08.04.2010 Autistische Syndrome und andere tiefgreifende Entwicklungsstörungen Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84) Frühkindlicher Autismus (F84.0) Atypischer Autismus (F84.1) Definition tiefgreifende Entwicklungsstörung • Qualitative Beeinträchtigung gegenseitiger Interaktion und Kommunikation • Eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire an Interessen und Aktivitäten Epidemiologie (I) Alle tiefgreifenden Entwicklungsströrungen: 6 von 1000 Personen Rett-Syndrom (F84.2) DesintegrativeStörungen im Kindesalter (F84.3) Asperger-Syndrom (F84.5) Frühkindlicher Autismus: Epidemiologie Frühkindlicher Autismus 1 von 1000 mit Lernbehinderung bis geistiger Behinderung 80% • Normvariante Intelligenz 29-60% • milde bis moderate Beeinträchtigung der Intelligenz 30% • mit geistiger Behinderung 25-50% Frühkindlicher Autismus: Typologie Lorna Wing (1981) • High-functioning autism IQ > 70 bzw. >85 • Low-functioning autism IQ < 70 1 08.04.2010 Was lässt an das Vorliegen einer autistischen Störung denken? (I) Bereits vor dem 3. Lebensjahr: • Meidet Blickkontakt • Meidet Körperkontakt • Haben Probleme Gesten oder Lächeln zu verstehen www.autismus.de Was lässt an das Vorliegen einer autistischen Störung denken? (III) • Kein kreatives Spiel • Zeigen durch Hinführen • Spielt nicht mit anderen Kindern • Erkennt Gefahren nicht • Fixierung auf Spezialthemen • Begabung in Teilbereichen www.autismus.de Qualitative Beeinträchtigung wechselseitiger sozialer Interaktion (I) • Auffälliger Blickkontakt: kaum oder Hindurchblicken • Kaum soziales Lächeln • Keine antizipatorischen Bewegungen • Kaum Gestik und Mimik • Starke nicht gezeigte Bindung an Bezugspersonen • Davonlaufen ohne Rückversicherung Was lässt an das Vorliegen einer autistischen Störung denken? (II) • Bizarre, stereotype Bewegungsmuster (z.B. Fächeln, Kreiseln von Rädern, Wasserspiele, Wedeln mit Papier) • Veränderung in der Umwelt erregt sie stark • Auffällige Sprache • Unangemessenes Lachen und Kichern www.autismus.de Frühkindlicher Autismus (F84.0) Hauptsymptome ICD-10 1.Qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Aktionen (soziale, emotionale Signale) 2.Qualitative Beeinträchtigungen der Kommunikation 3.Stereotype Verhaltensweisen 4.Unspezifische Probleme (Befürchtungen, Phobien, Aggressionen,;..) 5.Manifestation vor dem 3. Lj. Qualitative Beeinträchtigung wechselseitiger sozialer Interaktion (II) Gleichaltrige: • Mobbing durch Gleichaltrige • Fühlen sich bei Erwachsenen sicherer • Zu Gleichaltrigen Kontaktverweigerung • oder eingeengte gemeinsame Fähigkeiten • oder aggressiv • oder funktional 2 08.04.2010 Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation (I) • Fehlen symbolischer Gesten • Fehlen der Tonmodulation schon beim Lallen und Brabbeln • 50% entwickeln eine nicht-kommunikative Sprache und diese verspätet • Unmittelbare und verzögerte Echolalie • Pronominale Umkehr: 2. oder 3. Person statt „Ich“ Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation (II) • Grammatikalische Fehler • Neologismen • Betonung innerhalb des Satzes inadäquat (Prosodie) • Abgehackter Sprechrhythmus Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation (III) • Kein Spiel möglich • Erforschen: – Fasziniertes Beobachten von bewegten Gegenständen – Untersuchen mit allen Sinnen Beispiel Anja, 8 Jahre (I) • Vorstellungsgrund: Mutismus? • Gesunde SS • 4.Lebenstag starker Neugeborenenikterus. Lichttherapie f 1 Tag, dann E aus KH • 14. Lebenstag: schwerer HWI, Antibiotika • Seither chron-rezidiv. Otitis media bds. • 6.Lm Bronchitis. Antibiotikainfusionen • Bei Rö-Ko im KH Kette verschluckt, etwa 2 min Hypoxie mit Blaufärbung Beispiel Anja, 8 Jahre (II) • Krabbeln, Aufsetzen, Babysprache normal, Gehen im 15. Lm • Beginn der Gesten im 15.Lm: Alles gezeigt, wenig gesagt. Aggression bei Nichtverstehen des Gegenübers • Trennungsangst, Angst im Dunkeln Beispiel Anja, 8 Jahre (III) • • • • „Dall“ statt Ball „Anna“ statt Anja „Nanna“ statt „Mamma“ „Tatta“ statt „Pappa“ 3 08.04.2010 Beispiel Anja, 8 Jahre (IV) • Frühförderung ab 3.Lj. durch IZB-Team • 4.Lj.: Zwei-Wort-Sätze • 4.Lj. Parezentese bds. wg. Otitis, Hörtest in Narkose • 4.Lj.: 1. + 2. Logopädin • ab 4.Lj.: Kindergarten • Beginn homöopathische Behandlung Beispiel Anja, 8 Jahre (V) • 5.Lj. Paukenröhrchen-OP einseitig, Parezentese andere Seite • 6.Lj. Paukenröhrchen-OP bds, Nasenpolypen-OP • 6.Lj. Rückstufung in Vorschule • 7.Lj. 1.Klasse VS Integrationsklasse mit Einzelbetreuung Beispiel Anja, 8 Jahre (VI) Beispiel Anja, 8 Jahre (VII) • Seit 8.Lj. 3. Logopädin. Mit dieser sofort gesprochen. Lässt sich Geschichten erzählen. • verwendet keine Artikel • hat 13 Buchstaben erlernt • buchstabiert mit Gehörlosengesten, zeigt mit, wenn sie schreibt • Abschreiben vom Gelesenen möglich • Diktat beim Zuhören fällt schwer • Spricht ausschließlich mit eng Vertrauten • dzt: Apraxie (zieht Schuhe und T-Shirt verkehrt an) • Haare waschen ist ein Kampf (typisch!) • Schlechte Feinmotorik • gibt schnell auf • Schlägt zu bei einem Nein Beispiel Anja, 8 Jahre (VIII) • „sortiert“ gerne, z.B. stundenlang Perlen von einem Kästchen in das andere und wieder zurück • sortiert Muscheln, Uno-Karten etc. • „sehr ordentlich“: rastet aus, wenn etwas herumliegt Beispiel Anja, 8 Jahre (IX) Spiel • Ball hin und her werfen mit Gegenüber ohne Variation • Hupfburg bis zur Erschöpfung ohne Pause 4 08.04.2010 Eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster (I) Beispiel Anja, 8 Jahre (X) • Ständiges Hosenzupfen • Finger und Gegenstände im Mund erkunden • Fingernägel- und Bleistiftkauen Eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster (II) • Stereotypien als Selbststimulation der Sinnesorgane • Ablehnung von Zärtlichkeiten oder Beliebigkeit im Annehmen • Keine Reaktion auf Kälte oder Schmerz • Phobien • Gestörter Schlaf- Wach-Rhythmus Störung kognitiver Prozesse (II) physikalische Vorgänge können nicht von psychischen Vorgängen unterschieden werden – Wörter, die psychischen Zustand beschreiben, können nicht mit diesen in Verbindung gebracht werden – sind nicht in der Lage, fiktive Spiele auszuführen – Intentionen anderer Personen werden nicht erkannt – können bei einem Ereignis nicht unterscheiden, ob sie absichtlich oder zufällig eingetreten sind • • • • Ritualhafte Abwehr von Ängsten Angst vor Veränderung Keine Reaktion auf Anreden und Geräusche Selektive Überempfindlichkeit auf Geräusche • Typisch: zuerst V.a. Hörstörung Störung kognitiver Prozesse (I) • Fähigkeit, Welt aus dem Blickwinkel anderer Menschen zu sehen („Theory of mind“) ist bei Autismus nicht gegeben und führt zu: – Defiziten sich vorzustellen, dass Menschen unterschiedliche Befindlichkeiten aufweisen können – Missverständnissen bei der Interpretation menschlichen Verhaltens – emotionalen Ausbrüchen, da Verhaltensweisen von anderen missverstanden werden europsychologie Intelligenzprofil: Episodisches Verständnis schlecht Mosaiktest, Figurenlegen besser Exekutivfunktionen (unspezifisch) gestört Post-mortem: verminderte euronenzahl im Arealen des limbischen Systems Forschungsperspektive: Spiegelneurone bei Affen 5 08.04.2010 Funktionelles MRT (I) Funktionelles MRT (III) Funktionelles MRT (II) Frühkindlicher Autismus: Differentialdiagnose Objekte: Gyrus temp inf dext • Differentialdiagnose: • - Intelligenzminderung ohne Autismus • - Organische Ursachen (z.B. erworbene Aphasie mit Epilepsie • ‚Landau-Kleffner‘; diverse Stoffwechselerkrankungen, • neurodegenerative Erkrankungen) • - Bindungsstörung / schwere Deprivation • - Schizophrenie • - Mutismus Komorbidität Frühkindlicher Autismus • - Epilepsie bei 20-30%, Beginn erst bis ins Erwachsenenalter • - ADHS, oft als Fehldiagnose • In Zeiten großer Herausforderung (=Veränderung): Zwangsstörung affektive Störungen Asperger Syndrom Epidemiologie:7 /10 00 Kinder Buben:Mädchen=8:1 Ätiologie und Genese Frühe hirnorganische Störung, Umweltnoxen DD schizotype Persönlichkeitsstörung 6 08.04.2010 Asperger Syndrom Symptome (I) Altersgerechte Sprachentwicklung in den ersten 3 Lj. Wandlungsfähige Sprache mit altersgerechtem Wortschatz Asperger-Syndrom Symptome (II) Normale kognitive Entwicklung Ø Diagnosezeitpunkt: 11.Lj. jedoch: reden, wann sie wollen ohne Anpassung an den Gesprächspartner häufig Selbstgespräche kaum Echolalie und Pronomenumkehr jedoch Prosodie Asperger-Syndrom Symptome (III) Ritualartige Bindung an Abläufe Schlechte Anpassung an Veränderung Lexikalisches Wissen ohne Querverbindungen Dyspraktische Störung Asperger-Syndrom: Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion (II) • auffällige nonverbale Kommunikation • keine Empathie • unterentwickelte Theory of Mind Asperger-Syndrom: Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion (I) Gleichaltrige: • Mobbing durch Gleichaltrige • Fühlen sich bei Erwachsenen sicherer • Zu Gleichaltrigen Kontaktverweigerung • oder eingeengte gemeinsame Fähigkeiten • oder aggressiv • oder funktional Asperger-Syndrom: Intensive, eng umgrenzte und praxisferne Sonderinteressen • keine motorischen Manierismen oder Faszination von der Bewegtheit der Objekte • Mathematik • Technik • Hyperlexie • Geschichte • Geographie schon im Vorschul- und frühen Schulalter reden jeden auf ihr Spezialthema an 7 08.04.2010 Einfluss des psychosozialen Umfeldes • ur wenige empirischen Arbeiten Fallbeispiel • Asperger-Syndrom: Anton Therapie autistischer Syndrome Multimodaler Therapieansatz: • Frühförderung: sensor. Integrationsförderung ab 2.Lj. 15h/Woche für mind. 2 Jahre • Verhaltenstraining • Gruppenintegration • Psychoedukation • Angehörigenselbsthilfegruppe • Picture Exchange Communication: Theory of Mind auf Basis visueller Verarbeitung und Gedächtnis f Routine Pharmakologische Behandlung Symptomorientiertes Vorgehen - Stimulanzien (Quintana et al. 1995) - Risperidon (McDougle et al. 1998) - SSRI (McDougle et al. 1996) 8 08.04.2010 TEACCH-Programm Festhalte-Therapie • das Treatment and Education of Autistic and related Communication-handicapped Childern (TEACCH) beinhaltet den Einsatz gut strukturierter pädagogischer Maßnahmen • basiert auf verhaltenstherapeutischen Elementen • trägt dem Entwicklungsstand des Kindes Rechnung • bezieht spezielle Zugänge zu autistischen Kognitionen und Verhaltensweisen ein • große Anzahl von Berichten hebt große Effektivität des Programms hervor (Campbell et al. 1996) • derzeit keine neueren vergleichenden Evaluierungen • von Martha Welch (1984) entwickelte Therapie • Widerstand autistischer Kinder gegen Nähe und Körperkontakt soll durch Festhalten überwunden • nach Tinbergen und Tinbergen (1984) soll so das „Urvertrauen“ nachgeholt werden • problematisch ist die dramatische, fast gewalttätig anmutende Vorgehensweise • Konzept unterstellt, dass früheres Urvertrauen vom Kind nicht eigenständig erworben werden kann Prognose (I) • Abhängig von Intelligenz • Einschätzbar am Stand der Sprachentwicklung des 5.-6.Lj. Prognose (II) Als Erwachsene 1-2% 5-15% 16-25% 60 % • 21-70% lernen gut sprechen Prognose (III) Bei guter Ausgangslage mit IQ >70 als Erwachsene 12% sehr gut 10% gut 19% mittelmässig 46% schlecht 12% sehr schlecht unauffällig grenzwertig auffällig, aber gut tragbar hohe Pflegestufe Herausforderungen als Erwachsene • • • • • • Arbeitsleben Sprachliche Kompetenz Sozialkompetenz Beziehung Sexualität Stark erhöhte Mortalität 9 08.04.2010 Atypischer Autismus • Heller‘sche Demenz (dementia infantilis) • Theodor Heller (1869-1938) • 1908: Behandlung des jugendlichen Schwachsinns • vermutlich schwerer Verlauf eine Autismus mit Regression • Beginn: 2.-4.Lj., schleichende Entwicklung • Nur einige der Symptome oder • Beginn nach dem 3.Lj. Desintegrative Störung des Kindesalters: Symptome Fortschreitender Verlust • der Sprache • der intellektuellen Fähigkeiten • der sozialen Fähigkeiten • der kommunikativen Fähigkeiten • der Darm- und Blasenkontrolle • der motorischen Funktionen Rett -Syndrom Symptome: Normale Entwicklung im ersten dann: Desintegrative Störung des Kindesalters Halbjahr, Verlust der zielgerichteten Handbewegungen Verlust oder Teilverlust der Sprache Kommunikationsstörung, Störung sozialer Interaktionen Verlangsamung des Kopfwachstums Koordinationsstörung des Ganges und der Rumpfbewegungen (“windend”) Rett-Syndrom Epidemiologie:1 : 15 000 Manifestation zwischen 7.-24. Lebensmonat Mutation X-Chromosom MECP2-Gen Nur bei Mädchen vorkommend, weil Buben an der Mutation intrauterin versterben Hinweise auf neurobiologische Ätiologie (I) Frühkindlicher Autismus: – Konkordanzraten eineiiger Zwillinge = 82% (Folstein & Rutter, 1977; Le Couteur et al. 1996) – Konkordanzraten in schwedischer Studie eineiiger Zwillinge = 91%; zweieiige Zwillinge = 0% (Steffenburg et al. 1989) • Asperger Syndrom: – deutliche schlechtere Evidenzlage – (Konkordanzschätzungen: 30 – 60%) • Rett-Syndrom: – Gen (MECP2) auf langem Arm des X-Chromosoms identifiziert (Amir et al. 1999, Vourc‘h et al. 2001) 10 08.04.2010 Hinweise auf neurobiologische Ätiologie (II) • Linkage- und Assoziationsstudien weisen auf eine Beteiligung der Chromosomen 7, 15, 17 und X hin. • Überzufällige Häufungen von assoziierten Markern und Genen; diese sind an der serotonergen Regulation beteiligt. Umweltfaktoren Insgesamt fragliche Evidenz für: - Maternalen Alkoholismus - Maternale Schilddrüsen-Unterfunktion Etwas bessere Evidenz für: - angeborene Röteln Chess (1978): 243 Kinder mit angeborenen Röteln 90 hatten Entwicklungsstörungen davon 17 mit autistischem Spektrum Nicht autistische Störungen des Kommunikationsverhaltens ElektiverMutismus Reaktive Bindungsstörungen 11