Religion und Politik: Zur Komplexität einer interaktiven Beziehung Christian Polke 1Ein Dauerthema und seine allmähliche Erschöpfung Es ist nicht nur den Gesetzen der Mediengesellschaft geschuldet, dass Dauerthemen auf die Zeit langweilig werden oder jedenfalls nicht mehr diejenige Aufmerksamkeit erhalten, die ihnen der Sache gemäß zustünde. Man würde somit nicht zu viel behaupten, stellte man fest, dass das Thema von Religion und Politik so allmählich in die Jahre gekommen ist und sich selbst im gelehrten Feuilleton sowie der wissenschaftlichen Öffentlichkeit erste Ermüdungserscheinungen bemerkbar machen. Das ist nicht weiter verwunderlich, ist doch seit 9/11 mit massivem Aufwand an Forschung und Gelehrsamkeit Fragen nachgegangen worden, ob und inwiefern man die Säkularisierungsthese modifizieren oder gar verabschieden sollte; wie hilfreich eigentlich die Kategorie des Fundamentalismus ist, um das religiös-politische Globalterrain unserer Gegenwart abzustecken; was es eigentlich heißt, transnational agierende religiöse Gruppen als politische Akteure zu begreifen und wie diese sich in den Rahmen eines nicht mehr ausschließlich nationalstaatlich zu begreifenden demokratischen Verfassungsregime einfügen lassen. Beim vorliegenden Artikel handelt es sich um den einführenden Vortrag zur Tagung „Christentum und Islam als politische Religionen“ vom 23. Juli 2014 in Wildbad Kreuth. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten. Auf die für die Einschätzung des Verhältnisses von Religion und Politik relevanten Entwicklungen des Jahres 2015 konnte nicht eingegangen werden. C. Polke (*) Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 O. Hidalgo et al. (Hrsg.), Christentum und Islam als politische Religionen, Politik und Religion, DOI 10.1007/978-3-658-13963-6_2 21 22 C. Polke Damit wir uns recht verstehen: Alle diese Bemühungen um wissenschaftliche Aufklärung haben ihre Berechtigung, den Leistungen der hierüber forschenden Wissenschaftler gebührt Anerkennung, ihre Beiträge zur Erhellung unserer Lebensgegenwart sind beachtlich. Und dennoch kann einen manchmal das Gefühl einer leisen Skepsis beschleichen hinsichtlich der Begriffe, derer wir uns zur Analyse dieses Problemfeldes bedienen. Denn „Politik“ und „Religion“ stellen weit mehr als bloße Nomenklaturen dar, fungieren sie doch als Parameter für umfassendere Paradigmen wissenschaftlicher, genauer religionskultureller Forschung. Wie tauglich aber sind sie zur Selbstaufklärung über unsere Lage, der für sie typischen Phänomene und der sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Handlungsanforderungen und Steuerungsprobleme? Die Vermutung, dass zwischen beiden Bereichen oder institutionellen Arrangements von Religion und Politik spannungsvolle Beziehungen stattfinden, scheint allerdings nicht mehr als einen Einsatzpunkt zu markieren, von dem aus die unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen ihre Analysen beginnen. Und wenn im Untertitel meines Beitrags von einer komplexen interaktiven Beziehung die Rede ist, oder präziser: die interaktive Beziehung als „komplex“ gekennzeichnet wird, dann ist damit zunächst nicht viel mehr gesagt, als dass es kaum möglich sein wird, auch nur die wichtigsten Facetten unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zu subsumieren. Von daher appelliere ich an die Enttäuschungsresistenz, die dem Leser, der Leserin nunmehr zugemutet wird, wenn ich mich im Folgenden ausschließlich der Frage zuwende, wie man überhaupt die beiden Größen von Religion und Politik so zu fassen und zu operationalisieren bekommt, dass Facetten ihrer spannungsvollen Beziehung sichtbar werden. Wie also von „Religion“ und „Politik“ in ihrem Mit- und Gegeneinander reden? 2„Religion“ und „Politik“ – Substantive und/oder Adjektive? Kaum eine Untersuchung zu diesem Thema beginnt nicht mit dem Versuch, die beiden Begriffe von Religion und Politik einer Voraberklärung oder gar Definition zuzuführen. Und je nachdem, von welchem disziplinären Ort das Ganze angegangen wird, gilt entweder für die eine oder die andere Kategorie die Mahnung von Max Weber (1972, S. 245): „Eine Definition dessen, was Religion“ bzw. was Politik „ist, kann unmöglich an der Spitze, sondern könnte allenfalls am Schluss einer Erörterung wie der nachfolgenden stehen.“ Dass Weber diese Bemerkung ausgerechnet an den Beginn seiner religionssoziologischen Kategorienlehre stellt, mag überraschen, ist doch gerade dieser Denker ansonsten kaum um glasklare Zur Komplexität einer interaktiven Beziehung 23 (Arbeits-)Definitionen verlegen. Man mag über die Gründe streiten, die Weber ausgerechnet bei der Religion daran hinderten, seinen Ausführungen einen heuristischen Begriff voranzustellen. Indes ist klar, dass damit eine grundsätzliche Schwierigkeit benannt wird, sowohl für den Historiker wie für den Sozial- und Politikwissenschaftler, der den spannungsvollen Beziehungen von Religion und Politik Herr zu werden bemüht ist.1 So ließe sich zunächst fragen, ob wir eher von fixen Begriffsgrößen ausgehen oder stärker zu flüssigen Konzepten neigen sollten? Handelt es sich bei „Religion“ und „Politik“ gar um substanzielle Größen? Oder lässt sich in methodisch kontrollierter Weise nur dann von Religion und Politik reden, wenn man von vornherein essenzialistische Fassungen vermeidet? Schlichter gefragt: Lautet unser Thema „Religion und Politik“, oder sollte es nicht besser heißen: Vom Religiösen und vom Politischen? Wer hier den systematischen Begriffsarbeiter am Werk sieht, liegt sicher nicht verkehrt. Jedenfalls gibt es die Religion und die Politik in einer spezifischen Hinsicht ebenso wenig, wie es die Menschenwürde oder das Recht einfach „gibt“. Und selbst von Gott heißt es nach einem bekannten Bonmot Dietrich Bonhoeffers (1976, S. 94), dass es den „Gott“, den es gibt, gerade „nicht gibt“ Streng genommen bezeichnet das, was als Religion oder Politik auftritt, denn auch zum einen eine spezifische Weise des individuellen oder kollektiven Reagierens mit Blick auf bestimmte Situationen: In diesem Fall sprechen wir von religiösem oder politischem Handeln. Oder aber wir fassen zum anderen unter Religion und Politik bestimmte institutionelle Arrangements und Organisationsformen, denen wir eine ebenso bestimmte Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Zusammenhänge unterlegen. Organe der Exekutive und Legislative, aber auch Parteien stellen dann das dar, was man „die Politik“ nennen könnte; und selbiges könnte man mit Blick auf Kirchen, Moschee- und Synagogenverbände etc. als Religionsgemeinschaften für „die Religion“ behaupten. Dieser scheinbar trivialen Beobachtung, Religion und Politik je nach Perspektive stärker akteurszentriert oder stärker institutionell zu fassen, entspricht die Überlegung, entweder stärker adjektivisch oder eher substantivisch von Religion und Politik zu reden. Beide Optionen verdienten eine genauere Betrachtung und beide generieren spezifische Vor- und Nachteile. Wer zum Beispiel Religionen als stets institutionalisierte Gemeinschaften begreift, der wird danach streben, die Kriterien für das, was als Spezifikum von Religion gelten darf, an dem zu messen, was in diesen Gruppen und Organisationen an religiösem Selbstverständnis ihrer Mitglieder (normativ) zur Sprache gebracht wird. Was so abstrakt klingt, hat 1Zur gegenwärtigen thematischen Breite der Verhandlung des Themas sei verwiesen auf: Graf und Meier (2013). 24 C. Polke gewichtige Konsequenzen. Überblickt man die Zugänge zu unserem Thema vor allem in der gegenwärtigen Jurisprudenz und Politikwissenschaft, stellt man fest, dass etwa das Problem von Islam und Demokratie stets unter stillschweigender Ko-Präsenz eines anderen Theoriehorizontes verhandelt wird, nämlich dem am Paradigma der christlichen Religionstradition mit ihren institutionellen Formen, den Kirchen, entwickelten Verständnis von Religion – und dann auch von Politik.2 Demgegenüber scheint es gerade der Vorteil eines akteurs- bzw. handlungstheoretischen Zugangs zu Politik, Religion und ihrer wechselseitigen Beziehung zu sein, diesen Blickwinkel zu weiten. Wenn Politik und Religion nämlich als zugleich mögliche und stets auch partiell realisierte Reaktionsmuster auf spezifische Probleme des menschlichen Zusammenlebens unter Rückgriff auf historisch überkommene und kulturell eingespielte Deutungen und soziale Praktiken begriffen werden, dann ließe sich schon vom Standpunkt des Beobachters eine Kriteriologie des Religiösen und des Politischen entwickeln. Allerdings bliebe weitgehend unklar, woher man die Differenzkriterien nehmen sollte, die religiöse von politischen Handlungsmustern zu unterscheiden erlaubt; es sei denn, man würde erneut auf die Selbstdeutung der Akteure zurückgreifen oder es aber bei von außen an die Phänomene herangetragenen Klassifizierungsschemata belassen.3 Es scheint zwar, dass der handlungstheoretische Ansatz, der davon ausgeht, dass Religion und Politik unterschiedliche Qualifikationen von Handlungsmustern darstellen, leichter für das Problem der Vernetzung und Interaktion von Religion und Politik zugänglich ist. Aber dieses adjektivische Verständnis von „religiös“ und „politisch“ birgt seine eigenen Probleme, von denen die Gefahr einer funktionalen Verengung nur die offensichtlichste ist.4 Folgerichtig gilt es, 2Nur zum klareren Verständnis: So rekurrieren beispielsweise alle Begriffe, mit denen in Art. 4 GG die Grundrechtsdimensionen der Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit ausbuchstabiert werden, auf Termini und Theologoumena der christlichen Dogmen- und Theologiegeschichte. Dies wird immer dann problematisch, wenn das dadurch präjudizierte Verständnis von Religion durch Rechtsprechung wie Verfassungsinterpretation und -theorie selbst in den Fällen in Anschlag gebracht wird, wo offenkundig ist, dass die zu beurteilenden Zusammenhänge quer zu diesem Klassifikationsschema liegen. Klassisch betroffen ist hiervon zudem die Frage nach der Neutralität des Staates. Dazu verweise ich generell auf Polke (2009). 3Dieses Problem eignet allen Ansätzen und Konzeptionen von politischer Religion bzw. politischer Theologie, selbst so demokratieaffinen und anti-totalitären, wie demjenigen von John Dewey. Dazu die maßgebliche Werkrekonstruktion von: Rockefeller (1984). 4Zu den Problemen, welche die Übernahme strikt funktionaler Religionsverständnisse für die Politische Philosophie mit sich bringen, siehe die Ausführungen in Reder (2013 v. a. S. 362 ff.). Zur Komplexität einer interaktiven Beziehung 25 wachsam zu bleiben für die Schwelle, die vom heuristischen Begriffswerkzeug allzu leicht zur essenzialistischen Kategorie führt. Und selbst wenn substanzielle und funktionale, substantivische und adjektivische Verständnisse von Religion und Politik sich nicht immer zwingend ausschließen müssen, ist es doch hilfreich, wenn die Wissenschaftspraxis sich immer wieder einer kritischen Selbstreflexion dahin gehend unterzieht, ob es überhaupt notwendig ist, mit solchen Großbegriffen oder Kollektivtermina zu arbeiten. Religiöse Überzeugungen, politische Ansichten und philosophische Theorien über das Wesen von Politik und Religion stellen kognitive Gebilde dar, die als Ideen die wissenschaftliche Praxis und das politische Handeln ebenso prägen, wie sie kulturelle Mentalitäten nach sich ziehen. Mehr noch aber wird man daran erinnern müssen, dass unterhalb dieser hochstufigen konstruktiven Zugriffe sich ein „implizites Wissen“ (Polanyi) über diese Bereiche bemerkbar macht, das habituell geformt und sozial verkörpert ist, weil wir alle – Experten und Laien – in und durch unsere Institutionen – von der Sprache und dem Recht angefangen über Kirchen und Religionsgemeinschaften bis hin zu den Standardvokabularien und -paradigmen unserer diversifizierten Wissenschaftszirkel (scientific communities) – denken und Probleme erfassen. Auf diesen Aspekt möchte ich am Ende zurückkommen. Zuvor soll eine weitere Komponente des Themas im Vordergrund stehen, nämlich die Pluralität an Perspektiven, mit denen das interaktive Feld von Religion und Politik wissenschaftlich betrachtet werden kann. 3Sphären der Interaktion – Perspektiven der wissenschaftlichen Betrachtung Hält man es prinzipiell für möglich, mit Hilfe von Vorbegriffen und Arbeitsdefinitionen das Feld des Religiös-Politischen5 sortierbar zu machen, wobei jede Arbeitsdefinition im Laufe des Prozesses unweigerlich Korrekturen und Modifikationen mit sich bringt, lassen sich verschiedene Sphären der Interaktion von religiösen und politischen Ideen und ihren Trägern, das heißt von Gruppen und deren Akteuren, ausfindig machen. Vier von ihnen sollen im Folgenden Erwähnung finden und zwar so, dass ich ihnen jeweils eine wissenschaftliche Perspektive zuordne, die einen elementaren Bestandteil eines Forschungsprogramms zum Verhältnis und Verständnis von Religion und Politik bildet: 5„Religiös-Politisch“ ist hier nicht im Sinne einer bestimmten Theorieposition gemeint, sondern soll den stärker adjektivischen Zugriff auf den Problemzusammenhang markieren. 26 C. Polke Zunächst lässt sich die Beziehung von Religion und Politik erstens als historisch gewachsenes Geflecht erfassen und in seiner Genese rekonstruieren. Bereits hier sind wir mit all denjenigen Problemen konfrontiert, die oben angedeutet wurden: Wer zum Beispiel gilt im Umbruch, den wir als Reformation kennzeichnen, als genuin politischer und wer als genuin religiöser Akteur? Ferner: Wie sind die Deutungskämpfe um das, was – noch verstärkt seit dem Reflexionsschub der Aufklärung – als ‚echte‘, ‚wahre‘ oder ‚vernünftige‘ Religion gilt, zu verstehen: als ideenpolitische Kämpfe und/oder als zeitgenössische Reflexion auf das Verhältnis von Politik und Religion? Des Weiteren: Nirgends wird die Schwierigkeit, in die die Sozialwissenschaften immer dann geraten, wenn sie die historischen Aspekte ihres Untersuchungsgegenstandes bzw. -phänomens missachten, deutlicher als im Falle des bereits mächtig in Misskredit geratenen Säkularisierungstheorems.6 Wer sich nur ein bisschen in der diesbezüglichen Debatte auskennt, weiß, dass je nach dem, über welche historische Konstellation oder Situation man spricht, Säkularisierung als Prozess und Option sehr unterschiedlich gedeutet und hinsichtlich ihrer Folgen bewertet werden kann. Auch das im Säkularisierungsbegriff enthaltene Distinktionselement von Religion und Politik hängt in seiner heutigen Plausibilität entscheidend davon ab, wie die politischen und religiösen Entscheidungsträger und Eliten auf gesellschaftliche Probleme reagiert und wie sie dabei Macht und Religion als Mittel für ihre Interessen oder Überzeugungen eingesetzt haben. Mentalitätshistorisch fällt die Verständigung über Religion und Politik sowie über ihr spannungsreiches Verhältnis anders aus, je nach dem, ob man sich in einem laizistischen oder kulturreligiös geprägten Kontext befindet. So kann man sehr wohl davon sprechen, dass England in der einen Perspektive ein zutiefst säkulares Land ist und dennoch mit Fug und Recht behaupten, es weise bis heute eine zutiefst christliche Prägung auf.7 In ähnlicher und doch ganz anderer Weise gilt das Gleiche für Schweden. Dieser kurze Hinweis sollte jedenfalls 6Einseitige Vorstellungen von der Unausweichlichkeit von Säkularisierungsprozessen hätte man von vornherein vermeiden können, hätte man früher die Arbeiten des Meisters der politischen Religionssoziologie zur Kenntnis genommen. Vgl. Martin (1978, 2005). 7Ich spiele hier auf die kurze Kontroverse im Anschluss an Aussagen des britischen Premiers David Cameron in der anglikanischen Wochenzeitschrift „Church Times“ vom 16. April 2014 an, der darin Großbritannien ohne erkennbare Einschränkung als „a Christian country“ bezeichnet hat. Das Statement ist abrufbar unter: http://www.churchtimes.co.uk/ articles/2014/17-april/comment/opinion/my-faith-in-the-church-of-england (Stand: Februar 2016); für die Berichterstattung der unterschiedlichen Kommentierung siehe „Die feine englische Art des Glaubens“, in: Die Welt, 25. April 2014 (abrufbar: http://www.welt.de/ kultur/article127314752/Die-feine-englische-Art-des-Glaubens.html, Stand: Juli 2015). Zur Komplexität einer interaktiven Beziehung 27 dazu dienen, sich über die Beschränktheit der Aussagekraft von statistischen Größen, wie Religionszugehörigkeitsraten, im Klaren zu sein. Und dass bei komparativen Studien, die sich geographisch und historisch weiter auseinander liegende Regionen zum Untersuchungsgegenstand wählen, die damit verbundenen Schwierigkeiten eher zunehmen als verringern, liegt auf der Hand. Zweitens stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik für den sensibel wahrnehmenden Zeitgenossen ganz unabhängig von seiner wissenschaftlichen Expertise schlicht und ergreifend angesichts des Problems des gesellschaftlichen Pluralismus. Für die meisten von uns dürfte jenseits aller zu beachtenden political correctness evident sein: Multireligiosität und Multikulturalität stellen nicht nur gesellschaftliche Bereicherungen dar; sie fordern uns zugleich heraus, überkommene, das heißt lebensweltlich eingespielte, kulturelle Selbstverständlichkeiten neu zu plausibilisieren, alternativ zu rechtfertigen und gegebenenfalls auch Korrekturen daran anzubringen. Die Beispiele sind allgemein bekannt: Man denke nur an Kopftuch, Beschneidung, Schächten etc. Die Grundfrage des Politischen Liberalismus, wie er von John Rawls (2003) meisterhaft zur Geltung gebracht wurde, hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt: Wie lässt sich eine weitgehend weltanschaulich neutrale Rechtsgemeinschaft aufrecht erhalten, ohne dabei die unterschiedlichen Nähen von religiösen Traditionen und Religionsgemeinschaften zu ihren Basisannahmen über Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat zu ignorieren? Welche Form von äußerer Zustimmung und innerer Motivation darf der Staat, darf das politische Gemeinwesen, von allen seinen Bürgerinnen und Bürgern erwarten? Um diese Problemkonstellation überhaupt in den Griff zu bekommen, müssen Recht, politische Philosophie und Ethik natürlich mit Klassifikationen von Religion und Politik arbeiten, die als Kriterien dafür fungieren, was als politisch legitim und was als Religion anerkannt gelten darf. Diese normative Justierung der Begriffe erzeugt von sich aus Spannungen und lebt doch zugleich davon, dass es auf ein entgegenkommendes, kulturell verwurzeltes Selbstverständnis hinsichtlich der Aufgaben und des Sinns von Religion und Politik zurückgreifen kann.8 Und davon hängt sehr wesentlich die Beschreibung und Deutung des Interaktionsgeflechts und sowie die Ausgestaltung seiner rechtlichen Ordnung ab. Man kann nicht behaupten, dass die dabei in Anschlag zu bringenden Begrifflichkeiten einer strikten Norm von Neutralität genügen könnten. Noch die Rekonstruktion eines sozialen Zusammenhangs als „religiös plural“ operiert mit Vorverständnissen darüber, was religiös zu sein 8Diese Formulierung erfolgt selbstredend in Anlehnung an das sogenannte BöckenfördeTheorem (vgl. Böckenförde 2006, S. 112). 28 C. Polke eigentlich heißt, und entsprechend fallen die politischen Vorstellungen über die Ordnung der religiösen Akteure in einer (Zivil-)Gesellschaft aus. Klar ist nur, die Kategorie des Religiösen muss so sein, dass sie nicht auf die Beschreibung einer spezifischen Religions- oder gar Konfessionstradition beschränkt bleiben darf.9 Die dritte Sphäre wurde bereits durch den Verweis auf rechtliche Regeln und politische Arrangements angedeutet. „Religion“ und „Politik“ sind nämlich als konzeptionelle Größen immer auch Ideenformationen und Symbolbestände. Sie werden nicht zuletzt von religiösen Akteuren in der Deutung ihrer Handlungen sowie in ihren Stellungnahmen zu gesellschaftlich relevanten Fragen in Anschlag gebracht. Unterstützt werden sie dabei von den Repräsentanten der institutionalisierten Religion auf der einen und von professionellen Deutungsexperten – ich rede hier von meiner eigenen Profession –, der Theologie10, auf der anderen Seite. Dass man überhaupt von einem Spannungsverhältnis zwischen Religion und Politik, Staat und Kirche, Gott und Welt reden kann, hängt nicht zuletzt an den sprachlichen, kategorialen und symbolischen Deutungsmustern, die zur Rekonstruktion herangezogen werden können. Aus der Perspektive einer historischen Soziologie des Christentums müsste klar sein, dass das Verhältnis von Religion und Politik zwar zivilisiert und strukturiert, die darin sich zeigende Spannung aber nicht überwunden werden kann.11 Auch diese These zehrt von Identitätskonstruktionen, die damit zugleich in Anschlag gebracht werden und deren jeweilige Plausibilität auf prägenden geschichtlichen Erfahrungen und kollektiven Deutungsmustern beruht. Zweifellos geht es hierbei nie allein um historische Selbstaufklärung, sondern stets auch um die Schärfung und Neuinterpretation des religiösen wie politischen (Handlungs-)Bewusstseins von Akteuren. An dieser Stelle zeigt sich zudem: Sowohl religiöse als auch politische Auffassungen müssen gar nicht umfassend ausformuliert und bis in den letzten Winkel hinein argumentativ unterfüttert werden. Ihre Wirkung zeigt sich vielmehr im kollektiven Agieren von Gruppen und Gemeinschaften, die sich in der einen oder anderen Weise als „religiös“ verstehen oder bezeichnen, und die den 9Zur Besichtigung dieses Theorieterrains siehe Banchoff (2007, 2008). sind auch Philosophen in diese Ideenkämpfe verstrickt. Jedenfalls profilieren sich in ihnen besonders markant und stets positionell gefärbte Begriffe des Politischen wie Religiösen. Anhand einer erneuten Auseinandersetzung mit der nach wie vor beliebten Deutungsfigur der Politischen Theologie im Gefolge Carl Schmitts zeigt dies Habermas (2012). 11Unter Spannung verstehe ich hier das Aufrechterhalten von nicht ineinander überführbaren Perspektiven auf die und Phänomenen der Wirklichkeit. Zum christlichen Verständnis von Religion und Politik unter dem Gesichtspunkt der Gewaltthematik siehe auch die Ausführungen von Martin (2013). 10Freilich Zur Komplexität einer interaktiven Beziehung 29 Mutterboden für die Prägekraft von religiösen Traditionen bilden. Rhetorik spielt dabei eine entscheidende Rolle.12 Insbesondere im Prozess der globalen Vernetzung verschieben sich nun aber – und das wäre der vierte Punkt – die Grenzen und Schwellen zwischen politischen und religiösen Regimes. Dazu passt, dass sich das, was wir Politik nennen und was wir klassischerweise Recht und Staat als Aufgaben zuerkennen, gegenwärtig umfassenden Wandlungsprozessen ausgesetzt sieht. Die Zeiten, in denen sich diese Begriffe auf klar abgrenzbare Bereiche und Institutionen, wie den nationalstaatlichen Rahmen oder die internationale Vertragsordnung, beziehen ließen, scheinen vorüber. Das bedeutet nicht, dass die Bindung von Rechtssetzung an die jeweilige Instanz des Gewaltmonopols verloren ginge oder nicht mehr von zentraler Bedeutung wäre; auch mögen die Träger von politischer Herrschaft und rechtlicher Gewalt nach wie vor klar identifizierbar sein. Dennoch geht das, was als das „Politische“ oder das „Religiöse“ schlechthin oder eben: als das „Religiöse“ bzw. „Politische“ an Handlungen von Akteuren gelten kann, weit darüber hinaus. Religionsgemeinschaften und ihre Anhänger sind als religiöse Akteure häufig genug auch politische Akteure, obwohl sie keine staatliche Hoheitsfunktionen ausüben; gerade weil sie nicht zwingend an bestimmte gesetzliche oder räumliche Grenzen gebunden sind und bei alldem gleichwohl hoch organisiert oder – wie die römisch-katholische Kirche sogar – institutionalisiert sein können. Was hier noch als politisches oder als religiöses Handeln und damit als „Politik“ oder „Religion“ gilt, ist stets umstritten. In der Governance-Forschung hat sich daher eingebürgert von einer „Ko-Staatlichkeit“ zu sprechen, insofern politische Aufgaben und Funktionen immer häufiger nicht nur durch die staatlichen Organe und im engeren Sinne politischen Institutionen wahrgenommen, sondern häufig in Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Trägern bewerkstelligt werden (vgl. Schuppert 2013, S. 40 ff.). Hans Georg Kippenberg fasst das Diesbezügliche auf präzise Weise zusammen, wenn er schreibt: Man muss nämlich die Neubewertung von Religionsgemeinschaftlichkeit im Zusammenhang eines sozialen Wandels sehen: der Globalisierung. Für deren soziale Dynamik sind zwei Tendenzen typisch: Die Ausweitung von Marktwirtschaft auch auf den Bereich sozialer Dienste und ein Rückzug des Staates aus Gemeinschaftsaufgaben. Beide Tendenzen haben auch auf Religionen Auswirkungen […]. Das ist 12An dieser Stelle müsste sich nun der Versuch anschließen, die beiden wichtigsten Theorieansätze auf dem Feld der politischen Ideengeschichte im 20. Jahrhundert (nämlich die Ansätze der sogenannten Cambridge School um Quentin Skinner und John G. A. Pocock auf der einen und der begriffsgeschichtliche Ansatz von Reinhart Koselleck auf der anderen Seite) in eine übergreifende Methodologie zu überführen. 30 C. Polke eine Situation, in der religiöse Gemeinschaftlichkeit zu einer komplementären Ressource werden kann: und es ist die Gelegenheit für religiöse Gemeinschaften, öffentliche Aufgaben zu übernehmen. Religionsgemeinschaften können daher – und ich ergänze auf eine ganz neue Weise [C. P.] – Subjekte moderner Politik werden (zitiert nach: Schuppert 2013, S. 33 f.).13 Betrachtet man die von mir herausgegriffenen Bereiche der wissenschaftlichen Forschung des Verhältnisses von Religion und Politik – aus den Perspektiven der historischen Soziologie, der Rechts- und Sozialphilosophie, der theologischen Hermeneutik, der Politikwissenschaft – dann fällt auf, dass „Religion“ und „Politik“, das „Religiöse“ und das „Politische“ als heuristische Begrifflichkeiten sich erst durch work in progress profilieren, schärfen und konturieren lassen; und dass sie je nach Fragestellung und wissenschaftlichen Kontext andere Zuspitzungen erfahren. Aus der komplexen Interaktion von Akteuren in unterschiedlichen Formationen und Bereichen gewinnt man auf je eigentümliche Weise ein Bild davon, was es heißt, dass Religionen politische Theologien produzieren oder gar zu politischen Religionen werden können; dass sie politisch agieren und dass umgekehrt auch die Politik eine religiöse Dimension haben kann, indem sie sich auf dem religiösen Feld bewegt, sei es als staatliche oder rechtliche Hoheitsgewalt, sei es als politischer Interessenverband, und dass ihre Botschaften dadurch implizit oder explizit religiös verstanden werden können, manchmal sogar sollen. Über den neuerdings von ganz überraschender Seite – ich denke an Martha Nussbaum – wieder ins Spiel gebrachten Zivilreligionsgedanken kann hier aus Platzgründen nicht weiter gesprochen werden.14 13Damit nähert sich Kippenberg aus einer stärker sozialwissenschaftlichen Sichtweise auch konzeptionellen Überlegungen zu den vorpolitischen Ressourcen und Erhaltungsbedingungen gesellschaftlicher Solidarität an, wie sie die jüngeren Ausführungen von Jürgen Habermas zur Bedeutung von Religionen in der Moderne kennzeichnen. Vgl. dazu Habermas (2005, S. 116). 14Nussbaums jüngste Überlegungen ringen darum, unter Wahrung der Einsichten des Politischen Liberalismus sowie ihrer eigenen Ausweitung von Gerechtigkeitsanliegen die emotional-affektiven und ästhetisch-kulturellen Bedingungen einer politischen Kultur stärker für die Politische Philosophie fruchtbar zu machen. In Political Emotions wird dies im Anschluss an Überlegungen von Comte, Mill und Tagore vorgenommen und zu einer Religionstraditionen übergreifenden, diese weniger ersetzenden als ergänzenden Konzeption von „religion of humanity“, also einer Art Civil Religion für das 21. Jahrhundert und für liberaldemokratisch pluralistische Gesellschaften, ausgeweitet. Siehe dazu Nussbaum (2013, S. 54 ff., 82 ff., 127 ff.). Zur Komplexität einer interaktiven Beziehung 31 So erweist sich das Thema von Religion und Politik weniger deswegen als persistent, um nicht zu sagen penetrant, weil wir in einer grundlegend veränderten religionspolitischen Lage seit 9/11 leben würden; dieser Umstand verdankt sich auch nicht großen Theorieinnovationen über das „Religiöse“ und dessen Verhältnis zum „Politischen“. Drängender und damit auch aufdringlicher wird es vielmehr deswegen, weil sich hier wie in anderen kulturellen Bereichen die gleichermaßen gefühlten wie tatsächlich erlebten Dynamisierungen im Umfeld einer zeitlich wie kulturell entschränkten Globalisierung bemerkbar machen. Damit geraten selbst wissenschaftliche Selbstverständlichkeiten unter einen immer größer werdenden Plausibilitätsdruck. Man denke nur – ich wiederhole mich – an das Schicksal der klassischen Säkularisierungsthese, aber auch an den impliziten Monotheismus oder ästhetischen Romantizismus vieler Religionstheorien. Und es betrifft – das mag den einen oder anderen besonders schmerzen – erst recht die Konzepte politischer Philosophie und Theorien des Rechts. Deren weitgehend etatistische Orientierung, das heißt ihre alleinige Fokussierung auf staatliche Instanzen, operiert zwar auf weite Strecken hin mit Begrifflichkeiten wie modernem Recht und moderner Politik, verweigert sich dabei jedoch der Bestandsaufnahme von im strikten Sinne rechtspluralen Realitäten, wie sie in verschiedenen, auch pazifizierten und demokratisierten Weltgegenden bestehen.15 4Zum Beschluss: Über die Persistenz des ReligiösPolitischen So scheint am Ende trotz der einsetzenden Ermüdungserscheinungen das Dauerthema von „Religion“ und „Politik“ wenigstens für die wissenschaftliche Forschung noch lange nicht ausgereizt. Dabei wirkte es eine Zeit lang eher so, als würde das „Religiöse“ für die Sozialwissenschaften allenfalls als ein in private Residuen abgewanderter und von daher nebensächlich zu verhandelnder Faktor gelten. Stattdessen wurde – ebenfalls den Umständen der geopolitischen Großwetterlage geschuldet – viel über Ideologie und Totalitarismus geforscht. Es ist nicht nur der Infragestellung der alten Säkularisierungsthese geschuldet, sondern wohl mehr noch der Selbstkorrektur des wissenschaftlichen Betriebes, dass man 15Immer noch ist die Frage eines Rechtspluralismus, so scheint es, für die meisten der westlich orientierten Rechtstheorien und politischen Philosophien ein Horror. Selbst habe ich mich vor einiger Zeit vorsichtig für eine Öffnung von Teilen des Rechts für die Implementierung pluraler Rechtsstrukturen und -traditionen ausgesprochen. Vgl. Polke (2010). 32 C. Polke hier wieder zunehmend die Bedeutung der Religion betont. Es steht allerdings noch aus, wie das zwischenzeitlich zu politischen Ideologien und Totalitarismen Erforschte mit dem neuen Interesse an Religion, Politik und auch religiösem Fundamentalismus, produktiv zu verbinden wäre. Die Persistenz des ReligiösPolitischen ist mit beidem anvisiert. Diese in ihrer ganzen Breite zu erforschen, setzt zweifelsohne die Einsicht voraus, dass wir unseren „westlich“ verengten Blick sowohl auf Religion, die nur noch in im Schwinden begriffenen religiösen Gemeinschaften stattfindet, als auch auf Politik, die sich im engeren Sinne im Staat mit seinen politischen Organe abspielt, zu korrigieren bereit sind. Es könnte sich dann auch zeigen, dass die in vielfältiger Variation vorgebrachte Vermutung, wonach „eine Gesellschaft, die ihr religiöses Fundament vergäße, in der Illusion einer reinen Immanenz zu sich selber lebte“ (Lefort 1999, S. 47), selbst ein Ausdruck wie ein Problem jener Debattenlage ist, um die es geht. Dabei gilt: Wenn Macht der Repräsentation bedarf und diese nicht anders als durch symbolische Bedeutung wirkt, die einen Mehrwert über die Faktizität der Verhältnisse und der Ordnungen hinaus bietet (vgl. Lefort 1999, S. 48), dann stünde jedenfalls ein Weg offen, wie auch die Fragen nach religiöser Bedeutung und ideologischer (bzw. utopischer) Funktion in einem nicht einseitig verengten Rahmen zueinander finden könnten. Anders gesagt: Die Persistenz des Religiös-Politischen hat nicht nur ihre Negation überlebt, sondern sie hat auch in ihren Substituten im Verborgenen weitergewirkt. Doch mehr als Andeutungen für eine umfassende Diskursgeschichte dieses Spannungsverhältnisses können diese Anmerkungen nicht sein. Somit ließe sich wie folgt ein Fazit ziehen: Religion und Politik sind Sammelbegriffe, die sich auf Sphären der menschlichen Lebenswelt beziehen und unweigerlich zu unserer Lebensform als Spezies gehören: „Sowohl das Politische wie das Religiöse konfrontieren das […] Denken mit dem Symbolischen […] in dem Sinn, wie beide durch ihre eigenen Artikulationen einen Zugang zur Welt stiften“ (Lefort 1999, S. 44). Diese symbolischen Artikulationen aber vollziehen sich als Handlungen. Religion und Politik gibt es folglich nur, wenn Teilnehmer und Beobachter ihr Handeln so oder so als ein bestimmtes qualifizieren. Das ist die deskriptive Ebene der Verhältnisbestimmung. Das dabei in Anschlag gebrachte Differenzkriterium – etwa zwischen irdischen Gerechtigkeitsfragen und himmlischen Heilsanliegen, zwischen machtgesteuerter Regelung von sozialer Integration und Kooperation auf der einen und sapientialem Umgang mit Kontingenzerfahrungen (physischer, intellektueller und moralischer Defizienz) auf der anderen Seite – ist selbst schon wieder evaluativer Natur, kulturell und historisch imprägniert. Nicht nur, aber auch deswegen sind Konflikte zwischen religiösem und politischem Handeln von einzelnen Akteuren, innerhalb wie untereinander, stets mit einprogrammiert. Und gerade weil dies so ist, schälen Zur Komplexität einer interaktiven Beziehung 33 sich die Konturen des Religiösen und Politischen erst über die Analyse dieser Situationen und ihrer spezifischen Problemlagen heraus. Das setzt bei den Wissenschaftsdisziplinen ein gewisses Maß an Flexibilität voraus, um dem Hybridcharakter ihrer Kategorien begegnen zu können; aber das entbindet sie nicht davon, sich selbst darüber zu verständigen, von welchem Interesse geleitet und zu welchem Zweck man das Feld von Religion und Politik untersucht. Die dabei zutage tretenden Antworten müssen ihrerseits nicht nur deskriptiver oder evaluativer Natur sein, sondern können ebenso normative Züge tragen. In diesem Fall steht zur Debatte, inwiefern die Kriterien, die Religion und Politik, das Religiöse und das Politische, in ihrer Beziehung und Differenz zu erfassen versuchen, mit Blick auf erfasste und/oder verdrängte Probleme unserer Handlungsgegenwart legitime Lösungsoptionen ansichtig machen (können).16 Was demnach Religion und Politik ist, wie sie sich selbst präsentieren und zueinander positionieren, ist von mindestens zweierlei abhängig: erstens von denjenigen Mentalitäten und Wahrnehmungsmustern, die sie als gesellschaftliche Phänomene und Probleme identifizierbar machen; und zweitens von denjenigen Begriffsschärfungen und Wissenszugängen, die wir durch unsere Forschung erzeugen und in den öffentlichen Diskurs zurückspeisen.17 Träfen diese rhapsodischen Bemerkungen einigermaßen zu, schreiben wir mit jeder Tagung und mit jeder öffentlichen Diskussion über das Verhältnis von Religion und Politik diese Begriffe fort, indem wir sie schärfen, uns vergessener Positionen erinnern und uns selbst in heftigen Debatten dennoch gemeinsam an der Lösung der als problematisch erfassten Gegenwartslagen versuchen. Wissenschaftlicher Diskurs und politischer Streit sind dann selbst Zeugnisse für die Persistenz des Problems des Religiös-Politischen und sie sind – davon bin ich überzeugt – ein lebendiger Beweis dafür, dass Dauerthemen trotz mancher Ermüdungserscheinungen nach wie vor spannend sein können. 16Darin müssten Überlegungen einer Politischen Ethik der Religion eingehen, die sich als sozialethische Kritik religiöser Lebensformen konzipieren ließe. Das normative Kriterium entnehme ich in abgewandelter Form einem Grundgedanken von Jaeggi (2013). 17Die Debatte um den Islam als „politische Religion“ oder gar als religiöse Option einer holistischen „Gesellschaftsordnung“ (E. Gellner) ist nur das signifikanteste Beispiel dieser Verschränkung von kulturellen und wissenschaftsdisziplinären Vorurteilen, verstanden im Sinne Gadamers. 34 C. Polke Literatur Banchoff, Thomas, Hrsg. 2007. Democracy and new religious pluralism. Oxford: Oxford University Press. Banchoff, Thomas, Hrsg. 2008. Religious pluralism, globalization, and world politics. Oxford: Oxford University Press. Böckenförde, Ernst-Wolfgang. 2006. Zur Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, erweiterte Ausgabe, 92–114. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bonhoeffer, Dietrich. 1976. Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie (TB 5), 4. Aufl. München: Kaiser. Graf, Friedrich Wilhelm, und Heinrich Meier, Hrsg. 2013. Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart. München: Beck. Habermas, Jürgen. 2005. Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates? In Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, 105–118. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen. 2012. „Das Politische“ – Der vernünftige Sinn eines zweifelhaften Erbstücks der Politischen Theologie. In Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, 238–256. Berlin: Suhrkamp. 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