S_58_64_Oldenbourg.qxd 16.08.2003 13:08 Uhr Seite 58 Bild siehe Druckausgabe Hämophilie A Johannes Oldenburg Rainer Schwaab Ein Modell für Mutationsforschung und Gentherapie 58 Die Bluterkrankheit oder Hämophilie zieht sich durch die Stammbäume der Königshäuser Europas. Zahlreiche Nachkommen von Königin Victoria und Prinzgemahl Albert von Sachsen-Coburg-Gotha litten an dieser Krankheit. Bei der Hämophilie A liegt eine Mutation im FaktorVIII-Gen vor, das entsprechende Faktor-VIII-Protein ist nicht mehr funktionsfähig. Dies führt zu einer stark verminderten Blutgerinnung. Bis dato konnten Patienten nur durch die Gabe dieses Blutgerinnungsfaktors symptomatisch behandelt werden. Eine echte Heilung hingegen verspricht die Gentherapie. Durch die Kenntnis der fehlerhaften Sequenz im entsprechenden Gen wäre ein Austausch mit Hilfe geeigneter Vektoren als „Gen-Transporter“ möglich. mensch+umwelt spezial 16. Ausgabe 2003 S_58_64_Oldenbourg.qxd 16.08.2003 13:09 Uhr twa 8000 Menschen in Deutschland leiden unter der Bluterkrankheit. Anders als in früheren Zeiten können Ärzte heute die Krankheit meist effizient behandeln. Da sie gut charakterisiert ist und nur auf einem einzigen defekten Gen beruht, ist die Bluterkrankheit außerdem ein ideales Modell für Gentherapien. Die Blutgerinnung (Hämostase) stellt ein hochkomplexes Netzwerk aus mehr als 100 Proteinen dar, welche einerseits die Fließfähigkeit des Blutes garantieren und zum anderen eine unmittelbar einsetzende Gerinnung des Blutes bei Verletzungen sicherstellen. Praktisch alle Gerinnungsfaktoren können von Mutationen betroffen sein, die – je nachdem welche Funktion der Gerinnungsfaktor hat – entweder zu der Bluterkrankheit (Hämophilie) oder einer erblichen Form der Thromboseneigung (Thrombophilie) führen. Bei der Hämophilie nehmen Schwere und Häufigkeit der Blutungen zu, je weniger Gerinnungsfaktor vorhanden ist. Schwere Formen der Krankheit führen sehr leicht zu spontan auftretenden Blutungen, die meistens die Muskulatur und die Gelenke betreffen. Bei milderen Formen sind Blutungen selten und beschränken sich im wesentlichen auf Operationen oder Verletzungen. Seite 59 E Prokoagulatorische Faktoren Inhibitorische Faktoren Fibrinolyse Fließfähigkeit des Blutes Blutgerinnung am Ort der Verletzung Thrombozyten Gefäß-Endothel Mit Hilfe des Hämostase-Systems steuert der Körper die Blutgerinnung, um zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort Wunden zu verschließen. Zahlreiche Komponenten sorgen dafür, dass einerseits die Fließfähigkeit des Blutes gewährleistet bleibt (inhibitorische Faktoren), aber andererseits bei einer Verletzung die Blutung schnell gestoppt wird. Die bei der Gen-Expression entstehenden prokoagulatorischen Faktoren werden erst durch Signalstoffe eines verletzten Endothels aktiviert. Zusammen mit Thrombozyten und Fibrin wird die Wunde verschlossen. Dieser körpereigene „Verband“ löst sich schließlich wieder auf (Fibrinolyse). Grafik: Oldenburg/Schwaab Die Hämophilie A ist mit einer Häufigkeit von 1:5000 der männlichen Neugeborenen die häufigste schwere Hämophilie-Form und wird X-chromosomal rezessiv vererbt, d. h. die entsprechenden Gene müssen auf beiden X-Chromosomen mutiert sein, damit die Krankheit manifest wird. Da Frauen zwei X-Chromosomen besitzen, ist für sie die Wahrscheinlichkeit, zu erkranken, erheblich geringer als für Männer, die ne- Ohne die Blutgerinnung würden bereits kleinere Verletzungen zum Tod führen. Das reife Faktor-VIII-Protein entsteht durch Expression des Faktor-VIII-Gens. Da es auf die Blutgerinnung noch keinen Einfluss nehmen kann, wird es auch als ein prokoagulatorischer Faktor bezeichnet. Bei einer Verletzung werden sowohl Calcium-Ionen (Me2+) als auch der Faktor III, ein Phospholipoprotein, freigesetzt. Unter Beteiligung von Calcium-Ionen und von anderen Gerinnungs- ben dem Y-Chromosom nur über ein X-Chromosom verfügen. Frauen können defekte Gene aber an ihre Nachkommen weitergeben. Hämophilie A entsteht durch Mutationen im Faktor-VIII-Gen, die zu einer Verminderung der Aktivität oder völligem Fehlen des Blutgerinnungsfaktors VIII (FVIII) führen. Im Falle einer unzureichenden Behandlung kommt es zu fortschreitenden Gelenkveränderungen. Durch prophylakti- faktoren entsteht dann das aktivierte Protein (links). Es bindet unter Beteiligung anderer Proteine zusammen mit Calcium-Ionen (Pfeil) an der Phospholipidmembran des verletzten Gefäßes (rechts). Schließlich bilden sich Fibrinfäden, die zusammen mit dem primär gebildeten Thrombozyten-Aggregat die Verletzung verschließen. Grafiken: Oldenburg/Schwaab 59 S_58_64_Oldenbourg.qxd 16.08.2003 13:09 Uhr Ein Modell für Mutationsforschung und Gentherapie sche Gaben von FVIII-Konzentraten lassen sich Blutungsfolgen (wie z. B. Gelenkveränderungen) heute weitgehend vermeiden, so dass jüngere Hämophilie-A-Patienten praktisch eine normale Lebenserwartung und auch -qualität aufweisen. Seite 60 Mutationen Genetische Beratung • Typen • Verteilung/Hotspots • Neue Mutationen im FVIII-Gen z. B. Intron 22 Inversionen • Mutationen in neuen Genen • Konduktorinnen- und PränatalDiagnostik • Ursprung in Keimzellen oder als somatische Mosaike Bedeutung der Mutationsdiagnostik für die Hämophilie A Genotyp-Phänotyp Struktur-Funktionen • Schweregrad • Klinischer Verlauf • Hemmkörperbildung • Proteinmodelle • Bindungsepitope z. B. VWF • Expressionsstudien Ursprünglich diente die Mutationsdiagnostik dazu, mögliche Überträgerinnen aus Hämophilie-Familien beraten zu können. Daraus ergaben sich zahlreiche wissenschaftliche Ergebnisse, wie die Erkenntnis, dass Frauen zwar die Hämophilie an ihre Kinder übertragen, die Mutationen jedoch überwiegend in den Samenzellen des Mannes entstehen. Faktor-VIII-Gen und Protein Grafik: Oldenburg/Schwaab Das FVIII-Gen wurde 1984 auf dem X-Chromosom entdeckt. Das FVIII-Protein verankert sich in der Phospholipidmembran der verletzten Gefäßoberflächen bzw. der Thrombozyten. Dabei stellen bestimmte Bereiche die Bindungsstellen für die aktiven Zentren der Faktoren FIX und FX dar, wodurch diese räumlich zusammengeführt werden und miteinander reagieren können. Auf diese Weise beschleunigt das Faktor-VIII-Protein die Aktivierung von Faktor X durch aktivierten Faktor IX um das 300 000 fache. Das FVIII-Protein interagiert auch mit einer Reihe von weiteren Proteinen. So schützt die Interaktion von FVIII mit dem VWF-Protein (von-WillebrandFaktor) das FVIII-Protein vor dem Abbau und ermöglicht so eine Verlängerung seiner Halbwertszeit, die ansonsten nur eine Stunde betragen würde, auf zwölf Stunden. Die neueste Entdeckung ist die Wechselwirkung des FVIII-Proteins mit dem LowDensity-Lipoprotein-Receptor-Related-Protein (LRP) und HeparinSulfat-Proteoglykanen (HSPGs). Die Bindung an diese beiden Liganden ist ein wichtiger Mechanismus für die Entfernung von FVIII aus dem Blut. Wird die Bindung blockiert, lässt sich die Faktor-VIII-Halbwertszeit in vitro um das 5,5fache verlängern. Mutationsdiagnostik spürt genetische Defekte auf 60 Die Größe des FVIII-Gens und die Vielfalt der genetischen Defekte erschwerten deren Aufklärung über viele Jahre. Inzwischen gibt es eine Reihe von effizienten Screening- und automatisierten Sequenziermethoden, welche die Routine-Analyse auch großer Gene ermöglichen. Die Mutationsanalyse hat bei Hämophilien eine wichtige Bedeutung erlangt und Mutationsprofil bei Patienten mit schwerer Hämophilie A (n=645) Mutationstyp Prävalenz in % Intron 22-Inversionen 49.2 Intron 1-Inversionen 1.2 Stop-Mutationen 12.8 Missense-Mutationen 12.7 Kleine Deletionen/ Insertionen 14.1 Grosse Deletionen Insertionen 4.0 Spleissstellen-Mutationen 3.5 Keine Mutation in der FVIII cDNA 1.5 Bei der schweren Verlaufsform der Hämophilie A lassen sich im entsprechenden Gen zahlreiche Mutationen mit verschiedener Prävalenz nachweisen. mensch+umwelt spezial 16. Ausgabe 2003 ist Grundlage vieler diagnostischer und wissenschaftlicher Fragestellungen geworden. Treibende Kraft der Mutationsdiagnostik war anfänglich das Ziel, potentielle Überträgerinnen aus Hämophiliefamilien adäquat beraten zu können. Auf Grund der hohen Neumutationsrate erlaubten die herkömmlichen Analysen oft keine sichere Diagnose. Die direkte Mutationsanalyse ermöglichte nicht nur eine sichere Diagnose, sondern zeigte auch, dass Frauen zwar Überträgerinnen sind, die Hämophilie A aber ganz überwiegend in den Samenzellen des Mannes entsteht. Dies war angesichts der häufigen Schuldkomplexe von weiblichen Überträgerinnen in den Hämophilie-A-Familien eine interessante Erkenntnis. Etwa ein Drittel aller neu diagnostizierten Punktmutationen bei den Hämophilie-A-Familien sind in der Literatur nicht beschrieben und unterstreichen die Vielfalt der Mutationen bei der Hämophilie A. Die häufigste Mutation (fast 50 Prozent) ist die Intron 22-Inversion. Sie beruht auf einer Rekombination des FVIII-Gens, die zwischen einem 9kb großen homologen Bereich des Intron 22 und zwei damit identischen Kopien am Chromosomenende stattfindet. Dieses Mutationsprinzip ist bisher nur für sehr wenige Gene beschrieben und bei Hämophilie A Friedrich Wilhelm, Deutscher Kaiser 1831–1888 Eduard VII., König v. England 1841–1910 Alexandra v. Dänemark 1844–1925 Alice 1843–1878 Ludwig IV., Großherzog v. HessenDarmstadt 1837–1892 Alfred, Herzog von Edinburgh u. SachsenCoburg-Gotha 1844–1900 Albert v. Sachsen-Coburg-Gotha 1819 –1861 Marie v. Rußland 1853–1920 Helena 1846–1923 Christian, Prinz v. SchleswigHolstein 1831–1917 Louise 1848–1939 John Campbell, Marquess of Lorne, Herzog v. Argyll 1845–1914 Arthur, Herzog v. Connaught 1850–1942 Louise, Prinzessin v. Preußen 1860–1917 Leopold, Herzog v. Albany 1853–1884 Helena v. WaldeckPyrmont 1861–1922 Beatrice 1857–1944 Heinrich v. Battenberg 1858–1896 16.08.2003 Victoria, Princess Royal, Deutsche Kaiserin 1840–1901 S_58_64_Oldenbourg.qxd Victoria 1819 –1901 13:09 Uhr Mary Georg V., v. Teck König v. England 1867–1953 1865–1936 Louise Alexander 1867–1931 Duff, Herzog v. Five 1849–1912 Victoria 1868–1935 Maud Haakon VII., 1869–1938 König v. Norwegen 1872–1957 Margaret 1882–1920 Gustav, König v. Schweden 1882–1973 Alexandra, Arthur 1883–1938 Herzogin v. Fife 1891–1956 Victoria Alexander Patricia Ramsay geb. 1886 Victoria v. Charles Edward, SchleswigHerzog v. Holstein SachsenCoburgGotha 1884–1954 Alice Alexander 1883–1980 v. Teck 1874–1957 Seite 61 Albert Victor, Herzog v. Clarence 1864–1892 Rupert Elisabeth Irene Victoria Sergius, Heinrich, Ludwig v. 1863–1950 Battenberg 1864–1918 Großfürst 1866–1953 Prinz v. Rußland v. Preußen 1854–1921 1857–1905 1862–1929 Ernst, Großherzog v. HessenDarmstadt 1868–1937 Victoria Melita, Prinzessin v. Edinburgh 1876–1936 gesch. 1901 Alix, Nikolaus II., Zarin Zar v. Rußland v. Rußland 1872–1918 1868–1918 Marie Victoria 1874 –1878 Christian Victor 1867–1900 Albert 1869–1931 Helena Victoria 1870–1948 Marie Aribert Louise v. Anhalt 1872–1957 1864–1933 gesch. 1900 Irene Alexander, Marquess Dennison of Carisbrooke 1886–1960 4 Augusta v. Charlotte Bernhard Schleswig- 1860–1919 v. SachsenHolsteinMeiningen Augustenburg 1851–1928 1858–1921 Heinrich 1862–1929 Irene v. Hessen 1866–1953 Sigismund 1864–1866 Victoria Adolf 1866–1929 v. Schaumburg-Lippe 1859–1916 Waldemar 1868–1879 Alfonso XIII., König v. Spanien 1886–1941 Leopold 1889–1922 Maurice 1891–1914 2 Zarewitsch v. Rußland Wilhelm II., Deutscher Kaiser 1859 –1941 Victoria Eugenie, Königin v. Spanien Sophie Konstantin, 1870–1932 König v. Griechenland 1868–1923 61 Vererbung der Bluterkrankheit bei den Königsfamilien Europas. Frauen sind durch Kreise, gesunde Männer durch weiße Quadrate und männliche Bluter durch rote Quadrate dargestellt. Die Bluterkrankheit, eine rezessive Erbkrankheit, wird durch ein X-Chromosom sowohl durch Frauen als auch durch Männer übertragen. In etwa 50 Prozent der Fälle sind die Mutationen Alfonso v. Spanien Margarethe 1872–1954 Friedrich Karl v. Hessen 1868–1940 Alfred 1874–1899 Marie Ferdinand, 1875–1938 König v. Rumänien 1865–1927 Victoria Großherzog Melita Ernst 1876–1936 v. HessenDarmstadt, 1876–1938 Gonzalo v. Spanien Alexandra Ernst v. 1878–1942 HohenloheLangenburg Beatrice Alfonso v. 1884–1966 Spanien auf dem X-Chromosom durch spontane Mutationen in der Generation der Großeltern bzw. Eltern entstanden. Da Frauen zwei X-Chromosomen besitzen und für eine Erkrankung alle vorhandenen X-Chromosomen betroffen sein müssen, ist für Frauen die Wahrscheinlichkeit, an Hämophilie zu erkranken, erheblich geringer als bei Männern mit nur einem X-Chromosom. S_58_64_Oldenbourg.qxd 16.08.2003 13:09 Uhr Seite 62 Ein Modell für Mutationsforschung und Gentherapie ein Hauptgrund für die hohe Neumutationsrate und damit die relative Häufigkeit der Erkrankung. Da bei der Reifeteilung weiblicher Keimzellen die homologe Paarung der X-Chromosomen diese Rekombination erschwert, kommt die Intron-22-Inversion ganz überwiegend in männlichen Keimzellen vor. Dies ist einer der wesentlichen Gründe dafür, dass Hämophilie A hauptsächlich in den männlichen Keimzellen entsteht. Zusätzlich kommen auch Punktmutationen bevorzugt in den männlichen Keimzellen vor. Weitere wichtige Mutationstypen mit einem Anteil von jeweils 10 bis 15 Prozent sind sogenannte Nonsense-Mutationen, die zu einem Stop bei der Proteintranslation führen, Missense-Mutationen, bei denen es zum Austausch einer Aminosäure gegen eine andere kommt, und kleine Deletionen oder Insertionen, bei denen einzelne Nukleotide fehlen oder zusätzlich eingefügt werden. Andere Mutationstypen sind vergleichsweise seltene Ereignisse. Bei den weniger schweren Verlaufsformen kommen fast ausschließlich Missense-Mutationen vor. Bei etwa 1,5 Prozent der Patienten werden keine Mutationen im FVIII-Gen gefunden, daher nimmt man an, dass bei diesen Patienten entweder Mutationen in nicht kodierenden Bereichen vorliegen oder aber andere Gene betroffen sind, welche für Proteine kodieren, die mit FVIII zu irgendeinem Zeitpunkt interagieren. Mutationstyp und Risiken In den letzten Jahren zeigte sich, dass der Typ der Mutation ganz entscheidend ist für das Risiko der 62 Nicht alle Hämophilie-Patienten können mit Faktor VIII erfolgreich behandelt werden, bei etwa 20 bis 30 Prozent der Erkrankten wird das Protein durch körpereigene Antikörper desaktiviert. Dieses Hemmkörperrisiko steht in engem Zusammenhang mit der Mutationsgruppe. Bei den bisher identifizierten zehn Mutationsgruppen reicht das Risiko einer Hemmkörperbildung von 88 Prozent bei großen, mehrere Bereiche umfassenden Deletionen bis hinunter zu Splice siteMutationen mit 3 Prozent. Grafik: Oldenburg/Schwaab Hemmkörperbildung, welche heutzutage die schwerste Komplikation der Hämophiliebehandlung darstellt. Bei dieser Immunreaktion, die bei etwa 20 bis 30 Prozent aller schwer betroffenen Patienten auftritt, werden Antikörper gegen therapeutisch gegebenes körperfremdes FVIII-Protein gebildet, was dessen Neutralisierung zur Folge hat. Schwere molekulare Gendefekte bringen ein sieben bis zehnfach höheres Risiko mit sich als weniger schwere, obwohl alle mit einer klinisch schweren Verlaufsform der Hämophilie A einhergehen. Mittlerweile gibt es Ansätze zur Herstellung von Hybridmolekülen aus humanem und porcinem (vom Schwein) Faktor VIII, die bei weitgehend erhaltener Gerinnungsfunktion eine geringere Reaktivität mit FVIII-Antikörpern aufweisen. Natur hilft sich selbst Die Unterschiede in der Hemmkörperbildung entstehen, weil je nach Mutationstyp mehr oder weniger körpereigenes FVIII-Protein gebildet wird: Während FVIII z. B. bei großen Deletionen und Intron 22 Inversionen vollständig fehlt, wird mensch+umwelt spezial 16. Ausgabe 2003 bei anderen Mutationstypen, ein – wenn auch funktionsloses – FVIIIProtein gebildet. Offensichtlich reicht dieses körpereigene Protein aus, um bei solchen Patienten eine natürliche Immuntoleranz gegen den therapeutisch gegebenen Faktor VIII zu erzeugen. Eine wichtige Entdeckung war ein in der Natur vorkommender Reparaturmechanismus, der eher zufällig eine schwere Verlaufsform der Hämophilie A in eine leichtere überführt. Hierbei wird durch natürliche Fehler des Enzyms Polymerase bei kleinen Deletionen oder Insertionen innerhalb von zwei Serien von Adenin-Nukleotiden in Exon 14 die ursprüngliche Abfolge der Aminosäuren wieder hergestellt. Die beiden Serien von Adenin-Nukleotiden provozieren offensichtlich Fehler der Polymerase bei der DNA-Replikation und RNATranskription, die als „Slippage-Errors“ bezeichnet werden. Diese führen einerseits zur Entstehung der Mutationen, andererseits – falls bereits Mutationen vorhanden sind – aber auch zu einer kleinen Zahl von mRNA-Transkripten mit einer normalen Aminosäurenfolge. Durch diesen Polymerasefehler entsteht eine kleine Zahl funktions- S_58_64_Oldenbourg.qxd 16.08.2003 13:09 Uhr fähiger FVIII-Moleküle, welche sowohl das niedrige Hemmkörperrisiko bei diesem Mutationstyp erklären, als auch die klinische Erfahrung, dass einige Patienten trotz einer schweren Verlaufsform eine signifikant geringere Blutungsneigung als andere aufweisen. Hämophilie als Modell für die Gentherapie? Hämophilie ist heutzutage sehr gut behandelbar. Daher stellt die Erkrankung eigentlich nicht das ideale Modell für eine Gentherapie dar, und bei der Abwägung von Nutzen und Risiko muss eine Gentherapie bei einem Hämophilen besonders sicher und erprobt sein, um überhaupt zur Anwendung zu kommen. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass eine ausreichende Therapie für Hämophilie-Patienten aus Kostengründen weltweit nur für etwa 20 Prozent der Patienten verfügbar ist, die restlichen 80 Prozent haben eine deutlich verkürzte Lebenserwartung und angesichts mit dem Alter zunehmender Gelenkveränderungen auch eine verminderte Lebensqualität. Unter eher technischen Gesichtspunkten stellt die Hämophilie dagegen ein fast ideales Modell für eine Gentherapie dar: Krankheit, Gen und Protein sind exzellent cha- Seite 63 rakterisiert, es gibt zahlreiche gute Tiermodelle, und der Erfolg der Therapie ist sehr einfach und schnell anhand eindeutiger klinischer und leicht bestimmbarer Laborparameter nachzuweisen. Außerdem überführt bereits ein Anstieg der Gerinnungsfaktorenaktivität auf 2 bis 5 Prozent eine schwere Hämophilie in eine leichte Verlaufsform, was den Patienten unabhängig von einer prophylaktischen Substitutionstherapie machen würde. Dies ist verbunden mit einem deutlichen Gewinn an Lebensqualität und auch psychologisch wichtig, da früher viele Patienten über Gerinnungskonzentrate Infektionskrankheiten erworben haben, und diese auch jetzt wieder, zum Beispiel im Zusammenhang mit der neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung, in der Diskussion sind. Prinzip der Gentherapie Gegenwärtig können molekulare Defekte innerhalb des Faktor-VIIIGens nicht direkt repariert werden. Daher wird versucht, mittels verschiedener Gentransfersysteme (Vektorsysteme) intakte Gene für den fehlenden Gerinnungsfaktor zusätzlich in die entsprechenden Körperzellen zu integrieren. Meistens werden Viren als Vekto- Bei der Gentherapie wird ein intaktes Faktor-VIII-Gen entweder durch Viren in die chromosomale DNA einer Zelle integriert (oben) oder als extrachromosomale DNA in den Zellkern gebracht (unten). In beiden Fällen führt die Expression dieses Gens zum funktionsfähigen Protein. Grafik: Oldenburg/Schwaab ren genutzt. Je nach Wahl des Vektorsystems kann eine in-vivooder eine ex-vivo-Gentherapie sinnvoller sein. Im Falle einer invivo-Therapie wird der modifizierte virale Vektor zusammen mit dem integrierten Faktor-VIII-Gen direkt in den Menschen injiziert und dringt alleine in das Innere der Zellen ein. Sehr häufig werden die viralen Vektoren in die Blutbahn injiziert und wandern dann beispielsweise in Leberzellen ein. Bei einer ex-vivo-Gentherapie werden dem Organismus Zellen entnommen, in Zellkultur zur Teilung angeregt und während dieser Teilungsphasen mit dem modifizierten viralen Gentransfersystem behandelt. Das Gentransfersystem und damit das therapeutische Gen integrieren in das Erbmaterial einiger weniger Zellen. Diese Zellen werden anschließend isoliert, vermehrt und wieder in den menschlichen Organismus reimplantiert. Erste Erfahrungen mit Gentherapie Nachdem anhand von hämophilen Tiermodellen über zehn Jahre lang in der Summe erfolgreiche Erfahrungen in der Entwicklung verschiedener Möglichkeiten der Gentherapie gesammelt wurden, sind bisher fünf unterschiedliche Die Gentherapie kann prinzipiell durchgeführt werden, indem einem Patienten das Virus mit dem intakten Gen injiziert wird (in vivo, links). Es gelangt in die Leber. Dort erfolgt der Gentransfer in die Körperzellen. Eine andere Möglichkeit ist die Isolierung und Manipulation von Zellen außerhalb des menschlichen Körpers (ex vivo) mit anschließender Reimplantation (rechts). Grafik: Oldenburg/Schwaab 63 S_58_64_Oldenbourg.qxd 16.08.2003 13:09 Uhr Ein Modell für Mutationsforschung und Gentherapie klinische Studien von amerikanischen Behörden genehmigt worden. Alle waren klinische Studien der Phase I, das heißt, dass nur die Verträglichkeit des Vektorsystems untersucht wurde und daher die Dosis der Vektorsysteme so niedrig gewählt war, dass kein gentherapeutischer Effekt (also ein Anstieg der Aktivität des Gerinnungsfaktors im Blut) zu erwarten war. Für Hämophilie A brachten die Studien folgende Ergebnisse: Innerhalb der ersten klinischen Studie wurden sechs Patienten, die eine schwere Verlaufsform der Hämophilie A (Faktor-VIIIAktivität <1 Prozent) aufwiesen, ex vivo mittels eines normalen Expressionsplasmids behandelt. Als Expressionsplasmide werden kleine ringförmige DNA-Stücke bakteriellen Ursprungs bezeichnet, die sich unabhängig von der restlichen DNA vermehren können. Für die Behandlung wurden den Patienten Hautzellen (Fibroblasten) entnommen, in Zellkultur zur Teilung angeregt und während dieser Phase mit einem das Faktor-VIII-Gen enthaltenden Expressionsplasmid behandelt. Integrierten die Fibroblasten das Faktor-VIII-Gen in ihr Erbmaterial, wurden sie in die Bauchhöhle injiziert. Obwohl aufgrund der niedrigen Dosis der Vektorsysteme ursprünglich keine Zunahme der Aktivität erwartet worden war, zeigten vier der Patienten einen Anstieg der Faktor-VIII-Aktivität auf über ein Prozent (ein Patient bis zu vier Prozent); diese erhöhte Aktivität hielt über mehrere Monate hinweg an. In der zweiten klinischen Studie wurden 13 Patienten mit schwerer Hämophilie-A intravenös mit unterschiedlichen Konzentrationen eines Retrovirus/ Faktor-VIII-Konstruktes behandelt. Aufgrund der guten Durchblu- 64 Seite 64 tung der Leber gelangen die meisten Vektorkonstrukte in die Leberzellen, welche auch den natürlichen Ort der Synthese von Gerinnungsfaktoren darstellen. Von elf in der Studie verbliebenen Patienten zeigten sechs Patienten kurzzeitig Faktor-VIII-Aktivitäten über ein Prozent. Eine dritte Studie, die nur bei einem Hämophilie-A-Patienten durchgeführt wurde, verwendete als Vektor eine neue, modifizierte Form von Adenoviren, die besonders gut verträglich sein soll. Jedoch führte die direkte Injektion in die Blutbahn des Patienten vorübergehend zu starkem Fieber, einer Leberentzündung und einem Abfall der Thrombozyten (Blutplättchen). Trotz dieser Nebenwirkungen blieb die Faktor-VIIIAktivität über mehrere Monate konstant bei über ein Prozent nachweisbar. Dennoch wurde die Studie aus verständlichen Gründen zunächst gestoppt. Die genannten GentherapieProtokolle, einschließlich der beiden Hämophilie-B-Studien, haben gezeigt, dass die Gentherapie der Hämophilie ohne schwerwiegende Nebenwirkungen möglich ist und sich bei entsprechender Dosissteigerung des Vektors auch therapeutische Faktorenspiegel erreichen ließen. Allerdings war der therapeutische Effekt zeitlich sehr begrenzt. Da diese Studien keine längerfristigen therapeutischen Effekte versprachen, wurde keines der Protokolle in eine Klinische Studie Phase II überführt. Bei neueren Protokollen wird einem längerfristigen Therapieeffekt eine sehr hohe Priorität eingeräumt, insbesondere auch, da unklar ist, wie oft sich eine Gentherapie bei dem selben Patienten wiederholen lässt. Perspektiven Trotz der vielen Anstrengungen, die in den vergangenen Jahren unternommen wurden, existiert heute noch keine für die Routinebehandlung der Hämophilie geeignete Gentherapie. Gegenwärtig haben adeno-assoziierte Viren das größte Potential, als Vektor mensch+umwelt spezial 16. Ausgabe 2003 für eine erfolgreiche Gentherapie eingesetzt zu werden. Diese nicht pathogenen Viren, die beim Menschen häufig auftreten, sind bei Ihrer Vermehrung auf die Hilfe von Adeno- oder Herpesviren angewiesen. Zukünftig wird die Entwicklung der Vektorsysteme dahin gehen, die positiven Eigenschaften der unterschiedlichen viralen und auch nicht-viralen Vektorsysteme miteinander zu kombinieren. Ein weiteres Problem sind Immunreaktionen gegen gentherapeutisch hergestellte Faktor-VIIIProteine. Bisher gibt es keinen Ansatz, der die Bildung von Antikörpern gegen das therapeutische Protein – und damit die Neutralisierung seiner Wirksamkeit – verhindert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in den letzten Jahren zwar kontinuierlich Fortschritte erzielt wurden, aber noch einige Zeit vergehen wird, bis eine der Substitutionstherapie vergleichbare, sichere Gentherapie für die Hämophilie verfügbar ist. Wir gehen davon aus, dass die Gentherapie mit einem mittelfristigen Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren eine feste Behandlungsoption für erwachsene HämophiliePatienten werden wird. Bei der Behandlung von hämophilen Kindern ist eher mit einem Zeithorizont von zehn bis 20 Jahren zu rechnen. Literaturhinweise: Klopp, N., Oldenburg, J., Uen, C., Schneppenheim, R., Graw, J.: (2002) 11 haemophilia A patients without mutations in the FVIII encoding gene. Thromb. Haemost. 88: 357–360 Oldenburg, J., Schwaab, R.: (2001) Molecular biology of coagulation factors. Semin. Thromb. Hemost. 27:313-324 Schwaab, R., Oldenburg, J.: (2001) Gene therapy of hemophilia. Semin. Thromb. Hemost. 27: 417-424 Oldenburg, J., Albert, T., Brackmann, H.H., Schwaab, R.: (1998) Molekulare Grundlagen der Hämophilie A. Hämostaseologie; 18:107–120