Antidepressiva - Hilfe für die kranke Seele - Schlosspark

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PHARMAZEUTISCHE ZEITUNG
Ausgabe 3/2015
Antidepressiva
Hilfe für die kranke Seele
Von Annette Mende, Berlin / Nur eine Minderheit der Patienten mit
behandlungsbedürftiger Depression wird gemäß den aktuellen Standards therapiert.
Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon ist der Widerstand, den viele Patienten gegen
die Behandlung leisten. Er richtet sich insbesondere gegen die eingesetzten
Medikamente.
»Lediglich 10 bis 20 Prozent der depressiven Patienten in Deutschland erhalten eine adäquate
Therapie«, sagte Thomas Müller-Rörich, erster Vorsitzender der Depressionsliga, beim
Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und
Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin. Diese eklatante Unterversorgung liegt sicher auch an
der immer noch vorhandenen Stigmatisierung der Erkrankung und dem Mangel an
Psychotherapieplätzen. Doch »selbst wenn es gelänge, das Bild von der Depression als das
einer Krankheit wie jede andere in der Gesellschaft zu etablieren und eine ideale
Versorgungssituation zu schaffen, würden nicht alle Patienten die Hilfe erhalten, die sie
brauchen«, glaubt Müller-Rörich. Denn es gehört zum Wesen der Krankheit Depression, dass
Betroffene sich einer Therapie entziehen wollen.
Der Krankheit ausgeliefert
»Eine Depression fühlt sich nicht an wie eine behandelbare Krankheit, sondern wie ein
schlimmer persönlicher Fehler«, sagte Müller-Rörich. Er weiß, wovon er spricht, denn er war
selbst schon einmal schwer depressiv. Betroffene seien dem eigenen abwehrenden, von
Hoffnungslosigkeit geprägten und oft selbstzerstörerischen Denken und Fühlen ausgeliefert,
ohne daran etwas ändern zu können. Man empfinde sich selbst als minderwertig und schäme
Patienten haben Angst, sich einem Arzt anzuvertrauen, zum einen weil sie dessen Urteil
fürchten und zum anderen, weil sie keine Medikamente verordnet bekommen wollen. »Man
vermutet, dass die Arzneimittel die eigene Persönlichkeit verändern, verkennt dabei aber
völlig, dass es die Depression ist, die einen manipuliert und die Psyche in eine unrealistisch
negative Wahrnehmung zwingt«, sagte Müller-Rörich. Die mit der Erkrankung einhergehende
Scham und die Überzeugung von der eigenen Minderwertigkeit tun ein Übriges: »Ich kann
meine persönlichen Probleme doch nicht mit einer Pille bekämpfen«, lautet die Überzeugung.
So dachte auch die Journalistin Heide Fuhljahn, die jahrelang unter einer Depression litt,
bevor sie sich 2006 in einer psychiatrischen Klinik behandeln ließ. Ihre Erfahrungen mit der
Krankheit und mit sowohl psychotherapeutischer als auch medikamentöser Therapie
dokumentiert ihr Buch »Kalt erwischt«, das sie beim DGPPN-Kongress vorstellte. »Heute
halte ich Antidepressiva, wenn man ordentlich mit ihnen umgeht, für relativ harmlose
Medikamente«, sagte Fuhljahn in Berlin. »Sie können eine Psychotherapie nicht ersetzen.
Aber sie können das Überleben sichern, wenn das Leid des Patienten so groß wird, dass er es
sonst nicht aushält.«
»Antidepressiva haben einen festen Platz in der Therapie der unipolaren Depression«,
bestätigte Professor Dr. Tom Bschor von der Schlosspark-Klinik Berlin. Was wie eine
Selbstverständlichkeit klingt, war in der Vergangenheit nicht immer unumstritten. Bschor
zitierte eine Studie von Dr. Irving Kirsch aus dem Jahr 2008, der damals als PsychologieProfessor an der Universität Hull tätig war (»Plos Medicine«, DOI:
10.1371/journal.pmed.0050045). Kirsch fand, dass es bei einer leichten Depression keinen
relevanten Unterschied ausmacht, ob man einen Patienten mit einem Antidepressivum oder
mit einem Placebo behandelt. Erst bei einer schweren Depression seien Antidepressiva im
Vorteil, was ihre Gabe trotz möglicher Nebenwirkungen rechtfertige.
Großer Placebo-Effekt
»Eine Empfehlung für oder gegen Antidepressiva kann sich natürlich nicht allein auf eine
Studie stützen«, sagte Bschor, der als Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft einer der Autoren der deutschen S3-Leitlinie zur unipolaren Depression ist. Eine
weitere, von Jay Fournier 2009 im Fachjournal »JAMA« publizierte Untersuchung sei jedoch
zu demselben Ergebnis gekommen (DOI: 10.1001/jama.2009.1943). Diese Erkenntnis habe
die S3-Leitlinie mit der Empfehlung aufgegriffen, dass Antidepressiva bei leichten
depressiven Episoden nicht generell zur Erstbehandlung gegeben werden sollen, sondern
allenfalls unter besonders kritischer Berücksichtigung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Bei
einer mittelgradigen depressiven Episode soll Patienten eine Therapie mit einem
Antidepressivum angeboten werden. Auch bei schwerer Depression empfiehlt die Leitlinie die
medikamentöse Therapie, im Unterschied zur mittelschweren Erkrankung dann aber in
Kombination mit Psychotherapie.
Der Placebo-Effekt hat einen großen Anteil
an der Wirkung von Antidepressiva. Lehnt
ein Patient die Einnahme ab, hat es daher
wenig Sinn, ihn dazu zu überreden.
Der Psychologe Kirsch ist nicht erst seit 2008
das Enfant terrible der Psychopharmaka. Bereits
zehn Jahre zuvor veröffentlichte er in
»Prevention & Treatment« eine Arbeit mit dem
provokanten Titel »Listening to Prozac but
Hearing Placebo« (Volume 1, Article 0002a, June 26, 1998). Anhand einer Metaanalyse kam
er darin zu dem Schluss, dass der Placebo-Effekt einen außerordentlich hohen Anteil an der
Wirkung antidepressiver Medikamente hat. Kirsch schreibt ihm 51 Prozent, dem
pharmakologischen Effekt dagegen lediglich 25 Prozent der Wirkung zu. Die fehlenden 24
Prozent führt er auf eine spontane Besserung der Beschwerden zurück, die auch ohne jede
Behandlung von selbst eintritt.
Foto: Imago/Westend61
»Auch dieses Ergebnis konnte bestätigt werden«, sagte Bschor. Professor Dr. Winfried Rief
von der Universität Marburg errechnete 2008 im »Journal of Affective Disorders« für den
pharmakologischen Effekt zwar einen Anteil von 32 Prozent an der Wirkung antidepressiver
Arzneimittel, »aber die Größenordnung ist dieselbe«, so Bschor (DOI:
10.1016/j.jad.2009.01.029).
Offenbar ist der Placebo-Effekt bei Antidepressiva also sehr ausgeprägt. »Für die
Behandlung kann man daraus mehrere Botschaften ableiten«, sagte der Psychiater. Erstens:
Patienten, die nicht wollen, sollte man nicht zu Medikamenten drängen. Zweitens: Ein
Wechsel des Arzneistoffs bei ausbleibender Wirkung bringt oft nichts. »Das bestätigen alle
Studien zu dieser Fragestellung: Es ist dieselbe Wirkung, als hätte man das alte Präparat
weitergegeben«, sagte Bschor. Stattdessen sollte man etwas anderes versuchen, etwa eine
Lithium-Augmentation oder eine Wirkspiegel-Bestimmung. Damit lässt sich feststellen, ob
überhaupt genügend Wirkstoff im Blut des Patienten ankommt, oder ob dieser vielleicht
zufällig ein Ultra-rapid-Metabolizer ist, der den Arzneistoff sehr schnell abbaut.
Verordnungszahlen steigen
»Antidepressiva sind heute absolute Boomprodukte«, sagte Bschor und verwies auf den
»Arzneiverordnungsreport«, wonach im Jahr 2013 in Deutschland 1341 Millionen definierte
Tagesdosen (DDD) zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnet wurden. »Die
Verordnungszahlen sind seit den 1990er-Jahren so stark gestiegen, dass wir uns mittlerweile
mit der Frage beschäftigen müssen, ob sie zu häufig gegeben werden.« So ließe sich in
manchen Fällen diskutieren, ob ein Antidepressivum tatsächlich indiziert ist, oder ob man
nicht vielmehr ein Alltagsproblem des Betroffenen für krankhaft erkläre, indem man es mit
einem Medikament behandelt.
Angesichts dieser Entwicklung muss auch
die Sicherheit der Antidepressiva unter
besonders genauer Beobachtung stehen.
Damit beschäftigt sich unter anderem das
Projekt Arzneimittelsicherheit in der
Psychiatrie (AMSP), das Professor Dr.
Waldemar Greil von der LMU München
vorstellte. AMSP ist ein Zusammenschluss
von 64 psychiatrischen Kliniken in
Deutschland, Österreich und der Schweiz, in
denen schwere und unerwartete
unerwünschte Arzneimittelwirkungen
(UAW) eingeführter Psychopharmaka in der
Praxis erfasst werden sollen. Auslöser für
die Gründung des Projekts war das gehäufte
Auftreten von Agranulozytosen unter dem
Neuroleptikum Clozapin, das erstmals in den
1970er-Jahren auffiel.
Eine Depression fühlt sich nicht an wie eine
behandelbare Krankheit, sondern wie ein
schlimmer persönlicher Fehler.
Foto: Imago/Imagebroker
Nebenwirkungen im Fokus
»Im AMSP-Projekt erfassen wir zweimal jährlich die Medikation und Dosierungen all unserer
Patienten«, sagte Greil. Diese Daten ließen nicht nur Rückschlüsse auf mögliche, bislang noch
unbekannte UAW zu, sondern bildeten auch die Versorgungsrealität auf psychiatrischen
Stationen ab. Sie zeigen, dass 70 bis 80 Prozent der stationär behandelten Patienten
Antidepressiva erhalten, auch diejenigen mit bipolarer Depression und BorderlinePersönlichkeitsstörung. »Eine weitere Beobachtung ist, dass immer häufiger mehrere
Arzneimittel gleichzeitig gegeben werden«, sagte Greil. Im Durchschnitt erhalte jeder Patient
vier Medikamente. Diese Entwicklung gehe aber nicht mit einer steigenden Zahl an
Interaktionen einher, im Gegenteil: »Wir sehen eine zunehmende Polypharmazie, aber
abnehmende Risiken«, so Greil. Das zeige, dass insbesondere neuere Wirkstoffe günstige
Interaktionsprofile aufweisen.
Die Risiken mögen weniger geworden sein, auf einem relativ hohen Niveau bewegen sie sich
aber immer noch. Das zeigen Zahlen des Bundesinstituts für Arzneimittel und
Medizinprodukte (BfArM), die Dr. Martin Huber vorstellte. Demnach stehen Medikamente
der ATC-Gruppe N – Arzneimittel mit Wirkung auf das Nervensystem – nach den
antineoplastischen und immunmodulierenden Wirkstoffen auf Platz zwei bei der Anzahl der
gemeldeten Nebenwirkungen. Rund ein Viertel der Nebenwirkungsberichte aus der Gruppe N
kommen durch Psychoanaleptika zustande, zu denen die Antidepressiva gehören. Am
häufigsten sorgt dabei Venlafaxin für Probleme, gefolgt von Mirtazapin und Citalopram. »Das
entspricht in etwa den Verordnungszahlen«, sagte Huber.
Angesichts der Verordnungshäufigkeit ist das bemerkenswert, denn diese ist zwar gestiegen,
liegt aber immer noch weit unter der von beispielsweise Herz-Kreislauf-Medikamenten. Das
bedeutet jedoch nicht, dass Antidepressiva generell nebenwirkungsträchtigere Medikamente
sind als beispielsweise Blutdrucksenker. Denn die Anzahl Spontanmeldungen erlaubt keinen
Rückschluss auf die absolute Häufigkeit von UAW, wie Huber betonte.
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