Klassifikation psychischer Störungen

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Fachhochschule Zürich
Hochschule für Soziale Arbeit
Theorie sozialer Probleme
Charles Suter
Arbeitsunterlage zu Kap ________
KLASSIFIKATION PSYCHISCHER STÖRUNGEN
Symptom
Zeichen, Anzeichen
Körperliche und seelische Erscheinungsweisen bzw.
Verhaltensweisen eines Menschen, die auf Funktionsstörungen, Erkrankungen etc. des Organismus
verweisen.
Syndrom
Symptomgruppe
Symptome, die häufig zusammen beobachtet werden
bzw. die genetisch irgendwie zusammengehören.
Krankheitsbild
Spezifisches Erscheinungsbild (= Zustandsbild)
Spezifische Ursache(n)
Spezifischer Verlauf
Spezifische Therapie
Spezifische Prognose
Spezifische Prophylaxe
Grundformen der
psychischen Erkrankung
Allgemeines Erscheinungsbild
Art, wie die Schädigung auf das psychische Geschehen wirkt
Die Psychiatrie versuchte lange Zeit eine einheitliche Nomenklatur für die sog. Geistesstörungen zu entwickeln und sie systematisch einzuteilen nach Krankheitsbildern (analog somatischen Krankheiten). Jede Krankheit sollte definiert werden durch eine bestimmte Ursache, eine klar beschreibbare Erscheinungsweise, ein entsprechender Verlauf und
eine diesbezügliche Prognose, Prophylaxe und Therapie.
Mit der Zeit wurde klar, dass „psychische Erkrankungen“ nicht oder nur ungenügend klassifiziert werden konnten durch die stringente Verknüpfung von definierten Ursachen, Erscheinungsbildern und Verlaufsformen. Eine Schädigung (Noxe), die sich psychisch auswirkt, kann sich in sehr unterschiedlichen Symptomen/Syndromen manifestieren. Ein bestimmtes psychisches Zustandsbild kann die verschiedensten Ursachen haben. Eine
Schädigung hat nicht bestimmte Folgen, unabhängig von den individuellen Charakteristika
des personalen Systems eines Menschen. Zudem sind Erscheinungsformen und Verlauf
von psychischen Krankheiten auch abhängig von weiteren Faktoren, z.B. dem sozialen
Kontext. Dieser Ansatz erwies sich somit nicht als tauglich für die Erarbeitung von diagnostischen und therapeutischen Richtlinien.
In der Folge konzentrierte man sich vor allem auf die Vereinheitlichung der Nomenklatur
und die Definition und Beschreibung von Zustandsbildern als Klassifikationskriterium. In
der Praxis erfasste und beschrieb der Arzt die Erlebens- und Verhaltensweisen eines Patienten und identifizierte „ Normabweichungen“, die er als pathologisch, d.h. als Symptome/ Syndrome einer bestimmten ihm bekannten psychischen Erkrankung interpretierte.
Konnte er aufgrund der individuellen Untersuchung die Ätiologie klären, fügte er der Diagnose des Syndroms die Ursache bei: z.B. maniformer Erregungszustand infolge Weckamin-Vergiftung.
Psychiatrische Forschung und Praxis stellten Korrelationen zwischen bestimmten allgemein umrissenen Formen von als pathologisch definierten Erlebens- und Verhaltensmustern (z.B. Störungen der Orientierung in Raum und Zeit, Denkstörungen) und bestimmten
Ursachenformen (z.B. Schädigungen der Hirnrinde) fest. Dementsprechend wurden verschiedene Krankheitsformen definiert bei denen ein kausaler Zusammenhang zwischen
Noxen und Erscheinungsformen angenommen wurde. Neu somit Krankheitsformen als
Kriterium eines relativ groben Einteilungssystems psychischer Erkrankungen.
Manfred Bleuler entwickelte auf diesem Hintergrund das Konzept der Grundformen psychischer Erkrankungen. Seine Klassifikation beruht auf drei Variablen:
− Noxen:
Faktoren, die eine schädigende, pathogene Wirkung auf den menschlichen Organismus bzw. auf das psychische System ausüben. Beispiele: Vergiftung, senile Degeneration, Verletzungen, Infektionskrankheiten, psychisches Erleben der Umwelt, konstitutionelle Dispositionen.
− Geschädigter Bereich/Angriffspunkt der Noxe;
Die schädigenden Faktoren können in verschiedenen Bereichen des psychischen
Systems ansetzen bzw. in verschiedenen Funktionsbereichen auswirken. Beispiele:
Schädigung der Hirnrinde, Hormonstörungen.
− Syndrom/Zustandsbild:
Charakteristische Symptome und Syndrome des Erlebens und Verhaltens.
Eine bestimmte Grundform der psychischen Erkrankung wird dementsprechend beschrieben und erklärt durch bestimmte Noxen, die bestimmte Bereiche des psychischen Systems schädigen und zu bestimmten Zustandsbildern mit definierten Symptomen/ Syndromen führen.
Beispiel „Organisches (hirndiffuses) Psychosyndrom“:
− Noxen:
Verschiedene Noxen können eine diffuse (d.h. nicht lokalisierbare) Hirnschädigung
verursachen, beispielweise senile Degeneration, längerer Sauerstoffmangel, Vergiftungen (Alkohol, Blei).
− Geschädigter Bereich/Angriffspunkt der Noxe:
Diffuse Hirn- oder Hirnrindenschädigung, die mit den heutigen diagnostischen Mitteln
nicht lokalisiert und präzisiert werden kann. Sie wird interpretiert als eine generelle
Störung der Hirnfunktion.
− Syndrom/Zustandsbild:
Verarmung und Vereinfachung aller psychischer Vorgänge; Störungen der Merkfähigkeit; Störungen der Orientierung in Zeit und Raum; Denkstörungen im Sinne des
reduzierten Überblicks; labile Affektivität.
Dieser Ansatz liess sich zwangslos anwenden zur Definition der folgenden vier Grundformen der Erkrankung: Organisches (hirndiffuses) Psychosyndrom, Hirnlokales Psychosyndrom, Endokrines Psychosyndrom und Akuter exogener Reaktionstypus. Sie werden als
„somatogene“ oder „exogene“ Erkrankungen bezeichnet. Das medizinische Paradigma zur
Definition und Erklärung von Krankheit war auch im Bereich von psychischen Auffälligkeiten und Abweichungen erfolgreich.
Bei den klassischen psychischen Erkrankungen, der Schizophrenie und den manischen
und depressiven Erkrankungen“ blieb der Ansatz Programm, da weder bestimmte Ursachen/Noxen, noch ein geschädigter Bereich definiert werden konnten. Es handelt sich um
Erkrankungen, deren Entstehungsbedingungen nicht bekannt sind und die pauschal als
„endogen“ (= aus dem Inneren, dem psychischen System selbst) bezeichnet werden.
Mit der als Psychogene Reaktion beziehungsweise Psychogene Entwicklung bezeichneten Grundform der Erkrankung führte Bleuler eine Krankheitskategorie ein - psychische
Störungen und Erkrankungen, die sich aus dem Erleben der Umwelt ergeben. Sie werden
als „psychogene“ Erkrankungen bezeichnet. Der vom medizinischen Paradigma gesetzte
Rahmen wird damit nicht verlassen. Krankheitsursache ist nicht die Umwelt, sondern die
„gestörte“ Funktion des psychischen Systems Umwelterfahrungen zu verarbeiten.
Psychopathie/Charaktervarianten und Intelligenzvarianten/Schwachsinn werden von
Bleuler als Grundform psychischer Erkrankung ausgewiesen, deren Ursache eine Gegensätzlichkeit zwischen angeborener Reaktionsbereitschaft des Organismus und den Anforderungen der Umwelt ergeben. Gemäss medizinisch-psychiatrischer Logik sind Psychopathie und Schwachsinn folglich nicht therapierbar.
Bleuler ergänzt dieses Konzept der Grundformen der Erkrankung durch die Formulierung
von bestimmten Krankheitsbildern, z.T. als Differenzierung innerhalb einer Grundformen
(z.B. bezüglich dem Organischen Psychosyndrom: Alkoholische Korsakow-Psychose,
Dementia senilis), z.T. als spezifisches Zusammenspiel verschiedener Grundformen der
Erkrankung.
Mitte des 20. Jahrhunderts begann sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) aktiv
für eine Verbesserung der Klassifikation und Diagnostik psychischer Störungen zu engagieren. Im Rahmen eines komplexen, langfristig angelegten Forschungs- und Entscheidungsprozess, an dem sich nationale und internationale Institutionen, Fachgesellschaften,
Forschungs- und Expertengruppen beteiligten, wurde unter Miteinbezug der traditionellen
psychiatrischen Schulen ein internationales Klassifikationssystem für psychische und
Verhaltensstörungen erarbeitet – die Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD/Kapitel V (F).
Die aktuell gültige Version ICD-10/Kapitel V (F) hat sich weitgehend von der traditionellen
psychiatrischen Nomenklatur und Begriffsbildung gelöst und führt eine deskriptive, „atheoretische“, an diagnostischen Kriterien orientierte Klassifikation ein. Sie definiert und benennt „psychische Störung“, gegliedert in Hauptgruppen und Untergruppen, beschreibt
das charakteristische Zustandsbild, formuliert diagnostische Leitlinien, die Kriterien
(Symptome), die für eine „sichere Diagnose“ unerlässlich sind, und macht Aussagen zur
Differenzialdiagnose und zu verwandten Begriffen. Dabei wird explizit auf die tradierte
Nomenklatur/ Begrifflichkeit (z.B. Krankheit, Erkrankung, Psychose, Psychopathie, Neurose, psychogen) ebenso verzichtet wie auf den Versuch, den verschiedenen Syndromen
bestimmte Ursachen zuzuweisen. Trotzdem bewegt sich der ICD-10/Kapitel V (F) im
Rahmen des klassischen medizinischen Krankheitsmodells und baut implizit auf den tradierten individualistischen Konzepten und Begriffssystemen auf.
Dazu einige Hinweise:
− „Der Begriff ‚Störung‘ (disorder) wird in der gesamten Klassifikation verwendet, um
den problematischen Gebrauch von Begriffen wie ‚Krankheit‘ oder ‚Erkrankung‘ weit-
−
−
−
gehend zu vermeiden.“ (ICD10, Kapitel V (F), 1993, 22).
Problematisch sind diese Begriffe, weil das Klassifikationssystem auf die ätiologische
Dimension verzichten muss, da es nur bedingt möglich ist, den Syndromen biopsychische Faktoren als Ursachen zuzuweisen. Von Krankheit, Erkrankung des Organismus im traditionellen medizinischen Sinn kann somit nicht gesprochen werden.
„‚Störung‘ ist kein exakter Begriff. Seine Verwendung in dieser Klassifikation soll einen
klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen, die immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen
Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden sind. Soziale Abweichungen oder soziale Konflikte allein, ohne persönliche Beeinträchtigungen
sollten nicht als psychische Störung im hier definierten Sinn angesehen werden.“
(ICD10, Kapitel V (F), 1993, 22f).
Trotzdem wird am strikt individualistischen, medizinischen Ansatz und damit an der
alleinigen Zuständigkeit der Medizin für Diagnose und Therapie von psychischen Störungen festgehalten.
Der ICD10 stellt ein alphanumerisches Kodierungssystem mit fünfstelligen Kategorien
zur Verfügung. Das Kapitel V „Psychische Störungen“ umfasst 100 dreistellige
Hauptkategorien (F00 – F99); die 4./5. Stelle bezeichnet Untergruppen. Die Gliederung setzt auf die tradierten psychiatrischen Ordnungssysteme und Begrifflichkeiten
auf. So entsprechen die zweistelligen Hauptkategorien (F0 – F7) implizit den klassischen Grundformen der Erkrankung: z.B. F0 Organische, einschliesslich symptomatischer psychischer Störungen; F2 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen; F3 Affektive Störungen.
Auf die klassischen Konzepte und Begriffe „Neurose“, „Psychose“ beziehungsweise
deren traditionelle Abgrenzung (z.B. Realitätsbezug) wird vordergründig verzichtet.
Das psychiatrisch-klinische Neurosenkonzept wird für Bildung der Kategorie F4 aber
faktisch beibehalten und der Begriff „neurotisch“ in Einzelfällen auch verwendet. Der
Begriff „psychotisch“ ist rein deskriptiven und beinhaltet keine Annahmen mehr zu
Einsichtsfähigkeit und Realitätsbezug (als Abgrenzung zur Neurose) oder zu psychodynamische Mechanismen.
CS
Tspsymp.doc
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