Hyperaktivität und Schizophrenie : eine explorative Studie

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4. Diskussion
Im Rahmen dieser explorativen Studie wurde die Hypothese untersucht,
ob es bei einer bestimmten Gruppe sehr schwierig zu behandelnder Patienten aus dem schizophrenen Formenkreis Hinweise auf eine kindliche
Hyperaktivitätsstörung gibt, und ob die mögliche Persistenz dieser
Störung die enormen Schwierigkeiten bei der Behandlung dieser
Patienten mit verursachen und erklären könnte.
Zum Vergleich dieser untersuchten Patientengruppe (N=6), bei der neben
einer schizophrenen Störung nach ICD-10 auch Hinweise auf eine
Hyperaktivitätsstörung
Kontrollgruppe
nach
(N=20)
DSM-IV
untersucht.
Bei
vorlagen,
den
wurde
Untersuchten
eine
der
Kontrollgruppe lag ebenso eine Störung aus dem schizophrenen
Formenkreis nach ICD-10 vor, es fanden sich aber keine Hinweise auf
eine Hyperaktivitätsstörung im Kindesalter.
Im Folgenden soll zunächst auf die Charakteristika der untersuchten Patientengruppe eingegangen werden; in diesem Zusammenhang wird auch
ein Überblick über die Studienlage hinsichtlich der Koinzidenz einer Hyperaktivitäts- und schizophrenen Störung gegeben. Daran anschließend
wird, ausgehend von neurobiologischen Untersuchungen, ein möglicher
biologischer Zusammenhang dieser beiden Störungen skizziert, der zumindest die vorliegenden charakteristischen Symptome erklären könnte.
Abschließend soll zusammenfassend neben der kritischen Diskussion
dieser
Arbeit
ein
Ausblick
auf
diagnostische
Möglichkeiten,
therapeutische Perspektiven bei der Behandlung dieser Patienten und ein
mögliches Behandlungsziel gegeben werden.
60
4.1. Charakteristika der untersuchten Patienten und zur Koinzidenz
einer Hyperaktivitäts- und schizophrenen Störung
Bislang wurde das gemeinsame Vorliegen einer Hyperaktivitätsstörung
und einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis in der wissenschaftlichen Literatur kaum diskutiert. In den Studien von Gittelman
(1985) und Weiss (1985) war etwa das Vorliegen einer Hyperaktivitätsstörung nicht als Risikofaktor für eine schizophrene Störung im Erwachsenenalter zu belegen. Auf der anderen Seite können auch, wie Done et
al (1994) zeigten, anamnestische Hinweise auf “social maladjustment“
(sozi-ale Fehlanpassung) in der Kindheit mit Verhaltensauffälligkeiten,
wie aggressiven Verhaltensweisen, Impulsivität, Unaufmerksamkeit,
Ängstlichkeit und Rückzugstendenzen, als Prodromi einer sich im
Adoleszenten-
oder
frühen
Erwachsenenalter
manifestierenden
schizophrenen Störung verstanden werden. Letzteres kann dazu führen,
dass mögliche Vorliegen einer kindlichen Hyperaktivitätsstörung bei
Patienten mit Schizophrenien anamnestisch nicht mehr gesondert zu
überprüfen; eine mögliche Hyperaktivitätsstörung kann daher bei
Patienten mit Schizophrenien leicht übersehen werden (Elman et al
1998).
Neben diesen Argumenten, welche die bislang in der Forschung kaum
beachtete Koinzidenz einer persistierenden Hyperaktivitätsstörung und
einer Schizophrenie begründen können, gibt es wenige kleinere Studien,
vorwiegend Falldarstellungen, in denen dieser Sachverhalt untersucht
wurde.
Darüber hinaus wurde neben der genannten Koinzidenz einer Hyperaktivitäts- und schizophrenen Störung von Bellak et al (1987) auch eine isolierte “ADHS-Psychose“ beschrieben, die sich hinsichtlich der
Symptome von einer schizophrenen Störung, die bei den in der
vorliegenden Studie Untersuchten vorlag, deutlich unterscheidet. So ist
nach Bellack et al (1987) die ADHS-Psychose durch geringe und nur
61
kurzdauernde Halluzinationen und Verkennungen charakterisiert, die bei
Schizophrenen in der Regel systematisiert über längere Zeiträume
bestehen. Darüberhinaus können bei der ADHS-Psychose auch
kurzzeitig formale und inhaltliche Denkstörungen bestehen, wobei diese
weder qualitativ noch quantitativ das Ausmaß der Denkstörungen bei
Schizophrenen erreichen. Der Verlust der Impulskontrolle ist bei der
ADHS-Psychose reaktiv und kurzanhaltend, weiterhin besteht eine auf
klare Auslöser bezogene und darauf begrenzte Irritabilität (Bellack et al
1987).
Bei den von uns untersuchten Patienten bestand ein chronischer Verlauf,
Halluzinationen, formale und inhaltliche Denkstörungen, Impulsivität
und bizarre stereotype Verhaltensweisen, die weit über das von Bellack
et al (1987) beschriebene Ausmaß der ADHS-Psychose hinausgehen.
Von Huey und Zetin et al (1978) wurde ein Fall mit „minimaler
cerebraler Dysfunktion“ (MCD) und Schizophrenie beschrieben, bei dem
sich eine isolierte Behandlung mit Antipsychotika, unter dem Verdacht
auf das Vorliegen einer chronisch paranoiden Schizophrenie, als
ineffektiv erwies; nach Gabe von Stimulantien remittierte in diesem Fall
die psychotische Symptomatik weitgehend. Ebenso untersuchten Pine et
al
(1993)
zwei
Fälle
mit
auf
konventionelle
Antipsychotika
(Chlorpromazin, Haloperidol) therapieresistenten Psychosen und ADHS,
die nach Behandlung mit Stimulantien, Lithium und Antidepressiva
hinsichtlich der psychotischen Symptomatik beschwerdefrei waren.
Kritisch angemerkt sei an dieser Stelle, dass die diagnostischen Kriterien
einer schizophrenen Störung in diesen Fällen nicht angegeben wurden;
die beiden letztgenannten Fälle wurden in den Falldarstellungen global
als
„Psychose“
bezeichnet,
im
ersten
Fall
wurde
von
der
Erstmanifestation einer minimalen cerebralen Dysfunktion (ein heute
nicht mehr gebräuchlicher Begriff mit breitem Überlappungsbereich mit
ADHS; vergleiche dazu Einführung) im Erwachsenenalter ausgegangen.
62
Elman et al (1998) untersuchten 37 Patienten, die nach DSM-III-R die
Kriterien einer Schizophrenie und Hyperaktivitätsstörung erfüllten, im
Vergleich zu einer Kontrollgruppe (N=40), bei der nach DSM-III-R ausschließlich eine schizophrene Störung vorlag. In dieser Arbeit konnten
signifikante Unterschiede der beiden untersuchten Gruppen dargestellt
werden. Unter anderem erwies sich als charakteristisch für die Untersuchungsgruppe männliches Geschlecht, früher Krankheitsbeginn, sogenannte neurologische “soft signs“, wie Koordinationsstörungen, eine längere Hospitalisationsdauer, schlechteren Response auf typische Antipsychotika und ein schlechteres Outcome hinsichtlich der sozialen Wiedereingliederung. Bis auf den signifikant früheren Krankheitsbeginn
konnten diese Charakteristika in der vorliegenden Studie, bei der
untersuchten Patientengruppe, bei der eine schizophrene Störung nach
ICD-10 und eine Hyperaktivitätsstörung nach DSM-IV vorlag, bestätigt
werden.
In der von uns untersuchten Patientengruppe lagen, soweit sich das zurückverfolgen ließ, in der Kindheit Symptome wie motorische Unruhe,
geringes
Konzentrations-
und
Durchhaltevermögen
sowie
auch
aggressive Verhaltensweisen vor. Zu keinem Zeitpunkt erlebten die
befragten Bezugspersonen bei dem Betreffenden im Kindesalter eine
Wesensveränderung, die auf eine kindliche Schizophrenie hindeuten
könnte. So galten diese Kinder, bei denen die Fremdanamnese erhoben
werden konnte (Fälle A, D, E, F) in ihrem sozialen Umfeld nahezu
durchgängig als laut, unruhig, ungeduldig, zerstörerisch, kontaktscheu
und auch zurückgezogen, wie es für Kinder mit ADHS typisch (aber
nicht pathognomonisch) ist.
Das Vorliegen einer kindlichen Hyperaktivitätsstörung nach DSM-IV
und ICD-10 ergab sich aus der Eigen- und Fremdanamnese sowie aus
den
Wender-Utah-Rating-Skalen,
dem
WURS-25
Selbstbeurteilungsbogen und der Parents-Rating-Skala (PURS).
63
Der
WURS-25
Selbstbeurteilungsbogen,
der
zur
retrospektiven
Erfassung einer kindlichen Hyperaktivitätsstörung eingesetzt wird, wurde
bislang bei Patienten mit Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis
nicht angewendet, da Wender ursprünglich annahm, dass die WURS bei
schizophrenen Störungen nicht zu reliablen Ergebnissen führen würde
(Wender 1995). Außerdem wurde eine Komorbidität dieser Störungen
zunächst nicht angenommen.
In unserer Schizophrenie-ADHS Gruppe und auch bei den Probanden der
Kontrollgruppe lag der Erkrankungsbeginn der schizophrenen Störung
im späteren Adoleszenten- und Erwachsenenalter mit typischen
„Erstrangsymptomen“. So bestanden formale Denkstörungen, akustische
Halluzinationen,
Verkennungen,
Verfolgungs-
und
Beeinflussungserleben und affektive Verflachung. Darüber hinaus lag bei
allen ein chronischer Verlauf vor, was im Gegensatz zu der oben
genannten ADHS-Psychose steht, bei der ebenfalls diese Symptome,
allerdings nur für sehr kurze Zeit und nicht so ausgeprägt, bestehen
können (Bellak 1987).
Das klinische Bild charakterisierten weitere Symptome, wie etwa stereotype und impulsive Verhaltensweisen, persistierende Unruhe und ausgeprägte extrapyramidale Symptome, die sich nach Gabe typischer hochund niederpotenter Antipsychotika verstärkten, sowie erheblicher
Beikonsum
von
Benzodiazepinen,
Anticholinergika
(Akineton®-
Craving) und auch illegaler Stimulantien. Der „Beikonsum“ wurde von
den Patienten vielfach als beruhigend erlebt und führte zu einer
Reduktion der Unruhe und der extrapyramidalen Symptome, andererseits
nahm die psychotische Symptomatik häufig zu. Diese Konstellation
führte zu der Hypothese, dass diese Gruppe schizophrener Patienten
zusätzlich unter einer persistierenden ADHS leiden könnte, da
Erwachsene
mit
ADHS,
die
aus
anderen
Gründen
dopaminantagonisierende Substanzen erhalten, in der Regel mit starken
Nebenwirkungen reagieren und unter Erwachsenen mit Kokainmissbrauch eine ADHS gehäuft anzutreffen ist. Im Vergleich der
64
untersuchten
Gruppen
lagen
diese
Symptome
nicht
bei
der
Kontrollgruppe (N=20) vor, wohingegen sie das klinische Bild der
Untersuchungsgruppe (N=6) prägten.
Zusammenfassend kann vorsichtig geschlussfolgert werden, dass unsere
Befunde dafür sprechen, dass die Patienten unserer Untersuchungsgruppe
wahrscheinlich eine persistierende ADHS aufwiesen. Es scheint auch so
zu sein, dass das Vorliegen einer ADHS den Verlauf und das Outcome
einer schizophrenen Störung erheblich negativ beeinflussen kann. Im Ergebnis war bei allen Patienten aus der Untersuchungsgruppe (N=6) eine
befriedigende medikamentöse Behandlung und soziale Wiedereingliederung (d.h. allein oder betreutes Wohnen, regelmäßige ambulante ärztliche
Kontakte, regelmäßige Beschäftigung) bislang nicht gelungen. Im
Gegensatz dazu lebten zum Untersuchungszeitpunkt alle Untersuchten
der Kontrollgruppe in einer stabilen sozialen Situation (vergleiche auch
3.4.2.5).
Schizophrene Patienten mit ADHS-Anamnese sind offenbar auch extrem
häufig in stationärer Behandlung und brechen diese häufig ohne Rücksprache ab, was als Zeichen ihrer verstärkten Impulsivität gewertet werden kann. In vielen Fällen kam es bei unseren Patienten zu Polizei- und
Notarzteinsätzen und Einschalten juristischer Instanzen; diese Aspekte
wurden in der vorliegenden Untersuchung aber nicht systematisch
erfasst. In der Summe ist diese Situation nicht nur therapeutisch
unbefriedigend, sondern auch - ökonomisch betrachtet - teuer.
4.2. Neurobiologische Hypothesen
Die nun folgenden Hypothesen erheben nicht den Anspruch einer eindeutigen neurobiologischen Erklärung, die das Zusammentreffen von
Schizophrenien und ADHS erklärt. Vielmehr soll - ausgehend von den
bekannten Ergebnissen aus neurobiologischen Untersuchungen - ein
65
möglicher Zusammenhang von ADHS und Schizophrenien skizziert
werden, der einen Teil der klinischen Symptome bei den von uns
untersuchten Patienten erklären könnte.
Sowohl für die Schizophrenien als auch für die Hyperaktivitätsstörung
gibt es bislang kein eindeutiges neurobiologisches und neurochemisches
Modell. Bei beiden Erkrankungen wird jedoch dem dopaminergen
System
eine
zentrale
Rolle
eingeräumt
(Castellanos
1997;
Dougherty1999; Ernst 1998; Hunt 1997).
Innerhalb des dopaminergen Systems werden vier verschiedene Systeme,
das mesolimbische und mesocorticale System sowie das nigrostriatale
und tuberoinfundibuläre System unterschieden (Stahl 2000).
Das mesolimbische System umfasst Verbindungen vom ventralen Tegmentum zum Nucleus accumbens, einem Teil des limbischen Systems,
welches als anatomisches Substrat des affektiven Erlebens und des Affektausdrucks betrachtet wird. Zwischen der Aktivität dieses Systems
und
dem
Vorkommen
von
akustischen
Halluzinationen
und
Denkstörungen, den positiven Symptomen bei schizophrenen Störungen
wird ein Zusammenhang angenommen (Stahl 2000). Ausgegangen wird
dabei von einer dopaminergen Überaktivität in diesem Bereich.
Das mesocorticale System geht vom Tegmentum des Mittelhirnes aus,
projiziert zum frontalen Cortex sowie insbesondere in das limbische System. Die dopaminerge Unteraktivität in diesem Bereich soll bei schizophrenen
Psychosen
die
Negativ-Symptomatik,
nämlich
Affektverflachung, Alogie, Apathie und Anhedonie verursachen. Die in
diesem Zusammenhang und auch bei den Hyperaktivitätsstörungen
vorkommenden Aufmerksamkeitsstörungen werden ebenfalls auf eine
dopaminerge Unteraktivität in diesem Bereich zurückgeführt (Stahl
2000).
66
Das nigrostriatale System projiziert ausgehend von der Substantia nigra
in das Corpus Striatum (Nucleus caudatus, Putamen, Nucleus
lentiformis).
Dopaminmangel,
bzw.
die
Blockade
der
Dopaminrezeptoren in diesem Bereich durch Antipsychotika verursacht
ein Parkinson Syndrom, das sich klinisch durch Tremor, Rigor und
Hypo-, bzw. Akinese zeigt. Eine dopaminerge Überaktivität in diesem
Bereich führt zu hyperkinetischen Bewegungsstörungen, wie sie bei der
Chorea Huntington und wahrscheinlich bei Tic- und in analoger Weise
möglicherweise auch bei den Hyperaktivitätsstörungen vorliegen.
Das tuberoinfundibuläre System steuert über Dopamin die Prolaktinsekretion. Die Blockade der Dopaminrezeptoren in diesem System führt
zu Prolaktinfreisetzung und damit unter anderem zur Galaktorrhoe, einer
unerwünschten Nebenwirkung im Rahmen der neuroleptischen Behandlung.
Bei der Hyperaktivitätsstörung wird von einer Dopaminüberaktivität im
nigrostriatalen System ausgegangen, welche die Hyperaktivität und Impulsivität verursacht (Castellanos 1997). Gleichzeitig besteht aber auch
möglicherweise eine mesocorticale Unteraktivität im dopaminergen System, welche, analog der Befunde bei schizophrenen Patienten, Aufmerksamkeit- und Konzentrationsstörungen verursacht. So konnte Castellanos
(1997) bei nicht behandelten Jungen mit ADHS, im Liquor erhöhte Spiegel für Homovanillinmandelsäure (HVA), dem Abbauprodukt von Dopamin, nachweisen, welche nach Gabe von Stimulantien abfielen. Er führte
dies im Sinne eines Regelkreises auf ein Dopamindefizit im
mesocorticalen System zurück, welches einen Dopaminüberschuß im
nigrostriatalen System zur Folge hat. Analog zu diesem Befund zeigten
Dougherty et al (1999) eine um 70% erhöhte Konzentration des
Dopamin-Transporters, der den Reuptake des Dopamins präsynaptisch
reguliert, im Bereich des Striatums bei Erwachsenen mit ADHS im
Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe.
67
Ernst et al. (1998) wiesen mittels Positronemissionstomographie bei Kindern mit Hyperaktivität eine Erniedrigung der striatalen und präfrontalen
Dopa-Decarboxylaseaktivität
nach,
die
durchaus
Resultat
eines
Dopaminüberschusses (striatal) oder einer verminderten Synapsendichte
(präfrontal) sein kann. Dieses Ergebnis konnte bei Erwachsenen mit
ADHS jedoch nicht reproduziert werden. Bei Erwachsenen mit ADHS
konnte darüber hinaus von dieser Arbeitsgruppe keine Erhöhung der
HVA im Liquor nachgewiesen werden, was auf eine modifizierte pathophysiologische Grundlage der persistierenden ADHS im Vergleich zu
den Ergebnissen bei Kindern hinweist (Ernst et al 1997).
Innerhalb der normalen ontogenetischen Entwicklung nimmt postnatal
physiologischerweise die Dichte der D1- und D2-Rezeptoren im Striatum
zunächst zu, während der Adoleszenz nimmt die Anzahl dieser Rezeptoren, bzw. die Rezeptorendichte bis auf etwa 40% ihres Ausgangsniveaus
ab (Seeman 1987). Am Rattenmodell konnten Anderson und Teicher
(2000) zeigen, dass die striatale Zunahme von D2-Rezeptoren bei
männlichen Gehirnen postnatal stärker ausgeprägt war als bei weiblichen
Gehirnen. Während der Adoleszenz nahm die Dichte dieser Rezeptoren
bei männlichen Gehirnen wesentlich stärker ab als bei weiblichen
Gehirnen. Dieser Befund kann das 3-4 mal häufigere Vorkommen der
motorischen Symptome der ADHS beim männlichen Geschlecht sowie
deren Remission in der Adoleszenz begründen. Das Ausbleiben der
physiologischen Rezeptorenabnahme während der Pubertät könnte
umgekehrt die Persistenz der Hyperaktivitätsstörung erklären.
Angenommen werden könnte in diesem Zusammenhang bei den von uns
untersuchten Patienten das Ausbleiben der physiologischen „Degeneration“ der D1- und D2-Rezeptoren des nigrostriatalen dopaminergen Systems. Die Blockade von Dopaminrezeptoren führt zu einer verstärkten
Ausschüttung
von
Acetylcholin,
welches
die
Entstehung
der
Extrapyramidalsymptome mitverursacht (Stahl 2000). Wenn nun mehr
D1- und D2-Rezeptoren vorlägen, was wir hier bei den von uns
untersuchten Patienten hypothetisch annehmen, würde die Blockade
68
dieser Rezeptoren zu einem „acetylcholinergen Überschuss“ führen. Dies
könnte zumindest für unsere Fälle die ausgeprägten Nebenwirkungen,
wie die Extrapyramidalsymptome und die Akathisie, welche die
Patienten auf Gabe von typischen Antipsychotika entwickelten und den
hohen Beikonsum anticholinerg wirkender und sedierender Substanzen
sowie den ausgeprägten Beikonsum von Kokain erklären.
Hinsichtlich der zuletzt genannten Substanz konnten Volkow et al (1997)
nachweisen, dass bei Blockade von ca. 70% des Dopamintransportersystems durch Kokain ein subjektiver „High-Effekt“ eintritt. Die
Blockade des Dopamintransportersystems führt zu einer Reduktion der
präsynaptischen Dopaminwiederaufnahme und somit zu einer Erhöhung
des Dopamins im synaptischen Spalt, damit wird parallel die
Acetycholinausschüttung
vermindert.
Die
Einnahme
von
Anticholinergika („Akineton-Craving“) und Kokain führte bei unseren
Patienten einerseits zu einer subjektiven Beruhigung sowie zu einer
Reduktion
der
motorischen
Unruhe
und
offenbar
auch
der
Extrapyramidalsymptome, andererseits verstärkte sich aber auch,
insbesondere nach Kokaineinnahme, die psychotische Symptomatik. Die
Verstärkung der psychotischen Symptomatik ist der kokaininduzierten
Dopamintransporterblockade und dem folgenden „Dopaminüberschuß“
zuzurechnen.
Die
damit
einhergehende
Reduktion
der
Extrapyramidalsymptome ist Effekt der aus der Kokaineinnahme
resultierenden Verminderung der acetylcholinergen Ausschüttung.
4.3. Fazit und Ausblick
Ziel der vorliegenden Arbeit war die Überprüfung der Hypothese, ob es
bei einer bestimmten Gruppe schwierig zu behandelnder Patienten mit
Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis Hinweise auf eine
frühkindliche Hyperaktivitätsstörung und Persistenz der Störung in das
Erwachsenenalter gibt, die den Verlauf der schizophrenen Störung
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erheblich negativ beeinflusst. Die Komorbidität von ADHS und
Schizophrenie, so die hier vertretene Hypothese, ist durch eine Reihe
schwerwiegender
Verhaltensstörungen
gekennzeichnet,
die
die
Behandlung dieser Patienten extrem erschwert.
Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung konnte gezeigt werden, dass
bei der untersuchten Patientengruppe retrospektiv anamnestisch sowie,
die Hypothese stützend, mittels Erhebung der Wender-Utah-RatingSelbst- und Fremdbeurteilungsskala eine Hyperaktivitätsstörung im Kindesalter wahrscheinlich gemacht werden kann. Die Erhebung der Brief
Psychiatric Rating Scale, der Barnes-Akathisie-Skala und der Vergleich
beider Gruppen hinsichtlich der „typischen Symptome“ dienten der Objektivierung der zum Untersuchungszeitpunkt vorliegenden klinischen
Symptomatik. In der untersuchten Patientengruppe konnte im Vergleich
zur untersuchten Kontrollgruppe, trotz Behandlung (mit typischen hochund niederpotenten Antipsychotika), eine stärkere Ausprägung der psychotischen
Symptomatik,
eine
höhere
Nebenwirkungsrate
antipsychotisch wirksamer Medikamente sowie eine deutlich stärkere
Ausprägung der für diese Patientengruppe charakteristischen Symptome
(vergleiche auch 3.4.3.7. ff ) aufgezeigt werden.
Die Wender Skalen dienten einerseits dazu, die erhobene Anamnese hinsichtlich des Vorliegens einer möglichen Hyperaktivitätsstörung zu stützen. Andererseits war für den Untersucher auch die Frage, ob die Selbstbeurteilungsskala bei der Befragung schizophrener Patienten als Objektivierungsinstrument eingesetzt werden kann, von hohem Interesse.
Gezeigt werden konnte zum einen, dass eine hohe Korrelation in der
Selbst- und Fremdeinschätzung vorliegt. Zum anderen erwiesen sich
beide Skalen als retrospektive Objektivierungsinstrumente brauchbar, die
Anamnese positiv stützend; so dass beide Skalen, nach weiterer
klinischer Prüfung, als Screening-Instrumente bezüglich des Vorliegens
einer Hyperaktivitätsstörung auch bei schizophrenen Patienten eingesetzt
werden könnten. Leider war es nur bei einem Teil der Patienten möglich,
beide Skalenwerte zu erhalten.
70
Die zuvor dargestellten Ergebnisse sind Resultate einer explorativen Studie. Auch wenn in dieser Untersuchung die studienveranlassende und leitende Frage positiv beantwortet werden kann, so ist die Patientenzahl
zu klein, um eine eindeutige Aussage zu treffen. Darüberhinaus fehlte
eine
neuropsychologische
Untersuchungszeitpunkt
Testung,
bestehende
welche
die
zum
Aufmerksamkeitseinschränkung
objektiviert hätte. Auch sind einzelne Ergebnisse bezogen auf ihre
Aussage hinsichtlich der gesamten Arbeit kritisch zu bewerten. So
relativiert
die
Tatsache,
dass
das
Patientenkollektiv
zum
Untersuchungszeitpunkt kränker als das Kontrollkollektiv war (gemessen
am Psychopathologie Score der BPRS), die Vergleichbarkeit der
untersuchten Kollektive. Darüberhinaus werfen insbesondere die
signifikant höheren Scores in den Bereichen Feindseligkeit, Aktivierung
und Denkstörungen die Frage nach der inhaltlichen Richtigkeit der
erhobenen Daten, insbesondere der Selbstbeurteilung, auf. In dieser
Skala ergaben sich insbesondere für den Bereich der Denkstörungen
signifikant höhere Scores für die Untersuchungsgruppe, die sich bei
näherer Betrachtung aus den höheren Scores in den Items Größenideen
und Halluzinationen ergaben (vergl. 3.4.3.8.2.1). Das Ausmaß der
Symptomatik war jedoch, gemessen an den jeweiligen Medianen, nicht
so stark ausgeprägt, dass es die Interviewfähigkeit der untersuchten
Patienten in Frage gestellt hätte. Für den Bereich Aktivierung ergab sich
bei der Analyse des entsprechenden Subskala für das Item Erregung eine
signifikante Differenz, die nur mäßig stark ausgeprägt war, folglich
symptomatisch von Bedeutung ist, jedoch nicht die Durchführbarkeit der
Untersuchung
erheblich
beeinträchtigte.
Zumal
auch
mit
der
Kovarianzanalyse gezeigt werden konnte, dass die Schwere der
Psychopathologie gemessen an der BPRS keinen signifikanten Einfluss
auf den Gruppenunterschied in der Selbstbeurteilung hatte (vergl.
3.4.3.9.). Weiterhin sind auch die eingesetzten Skalen zur Erfassung der
ADHS bei schizophrenen Patienten bislang nicht validiert, was ebenfalls
die Aussagekraft dieses Designs limitiert.
71
Hinsichtlich des Behandlungsansatzes sind bei diesen Patienten die Verringerung der stationären Aufnahmen und die soziale Integration vorrangige Ziele. Vorraussetzung dazu ist auch eine differenzierte medikamentöse Behandlung. Bei den untersuchten Patienten konnte gezeigt werden,
dass sie, im Gegensatz zu der Kontrollgruppe, auf die Behandlung mit
klassischen Antipsychotika mit erheblichen Unverträglichkeitsreaktionen
reagieren. Insofern ist ein frühzeitiger Einsatz von atypischen
Antipsychotika,
welche
nicht
zu
einer
weitgehenden
oder
ausschließlichen Blockade von Dopamin D1- und D2-Rezeptoren führen,
indiziert.
Neben dem Ziel einer möglichst optimalen medikamentösen Behandlung
sollten auch sozialpsychiatrische Ziele formuliert werden. Sicher ist das
Führen eines möglichst eigenständigen Lebens in einem selbstgewählten
Umfeld ein wünschenswertes Ziel. Wenn das nicht erfüllt werden kann,
weil der betreffende Patient nicht die gesundheitlichen, sozialen und
auch finanziellen Vorraussetzungen dazu hat, wäre ein fester Wohnsitz,
stabile soziale Kontakte und ein regelmäßiger ambulanter ärztlicher
Kontakt das nächstkleinere Ziel. Bei den untersuchten Patienten ist aber
auch dieses Ziel kaum erreichbar. Die Sicherung der regelmäßigen
Einnahme verträglicher Medikamente, die Reduktion der Anzahl der
stationären Behandlungen, die Verminderung von Notarzteinsätzen (oft
auch wegen einer Biperidenintoxikation) und die Verringerung des
Beikonsums
illegaler
Drogen,
auch
wegen
der
Gefahr
von
Sekundärerkrankungen, sind bei der Patientengruppe wesentliche,
wünschenswerte und auch nicht ganz unrealistische Ziele.
Das vorrangige Ziel aber ist die Früherkennung. So ist beim psychiatrischen Erstkontakt auf das mögliche Vorliegen einer Hyperaktivitätsstörung im Kindesalter und deren mögliche Persistenz zu achten. Dies
insbesondere dann, wenn frühe Delinquenz, Drogen- und Stimulantienmissbrauch und Unruhe etc. vorliegen.
72
Beide Erkrankungen, sowohl die Hyperaktivitätsstörung als auch die
Gruppe der Schizophrenien, haben eine hohe gesellschaftliche und gesundheitsökonomische Relevanz. Mit einem geschätzten Vorkommen der
Hyperaktivitätsstörung von ca. 2 bis 10% und der Inzidenz von 1-3% bei
Schizophrenien, erfordern beide Erkrankungen einen hohen Einsatz. So
lag allein in Deutschland der 1999 der Umsatz des Medikaments
Ritalin®, das zur Behandlung der Hyperaktivitätsstörung verwendet
wird, bei etwa 12,9 Millionen Euro (Thimm 2002). Die durch
Schizophrenien verursachten Gesamtkosten wurden für 1998 grob auf
zwischen 8,5 und 18 Milliarden DM geschätzt. Der Anteil der
Medikamentenkosten an den Gesamtbehandlungskosten betrug dabei 26% (Kissling 1999).
Die Koinzidenz dieser beiden Störungen ist möglicherweise selten, die
Prävalenz liegt bei Unabhängigkeit beider Erkrankungen – konservativ
geschätzt – etwa bei 0,02%, wenn für die Hyperaktivitätsstörung eine
20%ige Persistenz in das Erwachsenenalter (bezogen auf das
Vorkommen von 10%) und für die Schizophrenie eine Prävalenz von 1%
angenommen wird. Wenn eine Koinzidenz beider Störungen vorliegt, ist,
wie aus den Falldarstellungen hervorgeht, der therapeutische und
ökonomische Aufwand, der bei solchen Krankheitsverläufen entsteht,
sehr hoch. Schon das allein macht gezielte weitere Untersuchungen, die
zu verbesserten Behandlungskonzepten bei diesen Patienten führen,
notwendig. Die Frage, ob es sich um mehr als ein zufälliges
gemeinsames Auftreten beider Störungen handelt, oder eine ADHS sogar
zu einer schizophrenen Störung disponiert, wie neurobiologisch
hypothetisch denkbar, kann anhand dieser Arbeit nicht beantwortet
werden. Diesbezüglich wären weitere mit neurobiologischen Parametern
korrelierte Untersuchungen erforderlich.
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