1 Vortrag Calw-Hirsau 29.04.2010 (Dr. med. T. Kaeser, Facharzt für

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Vortrag Calw-Hirsau 29.04.2010
(Dr. med. T. Kaeser, Facharzt für Psychiatrie
u. Psychotherapie)
Jugendliche und comorbide Störungen
Nachdem im ersten Teil des Vortrages die Historie der Klinik, konzeptionelle
Gesichtspunkte und statistisches Material vorgestellt wurden, möchte ich jetzt aus
der Sicht des klinisch tätigen Psychiaters zwei Patientengruppen mit comorbiden
Störungen und deren typische Problematik vorstellen:
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Zum einen die Patienten mit psychotischen Störungen, zum anderen unsere
Patienten mit einer ADHS-Störung.
Bei einem Prozentsatz von fast 90 % comorbider Störungen im Jahre 2009 stellt die
Anzahl der Patienten mit psychotischen Störungen mit 62 % unverändert den
Löwenanteil der Patienten mit comorbiden Störungen, die ADHS-Störung ist mit ca.
8% vertreten.
Zunächst zu unseren Patienten mit der Zusatzdiagnose einer psychotischen Störung.
Hierunter fallen sowohl Patienten mit einer Schizophrenie als auch mit der Diagnose
einer substanzinduzierten psychotischen Störung. Sehr häufig ist eine
Unterscheidung zwischen einer substanzinduzierten psychotischen Störung und
einer schizophrenen Störung mit zusätzlicher Suchtmittelabhängigkeit äußerst
schwierig, und dies nicht nur durch die „Verwischung“ der zeitlichen Abfolge
zwischen Sucht, Konsummuster und psychotischen Symptomen. Häufig können
auch die Patienten hierzu nur vage und ungenaue Angaben bei ausgeprägten
Zeitgitterstörungen machen. Hierdurch ist eine eingehendere Anamnese und
chronologische Einordnung häufig kaum möglich. Diese große
differentialdiagnostische Unsicherheit bei der Unterscheidung zwischen
drogeninduzierter psychotischer Störung versus endogener schizophrener
Prozesspsychose ist jedoch nicht nur durch eine schwierige und häufig unklare
Anamnese bedingt, sondern spiegelt auch den gegenwärtig noch unzureichenden
Wissens- und Forschungsstand wider. So bietet die Diagnoseverschlüsselung im
ICD-10 bezüglich der substanzinduzierten psychotischen Störung kaum
Hilfestellungen und bleibt unklar: psychotische Störung ist eine Gruppe von
Symptomen, die gewöhnlich während oder unmittelbar nach dem Substanzgebrauch
auftritt und durch lebhafte Halluzinationen, typischerweise akustische, Wahn- oder
Beziehungsideen gekennzeichnet ist. Die Störung geht typischerweise innerhalb
eines Monats, zumindest teilweise, innerhalb von 6 Monaten vollständig zurück.
Dieser psychotische Zustand sollte während oder unmittelbar nach der Einnahme
einer Substanz (gewöhnlich innerhalb von 48 Stunden) auftreten. Im ICD-10 kommt
es dann zu einer weiteren Einschränkung: eine verzögert auftretende psychotische
Störung, welche mehr als zwei Wochen nach dem letzten Substanzkonsum beginnen
kann, ist bei der verzögert auftretenden psychotischen Störung einzuordnen.
Wir haben definitionsgemäß im ICD-10 keine Unterscheidung zwischen
suchtmittelinduzierter und schizophrener Psychose bezüglich der Symptomatik (bei
der drogeninduzierten psychotischen Störung wird lediglich noch nach Unterformen
z. B. schizophreniform, vorwiegend wahnhaft, vorwiegend halluzinatorisch
unterschieden). Lediglich das Zeitkriterium (gewöhnlich während oder unmittelbar
nach dem Substanzgebrauch, vollständige Rückbildung innerhalb von 6 Monaten)
spielt eine Rolle und selbst dieses Zeitkriterium wird dann bei der verzögert
auftretenden psychotischen Störung eingeschränkt (mehr als 2 Wochen nach dem
letzten Substanzkonsum). Wenn man dann noch hinzu nimmt, dass unsere Patienten
selbst häufig nur sehr ungenaue Angaben machen, scheint die Verwirrung komplett.
Diese Unsicherheit bei der Unterscheidung zwischen drogeninduzierter
psychotischer Störung und endogener schizophrener Prozesspsychose mit
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begleitendem Substanzmittelkonsum zeigt sich auch in den Zuweisungsdiagnosen
von vorbehandelnden Kliniken, wo eine klare Unterscheidung häufig nicht getroffen
wird oder wechselnde Diagnosen (drogeninduzierte Psychose versus Schizophrenie)
bei verschiedenen stationären Aufenthalten in der gleichen Klinik gestellt werden.
Generell zeigt sich die Tendenz bei häufigeren psychotischen Episoden in
Kombination mit einer Suchtmittelabhängigkeit im Verlauf dann die Diagnose einer
Schizophrenie zu stellen. Dies wird jedoch auch nicht richtiger, wenn die Sucht
parallel zur psychotischen Störung weiter läuft.
Dies zeigt den gegenwärtig unzureichenden Wissens- und Forschungsstand.
Generell zeigen beide Krankheitsbilder, sowohl die Schizophrenien als auch die
drogeninduzierten psychotischen Störungen eine große Variabilität und
Heterogenität. Bei den Schizophrenien ist uns dies geläufig, aber auch bei den
substanzinduzierten psychotischen Störungen gibt es eine große Variabilität
bezüglich Häufigkeit und Schweregrad als auch Dauer substanzinduzierter
psychotischer Phasen. Auch die Gruppe der Schizophrenien selbst ist heterogen und
kein zusammenhängendes Krankheitsbild. Ähnlich wird es wahrscheinlich auch bei
substanzinduzierten psychotischen Störungen sein. Es ist letztlich also unklar, ob es
sich bei diesen beiden psychotischen Störungsbildern um verschiedene
Krankheitsentitäten, möglicherweise mit einer gemeinsamen „Endstrecke“, oder um
ein Kontinuum mit unterschiedlichen Ausprägungsgraden handelt, mit einer
gemeinsam zugrunde liegenden Ursache. Die klassifikatorischen Systeme richten
sich jedoch nur nach deskriptiven beschreibenden Phänomenen und Zeitkriterien.
Legt man jedoch die vom ICD-10 geforderten Zeitkriterien einer psychotischen
Störung an und berücksichtigt die häufig nur geringen und kurz anhaltenden
abstinenten Phasen unserer Patienten ist – falls überhaupt eine Unterscheidung
möglich ist – in den meisten Fällen eher von einer drogeninduzierten psychotischen
Störung auszugehen und die Diagnose einer schizophrenen Prozesspsychose eher
zurückhaltend zu stellen. Gibt es wirklich keinerlei psychopathologischen
Unterschiede zwischen einer Schizophrenie und einer drogeninduzierten
psychotischen Störung?
Häufig treffen wir bei „echten“ schizophrenen Patienten bizarre, abgehobene,
magisch anmutende und teilweise schwer nachvollziehbare eindeutig „verrückte“
Wahninhalte an, häufig kombiniert mit ausgeprägten formalen Denkstörungen,
wohingegen bei rein drogeninduzierten psychotischen Störungen die psychotisch
wahnhafte Symptomatik sich häufig im typisch Alltäglichen abspielt und einen viel
„normaleren“ Charakter zeigt. Wo der rein schizophrene Patient sich häufig von
höheren, geheimnisvollen Mächten verfolgt und bedroht fühlt, fühlt sich der
drogeninduziert psychotische Patient eher von konkreten Personen, häufig aus
seinem Drogenmilieu übertrieben wahnhaft verfolgt und beobachtet. Das viel weiter
von der Realität entfernte psychotische Erleben ist meines Erachtens typisch für den
schizophrenen Patienten und viel seltener bei drogenausgelösten psychotischen
Symptomatiken anzutreffen.
Ist dies jetzt alles akademische Haarspalterei? Der Streit um des Kaisers Bart?
Wechselt man auf die Patientenebene, wird rasch deutlich, dass dem nicht so ist.
Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die betroffenen Patienten und deren
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medikamentöse Behandlung. Zum einen besteht bei vielen Patienten eine große
Verunsicherung bezüglich ihrer Diagnose (drogeninduzierte Psychose versus
Schizophrenie) als auch bezüglich der Notwendigkeit einer längerfristigen, vielleicht
sogar jahrelangen neuroleptischen Behandlung gemäß den Empfehlungen bei der
Schizophrenie. Erschwerend kommt hinzu, dass suchtkranke Patienten mit
psychotischen Störungen häufiger und stärker unter Nebenwirkungen
einer Neuroleptika-Medikation (insbesondere EPS-Nebenwirkungen auch unter
atypischen Neuroleptika) leiden als schizophrene Patienten. Auch scheinen häufiger
auftretende drogeninduzierte psychotische Episoden im Verlauf zunehmend
schlechter auf eine neuroleptische Medikation anzusprechen, in der Folge ist die
Gefahr einer Chronifizierung bezüglich der psychotischen Symptomatik dann sogar
höher als bei einer endogenen schizophrenen Prozesspsychose. Dies zeigt sich
auch in einer Zunahme einer „psychopharmakologischen Polypragmasie“ seitens
vorbehandelnder Kliniken. Viele Patienten mit einer zusätzlichen psychotischen
Störung (insbesondere bei mehreren psychotischen Phasen in der Vorgeschichte)
treten die Entwöhnungsbehandlung in unserem Haus mit einer Kombination diverser
Psychopharmaka, insbesondere mehrerer Neuroleptika an. Hierunter sind am
häufigsten Kombinationen mehrerer atypischer Neuroleptika anzutreffen, teilweise
jedoch auch die Kombination eines oder mehrerer Atypika mit einem konventionellen,
klassischen Neuroleptikum. Ich möchte hier nur das Beispiel eines Patienten nennen,
der mit Risperdal-, Zyprexa- und Glianimon-Medikation in unsere Klinik kam. Das
Zurückgreifen auf herkömmliche, klassische Neuroleptika scheint der klinischen
Erfahrung zu folgen, dass in manchen Fällen konventionelle Neuroleptika rascher
und stärker antipsychotisch wirken, was insbesondere bei schwerer psychotischer
Symptomatik und chronischeren Verläufen eine Rolle spielen mag. Dies führt jedoch
bei diesen – in vielen Fällen ohnehin nebenwirkungsempfindlichen – Patienten zu
noch stärkeren Nebenwirkungen der psychopharmakologischen Medikation. Häufig
werden von Patienten auch, entweder aus Unkenntnis oder Schamgefühlen –
Nebenwirkungen bezüglich sexueller Funktionen (Libidominderung, erektile
Dysfunktion, Impotenz) verschwiegen.
Dies stellt die Patienten vor eine „Geduldsprobe“ und schränkt teilweise auch die
Medikamenten-Compliance, insbesondere bezüglich einer neuroleptischen
Behandlung, erheblich ein. Wenn man dann zusätzlich noch berücksichtig, dass bei
unseren Patienten in den meisten Fällen auch eine berufliche Wiedereingliederung
Zielsetzung der Behandlung ist, auf der anderen Seite gravierende NeuroleptikaNebenwirkungen (eingeschränkte Motorik, vermindertes Reaktionsvermögen,
eingeschränkte kognitive Fähigkeiten) die Auswahlmöglichkeiten eines potenziellen
Arbeitsplatzes erheblich einschränken und berufliche Rehabilitationsmöglichkeiten
bei der Diagnose Schizophrenie seitens potenzieller Kostenträger (Arbeitsagentur,
Rentenversicherungsträger) teilweise starken Einschränkungen unterworfen sind,
zeigt sich ebenfalls die Brisanz dieser scheinbar so „haarspalterischen“
differentialdiagnostischen Unterscheidung. Häufig stellt sich dann – insbesondere
auch auf Wunsch des Patienten – die Frage eines ausschleichenden Reduktions/Absetzversuches der neuroleptischen Medikation.
Aus meiner Sicht ist hier ein pragmatisches Vorgehen sinnvoll. Ein rein
„dogmatisches“ sich beschränken auf klassifikatorische Diagnosestellungen (gemäß
ICD-10) ist häufig nicht sinnvoll: Zum einen ist die differentialdiagnostische
Unterscheidung sowieso äußerst schwierig und unklar, zum zweiten ist häufig eine
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dauerhafte Medikation schwierig zu vermitteln aufgrund starker Einschränkungen.
Die Entscheidung eines ausschleichenden Absetzversuches erfordert eine enge
Anbindung unserer Patienten an die psychiatrische Sprechstunde sowie eine enge
interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem gesamten Behandlungsteam, bietet –
entsprechende Stabilität des Patienten unter Berücksichtigung der Vorgeschichte –
mehrere Vorteile:
1.) Häufig ist dies die einzige Behandlungsalternative bei gravierenden
Medikamenten-Nebenwirkungen.
2.) Im Falle erneuter psychotischer Dekompensationen ohne neuroleptische
Medikation fördert dies in vielen Fällen die Medikamenten-Compliance bei dem
betroffenen Patienten für eine längerfristige neuroleptische Medikation.
3.) Eine klarere Einschätzung bezüglich des individuellen Vulnerabilitätsausmaßes
und Risikos für potenzielle psychotische Exazerbationen ohne NeuroleptikaMedikation ist möglich.
Setzt man die Zeitkriterien des ICD-10 bei drogeninduzierten psychotischen
Störungen voraus (max. 6 Monate), trifft dies genau in den Zeitraum unserer
Behandlungsdauer. Letztlich wird ja auch bei der Schizophrenie aufgrund der großen
Heterogenität der Verläufe ein pragmatisches Vorgehen empfohlen, in dem bei
entsprechender Stabilität nach einer ersten psychotischen Episode zwei Jahre lang
neuroleptisch behandelt und dann ein Absetzversuch empfohlen wird. Insgesamt
erscheint mir ein Versuch, das Vulnerabilitätsausmaß individuell bei einem Patienten
abzuschätzen wichtiger und richtiger, als ein starres Regime, vielleicht noch
verschärft durch ein übertriebenes Sicherheitsdenken nach dem Motto: „Ich empfehle
dem Patienten eine mindestens zweijährige neuroleptische Dauermedikation, lasse
mich auf keine Absetzversuche ein, dann kann auch nichts passieren.“
Der Klinikalltag einer Rehabilitationsklinik bietet zahlreiche Stressoren
(Beziehungsgestaltung, Konflikte mit Mitpatienten, erhöhte Anforderungen in der
Arbeitstherapie und durch berufliche Praktika, zunehmende Alltagsanforderungen im
Rahmen der Adaptionsbehandlung etc.), so dass hier die Chance einer
individuelleren Einschätzung des Vulnerabilitätsrisikos eines Patienten unter
erhöhten Stressanforderungen besteht, ebenso auch die Möglichkeit – wenn dies
auch ein sehr anspruchsvolles Ziel ist – der Herausarbeitung spezifischer Stressoren
für einen Patienten. So kann z. B. für einen schüchtern-gehemmten, mit
sozialphobischen Ängsten behafteten Patienten ein spezifischer Stressor sowohl für
Rückfälligkeit als auch für psychotische Symptome erhöhte Anforderungen an seine
Durchsetzungs- und Abgrenzungsfähigkeit sein, z. B. in einem Bereich der
Arbeitstherapie mit erhöhten Team- und Stressanforderungen (Patientenküche).
Dieses Herausarbeiten möglicher spezifischer Stressoren und der Vulnerabilität für
psychotische Symptome im Einzelfall eröffnet damit auch zusätzliche therapeutische
Interventionsmöglichkeiten für die Zusammenhänge zwischen individuellem
Vulnerabilitätsausmaß, spezifischen Stressoren und deren Zusammenhänge mit
Sucht, Psychose und Persönlichkeit.
Allerdings besteht hierbei die Gefahr, dass unsere Patienten mit einer zusätzlichen
psychotischen Störung sehr auf ihre Psychose fokussieren, so dass die Bearbeitung
ihrer Suchterkrankung in den Hintergrund zu treten droht. Auch besteht die Gefahr,
dass unsere Patienten sich teilweise im sinne einer harm-reduction überwiegend an
der Reduzierung negativer Konsequenzen orientieren, nach dem Motto: „Ich will
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clean bleiben, damit ich keine Psychose mehr bekomme.“. Es ist dann immer wieder
erforderlich, die Suchterkrankung in den Vordergrund zu rücken und den Patienten
nachhaltig zu verdeutlichen, dass ihre psychotische Störung (zumindest sofern sie
rein drogeninduziert ist) nachgeordnet ist und Verlauf und Prognose der
Zusatzdiagnose „psychotische Störung“ mit dem Verlauf der Suchterkrankung steht
und fällt. So äußerte z. B. einer meiner Patienten immer wieder in der Sprechstunde,
er wolle seine neuroleptische Medikation noch während der Behandlung bei uns
abgesetzt bekommen. Da er durchgängig über mehrere Monate stabil war, setzte ich
dann ausschleichend seine Zyprexa-Medikation ab. Allerdings verstand ich lange Zeit
nicht, warum er so vehement auf ein Absetzen bestand, da er die Medikation
exzellent vertrug und keinerlei Nebenwirkungen zeigte (keine Gewichtszunahme,
keine Sedierung). Erst im Verlauf erzählte er mir dann, dass er nach der
Entwöhnungsbehandlung draußen im Alltag keine Neuroleptika mehr nehmen wolle,
da er der Meinung sei, dass er ohne Neuroleptika leichter eine Psychose bekäme
und die Angst vor einer erneuten psychotischen Symptomatik ohne Medikation ihn
eher daran hindere, wieder rückfällig zu werden. Wenige Wochen nach Absetzen der
neuroleptischen Medikation wurde dieser Patient dann unter erhöhten
Stressanforderungen (Teamarbeit in der Küche, Konflikte mit Mitpatienten,
anstehende Adaptionsbehandlung im Haus Heidelberg mit erhöhten
Alltagsanforderungen) wieder psychotisch. Diese psychotische Phase ließ sich dann
in guter Zusammenarbeit mit dem Patienten durch eine erneute neuroleptische
Medikation mit Zyprexa abfangen, allerdings war eine interkurrente Verlegung in das
ZfP Nordbaden erforderlich.
Auf dem Hintergrund eines symbiotisch-überängstlich-überfürsorglichen
Erziehungsstiles der Mutter, welche immer wieder ängstlich-besorgt auch bei uns in
der Klinik anrief, um sich nach ihrem Sohn zu erkundigen, und der gleichermaßen
vorsichtigen und etwas konfliktscheuen Art des Patienten mit der Neigung, „sich
verrückt zu machen“, wurde sein individuelles Vulnerabilitätsrisiko deutlich.
Mittlerweile hat er die Notwendigkeit einer längerfristigen neuroleptischen Medikation
eingesehen und kann besser seine spezifischen Stressoren einschätzen und an
seinen Vulnerabilitätsrisiken arbeiten, in dem er z. B. lernt, gelassener zu werden,
mehr an seine Ressourcen und Stärken zu glauben, sich weniger verrückt zu
machen und sich Schritt für Schritt von der Mutter „abnabelt“ unter Einbeziehung
seiner Eltern, insbesondere der Mutter in Form von Familiengesprächen. Ohne ein
Eingehen auf den Patienten und einen Absetzversuch der Neurolepsie wären diese
Zusammenhänge wahrscheinlich zumindest längst nicht so deutlich geworden, sein
spezifisches Vulnerabilitätsrisiko, nicht nur hinsichtlich der Psychose, sondern auch
hinsichtlich potenzieller Rückfälle wäre nicht so deutlich geworden. Letztlich wurde
hierdurch auch seine Medikamenten-Compliance gefestigt. Dies ist eine PatientenKasuistik gewesen, bei der durch das Absetzen der Medikation die Notwendigkeit
einer längerfristigen neuroleptischen Medikation deutlich wurde auf Grund eines
hohen Vulnerabilitätsrisikos. Bei diesem Fall ist durchaus die Diagnose einer
paranoiden Schizophrenie zu erwägen (psychotische Symptome nach 4 Monaten
Abstinenz, allerdings nicht nach 6 Monaten, langsame und zögerliche Rückbildung
der psychotischen Symptome, insbesondere Ich-Störungen in Form von
Gedankenausbreitung). Aber selbst in diesem Falle ist eine klare Unterscheidung
zwischen drogeninduzierter versus schizophrener Psychose (noch) nicht möglich und
vielleicht erst durch eine weitere Verlaufsbeobachtung zu treffen. Wichtiger als eine
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differentialdiagnostische Unterscheidung „drogeninduziert versus schizophren“
erscheint mir deshalb eine Einschätzung des Vulnerabilitätsausmaßes bei einem
Patienten, da dies viel mehr Relevanz und Aussagefähigkeit hat, als eine reine
„Etikettierung“ durch eine Diagnose. Mag dieser Patient ein Beispiel sein für die
Notwendigkeit einer längerfristigen Neuroleptika-Einnahme, so gibt es umgekehrt
zahlreiche Patienten, welche sich nach Absetzen einer neuroleptischen Medikation
auch unter erhöhten Stressanforderungen stabil zeigen, so dass bei diesen Patienten
dann von einem deutlich geringeren Vulnerabilitätsrisiko ausgegangen werden kann.
Da dies für den Alltag viel mehr Relevanz besitzt als eine „reine“ Diagnose, erscheint
mir der Ansatz der Vulnerabilitätsabschätzung viel versprechender und praxisnäher,
als der Versuch einer rein deskriptiven Unterscheidung. Bis dies jedoch auch Einzug
in unsere Diagnosesysteme findet und damit auch den Patienten gerechter wird, ist
sicherlich noch viel Forschungsarbeit und Wissenszuwachs nötig.
Eine weitere Patientengruppe, auf die ich jetzt eingehen möchte, sind unsere
Patienten mit einer ADHS-Störung, immerhin 8 % unserer Patienten in 2009. In den
letzten Jahren wurde der ADHS-Störung im Erwachsenenalter immer mehr
Aufmerksamkeit geschenkt, was sich auch in einer zunehmenden Behandlung dieser
Thematik in der Öffentlichkeit z. B. Fernsehsendungen etc. zeigt.
Letztlich ist es eigentlich verwunderlich, dass eine derart häufige Störung quasi viele
Jahrzehnte übersehen wurde und man noch bis vor wenigen Jahren davon ausging,
dass diese Erkrankung eine reine kinder- und jugendpsychiatrische Diagnose
darstellt.
Letztlich zeigt dies, dass wir nur das sehen und erkennen, was wir kennen. Dies ist
gleichzeitig eine Mahnung an uns alle, kritisch und neugierig zu bleiben, offen und
aufgeschlossen Neuem gegenüber zu sein, manchmal querdenkend
Alterhergebrachtes in Frage stellend. Tugenden, die Kinder noch haben und unsere
ADHS-Patienten oft behalten haben.
Mittlerweile weiß man, dass die ADHS-Störung zu einem hohen Prozentsatz,
allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaße bis in das Erwachsenenalter
persistiert. Natürlich sind Zahlen noch mit Vorsicht zu genießen, allerdings ist davon
auszugehen, dass weit mehr als 50 % der Patienten ADHS-Symptome auch noch im
Erwachsenenalter haben, allerdings in sehr unterschiedlicher Ausprägung: Bis zu
15% zeigen das unveränderte Vollbild der ADHS, 65 % eine Besserung der ADHSSymptome und nur 20 % eine vollständige Remission. Häufig lässt zwar die
ausgeprägte motorische Unruhe im Erwachsenenalter nach und weicht eher einer
inneren Unruhe (innerer Motor, wie getrieben sein) mit nur noch diskreter motorischer
Hyperaktivität (Fingertrommeln, Fußwippen, Verknoten der Füße, Abneigung gegen
körperlicher Ruhe und Entspannung), Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizite,
erhöhte Ablenkbarkeit, erhöhtes Arousal, ausgeprägte Impulsivität und
desorganisiert-chaotisches Verhalten, emotionale Instabilität und geringe
Affektkontrolle sind jedoch häufige Problembereiche der ADHS-Störung im
Erwachsenenalter. Früh zeigt sich diese Störung bereits in der Schule mit
Schulproblemen (Klassenwechsel, Sitzenbleiben, Schulwechsel, Schulabbruch ohne
Abschluss), weitere Probleme im Arbeitsleben schließen sich an (keine Ausbildung,
geringere Qualifikation, häufigere Arbeitsplatzwechsel, Probleme mit Vorgesetzten,
längere Arbeitslosigkeitszeiten etc.). Typisch sind „chaotisch“ erscheinende
Biographien, gekennzeichnet durch zahlreiche Abbrüche und Wechsel. Nicht nur
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Arbeitsprobleme häufen sich, sondern auch Beziehungsprobleme in Form von
häufigen Trennungen, erhöhten Scheidungsraten, interpersonellen Problemen,
Geschwisterrivalitäten, stark belastete Verhältnisse zu den Eltern, aber auch erhöhte
Unfallrisiken, Führerscheinverluste und dissozial-delinquente Entwicklungen. Mehr
als 70 % der erwachsenen ADHS-Patienten zeigen zusätzlich comorbide Störungen
in Form von Substanzmissbrauch, Angststörungen, sozialen Phobien, depressiven
Störungen, Störung des Sozialverhaltens, oppositionellen Störungen bis hin zur
dissozialen Persönlichkeitsstörung. Teilweise sind mit der ADHS-Störung auch
zusätzliche Teilleistungsstörungen oder Tickstörungen vergesellschaftet. Mittlerweile
ist gesichert, dass ADHS ein Risikofaktor für die Entwicklung von Suchterkrankungen
darstellt (wobei noch offen ist, ob ADHS ein eigenständiger Risikofaktor ist oder
durch die Comorbidität mit anderen Störungen zum Risikofaktor wird). Darüber
hinaus sprechen die bisherigen Ergebnisse für einen suchtprotektiven Effekt der
Psychopharmakotherapie: Das Risiko, das Vollbild einer Substanzabhängigkeit zu
entwickeln, wird durch eine rechtzeitige Medikation gesenkt.
Dies deckt sich mit den Erfahrungen unserer ADHS-Patienten: kein einziger wurde
konsequent und dauerhaft als Kind medikamentös behandelt, in vielen Fällen erfolgte
nicht einmal eine Diagnosestellung, in wenigen Fällen war zwar die Diagnose gestellt
worden, jedoch ohne durchgängige, suffiziente Behandlung, nur in ganz wenigen
Fällen erfolgte allerdings sehr spät, nach der Pubertät, eine medikamentöse
Behandlung. In diesen Fällen war jedoch bereits ein Suchtverhalten etabliert und die
Behandlung mit Methylphenidat wurde dann Bestandteil der Suchterkrankung.
Ähnlich wie bei psychotischen Störungen ist auch die ADHS-Störung eine
wahrscheinlich heterogene Gruppe von Erkrankungen mit polygenetischer
Vererbung, unterschiedlichen Prägnanztypen (ADHS, ADS, möglicherweise
dissozialer Subtyp) und enger Verschränkung zwischen Umwelt, Lernerfahrungen
und Genetik. Wahrscheinlich wird – ebenso wie bei den psychotischen Störungen –
nicht die ADHS-Störung vererbt, sondern eine tiefer liegende Regulationsstörung
genetisch determiniert im Sinne einer erhöhten Sensibilität/Empfindlichkeit für
Umwelteinflüsse und äußere Reize basierend auf einer Dopamin-Regulationsstörung
bei verändertem Dopamin-Rezeptorgen und verminderter Reizweiterleitung der
dopaminergen Wirkung an den Synapsen. Diese tiefer liegende Störung kann dann
unter anderem zu einer ADHS-Störung führen, impliziert jedoch wahrscheinlich auch
ein höheres Risiko für die Entwicklung einer Tabakabhängigkeit (fast alle unserer
ADHS-Patienten rauchen, haben überdurchschnittlich früh mit regelmäßigem
Rauchen angefangen), unter günstigen Bedingungen ist durch diese erhöhte
Sensibilität für äußere Reize jedoch durchaus auch ein erhöhtes Maß an Kreativität
und künstlerischem Talent verbunden, so dass nicht zwangsläufig eine negative
Entwicklung die Folge sein muss. Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens sind
erfolgreich trotz oder aber vielleicht auch gerade wegen ihrer ADHS-Störung (Louis
de Funès, Tim Mälzer, Jamie Oliver).
Worauf es mir ankommt, ist keine reine Symptom-Auflistung, sondern die
Entwicklung eines tieferen Verständnisses für die Lebenswelt und die Erfahrungen
eines ADHS-Kindes und welche Konsequenzen sich für dieses Kind (sofern es nicht
adäquat behandelt wird) ergeben können. Hierzu genügt ein einfaches
Gedankenexperiment: Stellen Sie sich einfach vor, Sie seien als Kind mit einem
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Makel behaftet, der Sie auffällig macht und auf Ablehnung stoßen lässt. Erschwerend
soll noch dazu kommen, dass diese „Auffälligkeit“ nicht klar zu benennen ist, wie z.
B. abstehende Ohren, sondern unklar bleibt und Ihnen vielleicht sogar als böse
Absicht unterstellt wird. Wozu führt das? Dies führt dazu, dass Sie sich als
Außenseiter fühlen, als Sonderfall, als auf irgendeine Weise unerklärlich von den
Anderen abweichend, ohne zu wissen, warum. Die häufige Ablehnung und Kritik an
Ihrer Person führt dann dazu, dass Sie sich wertlos fühlen, sich nichts zutrauen, ein
negatives Selbstbild entwickeln und sich im schlimmsten Falle sogar selbst schuldig
und verantwortlich hierfür fühlen, zumal Ihre „Auffälligkeit“ Ihnen nicht erklärt wird.
Wenden wir diese Mechanismen jetzt auf unser ADHS-Kind an: Es ist unkonzentriert,
zappelig und erhöht ablenkbar, unstrukturiert-chaotisch, vergisst vieles und reagiert
sehr stark auf seine Umwelt und ihm dargebotene äußere Reize. Überall eckt es an,
stört, wird ermahnt, zur Ordnung gerufen, sanktioniert.
Dies nicht nur in der Schule, sondern auch daheim im Umgang mit Eltern und
Geschwistern. Gleichzeitig weiß es nicht, was mit ihm los ist, es merkt nur, dass es
anders ist und auf Ablehnung stößt. Vielleicht wird ihm sein Verhalten sogar als
absichtlich provozierend und bösartig unterstellt. Was lernt so ein Kind?
Ich bin anders, ich bin Außenseiter, ich kann nichts. Es entwickelt ein geringes
Selbstwertgefühl und ein negatives Selbstbild. Es lebt mit einem ständigen
„Hintergrundrauschen“ von Ermahnungen, Zurechtweisungen, Kritik und negativen
Bewertungen. Gleichzeitig ist es in seiner Orientierung ständig nach außen gerichtet
aufgrund seiner erhöhten Sensibilität für Umwelt- und Sinneseinflüsse. Diese
Außenorientierung führt zu einer starken Außenattribuierung und Externalisierung,
das heißt häufig wird ein rigides, an äußeren Regeln und Normen orientiertes
Wertesystem etabliert, mit ständigem Vergleich mit anderen Menschen nach dem
Motto: „Wenn der das darf, darf ich das auch.“ Logischerweise entwickeln diese
Patienten dann ein geringes Selbstwertgefühl, bleiben überwiegend nach außen auf
ihre Umwelt bezogen und machen häufig einen Abgleich zwischen äußeren Reizen
und Verhaltensweisen anderer Menschen und ihrem eigenen Verhalten.
Korrespondierend hierzu ergaben Umfragen bei erwachsenen ADHS-Patienten
überwiegend negative Erinnerungen an ihre Kindheit mit dem Resümee wenig auf
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das Erwachsenenalter vorbereitet worden zu sein. Dieses geringe Selbstwertgefühl
mit negativem Selbstbild bei gleichzeitig ausgeprägter Außenattribuierung lässt viele
comorbide Störungen der ADHS-Störung erklärbar werden: Aufgrund des häufigen
negativen „Hintergrundrauschens“ bei gleichzeitig negativem Selbstbild und hoher
Kränkbarkeit/Empfindlichkeit neigen die Betroffenen zu impulsiven Verhaltensweisen,
insbesondere im Kontakt mit „Autoritätspersonen.“
Ihr geringes Selbstwertgefühl führt bei kleineren Anlässen (siehe Außenattribuierung)
zu häufigen reaktiven kurzen depressiven Einbrüchen, bei den oft nur selten
vorkommenden positiven Rückmeldungen dann zu überdreht fast hypomanisch
anmutenden Stimmungsbildern, insgesamt also zu einer stark situativ abhängigen
Stimmung Aufgrund der häufigen Zurückweisungen und der Stigmatisierung sind
auch ausgeprägtere Ängste bis hin zu sozialen Phobien verständlich. Die raschen
Stimmungswechsel orientieren sich nach Rückmeldung von Erfolg oder Misserfolg.
Ihre Ängstlichkeit und ihr negatives Selbstbild scheint häufig im Kontrast zu stehen
zum lauten, impulsiven und teilweise herumkasperndem Verhalten, was häufig
zunächst zu einer Überschätzung ihrer sozialen Fertigkeiten und/oder ihres
Selbstvertrauens führt. Da die ADHS-Störung per se bereits mit vielerlei
unangenehmen Symptomen (motorische Unruhe mit dem Gefühl des
Getriebenseins, Schlafstörung etc.) verbunden ist und in der Folge häufig zahlreiche
negative Konsequenzen nach sich zieht, erscheint der Weg in die Sucht nicht
verwunderlich. Einerseits um negativen Gefühlen und Konsequenzen zu entfliehen,
andererseits als Möglichkeit der Selbstmedikation, um ruhiger, entspannter und
konzentrierter zu sein (Amphetamine, THC).
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Insgesamt zeigen die in unserem Hause behandelten Patienten mit ADHS häufig
auch eine ausgeprägte Störung des Sozialverhaltens und der Impulskontrolle,
weniger lediglich eine „reine“ ADHS. Es zeigte sich eine sehr große Bandbreite von
nur sehr leichten bis hin zu schwer ausgeprägten, die Rehabilitationsfähigkeit
einschränkender Symptomatik.
Im klinischen Alltag zeigte sich dies daran, dass bei den schwereren Fällen fast eine
„Blickdiagnose“ reichte, bei milderer Symptomatik, insbesondere bei reiner ADSStörung eine längere Verhaltensbeobachtung (insbesondere in Situationen, welche
eine erhöhte konzentrative Dauerbelastbarkeit erfordern) sowie eine eingehende
Fremd- und Eigenanamnese erforderlich ist. Zusätzlich erfolgt eine ADHS-Testung
(Wender-Reimherr-Interview, Kurzform der Wender Utah Rating Scale, ADHSSelbstbeurteilungsskala), möglichst eine Fremdanamnese und Hinzuziehung früherer
Schulzeugnisse.
Die Therapie der ADHS-Störung im Erwachsenenalter umfasst mehrere Bausteine.
Bei ausgeprägter Symptomatik sollte zusätzlich zur möglichst störungsspezifischen
Psychotherapie und Psychoedukation eine medikamtöse Behandlung erfolgen.
Hinsichtlich der medikamentösen Behandlung schwerer ADHS-Störungen im
Erwachsenenalter ist die Situation jedoch nach wie vor sehr unbefriedigend, da es
bis dato kein zugelassenes Medikament zur Erstbehandlung einer ADHS-Störung im
Erwachsenenalter gibt und somit jede medikamentöse Erstbehandlung im Off-LabelUse erfolgen muss. Dies erfordert im Einzelfall einen Kostenantrag bei der
zuständigen Krankenkasse im Sinne eines individuellen Heilplanes, was in der Praxis
jedoch auf große Schwierigkeiten stößt. Der Goldstandard einer Behandlung – eine
Behandlung mit Methylphenidat – unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz und birgt
die Gefahr des Missbrauches. Einige unserer ADHS-Patienten haben bereits früher
wahrscheinlich aufgrund ihres unbehandelten, oder zu spät erkannten ADHS
Methylphenidat missbräuchlich eingesetzt, da sie bereits Suchtverhalten etabliert
hatten. Somit sollte eine Behandlung mit Methylphenidat im Erwachsenenalter im
Off-Label-Use meiner Ansicht nach nur schwereren Fällen vorbehalten sein, bei
denen eine strenge Nutzen-Risikoabwägung erfolgen sollte. Bei dieser Abwägung
sollte meiner Ansicht nach das Risiko für erneuten Suchtmittelkonsum durch die
unbehandelte ADHS-Störung höher liegen als das Risiko eines Missbrauches von
Methylphenidat im Rahmen der Suchterkrankung, was letztendlich jedoch eine
äußerst schwierige Abwägung bedeutet. Ein Medikament der zweiten Wahl ist
Atomoxetin (Strattera), dieses Medikament – ebenfalls im Off-Label-Use – ist jedoch
sehr teuer. In unserer Klinik gab es nach viermonatiger Strattera-Medikation bei
einem Patienten Regressanforderungen seitens der Krankenkasse, ein
entsprechender Antrag zur Verordnung von Atomoxetin im Off-Label-Use wurde von
der Bezirksprüfungsstelle abgelehnt mit der paradoxen Begründung: Die Schwere
der ADHS-Störung und der mögliche Nutzen einer medikamentösen Behandlung sei
in diesem Einzelfalle nachvollziehbar, eine Kostenübernahme könne jedoch nicht
erfolgen, da die Datenlage nicht ausreichend sei und das Medikament nicht die
Zulassung hierfür habe. Durch eine solche Ablehnung wird die Antragstellung im
Sinne eines individuellen Heilplanes zur Kostenübernahme ad absurdum geführt, da
sie ja mit dem pauschalen Hinweis des Off-Label-Use abgelehnt wird. Somit bleibt
lediglich der Weg der Selbstzahlung für den Patienten, was bei Atomoxetin aufgrund
der hohen Medikamentenkosten kaum möglich ist.
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Letztlich bleibt dann „nur“ eine medikamentöse Behandlung zusätzlicher comorbider
Störungen, welche häufig im Zusammenhang mit der ADHS-Störung stehen, wie z.B.
depressive Symptome, Angststörung oder sozialphobische Störungen möglich mit
einem auch die ADHS-Symptomatik beeinflussenden noradrenergen (Venlafaxin,
„Trevilor“) oder dopaminergen (Bupropion,“Elontril“) Antidepressivum. Da mittlerweile
eine Medikation mit Atomoxetin aus oben genannten Gründen trotz guter
Erfahrungen ausscheidet, behandeln wir derzeit unsere Patienten bei ausgeprägterer
ADHS-Störung überwiegend mit Venlafaxin oder Bupropion. Hierbei sind die
Ergebnisse sehr unterschiedlich und reichen von Status idem bis hin zu sehr
deutlichen Befundverbesserungen. Leider gibt es – analog der antipsychotischen
Medikation – bisher keine validen Auswahl- und Prognosekriterien hinsichtlich der bei
der ADHS-Störung empfohlenen Medikamente. Zur Illustrierung einige
Patientenkasuistiken:
Ein sehr unauffälliger 22-jähriger Patient mit reiner ADS-Störung, welche erst durch
eingehende Anamneseerhebung und Testung offensichtlich wurde, profitiert derzeit
deutlich von einer medikamentösen Behandlung mit Bupropion, berichtet von einer
deutlichen Besserung seiner Konzentration und Aufmerksamkeitsspanne. In diesem
Falle standen uns seine damaligen Grundschulzeugnisse (untypisch für
Suchtpatienten) zur Verfügung, hieraus einige Auszüge:
Grundschulklasse 2: „Christian zeigte einen unterschiedlichen Arbeitswillen. Trotz
individueller Hilfen fand er zu keiner beständigen Arbeitsweise. Eine
Leistungsverbesserung kann nur erfolgen, wenn Christian konzentrierter arbeitet, die
Ordnung in seinen Arbeitsmaterialien verbessert und jede Hausaufgabe
gewissenhafter erledigt.“
Grundschulklasse 4: „Meistens ist Christian mit seinen Gedanken völlig abwesend,
zeigt wenig Interesse und muss immer wieder ermuntert werden, dem Unterricht zu
folgen. Arbeiten ohne besonderen Aufforderungscharakter erledigt er ungern und
oberflächlich. Schriftliche Arbeiten werden oftmals aus Bequemlichkeit nicht
angefertigt. Schwierigkeiten weicht er gerne aus.“
Sekundarschule Klasse 5: „Christian sollte im Unterricht konzentrierter mitarbeiten,
seine Hausaufgaben erledigen und seine Arbeitsmaterialien mitführen.“
Ein zweiter 25-jähriger Patient zeigte sich zunächst hinsichtlich seiner ADHS-Störung
ebenfalls sehr unauffällig, da er durch eine äußerst rigide mit Strafen verbundene
Erziehung wie „domptiert“ seine ADHS-Symptome unterdrückte, was er jedoch selbst
als sehr qualvoll „wie ein Dampfkochtopf“ erlebte. Dieser Patient profitierte deutlich
von einer Medikation mit Venlafaxin, zeigte sich hierunter deutlich ruhiger,
konzentrierter, ausgeglichener und weniger impulsiv.
Ein weiterer 36-jähriger Patient zeigte eine sehr schwere ADHS-Störung mit
massiver motorischer Unruhe und Hyperaktivität mit exzessivem Marathonlaufen und
ausgepägter Hypersexualität (exzessive nächtliche Masturbation) zur
Spannungsreduktion. Dieser Patient profitierte zunächst von einer Medikation mit
Venlafaxin, lehnte dies jedoch im weiteren Verlauf vehement ab, so dass er in der
Folge nicht mehr rehabilitationsfähig war und entlassen werden musste.
Dies leitet über zur Reaktion von ADHS-Patienten auf eine erstmalige Medikation
ihrer ADHS-Störung. Diese Reaktion erlebe ich sehr unterschiedlich: Manche
Patienten sind sehr entlastet und erleichtert, berichten z.B. zum ersten Mal – wie bei
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einem Falle – seit 7 Jahren wieder länger lesen zu können (davor nur Comics oder
kurz Artikel). Andere Patienten jedoch wie der zuletzt genannte Patient erleben sich
als unvertraut-unbekannt verändert und tun sich äußerst schwer damit, sich als
anders zu erleben oder bisherige Strategien (exzessiver Sport etc.) abzulegen,
haben sich vielleicht sogar in ihrer „Nische“ eingerichtet. Auch dies ist nicht weiter
verwunderlich, da sich die Patienten ja nicht anders kennen, diesen
unterschiedlichen Reaktionen muss man jedoch gewahr sein und Rechnung tragen.
Obligat ist eine entsprechende psychoedukative Aufklärung bezüglich der ADHSStörung. Diese war in der Vergangenheit bei unseren Patienten bisher so gut wie nie
erfolgt. Die Psychoedukation sollte jedoch nicht nur ein defizitäres Krankheitsmodell
vermitteln, sondern auch positive Ressourcen der ADHS-Störung wie Energie,
Neugier, Kreativität, Phantasie, Mut, Anpassungsfähigkeit und teilweise die Fähigkeit
zur Hyperfokussierung bei starkem Interesse vermitteln. Generell ist es bei diesen
Patienten wichtig, ressourcenorientiert zu arbeiten, denn negative Bewertungen
(„Hintergrundrauschen“) kennen sie zur Genüge aus ihrer Kindheit und Jugend.
Darüber hinaus besteht in einem strukturierten Kliniksetting immer die Gefahr, dass
sie erneut als „Störenfriede“ auffallen und sich dann durch Ermahnungen,
Zurechtweisungen oder andere negative Sanktionen ihr bisheriges Lebensmuster
wiederholt. Hilfreich für diese Patienten kann auch sein, zum ersten Mal andere
ADHS-Patienten zu sehen und das Gefühl der „Einzigartigkeit“ dadurch zu verlieren.
Zur Erhöhung der Konzentration und Minderung der erhöhten Ablenkbarkeit und zur
Verbesserung der Selbstwahrnehmung bei der typischen starken Außenattribuierung
der ADHS-Patienten sind zusätzlich Achtsamkeitsübungen sinnvoll. Diese haben den
großen Vorteil, dass sie nach anfänglicher Übung und Anleitung vom Patienten
selbst problemlos fast jederzeit in den Alltag integriert und im Alltag angewendet
werden können und keine „Extratherapiezeit“ benötigen. Eine sinnvolle Ergänzung
hierzu sind dann Anleitungen und Übungen zur Handlungsplanung und –
strukturierung zur Chaosreduzierung und Erhöhung der Eigenkontrolle.
Analog den Patienten mit zusätzlicher psychotischer Störung besteht auch bei
ADHS-Patienten die Gefahr, dass sie zu sehr auf ihre comorbide Störung fokussieren
und ihre Suchterkrankung hierdurch in den Hintergrund zu treten droht. Dies gilt es
dann immer wieder zu berücksichtigen und zu korrigieren. Eine weitere Gefahr
besteht darin, dass sich manche Patienten auf ihre ADHS-Störung reduzieren nach
dem Motto: “Dafür kann ich nichts, das ist mein ADHS.“ Hier ist es immer wieder
wichtig, ihnen zu vermitteln, dass sie ADHS haben und nicht ADHS sind und
durchaus große Beeinflussungs- und Kontrollmöglichkeiten haben, die sie jedoch
erst lernen müssen. Und Lernen ist halt häufig gerade eine Schwierigkeit beim
ADHS. Vor allem, wenn man dazu Geduld braucht.
Abschließend möchte ich einige allgemeine Prinzipien darstellen, die aus meiner
Sicht für eine Behandlung von Suchtpatienten mit comorbiden Störungen in
besonderer Weise wichtig sind:
1. Vernetzung
Gerade bei Patienten mit comorbiden Störungen scheint eine Vernetzung mit
verschiedensten stationären und ambulanten Einrichtungen sinnvoll. Diese müssen
vielfältigster Natur sein. So ist z.B. gerade für unsere jungen suchtmittelabhängigen
Erwachsenen mit einer ADHS-Störung eine Kooperation mit Bildungseinrichtungen
(Schulen, Berufsbildungszentren) sinnvoll, des weiteren mit Spezialambulanzen, aber
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auch therapeutischen Wohnheimen, mit enger Zusammenarbeit zwischen
niedergelassenen Ärzten und Therapeuten etc.. Genauso wichtig wie eine externe
Vernetzung ist jedoch auch eine interne Vernetzung mit „gestufter“ Behandlung der
Patienten. So z.B. eine Behandlung in unserem Haupthaus in der Fachklinik
Eiterbach, danach eine mehr am Alltag und Berufsleben orientierte
Adaptionsbehandlung im Haus Heidelberg, danach gegebenenfalls ein Wechsel in
eine betreute Nachsorgewohngemeinschaft in Heidelberg mit Anbindung an ein
ambulantes Hilfesystem (Selbsthilfegruppe, Suchtberatungsstelle, psychiatrische
Institutsambulanz, ambulante Psychotherapie, Arbeitsvermittlung).
2. Interdisziplinarität
Gerade wegen der comorbiden Störungen ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit
zwischen verschiedenen Fachrichtungen und Fachleuten unabdingbar. Häufig ist es
noch so, dass Suchtpatienten mit comorbiden Störungen (insbesondere
z.B.Borderlinepatienten) sprichwörtlich zwischen den Stühlen sitzen und eine
Fachrichtung (z.B. Sucht) an die andere Fachrichtung (z.B. Allgemeinpsychiatrie)
verweist. Oder aber es wird auf das eigene Fachgebiet fokussiert: So vermutet der
Suchttherapeut bei einer psychotischen Dekompensation eines Suchtpatienten mit
einer zusätzlichen drogeninduzierten Psychose zunächst einmal einen Rückfall als
Auslöser, der allgemeinpsychiatrisch Tätige denkt vielleicht zunächst erst einmal an
einen durch Stress ausgelösten psychotischen Schub, wobei in manchen Fällen das
eine das andere überhaupt nicht ausschließt. Hier wäre eine engere
Zusammenarbeit und ein Hinausschauen über den „eigenen Tellerrand“ sinnvoll und
wichtig. Heutzutage zeigt sich immer mehr, dass eine enge interdisziplinäre
Zusammenarbeit zwischen verschiedensten Disziplinen unabdingbar ist, wenn man
mit komplexen Systemen zu tun hat. Und schließlich ist das komplexeste System,
das wir kennen, der Mensch.
3. Pragmatismus
Aus meiner Sicht sind „dogmatische“ Haltungen nicht sinnvoll und konstruktiv. In den
Anfängen der Fachklinik Eiterbach z.B. war es fast ein Tabuthema, Patienten mit
einer Suchterkrankung und zusätzlichen psychotischen Störungen
medikamentös/neuroleptisch zu behandeln und ordnete dies süchtigem Verhalten zu.
Mittlerweile ist dies an der Tagesordnung und eine Selbstverständlichkeit.
Möglicherweise wird die Entwicklung in eine ähnliche Richtung gehen bei schwereren
ADHS-Patienten und einer Suchterkrankung: Derzeit wird noch häufig argumentiert,
dass eine Methylphenidatbehandlung bei ADHS-Störungen und gleichzeitiger
Suchterkrankung kontraindiziert sei aufgrund des Missbrauchspotenziales von
Methylphenidat.
Meines Erachtens ist eine umgekehrte Argumentation einleuchtender: Dass nämlich
ein schweres unbehandeltes ADHS im Erwachsenenalter eher zurück zur Sucht führt
als eine Medikation mit einem Stimulanz. Vielleicht ist es eine deutsche Eigenart,
abstrakt herumzutheoretisieren, anstatt etwas pragmatisch auszuprobieren und aus
den Erfahrungen zu lernen.
4. Strukturiertes ressourcenorientiertes Therapiesetting mit zusätzlichen
sozialtherapeutischen und pädagogischen Maßnahmen
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Gerade Patienten mit comorbiden Störungen, insbesondere mit ADHS und
psychotischen Störungen benötigen ein stark strukturiertes Setting, häufig eher
stützend-ressourcenorientiert und weniger konfrontativ arbeitend. Aufgrund der
comorbiden Störungen zeigt diese Patientengruppe häufig deutliche Reifungsdefizite
und Einschränkungen in der Kompetenz alltags- und lebenspraktische Fähigkeiten.
Teilweise zeigen sich die Patienten deutlich entwicklungs- und reifungsverzögert, so
dass auch sozialpädagogische und sozialtherapeutische Interventionen und
Maßnahmen nötig sind. So erhalten z.B. viele unserer Patienten (insbesondere
ADHS-Patienten mit Teilleistungsstörungen wie Legasthenie oder Rechenschwäche)
Unterricht in Deutsch, Mathematik und teilweise Englisch.
Ausblick
Wie bereits im Anfangsteil des Vortrages gezeigt, hat sich eine Verschiebung der
Hauptsuchtproblematik ergeben, so wurde die Opiatabhängigkeit als
Hauptsuchtmittel erstmals durch die Cannabisabhängigkeit abgelöst. Wir sehen im
Zusammenhang damit und mit dem zusätzlichen „Vormarsch“ von Stimulanzien und
Partydrogen eine Zunahme jüngerer Suchtpatienten mit teilweise erheblichen
Sozialisations/Reifungsdefiziten und Einschränkungen der Kompetenz alltags- und
lebenspraktischer Fähigkeiten. Insofern sind diese Patienten zwar volljährig, vom
Reifegrad her jedoch eigentlich noch auf dem Stand pubertierender Jugendlicher.
Dies ist aus meiner Sicht jedoch nicht ein typisches Problem von Suchtkliniken,
sondern ein allgemein gesellschaftliches Phänomen. Kinder und Jugendliche zeigen
sich heute weniger sozialisiert, stärker sich selbst überlassen, zeigen teilweise
erhebliche Sozialisationsdefizite, sind mehr „spaß- und freizeitorientiert“, haben
häufiger Probleme mit Autoritätspersonen, zeigen teilweise eine geringere
Leistungsbereitschaft und orientieren sich eher nach dem „Lustprinzip“.
Diese Problematik wird auch von Schulen, Lehrern und Arbeitsgebern geschildert
und scheint jetzt auch in den Suchtkliniken angekommen zu sein. Dies erfordert aus
meiner Sicht in Zukunft eine noch engere interdisziplinäre Vernetzung und
Verstärkung pädagogischer Maßnahmen in Kliniken. Möglicherweise kommt eine
„Welle“ folgender Patienten auf uns zu:
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Ich bedanke mich für ihre Aufmerksamkeit.
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