. Die vordergründige Angst dahinter ist, dass möglicherweise in ihrer Abwesenheit die Wohnung abbrennt, überflutet wird, dass jemand einbricht oder dass der zu überweisende Betrag nicht rechtzeitig am Konto - zum Beispiel des Mobilfunkanbieters - eintreffen könnte. Die zweithäufigsten Zwangshandlungen sind Wasch- und Reinigungszwänge. Betroffene Menschen haben häufig Angst, sich mit Bakterien zu infizieren und müssen, um das Gefühl von Sauberkeit zu erlangen, stundenlang duschen, Hände waschen oder putzen. Der Zwang als Ausdruck von Unsicherheits- und Schuldgefühlen Zwänge können zahlreiche Funktionen haben. So versuchen manche Menschen etwa – wenn auch unbewusst – dadurch unerwünschte Gefühle, wie etwa Aggression, Zorn, aber auch Trauer, zu unterdrücken. Eine Zwangsstörung kann auch - wenn sich die Welt für den Betroffenen als bedrohlich darbietet - als sicherer Schutzmantel vor der Realität dienen. Viele Menschen, die an einer Zwangserkrankung leiden, sind in gesteigertem Maße verantwortungs- und schuldbewusst. Sie wollen alles perfekt machen und fühlen sich nie gut genug, weder im Berufs- noch im Privatleben. Auch das ein Grund, warum eine Zwangsstörung entstehen kann. Biologische Ursachen der Zwangsstörung Zwangserkrankungen können genetische Ursachen haben, sie können aber auch aufgrund eines fehlgeleiteten Immungeschehens oder aufgrund einer Infektion des Gehirns durch Streptokokken - wie etwa bei Scharlach – entstehen. Ursache können auch Erkrankungen sein, die bestimmte Gehirnareale zerstören, wie zum Beispiel die Chorea Huntington, früher als Veitstanz bezeichnet. Bildgebende Untersuchungsverfahren, wie etwa die Computertomographie, die Kernspintomographie und die Positronen-Emissionstomografie konnten schließlich in den vergangenen zehn Jahren zeigen, dass bei zwangserkrankten Menschen bestimmte Regionen des Stirnhirns, nämlich der orbito-frontale Kortex, im Vergleich zu Nicht-Betroffenen Veränderungen aufweisen. Hilfe durch Psychotherapie Zwangsstörungen kann man unter anderem mittels einer Verhaltenstherapie behandeln. Von gänzlicher Symptomfreiheit kann zwar auch nach einer absolvierten Verhaltenstherapie nicht ausgegangen werden - mehrere Studien RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 7 ZWANGSSTÖRUNGEN haben jedoch gezeigt, dass es 70 bis 90 Prozent aller Patientinnen und Patienten, die eine solche Therapie absolvieren, schon nach kurzer Zeit merklich besser geht. Überdies sei der Erfolg in bis zu 90 Prozent der Fälle auch über ein Jahr und länger anhaltend. Symptomlinderung durch Medikamente Als wirksame Medikamente zur Behandlung von Zwangsstörungen haben sich die so genannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, kurz SSRI’s erwiesen. Diese werden auch zur Therapie von Depressionen eingesetzt. Etwa 90 Prozent aller von einer Zwangserkrankung Betroffenen profitieren von einer Behandlung mit SSRI’s – ihre Zwangssymptomatik reduziert sich in der Regel um bis zu 50 Prozent. SSRI’s haben, wie alle Medikamente, möglicherweise auch Nebenwirkungen, weshalb zu regelmäßigen Kontrollen bei einem Spezialisten geraten wird. WANN SPRICHT MAN VON EINER ZWANGSSTÖRUNG? Nicht alle, die, nachdem sie ihre Wohnung verlassen haben, noch einmal zurückgegangen sind, um nachzuprüfen, ob auch wirklich der Herd oder die Kaffeemaschine abgeschaltet wurde, leiden automatisch an einer Zwangsstörung. Diese ist gemäß dem ICD 10, der von der WHO herausgegebenen „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ folgendermaßen definiert: 1. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen (oder beides) an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen. 2. Die Zwangsgedanken (Ideen oder Vorstellungen) und Zwangshandlungen zeigen sämtliche folgenden Merkmale: Sie werden als eigene Gedanken/Handlungen von den Betroffenen angesehen und nicht als von anderen Personen oder Einflüssen eingegeben. Sie wiederholen sich dauernd und werden als unangenehm empfunden, und mindestens ein Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung werden als übertrieben und unsinnig anerkannt. Die Betroffenen versuchen Widerstand zu leisten (bei lange bestehenden Zwangsgedanken und Zwangshandlungen kann der RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 8 ZWANGSSTÖRUNGEN Widerstand allerdings sehr gering sein). Gegen mindestens einen Zwangsgedanken oder eine Zwangshandlung wird gegenwärtig erfolglos Widerstand geleistet. Die Ausführung eines Zwangsgedankens oder einer Zwangshandlung ist für sich genommen nicht angenehm (dies sollte von einer vorübergehenden Erleichterung durch den Abbau von Spannung und Angst unterschieden werden). 3. Die Betroffenen leiden unter den Zwangsgedanken und Zwangshandlungen oder werden in ihrer sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den besonderen Zeitaufwand. 4. Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Störung ist nicht bedingt durch eine andere psychische Störung, wie Schizophrenie und verwandte Störungen (F2) oder affektive Störungen (F3). Das ICD-10 zählt Zwangsstörungen zur Gruppe der „Neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen“, im Gegensatz zum DSM-IV, dem „Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen“ der American Psychiatric Association. Hier werden Zwangsstörungen als eine Form von Angststörung definiert. Die diagnostischen Kriterien des DSM-IV lauten wie folgt: Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen: Zwangsgedanken, wie durch (1), (2), (3) und (4) definiert: 1. wiederkehrende und anhaltende Gedanken, Impulse oder Vorstellungen, die zeitweise während der Störung als aufdringlich und unangemessen empfunden werden und die ausgeprägte Angst und großes Unbehagen hervorrufen, 2. die Gedanken, Impulse oder Vorstellungen sind nicht nur übertriebene Sorgen über reale Lebensprobleme, 3. die Person versucht, diese Gedanken, Impulse oder Vorstellungen zu ignorieren oder zu unterdrücken oder sie mit Hilfe anderer Gedanken oder Tätigkeit zu neutralisieren, 4. die Person erkennt, dass die Zwangsgedanken, -impulse oder vorstellungen ein Produkt des eigenen Geistes sind (nicht von außen auferlegt wie bei Gedankeneingebung). RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 9 ZWANGSSTÖRUNGEN Zwangshandlungen, wie durch (1) und (2) definiert: 1. wiederholte Verhaltensweisen (z.B. Händewaschen, Ordnen, Kontrollieren) oder gedankliche Handlungen (z.B. Beten, Zählen, Wörter leise wiederholen), zu denen sich die Person als Reaktion auf einen Zwangsgedanken oder aufgrund von streng zu befolgenden Regeln gezwungen fühlt, 2. die Verhaltensweisen oder die gedanklichen Handlungen dienen dazu, Unwohlsein zu verhindern oder zu reduzieren oder gefürchteten Ereignissen oder Situationen vorzubeugen; diese Verhaltensweisen oder gedanklichen Handlungen stehen jedoch in keinem realistischen Bezug zu dem, was sie neutralisieren oder zu verhindern versuchen, oder sie sind deutlich übertrieben. Zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf der Störung hat die Person erkannt, dass die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen übertrieben oder unbegründet sind. Die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen verursachen erhebliche Belastung, sind zeitaufwendig (benötigen mehr als 1 Stunde pro Tag) oder beeinträchtigen deutlich die normale Tagesroutine der Person, ihre beruflichen (oder schulischen) Funktionen oder die üblichen Aktivitäten und Beziehungen... Quelle: Hans Morschitzky: Angststörungen – Diagnostik, Konzepte, Therapie, Selbsthilfe. 4. Auflage. Springer Verlag 2009. S. 107 u. 109. Beginn der Zwangsstörungen im Jugendalter Zwangsstörungen treten bei Frauen im Durchschnitt um das 20. Lebensjahr das erste Mal auf. Bei Burschen beginnt die Erkrankung häufig schon fünf Jahre früher. Eine Hypothese, warum Zwangsstörungen in diesem Alter beginnen, ist laut unserem Sendungsgast Mag. Dr. Ulrike Demal, Klinische und Gesundheitspsychologin sowie Psychotherapeutin, dass die in der späten Teenagerzeit bzw. in den frühen 20er Jahren sehr viele Lebensveränderungen stattfinden. Zum Beispiel käme es in dieser Zeit zu so genannten Rollenwechseln. Die jungen Menschen entdecken ihre Sexualität, beginnen zu arbeiten, ziehen von zu Hause aus, beginnen zu studieren und gehen erste längere Partnerschaften ein. Zwänge könnten dann entstehen, wenn nicht ausreichend Ressourcen RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 10 ZWANGSSTÖRUNGEN vorhanden sind, um mit subjektiv überfordernden Lebenssituationen zurechtzukommen. Warum Burschen im Durchschnitt fünf Jahre vor den Mädchen erkranken, ist noch nicht genau erforscht, berichtet Ulrike Demal. Ein Erklärungsmodell geht von folgender Annahme aus: Bei Burschen treten häufiger als bei Mädchen Kontrollzwänge auf. Diese werden oft im Zusammenhang mit sozialen Ängsten und Unsicherheiten gesehen, die wiederum besonders in der Zeit um das 15te/16te Lebensjahr stärker ausgeprägt sind. Auch hier würden die Zwänge, so Ulrike Demal, als Sicherheitsstifter in einer Umbruchszeit fungieren. ZWANGSSTÖRUNGEN ÄUSSERN SICH IN UNTERSCHIEDLICHEN SYMPTOMEN Bei den, wie bereits erwähnt, am häufigsten auftretenden Zwangshandlungen, den Kontrollzwängen, kommen unterschiedliche, stetig variierende Kontrollrituale zur Anwendung. Der für die Sendung interviewte, seit vielen Jahren sowohl von mehreren Handlungs- als auch von Gedankenzwängen betroffene Marcus Mayer berichtet zum Beispiel, dass er erst dann überzeugt war, dass der Wasserhahn abgedreht ist, nachdem er ihn dreimal auf- und wieder zugedreht hatte. Ein andermal wiederum musste er diese Handlung fünf Mal wiederholen, um sicher zu sein. Oder aber er musste die Augen mehrmals auf und zu machen, ehe er beruhigt die Wohnung verlassen konnte. Durch die Zwangshandlung erlangen die Betroffenen das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben und sind für kurze Zeit von ihren ängstlichen Gefühlen befreit. Die zweithäufigsten Zwangshandlungen sind Wasch- und Reinigungszwänge. Betroffene Menschen haben häufig Angst, sich mit Krankheitskeimen zu infizieren und müssen, um das Gefühl von Sauberkeit zu erlangen, stundenlang duschen, Hände waschen oder putzen. Die für unsere Sendung interviewte Betroffene Renate W. benötigt zum Beispiel für das Zähneputzen 20 Minuten, was sich natürlich auch negativ auf ihre Zahngesundheit auswirkt. Noch belastender, als sich selbst mit gefährlichen, möglicherweise todbringenden Keimen infiziert zu haben, ist für viele Betroffene die Vorstellung, sie könnten jemanden anderen ebenfalls anstecken und so bei diesem Menschen eine unheilbare Krankheit auslösen. Welche Krankheiten gefürchtet werden, hängt in hohem Maß von der Zeit ab, in der die Betroffenen leben. Zum Beispiel dominierte früher die Angst vor RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 11 ZWANGSSTÖRUNGEN Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, Gonorrhoe oder Herpes. Nun sind es eher Erkrankungen wie AIDS, BSE oder Krebs. Ordnungs -, Wiederholungs - und Zählzwänge Von Ordnungszwängen Betroffene müssen, um eine innere Spannung abzubauen, die verschiedensten Dinge ordnen: zum Beispiel Bücher nach dem Alphabet, Kleidungsstücke im Kasten nach Farben, oder sie müssen Gegenstände in geraden Linien positionieren, wie im Falle des britischen Fußballers David Beckham, der sich vor ein paar Jahren zu seiner Zwangserkrankung bekannte. Wiederholungszwänge stehen meist in Verbindung mit magischem Denken und Aberglauben. Betroffene fürchten etwa, dass, wenn sie zum Beispiel ein Glas nicht genau auf einen bestimmten Platz stellen, ein Familienmitglied einen tödlichen Unfall erleiden könnte. Unter Zählzwängen Leidende wiederum müssen, um eine Gefühl von Zufriedenheit zu erlangen, verschiedenste Dinge ihrer Umgebung wieder und wieder zählen, zum Beispiel vorbeifahrende Autos oder Fenster an Häuserfassaden. Sammel- und Hortzwänge Schließlich müssen in der Gruppe der Zwangshandlungen noch die Sammel- und Hortzwänge erwähnt werden. Menschen, die daran leiden, weisen ein ähnliches Verhalten wie die so genannten Messies auf. Es besteht aber auch ein Unterschied: Messies horten verschiedenste Gegenstände in ihrer Wohnung, einfach um des Besitzens willen oder um, im übertragenen Sinn, eine Leere in ihrem Leben zu füllen. Von Sammel- und Hortzwängen Betroffene sammeln hingegen meist Zeitschriften, Prospekte, Werbematerial usw., mit dem Gedanken im Hinterkopf, sie könnten irgendetwas davon wieder einmal benötigen oder lesen, was in der Realität jedoch kaum geschieht. Sammel- und Hortzwang-Erkrankte können kaum etwas wegwerfen, was dazu führt, dass ihre vier Wände nach und nach immer unbewohnbarer werden. Die Folge: Die Betroffenen haben aus Scham oft schon seit Jahren niemanden mehr in ihre Wohnung gelassen. Zwangsgedanken So werden Gedanken bezeichnet, die sich den Betroffenen aufdrängen und von ihnen zwanghaft immer wieder gedacht werden müssen. Zwangsgedanken treten oft vor einer Zwangshandlung auf. Zum Beispiel führt der Gedanke, sich möglicherweise mit Keimen infiziert zu haben, zu einem Waschritual. Es gibt aber auch Zwangsgedanken ohne Zwangshandlungen. Diese haben oft sexuelle oder religiöse Inhalte. Zum Beispiel befürchten manche Menschen, auf RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 12 ZWANGSSTÖRUNGEN der Straße jemandem versehentlich auf das Genital zu starren oder aber Gotteslästerung zu betreiben. Um letzteren Gedanken zu neutralisieren, führen sie individuell verschiedene Rituale durch oder sie beten. Besonders belastend ist der Zwangsgedanke, man könne sich selbst oder jemand anderen schwer oder gar tödlich verletzen, was die Betroffenen in Wirklichkeit aber nie tun würden. Der an Zwangsgedanken leidende Wiener Marcus Mayer erzählt, dass er, als er vor ein paar Jahren mit seiner Freundin zusammenlebte, von dem schrecklichen Gedanken belastet war, er würde seine Freundin mit einem Messer umbringen. Aus diesem Grund habe er meist einen weiten Bogen um die Küche gemacht bzw. habe er sämtliche Küchenmesser außer Reichweite verstaut. Generell sei darauf hingewiesen, dass sich eine Zwangserkrankung auch dadurch auszeichnet, dass sich die Betroffenen über die Irrationalität ihrer Ängste durchaus im Klaren sind (im Gegensatz etwa zu Menschen, die an einer Psychose leiden), aber leider nur in den seltensten Fällen sozusagen „mit dem Verstand“ etwas dagegen unternehmen können. Eine frustrierende, scheinbar ausweglose Angelegenheit. STÖRUNGEN AUS DEM FORMENKREIS DER ZWANGSERKRANKUNGEN Einige Erkrankungen zählen nicht im engeren Sinne zu den Zwangsstörungen, weisen aber zwangsähnliche Symptome auf. Im Englischen werden sie als „obsessive-compulsive-spectrum disorders“ bezeichnet. Otto Benkert und Martina Lenzen-Schulte führen in ihrem Buch „Zwangskrankheiten – Ursachen, Symptome, Therapien“ folgende zwangsnahen Krankheiten an: 1. Impulskontrollstörungen Spielsucht Trichotillomanie (Zwang, sich die Haare auszureißen) Kleptomanie Kaufsucht Selbstverstümmelungstendenzen Sexuelle Zwänge impulsive Persönlichkeitsstörungen wie Borderline und Antisoziale Persönlichkeitsstörung 2. Tics und Gilles de la Tourette-Syndrom RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 13 ZWANGSSTÖRUNGEN 3. Essstörungen Anorexia nervosa (Magersucht) Bulimieähnliche Essstörung (binge eating) 4. Störungen aus dem schizophrenen und depressiven Formenkreis Schizophrenie mit Zwangsstörung Schizotypische Persönlichkeitsstörung Anankastische Depression 5. Somatoforme Störungen Hypochondrie Nicht wahnhafte Dysmorphophobie (Betroffene leiden an vermeintlichen Entstellungen ihres Äußeren) 6. Dissoziative Störungen Depersonalisationsstörung Quelle: Otto Benkert, Martina Lenzen-Schulte: Zwangskrankheiten – Ursachen, Symptome, Therapien. 2., aktualisierte Auflage, Verlag C.H. Beck 2004. S. 38. Im Folgenden soll auf einige der erwähnten Störungen aus dem Formenkreis der Zwangserkrankungen näher eingegangen werden. Störungen der Impulskontrolle Zwischen Zwangsstörungen und Impulskontrollstörungen bestehen Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede. Ebenso wie Menschen mit Zwangsstörungen sind auch Betroffene von Impulskontrollstörungen unkontrollierbaren Zwängen ausgeliefert. Trichotillomanie-Betroffene unterliegen zum Beispiel dem Druck, sich die Haare ausreißen zu müssen. Personen mit Kleptomanie oder Spielsucht wiederum müssen aus einem zwanghaften Impuls heraus stehlen oder dem Glücksspiel frönen. Vor der Ausführung der jeweiligen Handlungen berichten sie alle, auch die Zwangserkrankten, über eine stärker werdende Anspannung und Angst. Der Unterschied zwischen Zwangsstörungen und Impulskontrollstörungen besteht nun darin, dass von letzteren Betroffene von einem befreienden, lustvollen Gefühl sprechen, nachdem sie die Zwangshandlung vollzogen haben. Ein Gefühl, das meist auch längere Zeit anhält. Bei Menschen, die an Zwangsstörungen leiden, RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 14 ZWANGSSTÖRUNGEN stellt sich ein solches Gefühl nicht ein, und wenn, dann nur für kurze Zeit. Bei ihnen reduziert sich lediglich die Angst. Ein Unterschied zwischen den beiden Erkrankungsformen besteht überdies darin, dass Personen mit Impulskontrollstörungen, im Gegensatz zu jenen mit Zwangsstörungen, vor allem in risikoreichen Situationen eine Form der Befriedigung finden. Essstörungen Auch von Essstörungen Betroffene weisen zwanghaftes Verhalten auf. Menschen mit Magersucht etwa beschäftigen sich überdurchschnittlich intensiv mit ihrem Gewicht, ihrem Aussehen und mit der Nahrung, die sie zu sich nehmen. Außerdem sind sie meist fix davon überzeugt, viel zu dick zu sein. Ebenso „zwänglerisch“ agieren Bulimikerinnen und Bulimiker. Der Einkauf im Supermarkt, die Essorgien zu Hause und das sich anschließende Übergeben folgen einem strengen Ritual, dem sie sich nicht entziehen können. Auch Essstörungen unterscheiden sich von Zwangsstörungen dadurch, dass Essrituale meist mit euphorischen Gefühlen einhergehen. Ein weiterer Unterschied besteht natürlich darin, dass sich das zwanghafte Verhalten/die zwanghaften Gedanken von Menschen mit Essstörungen eben nur auf Nahrung und Gewicht beziehen, während Zwangspatientinnen und – patienten in vielen unterschiedlichen Bereichen von ihrer Krankheit beherrscht werden. Hypochondrie Ein Unterschied zur Zwangsstörung ist hier, ebenso wie bei den Essstörungen, im Hinblick auf den zwangsbesetzen Inhalt festzumachen. So verhalten sich von Hypochondrie Betroffene meist nur in Bezug auf ihren Körper zwanghaft. Bei verschiedensten, meist harmlosen Symptomen, befürchten sie, an einer schweren, lebensbedrohlichen Krankheit zu leiden. Eine große Ähnlichkeit zur Zwangsstörung besteht darin, dass sie sich ebenfalls mittels Rückversicherungen von ihrer Angst befreien möchten. So kontrollieren sie zum Beispiel mehrmals täglich ihren Körper auf ungewöhnliche Symptome oder sie besuchen innerhalb eines kurzen Zeitraums mehrere Ärzte, die ihnen bestätigen sollen, dass sie gesund sind – was diese in der Regel auch tun. Jedoch hält das erleichternde Gefühl, an nichts erkrankt zu sein, nur kurze Zeit an. Die Angst wächst von neuem und im Endeffekt kann nur eine Therapie (mittels Psychopharmaka oder Psychotherapie) helfen. Die zwanghafte (anankastische) Persönlichkeitsstörung Das starke Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit ist allen Erkrankungen, die mit Zwängen einhergehen, gemein. Bei Zwangsstörungs-Betroffenen äußert sich RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 15 ZWANGSSTÖRUNGEN dieses Bedürfnis meist in vom restlichen Leben abgrenzbaren Handlungen (Kontrolle des Herds, der Wasserhähne, zwanghaftes Waschen etc.). Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung hingegen fühlen sich nur dann wohl, wenn sie sämtliche Bereiche ihres Lebens unter strenger Kontrolle haben. Nichts darf dem Zufall überlassen werden, alles unterliegt einer strikten Ordnung. Sie neigen zu übertriebenen Perfektionismus, der ihnen selbst meist hinderlich ist, wenn es etwa heißt, diverse Arbeiten oder Projekte in einem bestimmten Zeitraum zu erledigen. Gelingt etwas nicht so, wie es ihr Plan vorsieht, leiden sie stark darunter. Meistens beziehen die von einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung Betroffenen auch die Menschen ihres Umfelds in ihre perfektionistische Welt mit ein und reagieren mit Unverständnis und Kritik, wenn diese sich ihren Normen widersetzen. Ein großer Unterschied zur echten Zwangsstörung besteht darin, dass Personen mit zwanghafter Persönlichkeitsstörung nicht an der Richtigkeit ihrer Denkweise zweifeln, im Gegensatz zu Zwangsbetroffenen, die genau wissen, dass ihre Befürchtungen völlig irreal sind. Zwangsstörungen und zwanghafte Persönlichkeitsstörung treten übrigens oft gemeinsam auf. Abschließend sei noch erwähnt, dass sich die meisten der Erkrankungen aus dem Formenkreis der Zwangsstörungen auch ähnlich behandeln lassen wie diese, nämlich mit Antidepressiva (SSRI’s) und/oder Psychotherapie. Quellen: Otto Benkert, Martina Lenzen-Schulte: Zwangskrankheiten – Ursachen, Symptome, Therapien. 2., aktualisierte Auflage, Verlag C.H. Beck 2004. S. 38 - 45 David Althaus, Nico Niedermeier, Svenja Niescken: Zwangsstörungen – Wenn die Sucht nach Sicherheit zur Krankheit wird. C .H. Beck Verlag 2008. S. 60 – 61 DIE URSACHEN DER ZWANGSSTÖRUNG Der Widerstreit von unbewussten Trieben und strengem Gewissen Jahrhundertelang galten Zwangssymptome als Ausdruck eines sündhaften, unmoralischen Lebens. Wer sich etwa ständig waschen muss, von dem wurde angenommen, er müsse sich von irgendeinem schlimmen Vergehen „reinwaschen“. Erstmals als psychische Erkrankung beschrieb Sigmund Freud die Zwangsstörung – das war 1894. Gemäß den Vorstellungen der frühen Psychoanalyse entsteht eine RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 16 ZWANGSSTÖRUNGEN Zwangserkrankung aufgrund des Widerstreits zwischen unbewussten, meist sexuellen Trieben, also dem „Es“ und einem regulierenden strengen Gewissen, dem „Über Ich“. Ausschlaggebend für die Art der Entwicklung des „Über Ichs“ sei die Erziehung. Ist diese besonders streng in Bezug auf Sauberkeit, Ordnung oder moralisches Verhalten ausgelegt, kann dies beim Kind Aggressionen und Frust hervorrufen. Können diese Gefühle nicht in angemessener Form verarbeitet werden, ist es möglich, dass bei Konfliktsituationen im Erwachsenenalter mit neurotischen Kompensationsmechanismen, also z. B. mit Zwängen reagiert wird. Obwohl man die Zwangsstörung mittlerweile nicht mehr auf einen Konflikt zwischen Triebregungen und moralischen Werten reduziert, gilt nach wie vor die Auffassung, dass Zwänge unter anderem ein Abwehrversuch von unerwünschten Gefühlen, wie etwa Aggression oder Zorn, sind. Der Zwang als Sicherheitsstifter Eine Funktion des Zwangs, die auch von der Wissenschaft als wesentlich erachtet wird, ist dessen Funktion als Sicherheitsstifter in einem sich für die Betroffenen bedrohlich darbietenden Leben. Für den in der Sendung zu Wort gekommenen Betroffenen Marcus Mayer (er befindet sich seit vielen Jahren in psychotherapeutischer Behandlung) hat der Zwang zum Beispiel vordergründig die Aufgabe, sein Vertrauen in sich selbst zu stärken und seine Existenzängste, seine Angst vorm Alleinsein und seine Einsamkeitsgefühle zu verringern. Das Grundgefühl seiner Kindheit, so erinnert sich Marcus Mayer, war die Angst, etwas falsch zu machen. Lob habe er aus dem Mund seiner sehr dominanten Eltern nie gehört. Angst- und unsicherheitsfördernd kam hinzu, dass sein Vater – wenn laut Marcus Mayer auch unschuldig – für einige Zeit ins Gefängnis musste, was zur Folge hatte, dass die Familie viele Jahre von Sozialhilfe lebte und beinahe delogiert wurde. Als er 17 Jahre alt war, erlebte er schließlich mit, wie sein Vater – damals 42jährig – einen beinahe tödlichen Herzinfarkt erlitt. Damals begannen Marcus Mayers Panikattacken. Er versucht, seine Zwangserkrankung im Hinblick auf diese Erfahrungen zu erklären. Der Zwang hat demnach vordergründig sogar eine positive Seite, denn er lenkt erfolgreich von den Problemen des Lebens ab und vermittelt speziell Angstkranken und depressiven Menschen das Gefühl von Kontrolle, teilweise auch über die Menschen in ihrem Umfeld. Laut unserem Sendungsgast Univ.-Prof. Dr. Günter Schiepek, Psychologe und Leiter des Salzburger Forschungsinstituts für Synergetik und RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 17 ZWANGSSTÖRUNGEN Psychotherapieforschung der Medizinischen Universität Salzburg, dienen Zwänge den Betroffenen auch häufig zur Herstellung von Autonomie und Unabhängigkeit von der Herkunftsfamilie oder vom Partner bzw. der Partnerin. Zwangsstörungen als Ablenkung von anstehenden Aufgaben Günter Schiepek sieht im Zwang – wie generell in den meisten psychischen Erkrankungen – auch eine Möglichkeit, Entwicklungsschritte zu vermeiden. Es stelle sich demnach die Frage: „Was wäre, wenn der Zwang weg wäre, was stünde dann an, was müsste getan werden, mit was müssten sie sich auch konfrontieren oder auseinandersetzen, was jetzt quasi unter dem Schutzmantel einer Problematik oder Krankheit gar nicht ansteht.“ In Anbetracht dieser schützenden Funktion einer Zwangsstörung ist es nicht verwunderlich, dass viele Betroffene „ihren“ Zwang – so seltsam das auch klingen mag - eigentlich gar nicht „hergeben“ wollen. Das kennt auch die an Wasch- und Reinigungszwang sowie Sammelzwang leidende Renate W. Sie erzählt, dass sie von ihrem Vater die meiste Zeit nur Kritik zu hören bekam. Nach dem Durchführen ihrer Zwangsrituale habe sie das Gefühl, etwas richtig bzw. gut gemacht zu haben, weshalb sie sich auch nur schwer vorstellen kann, diese aufzugeben. Schuld, Überverantwortung und Perfektionismus Ein Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch das Leben der meisten Menschen mit Zwangserkrankungen zieht, ist das Thema Schuld. Um diesem permanenten Gefühl des Nichtgenügens zu entgehen, agieren die Betroffenen überverantwortlich und perfektionistisch. Ein Mechanismus, der ihnen zumeist zum Verhängnis wird, denn ihr Zwang zur Perfektion führt dazu, dass sie sich von den alltäglichen Aufgaben ihres Lebens überfordert fühlen und ihnen ohnmächtig gegenüberstehen. Eine Art innere Lähmung beginnt, die dazu führt, dass sie, die ja eigentlich alles so gut wie möglich machen möchten, im Endeffekt kaum mehr etwas in Angriff nehmen können. Verhaltenstherapeutische Krankheitsmodelle Nicht nur von der klassischen Psychoanalyse, sondern auch von der Verhaltenstherapie werden viele der bisher erwähnten Aspekte als mögliche Ursachen für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Zwangsstörung angesehen. Die Verhaltenstherapie geht jedoch davon aus, dass auch kognitive Prozesse, wie Denken, Schlussfolgern, Erinnern oder Planen zur Ausbildung von Zwängen führen RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 18 ZWANGSSTÖRUNGEN können. Diese seien vor allem das Ergebnis negativer Bewertungen von unangenehmen, aber harmlos aufdringlichen Gedanken. Überdies geht die Verhaltenstherapie davon aus, dass bestimmte Handlungsmuster auch erlernt sein können. Zum Beispiel machen Personen mit einer Zwangserkrankung regelmäßig folgende Erfahrung: Wenn sie sich in einer für sie angstauslösenden Situation befinden, reduziert sich ihre Angst, wenn sie eine Zwangshandlung setzen, also etwa den Herd kontrollieren oder sich erneut die Hände waschen. Man spricht in diesem Fall von einer „operanten Konditionierung“ bzw. einer negativen Verstärkung. Dieser Mechanismus hält, so die Psychologin und Psychotherapeutin Mag. Dr. Ulrike Demal, das Zwangsverhalten aufrecht. Das Problem dabei sei, dass etwa Kontroll- oder Vermeidungsrituale nur kurzfristig Erleichterung bringen würden. Mit der Zeit müssten die Betroffenen immer länger andauernde Zwangshandlungen setzen, um dasselbe „befreiende“ Gefühl zu erlangen. BIOLOGISCHE URSACHEN Ursache der Zwangsstörung liegt möglicherweise auch in Genen Mittlerweile geht man davon aus, dass bei der Entstehung von beinahe allen psychischen Erkrankungen sowohl psychische, soziale als auch biologische Aspekte, die sich gegenseitig beeinflussen können, eine Rolle spielen. Von Zwangserkrankten weiß man etwa, dass bestimmte Regionen des Gehirns eine Dysfunktion aufweisen. Es gibt – so sind sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einig – dafür eine genetisch bedingte Disposition, also eine besondere Empfindlichkeit zur Entwicklung einer bestimmten Störung. Das bedeutet aber, dass die jeweiligen Besonderheiten in der genetischen Ausstattung einer Person nicht unbedingt zu einer Zwangsstörung führen müssen. Dazu bedarf es in den meisten Fällen zusätzlich einer akuten psychischen Belastung. Fehlgeleitetes Immungeschehen, Bakterieninfektionen und Hirnschädigungen als Ursache von Zwangsstörungen Eine Zwangserkrankung kann in seltenen Fällen auch aufgrund eines fehlgeleiteten Immungeschehens entstehen. Dabei zerstören fehlprogrammierte körpereigene Abwehrzellen Nervenzellen in bestimmten Gehirnarealen. Außerdem kann, speziell bei Kindern, eine Infektion des Gehirns durch Streptokokken, wie zum Beispiel im Rahmen einer Scharlach-Erkrankung, zur Entwicklung einer Zwangsstörung führen. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 19 ZWANGSSTÖRUNGEN Schließlich können auch Erkrankungen, die bestimmte Hirnareale zerstören, die Ursache einer Zwangssymptomatik sein. Ein Beispiel dafür ist die Chorea Huntington, früher als Veitstanz bezeichnet. Leiden Zwangserkrankte an Gedächtnisproblemen? Ein weiterer interessanter Aspekt: Für die meisten Menschen genügt, wenn sie beispielsweise ihre Wohnung verlassen, ein einmaliger Blick auf den Herd, um ihnen Beruhigung zu verschaffen. Zwangserkrankte hingegen haben auch nach mehrmaligem Kontrollieren das Gefühl, möglicherweise doch etwas übersehen zu haben. Laut unserem Sendungsgast Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Aigner, Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapeutische Medizin sowie Leiter der Abteilung für Erwachsenenpsychiatrie am Landesklinikum Tulln hat dies damit zu tun, dass bei ihnen eine Dysfunktion in den Basalganglien vorliegt und es daraus zu einem gestörten Zusammenspiel von verschiedenen Gedächtnissystemen kommt. Martin Aigner hat mit Kontrollzwang-Patienten in einem Experiment Gedächtnistrainingsübungen durchgeführt und konnte beobachten, dass sich die Zwangssymptomatik im Anschluss daran um 10 bis 20 Prozent verringerte. Neurobiologische Korrelate von Zwangsstörungen Mittels bildgebender Untersuchungsverfahren, wie etwa der Computertomographie, der Kernspintomographie und der PositronenEmissionstomografie konnte in den vergangenen Jahren gezeigt werden, dass bei zwangserkrankten Menschen bestimmte Regionen des Stirnhirns, nämlich der orbito-frontale Kortex, im Vergleich zu Nicht-Betroffenen Veränderungen aufweisen. Laut dem Psychologen Günter Schiepek vom Salzburger Forschungsinstitut für Synergetik und Psychotherapieforschung sind diese Hirnregionen, die sehr stark an unserer Handlungsregulation und Handlungsvorbereitung, aber auch an bestimmten Bewertungsprozessen beteiligt sind, bei zwangserkrankten Personen überaktiv – mit dem Resultat, dass Handlungen immer wieder durchgeführt werden müssten. Bei Waschzwängen seien - so Günter Schiepek - zusätzlich emotionsregulierende Gehirnareale involviert, wie zum Beispiel der anteriore zinguläre Cortex. Dieser spiele eine Rolle bei der Schmerzwahrnehmung und Schmerzverarbeitung, aber auch bei der Handlungsüberprüfung und bei Entscheidungsprozessen. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 20 ZWANGSSTÖRUNGEN Psycho-, und Pharmakotherapie normalisieren gestörte Hirnfunktionen In den vergangenen 20 Jahren konnte in mehreren Studien auch gezeigt werden, dass sowohl Psychotherapie als auch Pharmakotherapie die gestörten Gehirnfunktionen von Zwangserkrankten wieder normalisiert. Bei der Therapie mit Medikamenten haben sich vor allem jene Substanzen als erfolgreich erwiesen, die in serotonerge bzw. dopaminerge Systeme eingreifen, welche sich vielfach mit dem erwähnten dysfunktionalen orbito-frontalen Cortex überschneiden. DIE THERAPIE DER ZWANGSSTÖRUNG Zwangsstörungen entstehen in der Regel schleichend und haben unbehandelt in den meisten Fällen einen chronischen Verlauf. Die Stärke der Zwangssymptomatik kann Schwankungen unterliegen. Bei vielen Betroffenen kommt es in Stresssituationen zu einer Verstärkung der Zwänge. Läuft hingegen das Leben des oder der Zwangserkrankten in ruhigeren, subjektiv leichter zu bewältigenden Bahnen, können die Zwänge abflachen. Dadurch, dass sich die Betroffenen meist wegen ihres zwanghaften Verhaltens sehr schämen, vergehen im Durchschnitt sieben Jahre, bis eine Therapie in Anspruch genommen wird. Nicht unproblematisch, denn je länger eine Zwangsstörung besteht, desto schwieriger ist sie in der Regel zu therapieren. Lange Zeit galten Zwänge als kaum behandelbar. Die Etablierung der Verhaltenstherapie seit den 1960er Jahren markiert einen Meilenstein in der Behandlung von Zwangsstörungen. Verhaltenstherapie wird im ambulanten Setting durchgeführt, oder aber stationär, wie etwa an der verhaltenstherapeutischen Station der Universitätsklinik für Psychiatrie am Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Dort werden regelmäßig sieben bis acht Wochen dauernde Turnusse in der Gruppe angeboten. DER ABLAUF EINER VERHALTENSTHERAPIE Am Beginn einer Verhaltenstherapie soll zum einen gemeinsam mit dem Patienten analysiert werden, welche Bedingungen in der Vergangenheit zur Entstehung seiner Zwangserkrankung geführt haben, zum anderen, welche gegenwärtigen Faktoren den Zwang bzw. die Zwänge aufrechterhalten, zum Beispiel eine belastende Situation im Berufs- oder Privatleben. Im Zuge dieser Analyse kann herausgefunden werden, welche Funktion der Zwang im Grunde hat (siehe dazu Seite 16ff.). RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 21 ZWANGSSTÖRUNGEN Kognitive Therapie und „Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinderung“ Zusätzlich zur Analyse der Ursachen der Zwangserkrankung arbeitet eine multimodale Verhaltenstherapie, wie sie etwa am Wiener AKH angeboten wird, auch mit kognitiven Techniken. Dabei sollen die Patientinnen und Patienten mit Hilfe ihres Verstandes erkennen, dass ihre Ängste und ihr Verhalten zumeist völlig unbegründet und irrational sind. Im Anschluss an Funktionsanalyse und kognitive Techniken kommt die „Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinderung“ zum Einsatz - eine Methode, die erstmals 1966 von dem Londoner Psychiater Vic Meyer beschrieben wurde und das Kernstück der Verhaltenstherapie darstellt. Zwangshandlungen werden unterbunden Konfrontation, auch Exposition genannt, und Reaktionsverhinderung bei Zwangshandlungen finden größtenteils „in vivo“, also in der Realität, sprich bei der Patientin oder dem Patienten zu Hause statt, wo sich deren Angst meist am stärksten äußert. Bei dieser psychotherapeutischen Technik werden die Betroffenen mit einer für sie angstauslösenden Situation konfrontiert. Dann werden sie gebeten, die aufgrund der unangenehmen Gefühle normalerweise durchgeführten Zwangshandlungen dieses Mal zu unterlassen. Dies führt dazu, dass zu diesem Zeitpunkt der Therapie bei den Betroffenen massive zwangsspezifische Ängste auftreten. Sie machen aber nun im Zuge des „Expositions-Reaktions-Managements“ eine neue Erfahrung, nämlich dass die auftretenden unangenehmen Gefühle auch ohne Vermeidungsritual zu bewältigen sind und mit der Zeit sogar an Intensität verlieren. Exposition bei Zwangsgedanken Reizkonfrontation bei Zwangsgedanken erfolgt „in senso“, in Gedanken. In diesem Fall werden die Patientinnen und Patienten gebeten, für sie angstvoll besetzte Inhalte in Form einer Geschichte so detailliert wie möglich zu Papier zu bringen. Dadurch können dem Zwang zugrunde liegende Funktionen erkannt werden. Gefühle aus der Vergangenheit Während einer Exposition kommen häufig auch sehr unangenehme Emotionen zu Tage, die nicht unmittelbar mit den Zwangsbefürchtungen in Zusammenhang stehen. Gemeinsame Aufgabe von Therapeut und Betroffenen ist es dabei, herauszufinden, wo in der Vergangenheit diese Gefühle ihren Ursprung haben. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 22 ZWANGSSTÖRUNGEN Was tun mit der neu gewonnenen Zeit? Das Leben vieler Betroffener ist zur Gänze von „ihrem Zwang“ okkupiert. Zeit für Arbeit, Freizeitgestaltung oder soziale Kontakte bleibt kaum mehr. Wenn sich die Zwangssymptomatik nun durch eine Therapie gebessert hat, ist es wichtig, auf das Vorhandensein von so viel freier Zeit auch vorbereitet zu sein. Eine multimodale Verhaltenstherapie setzt daher auch auf den Ausbau von Fertigkeiten und der Nutzung von Ressourcen von Zwangserkrankten, sowie auf eine Neuorientierung ihrer sozialen Interaktion. Mindestens ein Jahr Verhaltenstherapie An der zweimonatigen stationären Verhaltenstherapie am Wiener AKH nehmen großteils Menschen mit mehreren, besonders starken und schon Jahre- oder jahrzehntelang bestehenden Zwängen teil. Die Behandlung versteht sich als Vorbereitung auf eine ambulante Therapie. Eine solche sollte, so Ulrike Demal, auch von weniger stark betroffenen Menschen ein bis zweimal wöchentlich - und das mindestens ein Jahr - in Anspruch genommen werden, um einen Erfolg zu erzielen. Von gänzlicher Symptomfreiheit kann zwar auch nach einer absolvierten Verhaltenstherapie nicht ausgegangen werden - mehrere Studien haben jedoch gezeigt, dass es 70 bis 90 Prozent aller Patientinnen und Patienten, die eine Verhaltenstherapie absolvieren, schon nach kurzer Zeit merklich besser geht. Überdies sei der Erfolg in bis zu 90 Prozent der Fälle auch über ein Jahr und länger anhaltend. Empfehlenswert ist, so Ulrike Demal, eine zusätzliche Therapie mit modernen Antidepressiva, da diese auch die Verhaltenstherapie günstig beeinflussen. MEDIKAMENTÖSE THERAPIE VON ZWANGSSTÖRUNGEN Seit einigen Jahren weiß man, dass bei depressiven, wie auch bei zwangserkrankten Menschen ein gestörter Stoffwechsel des Neurotransmitters Serotonin vorliegt. Um dieses System wieder ins Gleichgewicht zu bringen, verwendet man zur Therapie der beiden Erkrankungen so genannte „selektive SerotoninWiederaufnahmehemmer“, kurz SSRI’s. Fünf solcher SSRI’s sind derzeit zur Therapie der Zwangsstörung zugelassen, und zwar: Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin. Ihre Wirkweise besteht darin, dass sie an der Kontaktstelle zweier Nerven, dem so genannten synaptischen Spalt, die Wiederaufnahme des Neurotransmitters RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 23 ZWANGSSTÖRUNGEN Serotonin in die Nervenzelle blockieren. Dies führt dazu, dass an den Nervenenden mehr Serotonin, auch als Botenstoff der guten Laune bezeichnet, zur chemischen Übertragung elektrischer Impulse zur Verfügung steht. Ab wann darf man Linderung der Symptome erwarten? Laut dem Psychiater, Neurologen und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Univ.-Prof. Dr. Martin Aigner, sind die ersten signifikanten Wirkungen für die Betroffenen nach einer Einnahme der SSRI’s von etwa sechs Wochen bemerkbar. Der „Plafond“ der Wirkung sei etwa um die zwölfte Einnahmewoche erreicht. An diesem Punkt könne man, bei zu geringer Veränderung der Symptome, die Dosis entweder steigern, oder andere Medikamente dazugeben. Wie lange kann man selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer einnehmen? Zur Dauer der Einnahme von selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern bei Zwangsstörungen gibt es, so Martin Aigner, keine wirklich guten Langzeitstudien. Er rät deshalb, sich dabei an der Medikation von meist gleichzeitig auftretenden Depressionen zu orientieren. Das heißt: Ist die Zwangsepisode eher kurz, so kann man nach einem halben Jahr versuchen, das SSRI langsam „auszuschleichen“, so Martin Aigner. Dauert die Zwangssymptomatik jedoch schon länger und sind auch immer wieder depressive Episoden zu beobachten (Zwangserkrankte leiden zu einem großen Prozentsatz zusätzlich an Depressionen und/oder Angststörungen), dann könne man durchaus zwei Jahre der Einnahme anpeilen. Verstärken sich die Symptome nach Absetzen des Medikaments wieder, was relativ häufig der Fall ist, kann man SSRI’s durchaus auch noch länger einnehmen. Mögliche Nebenwirkungen Natürlich haben die Substanzen aus der Gruppe der selektiven SerotoninWiederaufnahme-Hemmer, wie alle Medikamente, möglicherweise auch Nebenwirkungen. Martin Aigner rät deshalb zu regelmäßigen Kontrollen bei einem Spezialisten. Dadurch könnten allfällige Risiken durchaus in Grenzen gehalten werden. Was tun, wenn auch SSRI’s nicht wirken? Wie mit der Verhaltenstherapie gelingt eine vollständige „Heilung“ einer Zwangserkrankung auch mittels Pharmakotherapie noch nicht. Jedoch profitieren etwa 90 Prozent von der Behandlung mit SSRI’s – ihre Zwangssymptomatik reduziert sich in der Regel um bis zu 50 Prozent. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 24 ZWANGSSTÖRUNGEN Bei einigen Patientinnen und Patienten wirken die gängigen SSRI’s so gut wie überhaupt nicht. In diesem Fall gibt man zusätzlich oder ersatzweise das nebenwirkungsreichere trizyklische Antidepressivum Clomipramin. In manchen Fällen – etwa wenn auch zusätzlich Tics, also Störungen der motorischen Kontrolle, auftreten – eignet sich, so Martin Aigner – die Gabe von AntiPsychotika. EXPERIMENTELLE BEHANDLUNGSANSÄTZE Bei einigen wenigen Zwangspatientinnen und -patienten, bei denen aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung weder Verhaltens- noch Pharmakotherapie die gewünschte Wirkung erbracht haben, kam in jüngster Zeit eine Methode zum Einsatz, die sich bisher hauptsächlich bei der Behandlung von Morbus Parkinson und Dystonien, also einer gestörten Bewegungs- und Haltungskontrolle, bewährt hat – und zwar die „tiefe Hirnstimulation“. Dabei wird mittels implantierter Elektroden jene Region des Gehirns stimuliert, die bei verschiedenen Bewegungsstörungen, aber auch bei Zwangsstörungen eine Dysfunktion aufweist – nämlich ein Regelkreissystem, welches Basalganglienstrukturen, bestimmte Regionen des Thalamus und cortikale Areale umfasst. Bei aller Faszination: Die tiefe Hirnstimulation würde, so Martin Aigner, derzeit nur im Rahmen von Forschungsprogrammen durchgeführt – und die Therapien der Wahl für die breite Masse seien nach wie vor Verhaltenstherapie und die Behandlung mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern. Nicht zuletzt deshalb, weil man auch mit der tiefen Hirnstimulation bisher kein völliges Verschwinden der Zwänge erreichen habe können. SELBSTHILFE – LITERATUR UND SELBSTHILFEGRUPPEN Natürlich erweist sich auch bei Zwangsstörungen der Besuch einer Selbsthilfegruppe als günstig. Hat man doch hier die Möglichkeit, mit Menschen in Kontakt zu treten, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Und auch sich mittels Literatur über seine Erkrankung zu informieren, kann nicht schaden. Eine Heilung kann aber ausschließlich dadurch nicht erwartet werden. Professionelle Hilfe ist in jedem Fall zusätzlich anzuraten! RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 25 ZWANGSSTÖRUNGEN TIPPS FÜR ANGEHÖRIGE VON ZWANGSBETROFFENEN Trotz ihres oftmals massiven Leidens erhalten Menschen mit einer Zwangsstörung – im Gegensatz etwa zu von einer Depression Betroffene – häufig kaum Verständnis von ihren Angehörigen und Freunden. Marcus Mayer erinnert sich zum Beispiel, dass es seitens seiner Familie oft hieß, er bilde sich das alles nur ein. Als Zwangserkrankter werde man, so der 38-jährige Wiener, leider häufig als verrückt, komisch oder eigenartig betrachtet. Auch Renate W‘s Familie hat, ebenso wie sie selbst, ihre Zwangssymptome lange Zeit nicht als Krankheit angesehen. Die Waschzwang-Betroffene erzählt, ihr Umfeld habe hauptsächlich ungeduldig und genervt reagiert. Oft kommen Angehörige aber auch der Bitte ihres erkrankten Familienmitglieds nach Unterstützung nach. Sie übernehmen zum Beispiel Kontrollen oder fügen sich hygienischen Vorschriften. Dadurch werde, so die Psychologin und Psychotherapeutin Ulrike Demal, der Zwang leider aufrechterhalten. Dem Betroffenen jede Hilfe strikt zu verweigern, sei aber auch keine Lösung. Wichtig sei eine gemeinsame Vereinbarung zwischen Angehörigen und Betroffenen. Im Idealfall sollte letzterer einsehen, dass es nichts mit Böswilligkeit zu tun hat, wenn Vater, Mutter oder Geschwister die Kontrollen nicht mehr übernehmen, sondern dass dies durchaus einen therapeutischen Effekt hat, nämlich dass der Zwangserkrankte lernt, selbst Verantwortung zu übernehmen und in der Folge die Erfahrung macht, dass er dem Leben nicht hilflos gegenübersteht. Wir bedanken uns bei unserem Sendungsgast, der Psychologin und Psychotherapeutin Mag. Dr. Ulrike Demal, für Ihre Unterstützung bei der Erstellung dieser Infomappe! RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 26 ANLAUFSTELLEN ANLAUFSTELLEN Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie Ambulanz für Zwangsstörungen/Verhaltenstherapeutische Ambulanz Währinger Gürtel 18-20 A-1090 Wien Tel.: +43/1/40 400/3547 Homepage: http://www.akhwien.at/default.aspx?pid=289 Exit Sozial – Verein für psychosoziale Dienste Geleitete Selbsthilfegruppe bei Zwangsstörungen Kontakt: Helmut Bayrhammer, Christian Lang Garnisonstraße 1a/2.Stock A-4020 Linz Tel.: +43/732/73 70 52 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.exitsozial.at/aktuell/termine/geleitete-selbsthilfegruppe-beizwangsstoerungen.html Zahlreiche österreichweite Selbsthilfegruppen zum Thema Depressionen und Ängste http://www.netdoktor.at/wegweiser/selbsthilfesuche/depressionen_und_aengste/ Club D&A – Selbsthilfe bei Depression und Angststörungen Zimmermanngasse 1A/Hochparterre A-1090 Wien Tel.: +43/676/846 22 816 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.club-d-a.at/index.htm Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie Baumgartner Höhe 1 A-1145 Wien Tel.: +43/1/91060/11311 E-Mail: [email protected] RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 27 ANLAUFSTELLEN Homepage: http://www.oegpp.at/html/willk.htm Österreichische Gesellschaft für Verhaltenstherapie Kolingasse 11/2. Stock/Tür 9 A 1090 Wien Tel.: +43/1/319 70 22 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.oegvt.at/default.aspx?pid=1 HPE Österreich – Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter (in allen Bundesländern) Bernardgasse 36/14 A-1070 Wien Tel.: +43/1/5264202 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.hpe.at/index.html Universitätsklinik für Psychiatrie – Medizinische Universität Graz Augenbruggerplatz 31/1 A-8036 Graz Tel.: +43/316/385/13612 od. 86257 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.meduni-graz.at/psychiatrie/ Klinische Abteilung für allgemeine Psychiatrie Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck Tel.: +43/512/504/23669 Homepage: https://www.i-med.ac.at/psychiatry/allgemeine_psychiatrie/ Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie I Christian-Doppler-Klinik Salzburg Universitätsklinikum der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Ignaz-Harrer-Straße 7 A-5020 Salzburg Tel.: +43/662/4483/4300 E-Mail: [email protected] Homepage. http://www.salk.at/648.html RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 28 BUCHTIPPS BUCHTIPPS Steffen Moritz, Marit Hauschildt Erfolgreich gegen Zwangsstörungen: Metakognitives Training - Denkfallen erkennen und entschärfen Verlag Springer 2012 ISBN-13: 978-3642220296 Otto Bauer, Martina Lenzen-Schulte Zwangskrankheiten. Ursachen, Symptome, Therapien 2. Auflage Verlag C. H. Beck Wissen 2004 ISBN-13: 978-3406418662 David Althaus, Nico Niedermeier, Svenja Niescken Zwangsstörungen – Wenn die Sucht nach Sicherheit zur Krankheit wird C .H. Beck Verlag 2008 ISBN-13: 978-3406572357 Lee Baer Der Kobold im Kopf: Die Zähmung der Zwangsgedanken Verlag Huber 2010 ISBN-13: 978-3456849492 Igor Tominschek, Günter Schiepek Zwangsstörungen – Ein systemisch-integratives Behandlungskonzept Hogrefe Verlag 2007 ISBN-13: 978-3801718886 Günter Schiepek Neurobiologie der Psychotherapie Verlag Schattauer 2004 ISBN-13: 978-3794523634 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 29 INFOLINKS INFOLINKS Österreichisches Online-Portal zum Thema Zwangsstörungen http://www.zwaenge.at/ „Zwangsstörungen: Symptomatik, Diagnose und Therapieoptionen“ (Artikel aus CliniCum Psy 1/05) http://www.medizin-medien.at/dynasite.cfm?dsmid=62520&dspaid=471015 Tiefenhirnstimulation gegen Zwangsstörungen http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/42978/Tiefenhirnstimulation_gegen_Zwangss toerungen.htm Starke Zwangsstörungen – Hirnschrittmacher als letzte Hoffnung http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/starke-zwangsstoerungenhirnschrittmacher-als-letzte-hoffnung-a-746414.html „Neue Indikationen und ethische Implikationen der tiefen Hirnstimulation“ Artikel in „Neuropsychiatrie“, Bd. 23, Nr. 3/2009; S. 139-143: von Hartmann Hinterhuber v. d. Univ.-Klinik für Allgemeine Psychiatrie und Sozialpsychiatrie der MedUni Innsbruck http://www.i-med.ac.at/psychiatry/allgemeine_psychiatrie/forschung/Heft_23_3 „Neurobiologische Korrelate der Zwangsstörung – Aktuelle Befunde zur funktionellen Bildgebung“ – Arbeit u.a. von Dr. Günter Schiepek http://www.pmu.ac.at/files/allgemeine/Schiepek_et_al_2007_PPmP.pdf „Neuroimaging der verschiedenen Symptomdimensionen d. Zwangsstörung“ Artikel in: „Neuropsychiatrie“, Bd. 23, Nr. 4/2009, S. 193-205: von Markus Dold und Martin Aigner von der Uniklinik f. Psychiatrie und Psychotherapie der MedUni Wien http://www.i-med.ac.at/psychiatry/allgemeine_psychiatrie/forschung/Heft_23_4.pdf „Verhaltenstherapie von Zwangsstörungen: Praktische Ansatzpunkte und Vorgehensweisen“ - Artikel:; in: Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie“; 2008, 9(4), 52-59; von Dr. med. Bernhard Osen http://www.kup.at/kup/pdf/7542.pdf RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 30 INTERVIEWPARTNER/INNEN INTERVIEWPARTNER/INNEN In der Sendung Radiodoktor – Medizin und Gesundheit vom 3. September 2012 (Wh. v. 29. März 2010) sprachen: Marcus Mayer – ein Betroffener plus eine weitere Betroffene Mag.a Dr.in Ulrike Demal Klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18-20 A-1090 Wien Tel.:+43/1/40400/3568 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.medizin-medien.at/dynasite.cfm?dsmid=83349 Praxis: Nussdorfer Str. 42-44/20 A-1090 Wien Tel.: +43/1/310 59 97 Prim. a.o. Univ.-Prof. Dr. Martin Aigner Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapeutische Medizin Landesklinikum Tulln Abteilung für Erwachsenenpsychiatrie Alter Ziegelweg 10 A-3430 Tulln Tel.: +43/2272/9004/10726 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.tulln.lknoe.at/abteilungen/erwachsenenpsychiatrie.html Praxis: Edelhofgasse 3/8 A-1180 Wien Tel.: +43/676/776 80 45 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 31 INTERVIEWPARTNER/INNEN Univ.-Prof. Dr. Dr. Günter Schiepek Psychologe Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg Leiter des Forschungsinstituts für Synergetik und Psychotherapieforschung Strubergasse 21 A-5020 Salzburg Tel.: +43/662/4483-56709 oder +49/151/16556805 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.pmu.ac.at/de/926.htm RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 32